JÜRGEN JANKOFSKY

 

 

 

 

 

 

Kalendaricon JJ

OKTOBER - DEZEMBER

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wir wissen. dass wir es besser machen können. Die Vergangenheit zeigt uns wie. Die Zukunft liegt an uns.

Thomas Piketty

 

 

 

 

1. OKTOBER

 

Kommunikation

mit

Frances Baard / William Beckford / Jacques Blanchard / William Edward Boeing / Marianne Brandt / Francisco Gutiérrez Carreola / Albert Collins / Pierre Corneille / Charles Cros / Heinrich Gretler / Richard Harris / Laurence Harvey / Donny Hathaway / Vladimir Horowitz / Walter Matthau / Philippe Noiret / Benno Pludra / Walerjan Lwowytsch Politschtschuk / Sallust / Ferdinand Springer / Debora Vaarandi / Mariska Veres / Yip Man

 

Da kommunizierten wir ausführlich:

959 Edgar der Friedfertige wird erster König ganz Englands / Merseburg, 1021: Weihe des Domes durch Kaiser Heinrich II. / Österreich, 1869: Welt-Premiere der Postkarte / Preußen, 1874: Einführung des Standesamtes und somit der Zivilehe / USA, 1890: Gründung des Yosemite-Nationalparks / 1903: Patent für die Thermoskanne / 1949: Proklamation der Volksrepublik China / Deutschland, 1956: erste Ausstrahlung der „Tagesschau“ / 1958: Gründung der NASA / 1960 wird Nigeria unabhängig von Großbritannien / Japan, 1964: Inbetriebnahme des ersten Shinkansen / 1978 wird Tuvalu unabhängig von Großbritannien / 1989 Dänemark ermöglicht es Homosexuellen als erster Staat der Welt, eine eingetragene Partnerschaft einzugehen / 1994 wird Palau unabhängig / Hamburg, 1996: Gründung des Internationalen Seegerichtshofes.

 

Ich notierte:

1980: Ich schreibe das Exposé für ein Kinderbuch, das mir durch den Kopf geht, dann eine neue Fassung für die Deubener Betriebszeitung mit Anregungen zur Brigadetagebuchgestaltung. Hoffentlich die letzte, wobei mir klar ist seit einiger Zeit, dass ich offenbar immer mehrere Fassungen eines Textes brauche, um damit zufrieden zu sein. Zwar bin ich ein spontaner, doch somit langsamer Schreiber, und eigentlich läuft das meinen Grundintentionen, das spontane Produkt als das fertige anzusehen, entgegen. Doch ich habe begriffen, dass die Entwicklung der eigenen Urteilsfähigkeit ein wichtiges Kriterium für gute Texte ist.

1981: Beim Frühstück bemerkt Jeanny auf Nachbars Schuppendach einen nie gesehenen Vogel. Ich schaue und denke bei mir: das ist ein Sprosser – obwohl ich solch einen Vogel noch nie zuvor gesehen habe, spreche das aber nicht aus. Dann sieht Jeanny in einem Vogelbuch nach, und verkündet: „Es ist ein Sprosser!“ Was soll man davon halten? Welche Schicht des Unterbewusstseins kam da bei mir durch?

1988: Mein Arbeitsurlaub ist vorbei. Hat sich etwas verändert in diesem halben Jahr? Ich denke schon, eigentlich habe ich tatsächlich alles erarbeitet, was ich bewältigen wollte. Das Leuna-Manuskript liegt schon in Berlin, beim Verlag Neues Leben. Das neue kleine Kinderbuch ist soweit auch fertig, der Vertrag ist sogar schon da. Die Lichtmeß-Broschüre, die ich den Spergauern versprach, ist vorbereitet, im Text fast fertig. Bei aller Unwägbarkeit, die nun kommt, denke ich doch, nun in einer anderen Situation, Position zu sein, als vor einem halben Jahr. Und mit ein bisschen Glück komme ich vielleicht sogar richtig weiter…

1995: Calgary. Wir müssen zur Greyhound Station, bevor es im Hotel Frühstück gibt. Und dabei haben wir bloß gute 1000-Kilometer Busfahrt vor uns... Kalt geworden ist es über Nacht hier, und es regnet. So hasten wir durch die Dunkelheit, kommen jedoch rechtzeitig zum Terminal, um auch ja zwei Tickets für den einzigen Bus zu erstehen, der heute nach Vancouver fährt. Unvorstellbar, wenn wir nicht mitgekommen wären! In den Rocky Mountains dann, die wir heute durchqueren werden, fängt es sogar an zu schneien. Dabei hatten wir uns so sehr auf die Aussichten gefreut! Nachdem sich uns beim Zwischenstopp in Banff eine Karibou-Herde wie zum Fototermin in den Weg gestellt hatte, wird das Wetter immer besser. Und dann genießen wir die Fahrt. Phantastische, ständig wechselnde Gebirgslandschaften, Flusstäler, Seen, Gletscherfelder, Tundren, Halt aller zwei Stunden an Imbissstuben. Lake Louise, Golden, Revelstoke, Salmon Arms, Kamloops, Chiliwacke, New Westminster, Vancouver. 14 Stunden (inklusive eine Stunde Zeitverschiebung) sind wir unterwegs. Wir erreichen Vancouver also im Dunkeln, und es regnet und ist kalt - wie am Morgen in Calgary. Was für eine wunderbare Hochhaus-Suite erwartet uns aber im Hotel. Blick über downtown Vancouver, aus dem 14. Stock! Und direkt unter uns, die postmoderne, nagelneue Public Library. Wenn das kein gutes Omen für unseren Besuch der Westküste ist!

1999: Am Vormittag nutze ich die womöglich letzte Herbstsonne, um für die Bosch-Ausstellung zu fotografieren, Kulturhaus Leuna, Fachhochschule Merseburg. Mittag treffe ich mich mit dem Pressechef der Leuna-Raffinerie, Olaf Wagner. Er lädt mich zum Essen ein und ich bitte ihn um ein Foto der Raffinerie für die Ausstellung. Am Ende sagt er mir sogar die Unterstützung der „Ortungen“-Premiere, die in der Leuna-Galerie stattfinden soll zu. Dann wieder nach Naumburg. Heute Podiumsgespäch, Leitung: Peter Gosse, mit im Podium: Elke Domhardt, Harald Korall, Holger Leisering, Maren Ruben aus Straßburg, Nazif Telek aus Hilden (der allerdings durch ein unsäglich langes und belehrendes Pamphlet über die Situation der Kurden schlechthin, die Runde fast zum Platzen bzw. zum Einschlafen bringt, auf jeden Fall Diskussion verhindert). Ich rede über die Interlese und lese einige Texte aus den „Ortungen“. Scheint ganz gut anzukommen. Harry Ziethen, mein Verleger, der mit im Saale sitzt, lächelt zumindest zufrieden. Zu Hause finde ich in der Post die Korrekturbögen der „Ortungen“. Na, das passt doch. Also korrigieren, dann reichlich Bürokram erledigen. Darüber wird’s mal wieder Mitternacht...

2011: Helgoland. Ob meine Gattin mir die große (zoll- und steuerbefreite und sonderangepriesene) Buddel Rum wohl auch gekauft hätte, hätte ich ihr nicht erzählt, dass Hoffmann von Fallersleben hier nach einem Gelage eine Vers-Variante zum Lied der Deutschen schrieb? (3. Strophe): „Stoßet an und ruft einstimmig: Hoch das deutsche Vaterland!“ – Gute Frage.

2017: De Haan. Dreiunddreißig harrte hier Einstein sechs Monate aus. Nun kann man sich auf einer Parkbank neben einer Bronze (lebensgroß) des Genies platzieren, kann es umarmen wenn man mag. Ich strecke dabei die Zunge raus und – erhalte prompt eine simple physikalische Lektion, da ich beim Aufstehen über Einsteins leger ausgestrecktes Bein stolpere. Bedaankt, Albert, bedaankt!

2015: Heute nach Hiroshima. Zwischenstopp in Osaka, umsteigen in einen anderen der Shinkansen, von Hikari nach Sakura. Rund 1000 Kilometer, gute fünf Stunden unterwegs. In Hiroshima regnets, nein, es schüttet. Und als wir dann nach halbstündigem Marsch unter rasch gekauften Regenschirmen am Zenograph im Friedenspark stehen, dem Mahnmal für die Atombombenopfer, das weltbekannte leere Grab mit der ewigen Flamme, die solange brennen soll, bis die letzte Atombombe auf Erden vernichtet ist, uns verbeugen, scheint der Himmel auf einmal alle Schleusen zu öffnen. Armenier würden sagen: der Himmel weint. Ja, das aber heftig hier, nein heftigst. Hier begann am 6. August 1945, genau um 8.15 Uhr, eine neue Zeitrechnung. Und so viele Zeitrechnungen es gibt auf dieser Welt, eine christliche, eine jüdische, eine mohammedanische, eine aztekische, eine buddhistische, eine japanische (die auf den Amtsantritt des jeweiligen Tenno bezogen ist)… - eigentlich sollte es auf dieser Welt nur noch eine einheitliche, alle Menschen mahnende Zeitrechnung geben: das Jahr nach Hiroshima. Dann wäre wir jetzt im Jahr 70…

Hara Taniki, japanischer Lyriker, der die Atomexplosion zwar überlebte, doch sich wenige Jahre später verzweifelt vor einen Zug warf, schrieb in Sonnenblumen: „Durch die Weite des silbernen Nichts, das sich gleißend unter der glühenden Sonne breitete, zogen sich Straßen, Flüsse und Brücken. Da und dort lagen wie künstlich angeordnet rotverbrannte, aufgequollene Leichen. Das musste eine neue, durch eine sorgfältig genaue Methode herbeigeführte Hölle sein. Alles Menschliche war hier ausgemerzt.“ Auf dem so genannten A-Bomben-Dom, der Ruine der einstigen Hiroshimaer Handelskammer mit dem Stahlkuppelskelett, entdecke ich einen Graureiher. Und da wird’s mir ob des Symbolismus ein bisschen zu viel. Der Graureiher, schon so etwas wie mein Wappentier, da der Roman „Graureiherzeit“ wohl eines meiner wichtigsten Bücher ist, im nächsten Jahr als „Graureiherzeiten“ in neuer Fassung sogar neu erscheint… Schauder. Gut also, dann die Kinder am Kinder-Denkmal zu sehen und zu hören vor allem, die für Sadako Sasaki, die den Atombombenabwurf als Zweijährige überstand, doch an Leukämie erkrankte und begann Origami-Kraniche zu falten um so – entsprechend des japanischen Glaubens - von den Göttern ihren Wunsch nach Gesundheit erfüllt zu bekommen. 1000 Kraniche wollte Sadako falten, nach etwa 600 starb sie, zwölfjährig. Seitdem falten japanische Kinder und Kinder in der ganzen Welt farbenprächtige Kranichketten, schicken oder bringen sie hierher, zum Kinder-Denkmal im Friedenspark, wo all die Kraniche in Vitrinen zu sehen sind. Und hier singen dann die Kinder auch das Lied für Sadako… Ja, sogar im heftigsten Regen. Natürlich laufen wir auch zu all den anderen Orten des Friedensparks, die wir immer wieder auf Fotos oder im Fernsehen sahen: die ein T bildenden Brücken, die dem Navigator der Enola Gay einen todsicheren Zielpunkt lieferten… die Glocke von Hiroshima, die ein jeder anschlagen soll, der verhindern will, dass es noch einen weiteren Atombombenabwurf gibt (wir also auch, deutlich…). Und keine Frage: etwas im Fernsehen gesehen zu haben, oder tatsächlich an einem Ort wie diesem gestanden und etwas getan zu haben (wenn auch nur symbolisch…), ist schlichtweg etwas völlig anderes.

Als wir schließlich wieder am Bahnhof von Hiroshima ankommen, reichlich durchnässt trotz neuer Regenschirme, hört es so gut wie auf zu regnen, ein leichtes Tröpfeln nur noch… Schließlich steigen wir in den falschen Zug, eine Art Shinkansen-Bummelvariante, der auf jeder Station stoppt, doch müssen wir ja wieder 1000 Kilometer zurück. Bei der Einfahrt in den Bahnhof von Okayama entdecken wir auf einer Anzeigentafel glücklicherweise, dass in drei Minuten auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig ein Hikari einfährt. Also raus aus dem Zug, Treppe runter, Treppe rauf, rein in den anderen Zug. Geschafft.

Kenzaburo Oe, der zweite japanische Literatur-Nobelpreis-Träger (dessen Notizen über Hiroshima – vergleichbar durchaus des berühmten Hiroshima-Buches Schwarzer Regen von Masuji Ibuse - merkwürdigerweise noch immer nicht auf Deutsch vorliegen), engagierte sich schon seit langem für die Ächtung von Atomwaffen und nach dem Fukushima für einen generellen Atomausstieg Japans. Im März 2011 sagte er in einem Interview: „Hiroshima muss in unseren Erinnerungen eingeprägt sein: Es ist eine Katastrophe, die noch dramatischer als Naturkatastrophen ist, weil sie von Menschen gemacht ist. Dies durch dieselbe Missachtung für menschliches Leben in Atomkraftwerken zu wiederholen, ist der schlimmste Verrat an die Erinnerung der Opfer von Hiroshima.“ Derzeit werden aber die nach diesem GAU stillgelegten japanischen Atomreaktoren nach und nach wieder hochgefahren. Und die japanische Regierung hat unlängst beschlossen, die reine Defensiv-Ausrichtung der japanischen Armee aufzugeben, wieder für Kriegseinsätze bereit zu sein…

2021: Als wäre das ein Beitrag von „ganz oben“: wunderbarer Sonnenschein zu Beginn der Feierlichkeiten zum 1000-jährigen Weihejubiläums des Merseburger Doms.

2022: Träumend wird mir bewusst, dass ich in eine Zeit hineingeboren wurde, in der kontinuierlich alles besser zu werden schien: Aufbau nach dem Weltkriegschaos, Entkolonialisierung, Rockmusik… So versuchte auch ich zu agieren. Und nun?

 

 

Klagegesang

für

Dorothy Arzner / Richard Avedon / Charles Aznavour / Dirk Bach / Milo Barus / Frank Beyer Christian Friedrich Ludwig Buschmann / Tom Clancey / Lynsey de Paul / Wilhelm Dilthey / Marsilio Ficino / Marianne Fitz / Karel Gott / Kurt Hiller / Eric Hobsbawn / Al Jackson jr. / Kanō Yasunobu / Carl Gotthard Langhans / Louis Leakey / Mindon Min / Victor Müller / Wilhelm Müller / Paul Jerrod Pena / Jacob Picard / Carl Rasmussen / Ernst Ludwig August von Rebeur-Paschwitz / Karel Teige / Vahe / Maarten van Heemskerk / Fritz Winter / Lena Hilda Zavaroni

 

An diesem Tage stimmten wir einen Klagegesang an:

1910: Bombenanschlag auf die „Los Angeles Times“, 21 Menschen sterben / 1938 annektiert Deutschland das Sudentenland / Dinar, Türkei 1995: Erdbeben, 100 Tote / 1999: Beginn des Zweiten Tschetschenienkrieges / Bali, 2005: Sprengstoffanschläge auf Touristenzentren, 26 Menschen kommen ums Leben / Las Vegas, 2017: ein Attentäter schießt auf Besucher eines Festivals, 58 Todesopfer, 869 Verletzte / Murcia, Spanien, 2023: Brand in einer Discothek, 14 Tote.  

 

 

2. OKTOBER

 

Alphabetisierung

mit

Rachel Bluwstein / Mahatma Gandhi / Graham Greene / Andreas Gryphius / Günter Kochan / Oswald Kolle / Liaquat Ali Khan / Groucho Marx / Elizabeth Montagu / Sergei Gennadijewitsch Netschajew / Dieter Pfaff / Alice Ernestine Prin / William Ramsay / Julius Sachs / David Schwarz / John Sinclair / Wallace Stevens / Elise Ferdinandine Amalie Struve / Wilhelm Taurit / Hans Thoma / Nathaniel „Nat“ Turner

 

 

An diesem Tage schien es voranzugehen mit der Alphabetisierung:

Zeeland, 1608: Präsentation des ersten Fernrohrs / Preußen, 1911: die Schulstunde wird auf 45 Minuten verkürzt / Genf, 1924: der Völkerbund ächtet den Angriffskrieg / 1958 wird Guinea unabhängig von Frankreich.

 

 

Ich notierte:

1980: Vorahnungen. Mein Vater gab mir heute ein Paket vom Versandhaus. Vor einiger Zeit hatte ich dort einige Platten bestellt, und heute wusste ich genau, welche in diesem Paket war: arabische Folklore. Das geht mir des Öfteren so. In der AJA sprachen wir neulich über lyrische Idiosynkrasie. Entspringt so was einem extremen auf sich Alleingestelltsein? Auf einer intensivsten Beobachtung der Umwelt – die erst einmal nur im Unterbewusstsein registriert, doch dann schlagartig nach oben dringt? Plötzlich weiß man Sachen, die man nie zuvor gewusst hat, redet über Dinge, die einem sozusagen wie in statu nascendii verknüpft sind. Und ob alles wie eine Seifenblase zerplatzt oder mit Macht an den Schreibtisch drängt, um es aufzuschreiben, zu einer Erzählung vielleicht werden zu lassen, hängt vielleicht von der Stärke der Ahnung ab. Hat Schreiben mit Wahn zu tun?

1995: Vancouver. Frühstück im Hotelpreis not included, also einen Kaffee unterwegs, heißes, braunes Wasser. Und Wasser gibt’s auch reichlich von oben. Es schüttet wie aus Gießkannen in Vancouver. Dr. R., Walter-Bauer-Experte, den wir morgen in Victoria treffen wollen, meint am Telefon, dass es hier eine endlose Trockenheit gegeben habe, man sich also sehr freue über den Regen. Nun gut. Jeanny und ich laufen unterm Regenschirm zum Hafen, zum Canada Centre mit dem kühnen, segelartigen Dach. Und in einer Regenpause lichtet sich der Himmel immerhin so weit, dass wir eine Ahnung davon bekommen, wie reizvoll die Hafenlandschaft Vancouvers ist. Großstadt-Meeresbucht mit Hochgebirgskulisse, Wasserflugzeuge und Hubschrauber (Hafentaxis) starten und landen, Luxusliner und Frachter laufen gen Pazifik aus. Mittag essen wir in einem italienischen Restaurant am Hafen, feiner Laden - aber was isst denn der dicke Herr da am Nebentisch - Pasta mit Hamburger? Kein Zweifel. Aus dem Regen ins hiesige IMAX. Und was läuft für’n Film: Unterwasserlandschaften! Und sogar in 3D! Also Brille auf. Nachdem wir uns im Hotel mit trockenen Sachen und Schuhen versorgten, zieht es uns wieder ins Hafenviertel. Und in der einsetzenden Dämmerung verstehen wir nun auch, warum es Gastown genannt wird - entlang der Straßen und Gassen flammen nostalgische Gaslaternen auf. Und unweit einer weiteren Attraktion, einer Dampfuhr!, finden wir ein polynesisches Restaurant. Na, das passt doch - Speisen wie in der Unendlichkeit Ozeaniens. Wir genießen exotische Garnelen und pazifischen Lachs und tahitische Drinks, meingott. Und sogar die Heizung hier arbeitet dermaßen perfekt, dass man sich tatsächlich wie in der Südsee fühlt.

2006: Frederikshavn – Frederikstad. Harmonie bis hinter die norwegische Grenze: Ruhige See im Kattegatt, Herbstsonne und beste Straßen in Bohusländ, Schärenlandschaft, Weite, rote Blockhütten hie und da. An der ersten Mautstelle geraten wir jedoch in Streit –keine Ahnung weshalb- und schon werden die Kreisverkehre chaotisch eng, erscheinen die Häuschen schmuddelig, setzt schwerer Platzregen ein, wird meine VISA-Karte nicht akzeptiert, verstellt eine Gruppe Asyl-Bewerber das reizvollste Fotomotiv… Immerhin entdecke ich, dass die Kastanien hier noch nicht von Miniermotten befallen sind, die Blätter sich noch natürlich verfärben.

2007: Dubai. Erste Station der Tour nach Mosambik. Nein, keine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht (ich wäre froh, hätte ich diese eine schon hinter mir, landeten wir hier doch kurz vor Mitternacht, fliegen erst halb fünf weiter…), tatsächlich kommt man nach Mosambik am kostengünstigsten mit Emirates via Dubai und Johannesburg. Und da ich mal wieder mit einer kleinen Delegation aus Sachsen-Anhalt unterwegs bin, spielten bestmögliche Preise selbstredend schon bei den Planungen eine Rolle. Die Kehrseite: die verdammt lange Reisezeit (fast 2 Tage), die Reisestrapazen, der Umstiegsstress – allerdings sah ich diese Tour von vornherein auch als Abenteuer. Dubai nun also. Das Flughafengebäude ein riesiger Luxusbasar, geöffnet rund um die Uhr offensichtlich, quirliges Treiben selbst zur besten Schlafenszeit. Gibt’s hier irgendeine Volkstracht Asiens, ach was, der Erde, die nicht vertreten ist? Was für eine Drehscheibe des internationalen Verkehrs! Irgendwie fühle ich mich an die bunten, pittoresken Weltraumbahnhöfe von Krieg der Sterne erinnert… Und, wie gesagt, der Wohlstand ist sichtbar, greifbar, ist überdeutlich. Verrückt insofern fast, dass wir von hier weiter wollen in ein Land, das vor 15, 20 Jahren noch als ärmstes der Welt galt. Damals allerdings wütete in Mosambik der Bürgerkrieg. Nach wie vor zählt unser Reiseziel aber zu den ärmsten Staaten. Durchschnittliches Jahreseinkommen pro Kopf unter 300 $. Damit bräuchte man in Dubai so manchen Laden erst gar nicht zu betreten…

2015: Am Morgen mit Mari nach Yokohama. Ich habe eine Einladung vom Direktor der Deutschen Schule hier. Doch Mari verspätet sich, hat wohl ihren Bus verpasst. So fahren wir mit dem Taxi, um noch rechtzeitig vor Ort zu sein. Von der Stadtautobahn aus sehe ich dann zum ersten Mal tatsächlich den Mount Fuji. Gutes Omen für das Kommende! Heiß wird es auf jeden Fall wieder. Ich habe eine Lesung für die zweiten Klassen der Deutschen Schule, stelle unser gemeinsames Vorhaben vor, zeige eine erste Akira-Illustration, singe mit den Kindern mein Leseratten-Lied. Alles ganz normal und doch so ganz anders. Am Ende wünschen mit zwei Knirpse viel Spaß beim Schreiben der Akira-Geschichte! Die Schüler sind allesamt Kinder deutscher und deutschsprachiger Geschäftsleute, Wissenschaftler, Politik- und sonstige Vertreter, manche sogar mit chinesischem oder indischem Elternteil. So wachsen manche der Kinder hier multilingual auf: Deutsch, Japanisch, Chinesisch, Englisch (das ist Pflichtfach schon in der Grundschule) beispielsweise. Deutsch ist Hauptsprache an dieser Schule (übrigens eine von 120 vom Auswärtigen Amt getragenen deutschen Auslandsschulen weltweit). Beim Gespräch mit dem Direktor erfahren wir auch, dass das Schulgeld pro Kind und Monat 1000 Euro beträgt (was aber zumeist von den jeweiligen Firmen oder Institutionen der Eltern getragen wird). Man sieht diesen Geldsegen der Schule an. Alles vom Feinsten, alles wohlgesittet. Bis 2011 waren im Schnitt 480 Schüler hier (bei 15 Lehrern), nach Fukushima (der Direktor spricht von „den Ereignissen des Jahres 2011“!) ging die Schülerzahl auf rund 300 zurück, hat sich nun aber wieder bei etwa 420 eingepegelt. Zum Abschied verspricht mir der Direktor, Schüler für meinen alljährlichen Schreibwettbewerb zu gewinnen. Ich verspreche, nach Erscheinen von Anna und Akira einen Klassensatz Bücher nach Yokohama zu schicken. Schaun wir mal. Lunch in Yokohamas China-Town. Zum ersten Mal taiwanesisches Essen, süß-sauer-scharfe Suppe und Dumplings, doch irgendwie anders köstlich zubereitet als vergleichbare, schon gekostete chinesische Gerichte, dazu chinesischen Tee, der ständig nachgegossen wird. Das harmonisiert wunderbar.

Zurück per S- und U-Bahn ins Hotel, umziehen und auf ins Kabuki-Theater. Mari hat für uns Karten ergattern können. Erstaunlich findet sie, dass wir uns vor dem Theaterbesuch noch frisch und chic machen wollten. Ins Kabuki geht man hier eigentlich so wie man am Tage unterwegs war: Hemd & Hose oder Bluse & Rock. Eindrucksvolles Theatergebäude, das Kabukiza, erstaunlich großer, breiter Saal, ebensolche Bühne. Wir erleben zwei Stücke. Zuerst das klassische „Dan-no-ura Kabuto Gunti“, kurz: „Akoya“ aus dem 18. Jahrhundert, das allerdings in der frühen Shogun-Zeit, im 12. Jahrhundert in Kamakura spielt. Prächtige Kostüme, höchst merkwürdige Sprachgesänge, die Musiker und Erzähler neben den Schauspielern (alles Männer, denn auch Frauenrollen werden im Kabuki seit jeher von Männern übernommen) auf der Bühne. Und die weibliche Hauptfigur spielt (als Beweis ihrer Unschuld) drei klassische japanische Instrumenten-Soli, und musiziert dann auch wieder mit den Musikern – was stets Teil der Handlung ist. Sehr exotisch, aber auch irgendwie hochmodern. In der Pause geht man im Kabuki Abendbrot essen. Mari hat für uns Aal auf Reis bestellt, dazu Aalsuppe mit Aalleber. Alles mit Stäbchen zu genießen, versteht sich. Nach dem Dinner das zweite Stück. Der Schwank „Shinza, der Barbier“, deftiges Volkstheater aus dem frühen 19. Jahrhundert. 16.30 Uhr begann das erste Stück, nach 21.00 Uhr endet das zweite. So beeindruckend das Ganze war, sind wir vom ewigen Stillsitzen im auf Japaner zugeschnittenen Theatergestühl kreuz- und knielahm. Aber keine Frage: Kabuki muss man erlebt haben!

 

 

Abrechung

für

Ahmed Abdul-Malik / Samuel Adams / François Arago / Svante Arrhenius / Erwin von Bary / Eduard Bass / Claude Bessy / Fritz Bley / Max Bruch / Dimtscho Welew Debeljanow / Dondi / Marcel Duchamp / Marek Edelman / Benjamin Fondane / Brian Friel / Ernestus Hettenbach / Rock Hudson / Jamal Ahmad Kashoggi / Heinz G. Konsalik / Sacheen Littlefeather / Josef Madersperger / Peter Brian Medawar / Paavo Nurmi / Tom Petty / Percy Sinclair Pilcher / Hermann Pistor / Ernest Renan / Wassili Makarowitsch Schukschin / Leopold Schwarzschild / Onur Şener / Grethe Weiser

 

 

Da bekamen wir eine erschreckende Abrechung::

1746 sinken drei französische Kriegsschiffe in einem Taifun vor Madras, bis zu 1.200 Tote / 1942 kollidiert der britische Kreuzer „Curacoa“ vor Nordirland mit einem Truppentransporter, 331 Menschen sterben / 1944: Ende des Warschauer Aufstandes bei dem bis 225.000 Zivilisten und bis zu 25.000 Soldaten ums Leben kamen / 1948: die UdSSR beginnt mit dem Bau von Atombomben / Tlatelolco, Mexiko, 1968: Polizisten erschießen bis 300 portestierende Studenten / Balyun, China, 1990: bei der Notlandung einer entführten Boeing 737 kommen 132 Menschen ums Leben / Gagras, 1992: abchasische Freischärler ermorden hunderte georgische Zivilisten / São Paulo, 1992: Gefangenenrevolte, 111 Todesopfer / Nickel Mines, Pennsylvania: Amoklauf in einer Schule, 11 Tote.

 

 

3. OKTOBER

 

Novität

mit

Samuel Ekpe Akpabot / Henri Alain-Fournier / Louis Aragon / Dan Bar-On / Erik Bruhn / Julio Castellanos / Eddie Cochran / Alfonso de Borbón / George Desmarées / Eleonora Duse / Robert Gallinowski / František Halas / Roy Horn / Sergej Alexandrowitsch Jessenin / Kenojuak Ashevak / Robert Kraft / Ursula Kuhr / Carl von Ossietzky / Kazimierz Piechowski / Adolf Reichwein / Johann Theodor Roemhildt / Götz Bernhard Freiherr von Seckendorff / Isaac von Sinclair / Amalie Tischbein / Johann Heinrich Tischbein d. Ä./ Johann Peter Uz / Stephen „Stevie“ Ray Vaughan / Gore Vidal / Konstantin Konstantinowitsch Waginow / Douglas Allen Woody / Thomas Clayton Wolfe

 

Da glaubten wir an Neues:

Nissa, 1739: Friedensschluss im Krieg zwischen Russland und dem Osmanischen Reich / 1893: Ende des Französisch-Siamesischen Krieges / Berlin, 1906: SOS wird zum internationalen Notrufsignal erklärt / Leipzig, 1912: Gründung der Deutschen Bücherei / 1932 endet das britische Mandat über den Irak / Peenemünde, 1942: ein erste Rakete dringt bis in den Weltraum vor / Antwerpen, 1967: Inbetriebnahme der damals größten Schleuse der Welt / 1969: Eröffnung des Berliner Fernsehturms / 1990: Deutsche Wiedervereinigung / 2010 begleicht Deutschland die letzte Rate der Reparationszahlungen für den Ersten Weltkrieg /

 

Ich notierte:

1980: Seit Mittwoch habe so gut wie Tag und Nacht durchgearbeitet, habe das in Güstrow Handgeschriebene auf- und umgearbeitet und dann abgetippt. 70 Seiten stehen. Und ich weiß nun, dass ich das Ganze bis zum Jahresende schaffen kann – falls mir nicht wieder irgendjemand eine allzu herbe Enttäuschung bereitet. Nein, dieses Kinderbuch-Manuskript bringe ich zum Abschluss. Ja, das muss es werden!

1995: Am Morgen lugt verstohlen die Sonne durch die grauen Wolken. Vancouver wird immer imposanter. Doch nun müssen wir weiter. In einer nahen Einkaufspassage schnell Ham & Eggs, und dann zum Bus, mit der Pacific Coast Line nach Victoria. Wie aber gelangt ein durchgehender Bus auf eine Insel? Klar, mit der Fähre. Von Vancouver bis Tsawwassen über den Highway, dann bis Swartz Bay über den Pacific und schließlich nochmals Highway bis zur Hauptstadt der Provinz British Columbia, bis Victoria. Günter hatte gemeint, daß die Fährfahrt mit zum Schönsten zählen würde, was wir auf dieser Reise erleben. Keine Frage, er hat recht. Zwar müssen wir am Hafen von Tsawwassen fast zwei Stunden warten, da aufgrund eines Sturmes vorübergehend keine Fähre fährt, aber dann geht’s los: durch die breite Strait of Georgia, dann vorbei an den malerischen Gulf Islands, Bilderbuch Kanada, und nach gut anderthalb Stunden der Fährhafen des südlichen Vancouver Island, Swartz Bay. Und der Bus rollt von der Fähre und weiter nach Victiora. Hi, we’re coming! Der Himmel klart auf, überhaupt scheint hier eine ganz andere Welt, Blumen, gepflegtes Grün, der wärmste Ort Kanadas wohl, die Gartenstadt Victoria. Am Busbahnhof mitten in der Stadt erwartet uns Walter Riedel, phantastischer Rundumblick: Totempfähle in einem Park gegenüber, der sehr britische Gouverneurspalast, der geschäftige Inner Harbour. Immer an der Pazifikküste entlang fahren wir zum Quartier, halten hier und da, traumhafte Aussichten allenthalben, hinter der Strait Juan des Fuca ragen die schneebedeckten Olympic Mountain auf, das ist schon der Staat Washington, USA. Nach einer kurzen Verschnaufpause in unserem familiären Bed & Breakfast Quartier holt uns Walter R. schon zu meiner Lesung an der hiesigen Uni ab. Voller Saal, interessierte, offene Blicke. Eine dreiviertel Stunde etwa sollte ich lesen, doch ich überziehe wohl, trage neben Texten zur ost-westdeutschen Situation (klar, am Tag der deutschen Einheit!) auch einiges über W.B. vor, Notizen auf früherer Spurensuche. Walter R. hatte vor der Lesung gemeint, dass spätestens gegen 9.00 p.m. alles vorbei sein würde. Gegen halb zehn sitzen wir aber immer noch und diskutieren, lebhaft und fair. Gutes Gefühl. Dann noch auf ein Bier. Angelika Arend, die derzeit an einem Essay über W.B.s Lyrik arbeitet, schließt sich an.

2000: 10. Jahrestag der deutschen Einheit. Und Kaiserwetter! Ich schreibe meine neue Rede für die nächste Bosch-Ausstellungseröffnung zu Ende. Das hat ja auch eine ganze Menge mit diesem Jubiläum zu tun. Am Nachmittag zum Architekten Dr. Mertens nach Bad Dürrenberg, der mich zu einem Gespräch einlud, da er eine zum Jahresende von mir in einem Artikel geäußerten Idee zur Zukunft unserer Region aufgreifen und befördern möchte. Stickwort: Überwindung von Kleinstädterei, regionale Gesamtplanung. Wir verabreden, einige weitere für derartige Diskussionsrunde geeignete Leute einzuladen, dann vielleicht ein Thesenpapier zu entwickeln und es Kommunalpolitikern vorzulegen. Zur Feier des Tages lädt mich Dr. Mertens noch in den benachbarten Fährendorfer Jugendklub ein, spendiert ein Bier. Nun denn, möge es nützen!

2002: Norddeich. Am Fährterminal nach Norderney verlangt ein mir etwa gleichaltriger Typ Tickets für sich und seine Gattin und ein Kind unter fünf und ein Kind unter zwölf (da greifen jeweils Ermäßigungen, gell) sowie (nach einem Räuspern und einer kleinen Kunstpause und etwas lauter, damit es auch ja alle Umstehenden mit hören können) sowie also für einen 5er BMW! Da habe ich’s doch leichter, sage nur: „Ein Erwachsener, bitte“.

2005: Stein am Rhein. Wenn schon ins Ausland (einem nahen) entwichen an diesem denk-würdigen Tage, erwäge ich tatsächlich noch einige Kilometer weiter zu fahren, nach Schaffhausen nämlich, wo ja bekanntlich der berühmte… Doch zum einen war ich da bald nach der Wende bereits, und zum anderen wäre es schlicht nicht redlich so zu tun, als hätte man sich der hintergründigen Überschrift wegen eigens dorthin begeben, nein, das wäre nicht nur nicht redlich, sondern einfach dämlich. Genießen wir also die mittelalterlichen Idyllen Steins.

2006: on the road quer durch Värmland, Vestergotland, Smäland, Schonen, Seeland, Fünen treibts mich heuer. Aus Schauern und Dunst durch Regenbogentore bis in die Nacht. Doch werde ich wohl pünktlich wieder bei der Arbeit sein.

2007: Gegen Mittag sitzen ich mit meinem Freund Axel und anderen Reisegefährten in Südafrika, in Johannesburg in dem Kleinbus, der uns nach Maputo, der Hauptstadt Mosambiks, bringen soll. Fahrer ist ein Bruder von Thomas (in Magdeburg lebender Mosambikaner, der diese Reise anschob und mit organisierte). Aber nachdem der Bruder plötzlich vorgab vergessen zu haben, auf welchem Parkdeck er den Bus abgestellt hatte, für die Suche gut eine halbe Stunde draufgeht, dann ewig durch Vororte von Johannesburg gekurvt wird, dann ohne jedwede Erklärung zwei Afrikaner (die uns nicht vorgestellt werden) zum Busbahnhof gefahren werden, dann der im Parkhaus fast nicht wieder gefundene Bus gegen einen anderen Kleinbus getauscht wird (Koffer umladen!), anderer Bruder, hallo!, der nun fahren soll, aha, wird es halb drei bis wir tatsächlich auf die Piste nach Maputo gelangen… Na, das geht ja gut los. (Immerhin fand der geheimnisvolle Wagenwechsel auf dem Parkplatz eines Einkaufscenters statt, so dass man sich gegen Kommendes mit einem Six-Pack wappnen konnte.) Reizvolle Strecke: erst über die karge Hochebene um Johannesburg, dann die schier endlose, wohl 200-300 Kilometer lange Abfahrt ins mosambikanische Tiefland, schöne Aus- und Ansichten allenthalben, vor allem als die Sonne untergeht und lange Schatten wirft, die rote Erde noch röter, das vielfältige Grün noch satter erscheinen lässt. Halb sieben wird’s jedoch schlagartig dunkel. Zwei Stunden später erreichen wir die Grenze. Alles aussteigen! Zu Fuß geht’s von der südafrikanischen zur mosambikanischen Grenzstation, gut einen Kilometer durch eine stacheldrahtbewehrte Sicherheitsschleuse. Laster und Busse kurven an uns vorbei. Viel Volks mit Bergen undefinierbarer Ballen, ängstliche Augen, Schweiß, reichlich Uniformierte. Im düsteren mosambikanischen Grenzhäuschen schließlich die notwendige Stempelei. Hie und da noch Gestikulieren, nochmalige „Zoll-Blicke“ in unseren Bus, dicke Schwüle, dann endlich rollen wir ins Zielland hinein. Sofort ist die Straße nicht mehr von reflektierenden Randstreifen gerahmt, auch kein Mittelstreifen mehr. Dunkelheit. Dafür entdecke ich ein leuchtendes Kreuz des Südens an unserer Seite. Halb elf in Maputo. Herberge eine Backpacker-Absteige, Rucksacktouristen, Zimmer aber okay, sogar mit Innen-WC und Dusche. Der Versuch, in einem Lokal gleich einige Häuser weiter, noch etwas zu Essen zu bekommen, schlägt jedoch fehl, da der Kellner zwar Speisekarten bringt, dann aber erst nach einer halben Stunde wieder erscheint, um die Bestellung aufzunehmen, diese auch notiert, nach einer weiteren Viertelstunde jedoch kommt und sagt, nun sei die Küche geschlossen… Weiter also, da zwei, drei Leutchen aus unserer Siebener-Gruppe (Thomas vor allem) unbedingt noch was Essen wollen. So landen wir in einer Kaschemme, wo’s mir gleich den Appetit verschlägt: die Tische brechen beim Zusammenrücken zusammen, schmieriger Fußboden, Insekten, und kaum sitzen wir, rücken Nutten in Scharen an. Nun gut, einige Herren wollen ja partout speisen. So gibt’s nachts halb zwei lecker Hühnchen. Ich verzichte dankend – immerhin das Bier, Sorte: „2 M“ (sprich: dosch emme – Landessprache Portugiesisch!) ist kühl und gut.

2015: Heute in den Ort, in dem das erste der gestern gesehenen Stücke spielt, nach Kamakura, Shogun-Residenz von 1192 bis 1333, das politisch-militärische Machtzentrum Japans jener Zeit also. Gleich am Bahnhof Kita-Kamakura geht’s in die erste Tempelanlage Engaku-ji. Wieder anders faszinierend und beeindruckend, wie die anderen Tempelanlagen, die wir schon erlebten. Und das wird sich heute auch so fortsetzen, wobei das Auswahlprinzip, dem wir bereits in Kyoto folgten, auch hier zur Anwendung kommen muss. Unmöglich alle Tempelanlagen, Gärten und sonstige Sehenswürdigkeiten Kamakuras an einem Tag zu besichtigen. Also wählen wir die vom Reiseführer empfohlenen: nach dem Engaku-ji den Tokai-ji. Hierhier flohen dereinst Frauen, die ihren Gatten loswerden wollten. Nach drei Jahren Klausur in dieser wunderschönen Gartenanlage galt die Ehe als geschieden. Weiter zum Kencho-ji und zum Tsurugaoka-Hachimango, wo wir sogar Zeugen einer shintoistischen Hochzeit werden. Was blasen und hämmern und pauken dabei Tempelmusiker auf skurillen Instrumenten – entsprechend die Töne… - und alles nach Noten, japanischen allerdings, die mir so rätselhaft erscheinen wie diese ganze Inszenierung und Prozedur. Vom Hauptbahnhof Kamakura fahren wir mit der pittoresken Enoden-Bahn nach Hase (ja, dieser Ortsteil heißt wirklich so, und es gibt hier sogar Fuchs-Statuen…), bummeln durch den Hase-Tempel mit weitem Meerblick über die Bucht von Kamakura und wandern zu guter Letzt zum Daibatsu, der größten Buddha-Stutue Japans. Gedränge. Wie viele andere, kleinere Buddhas, die wir in all den Tempeln schon sahen, stand natürlich auch dieser einst in einer Tempelhalle. Die rasierte Ende des 15. Jahrhunderts aber ein Tsunami komplett weg. Und so sitzt dieser gewaltige Bronze-Koloss nun erhaben im Freien. Auf dem Rückweg ein Eis – ich schwanke zwischen Süßkartoffel-, Tomaten- und Gesalzene-Milch-Eis, wähle jedoch schließlich Grünes-Tee-Eis.

2018: Auschwitz. Hineinversetzen, wie es wirklich war damals – hier, dürfte Nachgeborenen unmöglich sein. Vielleicht kann man sich annähern, wenn man versuchen will, zu verstehen - Augenzeugenberichte, Archivmaterialien, Dokumentationen, Filme - nachdenken, nachfühlen… Annähern bestenfalls, ja, vielleicht. So lange ich reise, habe ich diese Reise stets gescheut, nicht aus Mangel an Empathie, an Respekt, nicht um verdrängen zu können, nein, im Gegenteil. So sehr ich manch andere Ziele ansteuerte, um vor Ort möglichst auf ein Ganzes zu kommen, mit allen Sinnen und mit Verstand, fürchtete ich, dass hier in mir nur im leisesten etwas Touristisches, etwas Voyeuristisches mitreisen würde. Nun aber wage ich es, die Zeiten sind danach. Vor Monaten hatte ich Georg Stefan Troller bei einer Preisverleihung in Darmstadt kennengelernt und hatte diesen Mann, der dem Tausendjährigen Reich mit Not entkommen war, sagen hören: es riecht hier wieder verdächtig wie damals… Ankunft nach gut sechsstündiger, problemloser Autofahrt (fast durchgängig Autobahn). Drei-Sterne-Hotel (solider Neubau, großes, helles Zimmer, freundliches Personal) gleich neben dem Auschwitz-Museum, dem einstigen Lager I, dem Stammlager also. Kleiner Abendspaziergang. Merkwürdig zersiedelter Ort. Zum Abendessen Piroggen, dann Zubrowka.

2022: Tag der deutschen Einheit. Und was hält mich noch halbwegs zusammen? Das Schreiben? Am Morgen stürzt mir mitten in der Arbeit gleich mal der Computer ab: Stromsperre.

 

Narkose

 

Carolina Beatriz Ângelo / Jean Anouilh / Peer Augustinski /Jens Immanuel Baggesen / Black Hawk / Captain Black / George Grant Blaisdell / Arnold Bode / Stefano Casiraghi / Pinto Colvig / Juan Carreño de Miranda / Renaud Ecalle / Eric Establie / Franz von Assisi / Kadambini Ganguly / Gerhard Moritz Adolf Goldschlag / Gary Ivan Gordon / Helga Göring / Woody Guthrie / Elias Howe / Wilhelm Kienzl / Hans Kippenberger / Wiktor Stepanowitsch Kossenko / Dave Lambert / Janet Leigh / Hans Makart / Walter Mehring / Matthias Georg Monn / Seán Ó Riada / Max Picard / Johann Heinrich Roos / Heinz Rühmann / Ina Seidel / Randy Shugart / Gustav Ernst Stresemann / Carlo Sigmund Taube / Christopher van Wyck / Vincenzo Vela / Max Wolf

 

An diesem Tage fühlten wir uns wie narkotisiert:

1866 annektiert Preußen das Königreich Hannover / 1866 sinkt der Passagierdampfer „Evening Star“ vor Georgia in einem Sturm, 262 Todesopfer / Melilla, 1893: Beginn des Rif-Krieges / 1918 sinkt der britische Passagierdampfer „Burutu“ nach der Kollision mit einem Frachtschiff in der Irischen See, 148 Menschen sterben / 1935 marschieren italienische Truppen in Äthiopien ein, Beginn des Abessinienkrieges / 1944: britischer Bomber zerstören Deiche in Zeeland, bei der Überflutung der Halbinsel Walcheren kommen 176 Menschen ums Leben / 1952 wird die erste britischer Atombombe vor Australien gezündet / Peru, 1974: Erdbeben, 83 Todesopfer / Venedig, 2023: Busunglüxk, 21 Tote.

 

 

4. OKTOBER

 

Training

mit

August Wilhelm Bach / Lucas Cranach d. Ä. / Lucas Cranach d. J. / Fritz Erich Fellgiebel / Francesco Fontebasso / Henri Gaudier-Brzeska / Witali Lasarewitsch Ginsburg / Jeremias Gotthelf / Max Halbe / Stan Hasselgård / Irm Hermann / Charlton Heston / Amalie Hohenester / Fritz Hüser / Buster Keaton / Christian Wilhelm Kindleben / Herbert Kranz / Friedrich Olbricht / Giovanni Battista Piranesi / Werner Schinko / Henry Siddons / Richard Sorge / Cahit Sıtkı Tarancı / Meenakshi Thapar / Luis Trenker / Johannes Wüsten

 

Darauf meinten wir, ein Training aufbauen zu können:

1830 erklärt sich Belgien für unabhängig von den Niederlanden / 1883: offizielle Einweihungsfahrt des Orient-Express/ 1886 wird Johannesburg gegründet / 1898 fährt die Harzer Schmalspurbahn erstmals bis auf den Brocken / 1957: umkreist der erste Satellit die Erde: der sowjetische „Sputnik 1“ / 1959 startet „Lunik 3“ und sendet dann erstmals Bilder von der Rückseite des Monds / 1966 wird Lesotho, das vormalige Basutoland, unabhängig von Großbritannien / Zeeland 1986: Inbetriebnahme des Oosterschelde-Sturmflutwehrs / 1992: Ende des Bürgerkriegs in Mosambik / Moskau, 1993: Niederschlagung eines Putsch-Versuches / 2004 startet SpaceShipOne und beginnt das private Raumflugzeitalter.

 

 

Ich notierte:

1989: Sich überstürzende Ereignisse – wohin noch, woher bloß? Gestern im Verband Sondersitzung (Krisensitzung, sagte Jochen Rähmer), erstaunlicher Konsens, kaum so erwartet, Sieg der Vernunft, des Gewissens, Modell für künftige Dialogführung in unserer Gesellschaft vielleicht? Ich unterschreibe eine Resolution für Veränderungen mit. Ein bisschen, ein kleinbißchen Druck ist nun weg. Dann aber, kaum eine Stunde später, wieder beängstigende Nachrichten: Die Grenze zur ČSSR ist zu, innerhalb von zwei Tagen nach den letzten Ausreisen per Sonderzug – nun schon wieder 10.000 Leute, die bor und in der Prager Botschaft sind. Und wir, die bleiben? Selbst wir Schriftsteller hier, die zur Nachdenklichkeit, Besonnenheit aufrufen wollen, was nun, wenn der Deckel drauf sitzt, kein Dampf mehr entwichen kann? Was wird werden? Noch nie gab es eine Angst vor einem Feiertag wie die vor dem 40. Jahrestag… Sind Martyrer programmiert? Langsam, immer deutliche die Frage: Wer schürt hier eigentlich Hysterie? In keiner, der in letzter Zeit von mir erlebten Dienstberatungen konnten kursierende Dokumente im Originaltext vorgestellt werden, stattdessen immer nur Interpretationen. Da sei gesagt worden, dass… statt: da wurde gesagt…! Reden, reden, reden müsste man sofort und überall und mit jedem in diesem Land, vielleicht ist noch irgendwas von der Idee zu retten…

1995. Victoria, B.C.: Angenehme Form des Behaustseins: Bed & Breakfast - das Bett war gut, und das Frühstück ist noch besser: Juice und Melone, Eggs and Ham and Sausages und Pilze und Toast. Ich staune, was ich am Morgen schon so alles in mich hineinschaufeln kann. Mit uns am Tisch ein Paar aus Italien, beide Physiker zu Gast an der hiesigen Uni. Er spricht sogar etwas Deutsch. Konversation im einstündigen Frühstück also inbegriffen. Dann zum Pazifik, zur Cadboro Bay, nur wenige hundert Meter entfernt, Strandwanderung bei Ebbe. Traumhafte Häuser oberhalb des Strandes, dahinter weitläufige Parkanlagen, darin Villengrundstücke. Hier haben sich einige recht wohlhabende Leutchen aufs Altenteil gesetzt. Halb zwölf haben wir eine Verabredung. Marianne H. lud uns nach meiner gestrigen Lesung spontan zum Lunch ein. Eigentlich wollte auch ihr Mann dabei sein, aber ihm geht es heute nicht gut (sagt sie). Beide sind emeritierte Mathematikprofessoren, wanderten in den fünfziger Jahren aus der Schweiz ein. Marianne (hier duzt man sich stets wie selbstverständlich, auch für ursprünglich Deutschsprachige scheint das Fehlen der Sie-Form im Englischen völlig korrekt übertragbar) ist eine sehr angenehme, mütterliche Gesprächspartnerin, die viel über die ostdeutschen Nachwendeverhältnisse erfahren will, sehr interessiert, sehr verständnisvoll fragt und hinterfragt: Beim gemeinsamen Mittagessen im Faculty Club der Universität, bei der Fahrt zum Oak-Village, beim Spazieren am Inner Harbour. Zum Kaffeetrinken lädt sie uns ins Blue Crab ein, Loggia eines Hotels direkt am Hafen, tolle Aussicht, auf landende und startende Wasserflugzeuge, auf die vom Whale Watching zurückkehrenden Boote voller in Gummi gekleideter, rotgesichtiger Touristen, auf die Fähren in die USA, nach Port Angeles, Bellingham und Seattle. Dann verabschiedet sich Marianne. Ich verspreche, ihr mein nächstes Buch zu schicken. Jeanny und ich schlendern allein weiter durch die Stadt, die uns auf dieser Reise wohl am meisten beeindruckt hat, ja schwärmen lässt. Wir entdecken Underwater World, eine Art Zoo-Show, ein Taucher spielt in einem Riesenaquarium mit Seesternen ebenso wie mit Kraken oder Moränen. Im nahen Thunderbird Park bestaunen und betasten wir haushohe Totems, gehen dann ein bisschen shopping, (hier erscheint selbst Andenkenkauf reizvoll), und setzen uns zu guter Letzt in einem Hafenrestaurant zum Dinner. Verglaster Balkon, beleuchtet von Gasfackeln, erwärmt von Gasöfchen auf Ständern, phantastisch. Und dann sehen wir sogar, wie am gegenüberliegenden Gouverneurspalast Lichterketten aufflammen, die Silhouette dieses imposanten Gebäudes exotisch markieren. Dazu verspeisen wir Black Tiger Prawns und Halibut in madagassischer Pfeffersauce. Ein Gedicht! Dann ein letztes Mal am Hafen entlang und mit dem Taxi zurück ins Quartier.

1996: Sukkot. Allerorten in Eretz Israel wachsen Laubhütten mit Dächern so, dass Regen, Wind und Sternenlicht durchdringen und die frommsten der Frommen göttlichem Willen sieben Tage und Nächte lang offen sein können. Fest der Vorsehung. Erntedank.

Auf Laubhüttenmärkten wählen Großväter und Väter, Halbstarke und Kinder, alle mit Käppchen, Kippahs, oder schwarzen, breitrandigen Hüten noch, mit Schläfenlocken und Gebetstüchern sorgfältig die notwendige Zitrusfrucht Etrog und die vorgeschrieben Bestandteile des Lulaw, des Feststraußes aus: Kapot Tenarim, den Palmwedel, Anaf ez Awot, den Myrrthenzweig und Arwe Nachal, die Bachweide, Symbole für die vier Arten der Menschen wohl: den Gelehrten und Gütigen, den Ungelehrten und Gütigen, den Gelehrten doch Ungütigen wie den Unbelehrbaren und Bösen. Und würden dieser Tage ringsum nicht neuerdings Juden Araber und Araber Juden erschießen, könnte man hoffen, Tradition zielte hier (Gott sei dank) nur noch auf friedliches Miteinander.

2007: Heute ist Feiertag in Mosambik: Tag des Friedens. Vor 15 Jahren schlossen die beiden Bürgerkriegsparteien RENAMO und FRELIMO nach 15 Jahren brutalster Kämpfe (1 Million Tote, 5 Millionen Flüchtlinge bei geschätzten knapp 20 Millionen Einwohnern) Frieden, wirken seitdem demokratisch zusammen: die FRELIMO stellt (wie seit der Unabhängigkeit von Portugal im Jahre 1975) die Regierung, die RENAMO nunmehr die parlamentarische Opposition (und beherrscht wohl auch die Nordprovinzen). Dem Augenschein und dem Vernehmen nach scheint das irgendwie zu funktionieren. Bei Strafe des gemeinsamen Untergangs wahrscheinlich. Doch selbst für einen, der die deutsche Wende durchlebte, nur schwer vorstellbar… Erster Eindruck von Maputo: weitläufig, vor allem durch die schachbrettartige Anlage der breiten, schnurgeraden Avenidas und Ruas, geruhsames Treiben, pragmatisches Gemisch von Neubauten und Bauten der Kolonialzeit, die meisten verwohnt, reparaturbedürftig, das Zentrum halbwegs aufgeräumt, in der Hafengegend sowie im Marktviertel jedoch Müllberge und Dreck allenthalben, Obdachlose, Straßenkinder. Wir fahren zum Stadion, wo die offizielle Staatsfeier stattfindet. Kein Problem, da einfach mit hineinzugehen. Der Präsident ist anwesend, nach all den Nobelkarossen mit Flaggenständern zu urteilen, auch große Teile des diplomatischen Korps. Reden und Gesänge, Fernsehteams. Enge. Weiter zum Hauptbahnhof, angeblich der prächtigste Afrikas, erbaut nach Plänen Gustave Eiffels als Ausgangspunkt der Strecke nach Johannesburg. Gähnende Leere nunmehr, ein paar verschlafen, freundliche Polizisten. Keep smiling, Fotos und weiter. Mittagessen und zur Costa do Sol, einem der schönen Strände der Hauptstadt (obwohl mit verdächtig brackigem Wasser), reges Festtagstreiben. Und einmal nicht aufgepasst, wird Gerhardt das Handy geklaut. Großes Geschrei, Volksauflauf, Verfolgungsjagd, der Dieb wird gestellt, das Handy zurückgegeben, kaputt allerdings – schildert uns der Bestohlene später das Geschehen, denn als es passierte, hatte sich Gerhardt von der Gruppe entfernt, war allein unterwegs – nee, das sollte man also besser nicht tun… Am Abend ins Teatro Avenida, das von Henning Mankell gegründet wurde und geleitet wird, Mankell, der wohl seit Jahren auch seinen Hauptwohnsitz in Maputo hat. Unbedingt lesenswert seine in Mosambik spielenden Bücher, nicht zuletzt die Jugendbücher um das Mädchen Sofia. Wir sind vom deutsch-mosambikanischen Zentrum (einer Nachfolgeorganisation des Goethe-Instituts) eingeladen: im Teatro Avenida spielt heute eine deutsche Band, ein Jazz-Trio, etwas akademisch zwar, doch immerhin. Gestern hatten sie wohl einen Workshop für junge mosambikanische Musiker gegeben. Höhepunkt wird so, als sie am Ende einen jungen einheimischen Gitarristen bitten, mit ihnen zu jammen. Großes Talent! Und plötzlich lebt das Ganze, werden Gefühle sicht- und hörbar… Erstaunt bin ich, wie viele Deutsche in Mosambik unterwegs sind, „missionieren“. Schon während unseres Herfluges war uns eine Gruppe von „Kirchenfrauen“, z.T. sogar aus Magdeburg, über den Weg gelaufen, die zeitgleich mit uns Gespräche im Land führen wollen. In einem nächtlichen Small Talk im Transitraum von Dubai hatten wir uns vorsichtig abgeklopft: Ja, sie suchen soziale Kontakte, wir kulturelle… So war es denn wohl auch nicht verwunderlich, dass nur eine deutsche Kirchenfrau zum deutschen Jazzkonzert kam.

2015: Mit der Yamote-Bahn nach Hamamatsucho. Im Shiba-Park mit dem Zojo-ji Tempel besuchen wir die Gräber von sechs Shogun der Tokugawa-Dynastie, vergleichbar vielleicht der Grablege deutscher Kaiser und Könige im Speyrer Dom. Die Tokugawa-Grabanlage erweist sich aber als abgegrenzter Friedhof. In einem anderen Friedhofsteil unübersehbar die langen Reihen der Jizo-Steinfigürchen, geschmückt mit roten Mützchen, bunten Lätzchen, Windmühlen, Spielzeug. Jizo-Figürchen stehen für totgeborene, früh verstorbene oder abgetriebene Kinder. Seltsamer Zufall mal wieder, dass wir dann im zugehörigen Schrein eine Kindstaufe erleben… Auf der anderen Seite des Bahnhofs Hamamatsucho finden wir den Kyu-Shiba-Rikyu-Garten aus dem 17. Jahrhundert. Eine Insel der Ruhe und Besinnlichkeit inmitten des Häusermeers: kunstvoll angeordnete und beschnittene Bäume, Steinsetzungen, Seen. Weiter in den Stadtteil Harakuju, und hier zu einer der Hauptattraktionen Tokyos, dem Meiji-Schrein. Entsprechendes Gewimmel, trotz riesiger Anlage. Dieser Schrein gerät mit sicherer Selbstverständlichkeit immer wieder in die Weltnachrichten, da hier nicht nur des Meiji-Kaisers gedacht wird, der Japan nach jahrhundertelanger Isolation Ende des 19. Jahrhunderts öffnete, sondern hier werden auch verurteilte und hingerichtete japanische Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs geehrt – was dann, wenn’s wieder mal ein Regierungsmitglied oder gar der Premierminister tat, stets Korea und/oder China lautstark protestieren lässt.

2018: Auschwitz. Irgendwie schäme ich zu sagen, dass ich gut geschlafen habe hier, sehr gut. Zum Frühstück: Eier, gebratene Krakauer, Schafskäse, Apfelplinsen. Tickets gibt es nach Vorlage des Ausweises, säuberlich wird dein Name in einer Liste registriert. „Prosze!“- „Dziekuje!“ Strikte Einlasskontrolle, wir müssen uns zweimal in einer der langen Schlangen anstellen, da Jeannys Tasche um einige Zentimeter zu groß ist (Maximum 20 x 30!), wir die also erst in der Gepäckaufbewahrung abgeben müssen (four zloty, please). Dann der weltberüchtigte Lagereingang „Arbeit macht frei“. In den einzelnen Ziegelhäusern des Lagers (das ursprünglich eine Kaserne war) recht unterschiedliche, doch stets eindrucksvoll gestaltete Ausstellungen – jeweils für die Häftlinge einer Nation, die deportierten, gequälten, ermoderten Juden vor allem und in Regie der jeweiligen Länder offenbar. Unmöglich, alle Ausstellungen zu betrachten, das alles zu verkraften. Wir verweilen im ungarischen, slowakischen, französischen, belgischen Haus, sehen die Ausstellung zum Völkermord an den Sinti und Roma und die für die ums Leben gebrachten sowjetischen Kriegsgefangenen. Schwer, in den einzelnen Häusern, die Fülle, all die Wucht der Ausstellungstücke aufzunehmen, zu begreifen. Es sind die Einzelschicksale, die nachvollziehen lassen, die tief berühren, so die Fotos eine bildhübschen ungarischen Jüdin, auf der einen Seite mit Mann und Tochter in einem Budapester Bad, auf der anderen nach ihrer Befreiung – ja, sie hatte diese Hölle überlebt – als völlig ausgemergelte Frau, nur noch Haut und Knochen, als „Muselmanin“. Dann die Schwarze Wand, wo erschossen wurde, hinterm Stacheldraht die Höß’sche Villa, dann das Krematorium I, wo erstmals Zyklon B eingesetzt wurde, die Gaskammer, die Verbrennungsöfen, der Schlot…

Zum Lager II, nach Birkenau: Hinter einer Eisenbahnbrücke das Ortseingangsschild: Brzezinka. Danach gabelt sich die Straße, rechts geht’s zum Delikass-Zentrum, nach links gibt’s kein Hinweisschild, da jedoch etliche Reisebusse in diese Richtung fahren, laufen wir hinterdrein. Nach etwa 500 Metern ein Tafeln und Schild: „Judenrampe“ – hier kamen die Transporte an, bevor die Bahngeleise bis ins Lagergelände verlegt waren. Dann am Busparkplatz ein neues, modernes Funktionsgebäude, Book-Store, Bistro, Souvenirs. Am Wegesrand pflügt ein Bauer sein Feld. Dann unverkennbar das Eingangsgebäude, das Torhaus. Die Beklemmung wächst. Jeanny sagt, dass das Gras hier anders als nach dem endlosen Sommer daheim noch grün ist. Ich sage, ja, und die Bäume haben noch ihre Blätter… Und dann das Lager selbst – unfassbar allein diese schiere Größe! Es gab Planungen, hier bis zu 200.000 Menschen unterzubringen – die Planer sprachen von 200.000 Einheiten… - die meisten der Baracken sind in den Nachkriegszeiten verschwunden, deren gemauerte Kamine aber kakeln noch wie Baumleichen bis zum Lagerhorizont. Stacheldraht allenthalben, die Wachtürme, dann die Lagerrampe, der Ort der Massenselektionen, links zur Arbeit, rechts ins Gas, dann die Todesbaracke, die Mengele-Baracke (aus der Ferne), und schließlich die Krematorien II und III – gesprengt ebenso wie die einst am anderen Lagerende stehenden Krematorien IV und V, Trümmer, Ruinen.

Schließlich mit dem Auto nach Auschwitz-Monowitz, dem einstigen Lager III. Das ist (bis auf eine Baracke) verschwunden. Das zugehörige Buna-Werk jedoch qualmt noch leise vor sich hin. Direktor dieses Werkes war Dr. Heinrich Bütefisch, der war zuvor auch Direktor in Leuna (und wohnte in der Villa Ufergasse 7). Das geht nahe.

Menschen zudem zumeist, oft in Gruppen und aus aller Herren Länder offensichtlich. Führungen in allen denkbaren Sprachen offenbar. Auschwitz ist mit knapp einer Million Besucher jährlich zu einem Ort des Massentourismus geworden, keine Frage. Möge es nützen, möge es zum Nachdenken bringen. Dogan Akhanli schreibt in „Verhaftung in Granada“: „Und zur Jahrtausendwende besuchte ich schließlich den Ort, der, so empfand ich es, nicht zu dieser Welt gehören sollte: Auschwitz. … der einzige Weg, die Existenz von Auschwitz zu ertragen und sich zur Wehr zu setzen, besteht darin, trotz Auschwitz Gedichte zu schreiben.“

2023: Thomas Rackwitz lud mich mall wieder zum Plausch nach Blankenburg ein. Mittagessen beim Griechen, dann Schlossbesichtigung - und dabei haben wir uns uendlich viel zu erzählen.

 

 

Transfer

 

Francesco Albani / Karl Baedecker / Frédéric-Auguste Bartholdi / Joseph Bell / Sohane Benziane / Graham Arthur Chapman / Günter de Bruyn / André Deed / Paula Deppe / Per Olof Ekström / Art Farmer / Glenn Gould / Felix Alexander Gutbier / Helius Eobanus Hessus / Quirinus Kuhlmann / Henrietta Lacks / Günter Lamprecht / Jella Lepman / Loretta Lynn / Adela Florence Nicolson / Oskar Pastior / Max Planck / Paul Revere / Anne Sexton / Mercedes Sosa / Siegfried Straub / Tanaghrisson / Rembrandt van Rijn / Võ Nguyên Giáp / Otto Weininger / Fritz Weiss

 

Das hätten wir am liebsten ins Nirgendwo transferiert:

1744 sinkt das britische Segelschiff „Victory“ in einem Sturm vor den Kanalinseln, 1.150 Tote / Bijmermeer, Amsterdam, 1992: Absturz einer Boeing 747 in ein Hochhausviertel, 43 Menschen sterben / 2001 wird eine Tu-154 von der ukrainische Marine versehentlich über dem Schwarzen Meer abgeschossen, alle 78 Insassen kommen ums Leben Sikkim, 2023: der Lhanak-See läuft nach heftig Regenfällen über und überflutet ein Tal, mindstens 14 Tote.

 

 

5. OKTOBER

 

Cover

mit

Walerian Iwanowitsch Abakowski / Max Ackermann / John Alton / Bohdan-Ihor Antonytsch / Philip Berrigan / Jimmy Blanton / Manfred Bofinger / Ludwig Borchardt / Louis Cartier-Bresson / Johann Christian Buxbaum / René Cassin / Eddie Clarke / Brian Francis Connolly / Stig Halvard Dagerman / Teresa de la Parra / Denis Diderot / José Donoso / Kasimir Edschmid / Paul Fleming / Ludwig Gehre / Robert Goddard / Václav Havel / Rolf Herricht / Meliton Kantaria / Gottfried Michael Koenig / August Lafontaine / Louis Jean Lumière / Philipp Mainländer / Walter Markov / Flann O’Brian / Abi Ofarim / Georg Paul / A. R. Penck / James Rizzi / Ole Rømer / Werner Schinko / Rose Schlösinger / Georg Schulze-Büttger / Jock Stein / Tecumseh / Jaroslav Tichý / Gert Westphal / Cal Wilson

 

 

Das würden wir immer wieder auf Cover nehmen:

1863 treten die Vereinigten Ionischen Staaten Griechenland bei / 1908 erklärt sich Bulgarien für unabhängig vom Osmanischen Reich / London, 1921: Gründung des PEN / Stralsund, 1936: Inbetriebnahme des Rügendammes / Algerien, 1988: Volksaufstand für Reformen.

 

 

Ich notierte:

1982: Immer wenn Jeanny aus der Nachtschicht kommt, erfahre ich, was an Gerüchten und Hysterien im Werk kursiert. Als Erstes zumeist: die Versorgungslage, leere Regale allenthalben, dieses und jenes wird knapp (nun der Zucker beispielsweise), Bohnenkaffee wird teurer, und Handgreiflichkeiten während des Schlangestehens nähmen zu… Ich frage mich, wieso ist den Menschen auf diese Art und Weise noch immer (also trotz der angeblichen Erziehung zum neuen Menschen) das Hemd näher als die Hose. Angst zu Verhungern? Angesichts des Rüstungswahnsinns ringsum? Liegen die Versorgungsprobleme nicht vielleicht in all den Nachrüstungen begründet? Aber das sagt hier ja niemand. Nein, die Zeitungen sind propper und propper voll von Erfolgsmeldungen.

1995: Victora, B.C.: Zum Frühstück heute das, was sich Jeanny schon lange wünschte: Eierkuchen mit Maple-Sirup. Dann nochmals zur Uni, zur letzten Lection, die ich auf dieser Reise gebe. Und einmal mehr aufgeschlossene Studenten und Professoren. Danach lädt uns der Chairman Johannes M. zum Lunch ein, doch wir schlagen aus, lassen uns von ihm lieber downtown fahren, um noch möglichst viel von Victoria sehen zu können. Crystal Garden: tropische Pflanzen und Tiere, frei fliegende Schmetterlinge sogar, und was für Prachtexemplare! Dann China-Town, dann Hafenrundfahrt mit einer der kleinen Harbour Ferries, die Jeanny „Bügeleisen“ nennt. Das hiesige Wachsfiguren-Kabinett erweist sich als nicht allzu sehenswert, dafür aber das Museum of British Columbia. Großartige Zeugnisse indianischer Kulturen. Unvorstellbar fast, dass diese Völker hier noch vor 70, 80 Jahren wie zu Urzeiten lebten, und so schamlos und restlos aus ihren Paradiesen vertrieben wurden. Am Abend holt uns Angelika zum Dinner bei Walter R. ab, Fahrt in einen phantastischen Sonnenuntergang hinein. Wir lernen Rodney S. kennen, Mitherausgeber des W.B.-Buches von Walter Riedel, dem ich auch einen Artikel beisteuerte. Walter R., der sich auch als Maler versucht, präsentiert uns stolz seine Bilder. Zurück in der Herberge heißt es Kofferpacken. Unsere letzte Nacht in Kanada, verrückt, wie schnell die Zeit hier verging. Da ist am Ende dieser Reise noch kein Funke von Heimweh, keinerlei Vorfreude auf Gewohntes. Ich könnte mir durchaus vorstellen, morgen zur nächsten Station weiterzureisen, ja noch ein bisschen Kanada mehr, bitte!

1999: Tandem-Lesung in Haldensleben mit Klaus Urban aus Hannover: Tandem: Nachwende-Erfindung des Schriftstellerverbandes, um ost- und westdeutsche Autoren zusammenzubringen. Seit acht oder neun  Jahren haben wir so jährlich eine oder zwei Veranstaltungen zusammen gehabt, mal im Westen, mal im Osten, je nachdem wer förderte. Nun scheint diese Projektreihe aber auszulaufen, kein Geld mehr da. Mein Gegenbesuch in Niedersachsen ist schon dieses Jahr nicht mehr finanzierbar. Dennoch wird’s eine gute, lockere, erfolgreiche Lesung für Abiturienten. Trotz dem!

2000: Am Morgen nach Burg. Schreibwerkstatt in einer Sekundarschule, sehr freundliche Aufnahme durch den Direktor und auch die Werkstatt mit 12-13jährigen Schülern läuft dann sehr gut. Mittag in Genthin zur Premiere einer neuen Landesanthologie in der Bibliothek. Von da zur Jahresversammlung des Landesschriftstellerverbandes. Peinlich bis widerliches Gezänk um Honorare, Stipendien etc. So bin ich froh, dann endlich ins Auto steigen und zur anstehenden Tagung der Bosch Stiftung nach Görlitz fahren zu können. Immer mal Nebelschwaden, aber ich komme ganz gut durch, fahre über Cottbus und Bad Muskau höre im Autoradio halbstündig Nachrichten über die Vertreibung Milosevics in Belgrad, Erstürmung des Parlaments und des Fernsehens durch protestierende Volksmassen, und bin gutgelaunt gegen 21.00 Uhr im Görlitzer Tagungshotel. Herzliche Begrüßung durch die schon seit Mittag anwesenden anderen „Bosch-Leute“.

2007: Maputo. Der neue Tag beginnt, wie der alte endete: wir warten mal wieder aufs Essen. Nach dem Konzert hatten wir versucht, noch einen Happen zu uns zu nehmen. Etwa eine Stunde nach Bestellung brachte einer der gelangweilten Kellner einen Teller mit sieben gegrillten Garnelen. (?) Dann passierte eine lange Weile nichts. Und nach anschließendem, endlosen Hin und Her, gab’s schließlich diese Erklärung: Man habe verstanden, wir wollten sieben Garnelen, nicht etwa sieben Portionen Garnelen. Mahlzeit! Niemand der nachgefragt hätte, warum diese Weißen da stundenlang blöd rumsitzen, kein Interesse Geld zu verdienen offenbar. Dumpfe Bräsigkeit. Heute nun hatten wir für 9 Uhr Frühstück bestellt. Viertel zehn versuche ich nachzufragen. Der eine Hausangestellt signalisiert schweigend Desinteresse, der zweite grinst breit und blättert sich schließlich geruhsam durchs Herbergsbuch, meint dann, wir hätten die Zeit nicht gesagt, wann wir frühstücken wollen. Eine erneute Nachfrage ergibt, dass sie überhaupt nichts, um Frühstück zu machen, im Hause haben. Auf einmal rennt eine der drei, bis dahin teilnahmslos in der Ecke stehenden Küchenmädchen los. Offenbar um in der Kaufhalle (oder wo auch immer) Kaffee und Brötchen zu besorgen. Halb zehn sind dann alle Bediensteten verschwunden. Dreiviertel zehn kommen Tassen und Bestecke auf den Tisch, um zehn Kaffee, Brötchen und gekochte Eier hinzu. Und nun erscheint auch unser Kontaktmann vom hiesigen Jugendverband, mit dem wir schon mal gestern um 11.00 Uhr und gestern um 18.00 Uhr und heute um 9.00 Uhr verabredet waren. Er hat aber keine Zeit und verschwindet nach 5 Minuten Höflichkeitenaustauschs wieder. (Eigentlich hatten wir von ihm unser Besuchsprogramm erwartet…) Lehrstunde in mosambikanischer Mentalität. So treffen wir uns gegen Mittag mit einem deutschen Fotografen und Sozialarbeiter, den wir gestern Abend beim Konzert kennen gelernt hatten. Er zeigt uns seine jüngst in einer hiesigen Galerie eröffnete Ausstellung (die Ende des Jahres auch in der Evangelischen Akademie Wittenberg zu sehen sein soll). Und dann erweist er sich auch als kundiger Mosambikkenner. So berichtet er, dass er gelegentlich Familien zusammenführe, will sagen: Als in der Wendezeit fast alle in der DDR beschäftigten mosambikanischen Vertragsarbeiter (insgesamt waren es wohl mehr als 20.000) schlagartig ausreisen mussten, blieben nicht selten bei deutschen Frauen Kleinkinder zurück, die ihre Väter nicht oder nur vage kennen lernen konnten. Erst kürzlich habe er nach Suchanzeigen einer solchen Tochter aus dem Thüringischen den Vater im Norden Mosambiks auffinden können, habe die Tochter dann mehrere Wochen lang begleitet und behutsam mit den hiesigen Verhältnissen, dem unbekannten Vater, dessen neuer Frau, den Stiefgeschwistern vertraut gemacht. Der Vater habe nach seiner Rückkehr keine Chance gehabt einen angemessenen Platz in den neuen mosambikanischen Verhältnissen, in der Phase der Abkehr vom Sozialismus, zu finden. Obwohl in der DDR gut ausgebildet, habe er keinerlei Job finden können, lebe nun wie so mancher seiner Schicksalsgenossen, bestelle sein kleines Feld, um die Familie recht und schlecht ernähren zu können, klage aber nicht, habe sich eingefügt.

Nicht so manche anderen Rückkehrer. Eine Gruppe habe beispielsweise von anderthalb Jahren die deutsche Botschaft besetzt, um ihre berechtigten (!) Forderungen, nach versprochenen, doch hartnäckig noch immer ausstehenden Ausgleichszahlungen durchzusetzen. Und erst vor wenigen Wochen ging in Deutschland durch die Presse, dass in einer Verhaftungswelle mindestens 400 dieser Leute nach neuerlichen öffentlichen Protesten inhaftiert wurden. Den Mosambikanern, die in den spätern 70er und frühen 80er Jahren (als Mosambik noch auf dem Wege ins sozialistische Lager war) in die DDR kamen, hatte man eine gediegene Ausbildung und tolle Jobs nach ihrer Rückkehr versprochen. Tatsächlich schufteten dann nicht wenige jahrelang zwischen Thüringer Wald und Ostseeküste am Fließband, um die horrenden Auslandsschulden ihres Vaterlands bei der DDR zu tilgen. Teile dieses damals (den mosambikanischen Arbeitern) nicht ausgezahlten Lohnes wollen manche nun zumindest auf die Sozialleistungen, auf eventuelle Rentenansprüche angerechnet haben. Verrückt, diese Leute waren guten Glaubens für Jahre ins Ausland gegangen, um ihrem im Aufbruch befindlichen, prä-sozialistischen Land bei der Entkolonialisierung, beim Aufbau zu helfen. Doch als sie zurückkehrten, zurückkehren mussten, gab es dieses Land (und im Übrigen auch das Land, das sie angelockt hatte) nicht mehr, wurden sie daheim, ob ihrer möglichen ideologischen Ausrichtung scheel angesehen und geschnitten…

Auf dem Rückweg passiert mir was Absurdes: mir wird übel, schwere Schmerzen in der linken Schulter, in der Brust, ich kann mich kaum noch bewegen, kriege schlecht Luft, setze mich auf die Treppe eines Hauses, an dem wir gerade vorbeikamen. Soll das ein unglaublicher Ulk werden, Stoff für eine Groteske geben? Das Haus ist das Haus des mosambikanischen Schriftstellerverbandes! Aber zum Lachen ist mir gewiss nicht zumute. Dafür schießen mir (selbstredend) schlimme Gedanken durch den Kopf: Sollte das wirklich ein…? Nein, das wage ich dann doch nicht zu Ende zu denken (sic!), lasse mich in die Herberge fahren, kann aber nicht liegen, nicht sitzen… Ein Hexenschuss? Oder Dehydrierung? Krämpfe? Zugezogen durch die ständig offen stehenden Busfenster? Und/oder Folgen der Malariaprophylaxe, all der Impfungen? Da muss ja ein abenteuerlicher Chemie-Cocktail in mir schwappen… In kurzer Zeit trinke ich fast drei große Wasserflaschen leer, und langsam geht’s ein bisschen besser, kann ich schon mal starr auf dem Klo hocken. Rührend, wie sich Thomas um mich sorgt, mir sofort das Handy seines Bruders gibt, immer wieder nach mir sieht, besorgt fragt… Hätte ich eine Einleitung zu diesem Reisetagebuch geschrieben, hätte ich sicherlich erwähnt, dass mir die Vorbereitung dieses Mal wie die auf einen Abschied vorkam, dass ich den Schreibtisch, den Computer, das Arbeitszimmer ordnete, Termine weit voraus wie bei einer Übergabe durchorganisierte. Gut, Schluss aus, aber der Schreck ist mir doch gehörig in die Glieder gefahren… Jankos letzte Reise… Scheiße, du wirst alt, Alter. Noch scheint letztlich aber Selbstironie zu helfen.

2015: Tokyo. Mit der U-Bahn nach Asakusa, sprich: Asacksa, das alte Handels- und Amüsierviertel Tokyos. Tatsächlich reiht sich hinter einem roten Tor mit der größten Laterne Japans schier endlos Verkaufsbude an Verkaufsbude aneinander und endlich finden wir diverse Mitbringel. Doch schon zieht es uns weiter in den Nachbarstadtbezirk Sumida und hier in die erst unlängst eingeweihte Sky Tree City mit dem höchsten freistehenden Rundfunkturm der Welt (634 m). Innerhalb dieses hochmodernen Gebäudekomplexes schließlich das Sumida Aquarium in der 4. und 5. Etage. Nie gesehene Fische, Quallen, ein riesiges Hai- und Müränenbecken und eine großflächige Pinguin- und Robben-Anlage (innen!). Mittagessen heute koreanisch: nochmals neue Erfahrungen für die Papillen. Und meinen Pupillen will ich nicht so recht trauen, als ich in einer vielbefahrenen Hauptstraße ein seltsames Messgerät mit Leuchtanzeige entdecke, doch hier wird wirklich der Geräuschpegel in Dezibel gemessen und angezeigt. Wahrscheinlich würden wir tagtäglich noch eine ganze Weile völlig Neues entdecken im Reich der aufgehenden Sonne, dieser so reichlich andersartigen Zivilisation. Aber keine Frage: morgen geht’s unweigerlich zurück. Doch ich habe durchaus ein gutes Gefühl, so etwas wie einen Querschnitt erfahren zu haben. Ja, Akira wird mein neuer Held werden können. Am Abend nochmals Bummel durchs Kyubashi-Viertel, ein, zwei  Abschiedsbierchen und: Arigatoh Japan!

2020: Kurzurlaub: für zwei Tage nach Bamberg, einfach mal raus aus dem Alltag, den nervraubenden Nachrichten, gut Essen, gut Trinken – was wir auch sogleich in die Tat umsetzen: Schäuferla und Schlenkerla. Am Nachmittag Treff mit Tanja Kinkel, die Bambergerin ist und mit der während meiner Zeit als PEN-Schatzmeister im Präsidium stets gut zusammenarbeitete. Es gibt viel zu erzählen, nach der letzten Chaos-Tagung Gotha, nun wird nächste Woche ein neues Präsidium gewählt. Tanja hatte die Findkommission geleitet. Doch sie lässt es sich nicht nehmen, uns durch ihre Stadt zu führen, uns Ansichten zu eröffnen, zu denen man als Tourist wohl kaum käme.

 

 

Curriculum

Rick Abao / Alexander Nikolajewitsch Afanassjew / Jean-Philippe Baratier / Carl Bertuch / Booker Little Jr. / Seymour Cray / Karlheinz Drechsel / Kaibara Ekiken / Roland Garros / Dinucu Golescu / Katharina Heise / Steven „Steve“ Paul Jobs/ Brian Edmund Peter Keenan / Walter Kempowski / Edward James „Eddie” Kendricks / Dorothea Klumpke / Wolfgang Kohlhaase / Steve Lee / Henning Mankell / Franz Matsch / Francisco Burdett O'Connor / Jacques Offenbach / Ōtomo no Yakamochi / Neil Postman / Marie Christiane Eleonore Prochaska / Rasmus Rasmussen / Selma Rıza / Nini Rosso / Max Sachs / Egon Schultz / Franz Singer / Jan Jacob Slauerhoff / Earl Silas Tupper / Jean Vigo / Sam Warner / Friedrich Wolf

 

 

Das sollte keinen Platz in  unserem Lebenslauf haben:

Southhampton, 1338: Piraten überfallen die Stadt, töten zahlreiche Einwohner und führen Gefangene in die Sklaverei / Merseburg, 1571 „ist der Mond gar grüne zu abends erschienen“ / 1685 erobert Kurbrandenburg die mauretanische Insel Arguin / Spanien, 1833: Ausbruch des ersten Carlistenkrieges / Kalkutta, 1864: durch einen Wirbelsturm kommen 60.000 Menschen ums Leben / Reims, 1914: erster Luftkampf der Welt / Beauvais, Frankreich, 1930: missglückte Notlandung des britischen Passagierluftschiffes R101, 48 Todesopfer / Jakarta, 1991: Absturz einer Lockkheed C-130, 136 Tote / 1994 nehmen sich in der Schweiz und in Kanada 58 Sonnentempler das Leben / Hrosa, Ukraine, bei einem russischen Raketeangriff kommen 51 Menschen ums Leben.

 

 

6. OKTOBER

 

Sternstunde

mit

Martin Behaim / Max Butting / Isidor Caro / Maria Dąbrowska / Marie de Gournay / Richard Dedekind / Hans Heinrich Euler / Bobby Farrell / Reginald Fessenden / Phylis Gardner / Roland Garros / Janet Gaynor / Ricardo Giacconi / Thor Heyerdahl / Hirata Atsutane / Horst Lange / Wolfgang Langhoff / Le Corbusier / Jenny Lind / Joan Littlewood / Carole Lombard / Josef Madersperger / Meret Oppenheim / Ludwig Purtscheller / Karol Maciej Szymanowski / John Webber / Wenzel III. / Johann Herman Wessel / Udo Zimmermann

 

An diesem Tag glaubten wir an Sternstunden:

1582: Beginn der Gregorianischen Zeitrechnung (diesen Tag gibt es in den katholischen Ländern Europas nicht) / 1848: Wiener Oktoberaufstand / Italien, 1870: Ende des Risorgimento / Cincinatti, 1871: Einweihung der Tyler Davidson Fountain / Paris, 1889: Eröffnung des „Moulin Rouge“ / 1889: Erstbesteigung des Kilimandscharo / New York: 1927: Aufführung des ersten abendfüllenden Tonfilms: „The Jazz Singer“ / China, 1976: Verhaftung der „Viererbande“, Beginn des Endes der Kulturrevolution.

 

Ich notierte:

1995: Victoria, B.C.: Nach dem Frühstück noch einmal zum Pazifik, Abschied nehmen sozusagen. Um 10 Uhr holt uns Angelika ab, fährt uns zum Airport. Zwischenstopp auf dem Mount Douglas, herrlicher Rundumblick über die Victoria, und die vorgelagerten Inseln. Dann fängt es an zu regnen und der Abschied fällt etwas leichter. Tschüß Victoria! In Vancouver habe wir sogar das Glück ein upgrading zu bekommen, dürfen Business-Class fliegen. Wie nobel! Zwischenlandung in Calgary, und dann ab gen Frankfurt, straight ahead - leider.

1999: Am Vormittag hole ich Multimedia-Fachleute für die Bosch-Ausstellung in Merseburg vom Bahnhof ab. In meinen Arbeitsmansarden gibt’s reichlich abzustimmen und zu diskutieren. Langsam entsteht aber eine Struktur der Multimedia-Präsentation, weisen wir uns konzentriert Aufgaben zu, produktive Atmosphäre. So bleibt am Ende sogar Zeit, dass ich den beiden noch eine Ansicht des „Projektortes Leuna“ verschaffe, sie im Auto durch die Stadt und einmal ums Werk und sogar zum Merseburger Dom fahre.

2000: Görlitz. Beiratssitzung der Bosch-Stiftung. Und es ist für mich durchaus noch gewöhnungsbedürftig, dass ich nunmehr also auch zum „Rat der Götter“ gehöre. Heute geht’s vor allem um die Gestaltung des Abschlusskolloquiums in einem Jahr in Leipzig. Da scheint allein durch Ausstellungserweiterungen auch noch einiges an Arbeit auf mich zuzukommen. Nach dem Mittagessen Stadtrundgang und schließlich über die Neißebrücke ins polnische Zgorceléc. Normalität, obwohl man für den Grenzübertritt den Pass braucht. Am Abend weitere Vorträge, u.a. über das in Görlitz im Entstehen befindliche Schlesische Landesmuseum, und zu guter Letzt wird wie üblich köstlich aufgetafelt und gezecht und diskutiert bis spät in die Nacht...

2001: Könnte sein, dass diese Kausalkette lähmt: Vorstellungen können zu Kunst werden, Filmen, Texten, was auch immer, und vorstellbar ist wohl eigentlich (fast) alles. Wenn aber aus Phantasieprodukten grausame Wirklichkeit wird, müsste man seine Vorstellungen doch zügeln, oder? Verunsicherung auch insofern, da der auch von mir befürchtete Gegenschlag der Amis bislang ausblieb. – Um die Legitimation für eine jahre-, wenn nicht jahrzehntelange Unterdrückung von Strukturen zu bekommen? Andererseits scheint mir immer deutlicher, dass die Angriffe auf New York und Washington genau kalkulierte Provokationen waren, da die Angreifer/Verschwörer mit ihrer eiskalten Logistik auch hätten Atomkraftwerke zerstören können… Seitdem aber gab es einige höchst seltsame Vorgänge: die Explosion einer Chemiefabrik in Frankreich, der Absturz/Abschuss eines aus Israel kommenden russischen Jets über dem Schwarzen Meer… Auch Provokationen? Um den amerikanischen Gegenschlag auszulösen? So erneut eiskalt und legitimiert zurückschlagen zu können? Selbst in Leuna flog vor ein paar Tagen die Phenolanlage in die Luft, und auch weiß man angeblich nicht warum… Hirngespinste vielleicht und Gott sei dank habe ich soviel Arbeit, dass da keine Muße für Depressionen bleibt.

2002: „Welt am Sonntag“: Schau an, was sagt denn da Douglas Coupland: „Ökologen behaupten, das Beste für unseren Planeten wäre, wenn alle Menschen zehn Jahre lang am selben Fleck blieben, nicht reisten. Jeder würde sich um die lokale Gemeinschaft und das Ökosystem vor Ort kümmern...“ Schön, schön, auf diesen Versuch, die Erde zu retten, könne es von mir aus durchaus ankommen, why not, obwohl unsereins mit zwangsweisen lokalen Gemeinschaften, mit Nichtreisenkönnen und so, ja schon seine Erfahrungen gemacht hat. Allerdings antwortet Coupland am Ende des Interviews auf die Frage, ob er sich freue, wenn Technik auf ursprünglich ungeahnte Weise genützt würde: „So ist es. Als das Auto erfunden wurde, ahnte auch niemand, dass Hunde ihre Köpfe gerne bei 30 km/h aus dem Fenster stecken würden.“ Na bitte, so kann’s doch gern mal wieder Montag werden.

2007: Maputo. Die halbe Nacht auf der Bettkante gesessen, sobald ich versuchte mich hinzulegen, wurden die Schmerzen unerträglich… Insofern gut, dass wir schon halb sechs raus müssen, um die Fähre zur Insel Inhaca, unser heutiges Ausflugsziel, zu erreichen. Nieselregen, alles grau in grau. Und glücklich legt die Fähre (von der niemand genau sagen konnte, wann sie eigentlich fährt) dann halb acht ab. Drei Stunden Fahrt über den offenen Indischen Ozean. Als wir eintreffen regnet es Blasen und es ist saukalt. Doof für ’ne Ausflugsinsel. Von der Fähre wird man mit klapprigen Tendern zum Strand gebracht. Da ist man doch einfach klatschnass. Wir flüchten unters Dach einer Freiluftgaststätte, phantastisch frische Langusten. Kleiner Rundgang durch die ärmliche Siedlung als der Regen ein bisschen nachlässt. Man ahnt, dass das hier ein Traumziel dieser Erde (intakte Riffe und Fischgründe wohl) sein könnte, in 20 Jahren vielleicht und ohne Dauerregen… Gegen 14.00 Uhr zurück, mit ’nem leckenden Kahn zu Fähre, Klimmzug an Deck, und das mit meiner schlimmen Schulter. Mist.

2022: Bamberg. Jeanny und ich wollen Kaiser Heinrich II. und seiner Kunigunde, die ja auch so vieles für Merseburg bewirkten und über die ich folglich schon oft geschrieben hatte, die Ehre erweisen. Aber der Dom mit den Gräbern der beiden ist geschlossen: „Wegen interner Veranstaltung“. Schau an. So besteigen wir denn ein Schiff und befahren bei herrlichstem Sonnenschein die Regnitz.

 

Statement

für

Heinrich Albert / Anwar as-Sadat / Ludwig Aulich / Peter Edward „Ginger“ Baker / Lajos Batthyány / Elizabeth Bishop / Montserrat Caballé / Bette Davis / Miguel de Barrios / Horst Deichfuß / Gunther Erdmann / Raymond Federman / Herbert Feuerstein / Howard Garns / Franz Geueke / Rahel Hirsch / John-François „J.F.“ Jenny-Clark / Pierre Leclerc / Francesco Manfredini / Wiktorija Marinowa / Augustus Matthiessen / Morimoto Kaoru / Johnny Nash / Matteo Noris / Johnny O’Keefe / Har Rai / László Rajk / Amália Rodrigues / Antonio Maria Gasparo Gioacchino Sacchini / Heinz Sielmann / Alfred Tennyson / Frances Trollope / William Tyndale / Focko Ukena / Eddie Van Halen / Fjodor Alexandrowitsch Wassiljew / Ilse Weber

 

Das verstanden wir gewiss nicht als Statement:

539 v. Chr: Eroberung Babylons, Ende des Neubabylonischen Reiches / 1860: Eroberung Pekings durch britische und französische Truppen im Zweiten Opiumkrieg, Zerstörung des Sommerpalastes / 1875: Bankrott des Osmanischen Reiches / 1939: Kapitulation Polens / Aschgabat, 1948: Erdbeben, 110.000 Todesopfer / San Francisco, 1967: Ende des „Summers of Love“ / 1973: Beginn des Jom-Kippur-Krieges, bis zum 25.10. sterben 1.656 Israelis un bis zu 15.000 Araber / Bangkok, 1976: an der Thammasat-Universität werden mindestens 46 Studenten und Demokratieaktivisten massakriert.

 

 

7. OKTOBER

 

Test

mit

Gjorgij Abadžiev / Juan Benet / Fred Bertelmann / Niels Bohr / Canaletto / Rosalba Carriera / Cecil Coles / Georg Danzer / Hans-Peter Dürr / Raimund Harmstorf / Georg Hermann / Heinrich Eduard Jacob / Rolf Werner Juhle / Therese Krones / Sanne Ledermann / John Marston / Al Martino / Elijah Muhammad / Wilhelm Müller / Friedrich Louis Nulandt / Onwanonsyshon / Roman Padlewski / Günther Schwab / Alexander Ignatjewitsch Tarassow-Rodionow / Desmond Tutu / Wang Fuzhi / James Edwin Webb / Larry Young / Markus „Zimbl“ Zimmer

 

 

Das hielten wir für einen vielversprechenden Test:

1918: proklamiert sich Polen als unabhängiger Staat / Paris, 1948: Präsentation des Citroën 2CV, der „Ente“ / 1949: Gründung der DDR / 1972: Ende des ersten Uganda-Tansania-Krieges.

 

 

Ich notierte:

1981: Zum ersten Mal seit Jahren an diesem Tag zu Hause, dafür gestern gemuggt. Am Nachmittag mit Jeanny und Cathi in Merseburg auf dem alljährlichen Markt. Dann kommt ein Typ, der den Moskwitsch kaufen wollte, nicht. Nun habe ich das Auto Hübner mitgegeben, damit er es taxen lässt. Hoffentlich gibt’s keine allzu großen Verluste. De facto seit Juli kein Geld mehr verdient.

1982: Ernst, der Lebensgefährte Frau Müllers in Meuschau, sagte, er glaube, 1911 sei zum letzten Mal so ein Sommer wie dieser gewesen. Hitze seit Mitte Juli, alles verdorrt, verbrannt, gelbgrau, staubig – seit gestern Abend aber regnet es! Und es ist plötzlich so kalt, das ich einheizen muss, um arbeiten zu können.

1994: Kibbutz Naot Mordechai: „Also“, sagt Josef, Sohn des letzten Rabbiners von Halle an der Saale, „Nun will ich euch zeigen, wie hier ä alter Jidd wohnt“: Großes Zimmer, kleines Zimmer, WC, TV, Bücher auch und Kassetten, drei leere Schnaps- und vier leere Bierflaschen - Erinnerungsstücke an außergewöhnliche Stunden im Kibbutzalltag wohl. Einsamkeit haftet an allem, jahrzehntelange. Doch hat er überlebt, der Josef Kahlberg aus Halle, im Grenztal zwischen Syrien und Libanon.

1996: Yad Vashem. Gedenke! scheint hier alles zu raunen,

Gedenke deutschen Wahnsinns! Steine, Bäume, Bilder: „Zikhor!“ Leise aber höre ich auch wieder jenen alten Jecken, der uns in seiner Siedlung nahe Hebrons vom Frieden als Verbrechen sprach: „Shenit Massada lo tipol“ -  nie wieder wird Massada fallen! - Eli aus Preßburgmit der tätowierten Nummer im Unterarm - Was darf, was kann, was muss ich dir sagen? / Sprachlosigkeit auch angesichts des jungen Juden, der den Holocaust „holy cow“ nannte. Im Tal der Gemeinden dann, in diesen Klüften vernichteten Zuhauses, einer vernichteten Welt, ein Name, der unwirklich wirkt hier: Chernobyl. Prompt schrillt Hannas Handy: „Hallo?“ - Unser Driver fragt an, wann’s weitergeht.

1999: Arbeit an den Multimedia-Texten für die Bosch-Ausstellung. Am Nachmittag mal wieder in die Merseburger Goethe-Schule. Heute können wir schon drei/vier von den Schülern mitgebrachte Texte diskutieren. Scheint also langsam anzulaufen. Erst mit den Abendnachrichten realisiere ich, dass heute der 50. Jahrestag der DDR gewesen wäre. Meingott, wie fern ist mir das alles längst. (Wobei mir dieser Nationalfeiertag immer schon reichlich schnuppe war.)

2001: Als hätte ich gestern einen unerträglich zunehmenden Druck gespürt, schrieb ich mir gestern einige Ängste von der Seele. Heute nun (genau 18.27 Uhr, sagt die Nachrichtensprecherin) begannen die Gegenschläge der Amerikaner: Angriffe auf Kabul, Kandahar, Dschalalabad…

2005: Kloster Lorch. Staufer-Panoramagemälde in der Rotunde, Szene: von einer Burg hoch oben tragen Frauen in langer Reihe nackte Männer huckepack ins Tal. Ich frage die Meine, ob sie denn getreu der Sage um die Feste Weinsberg, nach der die Weiber der Belagerten im Falle der Kapitulation mitnehmen dürften, was immer sie zu schultern vermöchten, frage also die Meine, ob sie denn den Ihren gerettet hätte. „Ach, du schnarchst in letzter Zeit so grässlich!“ „Komm“, sage ich, „Schnarchtöne sind doch verschlüsselte Liebesbotschaften. Wusstest du das nicht?“ „Und der Code?“, will sie wissen, „Was ist mit dem Code?“ „Der liegt natürlich im Übertragenen!“

2007: Maputo. Dreizehn Stunden durchgeschlafen. Ich fühle mich wie neugeboren. Doch was hatte ich, was war das? Erschöpfung? ’ne allergische Reaktion? Ein mulmiges Gefühl bleibt… Es ist Sonntag. Wir sind von einer Baptisten-Gemeinde, zu der Gerhard, unser Magdeburger Weltenbürger und Handy-Geschädigter, Kontakt hat, zum Gottesdienst eingeladen. Laulane, Igreja Baptista das Mahotas. Während der kalifornische Gastprediger ewig aus der Heiligen Schrift liest, schenke ich dem popelnden Kind vor mir einen Stift. Amen. Gut zwei Stunden zieht sich das Ganze schweißtreibend unterm Wellblechdach hin. Teil des heutigen Prozedere: Wir werden gebeten zu sagen, wie wir heißen und woher wir kommen. Hallelujah! Etwa 40% der Mosambikaner sollen christlich sein, Katholiken und Evangelische, und neuerdings drängen auch Pfingstgemeinden, Mormonen und brasilianische Eiferer ins Land. Weitere 40% hängen wohl Naturreligionen an, der Rest sind Mohammedaner (die vor allem in den Küstenregionen ansässig sind, wo Araber schon seit Menschengedenken Handel trieben). Die Baptistenkirchenbaracke steht in einem der unübersichtlichen Vororte Maputos, wo es längst keine breiten, geteerten Straßen mehr gibt, wo die Straßen nicht einmal mehr Namen haben, einfach Rua 3.471 oder Rua 5.859 heißen. Und dass wir hier irgendwo fast in einem unergründlich tiefen Wasserloch stecken geblieben wären, hätte ich bestenfalls bei Fahrten ins Landesinnere für möglich gehalten… Von den Baptisten fahren wir nach Matola, etwa 10 km von Maputo entfernt. Von hier stammt Thomas, hier wohnen seine Mutter, einige seiner Geschwister, deren Ehefrauen und Kinder. Wir sind zum Mittagessen eingeladen. Herzlicher Empfang und schon sitzen wir unter einem großen Mangobaum am festlich gedeckten Tisch. Fisch, Maniok, Reis, Erdnusssoße, Eier, leckere Hausmannskost. Selbstredend haben wir reichlich Gastgeschenke dabei, geben auch Geld. Verstohlenes Lugen in den Umschlag, und große Freude. Ja, seine Mutter tanzt für uns sogar als Dankeschön! Thomas’ Vater ist tot, seine leibliche Mutter seit langem auch, dies hier also seine Stiefmutter, die Frau, die ihn großzog. Als Witwenrente stehen ihr heute 600 Meticais im Monat zu, das sind etwa 17 Euro. Ohne dies vorab zu wissen, hatten wir jeder 10 Euro aus unseren Börsen gefischt, ihr also 2000 Meticais überreicht, verständlich, die überbordende Freude. Man scheint sich hier so gut es geht selbst zu versorgen, da ist der Mangobaum, daneben ein Mandarinenbäumchen, Kohl wächst im Gärtchen, Maniok, Kartoffeln… Um das Wohnhaus der Familie steht es schlecht. Im Frühjahr war in der Nähe das Munitionsdepot der Armee in die Luft geflogen. Ja, diese Nachricht, zahlreiche Tote und Verletzte, war sogar bis in die Tagesschau vorgedrungen, ich erinnere mich. Und sehe nun die Folgen: die Vorderseite der ärmlichen Behausung hat tiefe Risse, bröckelt, Nässe dringt in die kargen, völlig überbelegten Wohnräume… Ich bekomme aus Thomas (der nicht gern über sich spricht) noch heraus, dass er 1984 in die DDR kam, auf ein Studium hoffte, doch im Heizkesselbau Schönebeck landete, dort brav bis zur Wende Kessel montierte, weil das angeblich nützlich für sein Land sei. Heizkessel! 1990 wurde er wie die meisten der mosambikanischen Gastarbeiter zurückverfrachtet, schaffte es aber zwei Jahre später nach Deutschland zurückzukehren – da waren wohl ein Sohn und eine Freundin zurückgeblieben, und aus der Beziehung wurde wohl eine Ehe… Mittlerweile lebt er in Magdeburg glücklich mit einer neuen Partnerin, gibt es einen kleinen Sohn. Und hier in Maputo haben wir schon zwei seiner erwachsenen Söhne kennen gelernt, Kinder aus der Ehe mit seiner ersten, verstorbenen Frau. Thomas ist der älteste Mann der Großfamilie, so auch für deren Wohl, für Aussteuern und alles dergleichen verantwortlich. Den Computer, den Fernseher, den Recorder, den Kühlschrank, alles Gerätschaften, die ich zu meinem Erstaunen in der Lehmhütte entdecke, wird er wohl nach und nach im Handgepäck hergeschafft haben… Rundgangs durchs Viertel. Scharen von Kindern folgen uns, doch niemals fordernd, niemals aufdringlich. Trotz überdeutlicher Armut allenthalben Freundlichkeit, Würde und Stolz. Und zum ersten Mal begegne ich hier auch zwei Männern, die ungefähr meines Alters sein könnten. Zwei! Bürgerkrieg und AIDS scheinen hier in meiner Generation ganze Arbeit geleistet zu haben. Zum Abschied sagt Thomas’ Mutter, etwas was mir verdammt nahe geht: Nun, nachdem sie Thomas’ Freunde kennen gelernt habe, sei sie ein bisschen beruhigter. Man höre ja so viel, das Schwarze in Deutschland verfolgt würden, geschlagen, ermordet…!

2021: Abdulrazak Gurnah erhält den diesjährigen Literaturnobelpreis. Ich freue mich – endlich mal wieder keine kleinkarierte politische Entscheidung - ein Afrikaner wird geehrt. Da ich den Mann jedoch nicht kenne, versuche ich mir sogleich was von ihm zu bestellen. Denkste – und mal wieder typisch für den deutschen Literaturbetrieb (dem ich mit meinen Möglichkeiten lange entgegenzuwirken versuchte) – nicht ein Band Gurnahs liegt übersetzt vor…

2022: Annie Ernaux wurde mit dem diesjährigen Literaur-Nobelpreis geehrt. Und gleiches Spiel wie mehrfach vor Jahren, wo ich sogleich etwas von Olga Tokarczuk oder Abdulrazak Gurnah lesen wollte: es ist kein Buch bestellbar. Ja, das sagt alles über den deutschen Büchermarkt.

 

 

 

Tragödie

für

La'or Abramov / Norman Angell / Ed Blackwell / Paul Bril / Robert Browne / Terence Davies / Andrea del Verrochio / John Langdon Down / Hugo Chanoch Fuchs / Natalia Ginzburg / Apollon Alexandrowitsch Grigorjew / Gustaf Gründgens / Radclyffe Hall / Wolgang Kieling / Hermann Köhl / Mario Lanza / Siegfried Lenz / Smiley Lewis / Shani Louk / Mahareno / Matsubara Miki / Renate Müller / Christopher Richard Wynne Nevinson / Ohtrich / George Emil Palade / Irving Penn / Edgar Allan Poe / Anna Stepanowna Politkowskaja / Jacques Savary / Anatolij Schtscherbatjuk / Thomas Schweicker / Gobind Singh / Christian Trothe / Jan Alois Zahradníček

 

An diesem Tage lähmten uns Tragödien:

1756: Nordsee-Flut, an der Elbe 600 Tote / 1985 kapern palästinensische Terroristen das Kreuzfahrtschiff „Achille Lauro“ / Afghanistan, 2001: Beginn der „Operation Enduring Freedom“ bei der bis 2014  mehr als 48.000 Soldaten ums Leben kommen / 2023: die Hamas greift von Gaza aus Israel an, mindestens 1.400 Israelis sterben (darunter 260 Besucher eines Musikfestivals), 3.000 werden verletzt, mehr als 2009 nach Gaza entführt, bei Gegenschlägen der israelischen Armee kommen mindestens 2.000 Palästinenser ums Leben, mehr als 6.660 werden verletzt, 1.500 Terroristen, die nach Israel vorgedrungen ware, bei Kämpfen getötet / Afghanistan, Provinz Herat, 2023: Erdbeben, mehr als 25000 Tote.

 

 

 8. OKTOBER

 

Impuls

mit

Jakob Arjouni / Ivar Axel Hendrik Arosenius / Jean-Jacques Beineix / Giulio Caccini / Gottlieb Elster / Heinrich Focke / Friedrich Wilhelm Waldemar Fromm / Claude Jade / Heinz Kruschel / Günter Josef Mai / Aladár Pege / Rodney R. Porter / Helmut Gustav Friedrich Qualtinger / Johnny Ramone / Faith Ringgold / Max Slevogt / Wolodymir Jewtymowytsch Swidsinskyj / Niccolò Tommaseo / Gerhard Zachar / Marina Iwanowna Zwetajewa

 

 

Das gab uns einen nachhaltigen Impuls:

1600 gibt sich San Marion eine demokratische Verfassung / Paris, 1923: Inbetriebnahme des Flughafens Berlin-Tempelhof / 1945: Gründung des Weltgewerkschaftsbundes / Stockholm, 1958: erstmals wird ein Herzschrittmacher eingepflanzt / Leipzig, 1981: Einweihung des Neuen Gewandhauses / 1991 erklärt sich Kroatien für unabhängig von Jugoslawien.

 

 

Ich notierte:

1980: Heuten habe ich geschrieben – mal wieder Eingaben, da unsere Toilette seit langem nicht mehr funktioniert und mündlich einfach nichts zu bewegen war. Meingott, dieser (sprichwörtlich) Scheißbürokratismus.

1981: Ich lese Gabriel Garcia Marquez. „Hundert Jahre Einsamkeit“ ist höchste Wortkunst, phantastisch! Und in mir ist mehr ein großes Staunen, denn ein Bestreben Nachahmen zu wollen, zu können… Nachdenkenswert jedoch unbedingt dieses Freilegen der Erinnerung, der eigenen Bewusstseinschichten, mit einer Erregung bei Höhepunkten wie beim Chorus…

1989: Sonntag. Aus Leunaer Wohnungen hängen insgesamt (so weit ich sehen konnte) eine DDR-Fahne und eine rote. Selbst das Haus des 1. Kreissekretärs ist nicht beflaggt… In der Aktuellen Kamera heute als Spitzenmeldung: „BRD-Polizei knüppelt antifaschistische Demonstranten nieder!“ – und erst so ziemlich gegen Schluss dann: „Elemente versuchten die Volksfeste zum Republikgeburtstag zu stören, die Rädelsführer wurden festgenommen…“. Wie sagte Gorbatschow vorgestern zur Festansprache in Berlin: „Die Regierung läuft Gefahr, die unfähig ist, die Signale aus dem Volk zu empfangen…!“. Was nun also?

1999: Mal wieder Arbeit an den Bosch-Ausstellungs-Texten, dann nach Merseburg ins Landratsamt, Abstimmung der geplanten Jugendbuchwoche des Bödecker-Kreises. Da man sich einigt, dabei eine Abendveranstaltung im Domgymnasium durchzuführen, stiefele ich auch gleich noch dahin, finde beim Rektor Dr. Böhm und Hans-Hubert Werner offene Ohren. Zu Hause dann alles zu Papier gebracht, muss ich schon wieder los: Erste Probe für den nächsten Oldie-Abend, Cream, Spencer Davis, Procol Harum. Läuft ganz gut.

2007. Mosambik. Ausflug nach Marracuene. Natürlich regnet’s wieder… Wir besuchen das Waisenhaus, das die Baptisten-Gemeinde, deren Gottesdienst wir gestern erlebten, hier, ca. 40 km nördlich Maputos, betreibt. Fahrt wiederum durch elende Vororte, dann eine breite Ausfallstraße, dann gut eine halbe Stunde über sandige Holperpisten. Und dann sind wir da, ein Ort als solcher ist aber eigentlich nicht zu erkennen, zumindest auf den ersten Blick nicht. Hier in Savannenlandschaft mal eine ärmliche Rundhütte, vereinzelt hacken auf staubigen Flächen, die wohl Felder sind, Frauen herum, da mitten im Busch auch mal ein schäbiger Verkaufsstand. Das Waisenhaus wurde vor sieben Jahren gegründet, vor allem, um AIDS-Waisen aufzunehmen. Funktionieren soll das Ganze mal nach dem SOS-Kinderdorfprinzip, irgendwann eine Kapazität von 75 Zöglingen erreichen. Gutes Vorhaben bei einer AIDS-Rate von mindestens 20% im Lande (in den Städten wohl um die 30%). Derzeit sind neun Kinder zwischen vier und zwölf Jahren hier. Ein Haus ist fertig, samt Küche und Backofen, ein weiteres könnte bald bezogen werden, ein drittes steht im Rohbau. Auch der Bau des Lager- und Verwaltungsgebäudes sowie des Hühnerstalls stockt jedoch. Der kleine Schweinestall steht nach einem Schweinepestbefall leer. Ein kleines Ananasfeld ist gepflanzt. Selbstversorgung wird angestrebt. Ich frage Alfonso, den Baptisten-Pfarrer, von 1987 bis 1992 in Buckow ausgebildet, ob denn der Ami, der gestern predigte, schon mal was fürs Waisenhaus gespendet habe. Alfonso antwortet diplomatisch, dass der ihm den Geländewagen, den er so dringend brauche, um überhaupt hierher zu gelangen, Material zu transportieren undsoweiter undsofort, günstig verkauft habe. Verkauft! Alles, was hier schon erreicht sei, habe man der rührigen Spendenbereitschaft eines Berliner Kirchenkreises zu verdanken. Und ein-, zweimal im Jahr kämen Mitglieder sogar nach Marracuene zu Aufbauworkshops, fassten wochenlang tatkräftig auf eigene Kosten mit zu! Wir essen mit Alfonso und den Waisenkindern zu Mittag. Jeder bekommt eine Schüssel mit Reis und Hühnerfleisch. Tischgebet, freundliches Zunicken. Bom apetito! Sein Glaube gebiete es ihm, sagt Alfonso mit sanfter Stimme in sehr gutem Deutsch, Nächstenliebe zu leben. Deshalb habe er bei allen absehbaren Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten dieses Projekt gestartet. Und alles, was er sagt, klingt glaubwürdig hier in dieser ansonsten trostlosen Öde, angesichts dieser verstörten, fast schon verlorenen Kinder, die nun vielleicht doch noch eine Chance bekommen. Obrigado – Danke!

Thomas und sein Bruder hatten uns nach Marracuene in den Busch gefahren, waren dann aber sogleich mit dem Bus nach Maputo entschwunden. Er müsse noch schnell irgendwas unterschreiben, hatte er gesagt. Nach zwei Stunden ist jedoch nichts von Thomas und unserem Bus zu sehen, nicht nach drei. So machen wir aus der Not eine Tugend, spazieren durch den Ort, kommen bis zur Schule, sind im Nu von mindestens hundert euphorischen Kindern umringt, die wild gestikulieren, um fotografiert zu werden, prompt alles, was wir sagen, im Chor nachsprechen: „Hast du noch Bonbons?“ – „Hast du noch Bonbons?“, „Unglaublich, diese Kinder!“ – „Unglaublich, diese Kinder!“, echogleich wieder und wieder. Und während des gesamten, kilometerlangen Rückwegs zum Waisenhaus kriegen wir diese Kinderschar dann nicht mehr los. „Tschüss, wir müssen nach Deutschland!“ – „Tschüss, wir müssen nach Deutschland!“… Und dabei tasten Kinderhände immer wieder nach meinen Armen, klar, weißer, armbehaarter Mann, das scheint hier noch immer eine Sensation! Jedoch auch hier keine Aufdringlichkeit, kein Fordern, kein Betteln, geschweige denn Frechheiten. Wenn an diesem Nachmittag für diese Schüler noch Unterricht geplant war, dürfte der wohl ausgefallen sein. Mal sehen, vielleicht erzähle ich demnächst die Hamelner Rattenfängersage mal ganz neu…

Nach vier Stunden ruft Thomas an, dass er unterwegs zu uns sei. Mein Gott, was mag ihm bloß in den Sinn gekommen sein, uns einfach hier draußen abzuladen und zu verschwinden? Um Zeit zu gewinnen, fährt Alfonso uns mit seinem Geländewagen (die Hälfte der Gruppe auf der offenen Pritsche) bis zur Hauptstraße. Und dann keine rechte Erklärung, keine Entschuldigung von Thomas. Mosambikaner haben schon eine eigenartige, stark gewöhnungsbedürftige Mentalität. In Maputo bleibt noch kurz Zeit, mal übern Hauptmarkt zu schlendern, bevor die Läden punkt sechs Uhr schließen, vor allem fürs Frühstück einkaufen (das wir beschlossen haben, fortan selbst zuzubereiten). Beim Abendessen in einer üblen Kaschemme im Hafenviertel (warum steuern die anderen Herren unserer Gruppe nur immer wieder solche Ziele an, verdammt?) staune ich nicht schlecht: Thomas’ Bruder, der uns noch heimfahren muss, kippt drei, vier große Biere in sich rein. Aber außer mir scheint das niemand zu stören. Nun gut, vielleicht bin ich durch meinen Gesundheitsschock zu dünnhäutig geworden.

2020: Buchpremiere im Chemiemuseum Merseburg. Ich lese erstmals aus meinen „Martysburg-Surrogaten“. Besondere Freude: unter den Zuhörern entdecke ich auch meinen alten Freund Alma. Vor mehr als 50 Jahren spielten wir erstmals in einer ersten Band zusammen, er Klavier, ich Bass, im Merseburger Josefsheim, meingott, wie lange ist das her, fast ein Leben lang… Gut also, dass wir wieder zueinander finden.

2021: Mit dem Fahrrad über Kröllwitz nach Spergau, schöne Herbst-Tour. Mein Freund Peter bestellte ein Exemplar meiner soeben erschienenen „Session“, und die bringe ich ihm doch für ein Gläschen Wein gleich mal selbst vorbei. Auch wir hatten uns coronabedingt seit langem nicht mehr gesehen. Durch und mit Peter waren wir etliche Sommer beim ProgRockFestival auf der Loreley dabei (was im Buch sogar eine Rolle spielt), hatten wunderbare Stunden dort. Er erzählt, dass auch dieses Festival letztes wie auch dieses Jahr ausfiel, er dennoch mal wieder an den Rhein fuhr, da er die Gegend liebt. Eine Woche wollte er bleiben, fuhr jedoch schon nach vier Tage wieder heim. Peter sagt, es sei wohl klug gewesen, dass wir vor drei Jahren entschieden nicht mehr mitzukommen – wenn’s am schönsten ist, soll man gehen… - mittlerweile ist dort nichts mehr so, wie es mal war, Gebäude abgerissen, Zoff mit der Stadt mit den Veranstaltern, gruslige Gastronomie… Na immerhin, der Rheinwein, den er mitbrachte, mundet.

2022: Goldenes Abitur. Und die Organisatoren hatten mich gebeten eine Festrede beizusteuern. Welche Ehre!

2023: Angeischts der perfiden Angriffe der Hamas auf Israel, all deren Geiselnahmen und -tötungen, trete ich aus dem Verein "Freunde Palästinas" aus, in den ich einst nach meiner ersten Tunesienreise mit meinem palästinensischen Freund Maher  eingetreten war.

 

 

 

Irritation

für

Vittorio Alfieri / Alexandra Andrejewna Antonowa / Willy Brandt / Jacques Derrida / Jim Diamond / Henry Fielding / Walter Felsenstein / Célestin Freinet / Gu Cheng / Ricardo Güiraldes / Vítěslav Hálek / Salawat Julajew / Sergei Antonowitsch Klytschkow / Alois Johannes Lippl / Gabriel Marcle / Maurice Martenot / Ernst Hermann Meyer / Myeongseong / Katre-Liis „Liisi“ Ojama / Premchand / Felix Salten / Miguel Grau Seminario / Khady Sylla / John Tchicai / Johann Jakob von Tschudi / Kaspar Unternährer / Remedios Varo / Anatol Vieru / Barry James Wilson / Clemens Winkler / Burt Young / Zhang Chongren

 

 

Das irritierte uns sehr:

Java, 1822: mehrtägiger Ausbruch des Vulkans Gunung Galunggung, 4.011 Todesopfer / Hongkong, 1856: Beginn des Zweiten Opiumkrieges / Peshtigo, Wisconsin, Waldbrand, 1.200 Menschen sterben / Trabszon, 1895: Massaker an der armenischen Einwohnerschaft, mehrere hunderte Tote / 1912: Beginn des Ersten Balkankrieges / London, 1952: Eisenbahnunglück im Bahnhof Harrow & Wealdstone, 112 Todesopfer, 340 Verletzte/ Mailand, 2001: beim Start kollidiert eine MC-97 mit einer Cessna, 118 Menschen kommen ums Leben / Kaschmir, 2005: Erdebeben, 80.000 Tote.

 

 

9. OKTOBER

 

Sensibilisierung

mit

Egon Ammann / Ivo Andrić / Johannes Theodor Baargeld / Richard St. Barbe Baker / Nikolai Iwanowitsch Bucharin / Mário Raul de Morais Andrade / Alfred Dreyfus / John Alec Entwistle / Michael Evenari / Emil Fischer / France Gall / Heinrich George / Werner von Haeften / Clementine Helm / Victor Klemperer / Agnes von Krusenstjerna / Yusef Lateef / Max von Laue / John Winston Lennon / Julius Maggi / Boris Jefimowitsch Nemzow / Ismael Nery / Sol Plaatje / Einojuhani Rautavaara / Christian Reuter / Nicholas Roerich / Tadeusz Różewicz / Camille Saint-Saëns / Karl Schwarzschild / Léopold Sédar Senghor / Konrad Siebach / Wolfgang Staudte / Jacques Tati / Nikolaes Tulp / Georg Waitz

 

Das sensibilisierte uns:

1806: Inbetriebnahme der Straße über den Simplonpass / 1829: Erstbesteigung des Ararat / Bern, 1874 Unterzeichnung des Postvereinsvertrages durch 22 Staaten / 1949: Ende des griechischen Bürgerkrieges / 1962 wird Uganda unabhängig von Großbritannien.

 

Ich notierte:

1978: Laut Vertrag und Wunsch des Klubhausleiters bin ich nun für ein Jahr verpflichtet, mich montags bis elf im Klubhaus Deuben einzufinden. Eine Verpflichtung, die meinen jetzigen Kappellenleiter verstimmte, die beim Schriftstellerverband jedoch freudig registriert wurde. Tagebuchautoren des Braunkohlekombinats Deuben und ein Zirkel schreibender Schüler sind anzuleiten. Nun also für ein Jahr von mir. Der bisherige Anleiter will anderes schreiben. Ich, Berufsmusiker und Fernstudent am Literaturinstitut, wurde gefragt, ob ich einspringen könnte. Mit meiner Unterschrift auf dem Vertrag habe ich also Ja gesagt. Ob mir das Zeit- und sonstige Probleme bringt, steht auf einem anderen Blatt. Die eigentliche Anleitung beginnt immer um halb zwei. Ab elf will mir der Klubhausleiter berichten „Was es Neues gibt“, und ich soll erzählen. Die Sekretärin des Verbandes sagte: „Sollte das Ihnen gefallen, stehen auch danach vielfältige Aufgaben für Sie zur Debatte.“ Jede Debatte ist mir lieb.

1996: Tabgha. Auf Brotvermehrung, wundersame, hatte ich natürlich nicht gehofft, geglaubt aber, dass zumindest hier die Bergpredigt verstanden sei. Den Souvenirhändler jedoch, der nie wieder deutsch sprechen wollte, danach, (erzählt man) höre ich mit Engelszungen Deutschen schmeicheln, die kauften bei ihm, beutelweise, und sehe ich mich mit Verachtung strafen, der nur eine Briefmarke verlangt. Nein, auf Wunder hatte ich wohl nicht gehofft, in der Brotvermehrungskirche...

1999: Symposium der internationalen Johann-Beckmann-Gesellschaft im Merseburger Schlossgartensalon. Mein Vortrag, in dem ich anhand meiner „Graureiherzeit“ Möglichkeiten poetischer Aufarbeitung komplexer Regionalentwicklungen vorstelle, kommt ganz gut an. Interessante Diskussion, interessante Pausengespräche. Am Abend sind wir bei den Nachbarn eingeladen, dabei kommen wir im Gespräch darauf, ob und warum wir eigentlich hier in Leuna leben, meinen, dass wir als ehemalige DDR-Bürger unserer Generation wohl schwerlich außerhalb Ostdeutschlands auf Dauer auskommen könnten, so etwas wie Dinosaurier sind, die sich nur unter ihresgleichen wohl fühlen und am Ende zusammen aussterben werden... Klingt fast wie eine Fortsetzung meiner morgendlichen Diskussionen über Zusammenhänge von Regionalisierung und Globalisierung.

2007: Maputo. Alles geschieht zweimal – heute komme ich zu dem Haus zurück, auf dessen Stufen ich meinen kleinen Zusammenbruch hatte, zum Haus des mosambikanischen Schriftstellerverbandes. Nun aber, um mit Kollegen über Möglichkeiten einer künftigen Zusammenarbeit zu reden. Doch erst einmal scheint sich das Übliche zu wiederholen: Zur verabredeten Gesprächszeit kein Gesprächspartner da. Schon nach 20 Minuten erscheint aber ein junger Mann, stellt sich als Aurélio Furdelo vor, der Autor und Verbandssekretär also, mit dem ich verabredet war. Angenehm! Sogleich entspinnt sich ein intensives Gespräch. Ich biete an, Texte mosambikanischer Autoren ins Deutsche übertragen und in Deutschland veröffentlichen zu lassen, bekannt zu machen, in „Ort der Augen“ beispielsweise, der Literaturzeitschrift, die ich ja zu verantworten habe. Texte als Vorstufe für Einladungen zu Lesungen möglicherweise, für einen gegenseitigen Text- und Autorenaustausch vielleicht sogar. Ich berichte, dass nach meinen Internetrecherchen derzeit nur zwei mosambikanische Autoren auf dem deutschen Markt präsent sind: Paulina Chiziane und Mia Couto. Das ist Aurélio bekannt und klar. Ich bitte Aurélio, Grüße an diese beiden von mir auszurichten, und dass ich mich freuen würde, wenn sie sich an unserem Textaustausch beteiligen würden. Später kommt zufällig noch eine ältere Kollegin hinzu, Lilia Momplé, die meine Vorschläge hervorragend findet, aber schnell weiter muss. Am Ende gibt mir die Protokoll führende Verbandsbibliothekarin einen Zettel, auf dem Madame Momplé, was für mich gekritzelt hat: ihre Adresse, und sie bräuchte dringend a) einen neuen Original-Akku für ihr Siemens-Handy und b) die DVD von „Alexis Sorbas“. Na prima, da merkt man doch gleich, dass die hilfreich ausgestreckte Hand angenommen wird.

Weiter zu einem Gesprächstermin, den uns Peter organisierte. Peter war bis 1981 in Mosambik, hatte damals als DDR-Kriminalist hier die Kriminalpolizei mit aufgebaut, Polizisten ausgebildet. In den letzten Tagen war er immer mal ins Innenministerium entschwunden, hatte tatsächlich ein, zwei höhere Chargen aufgetrieben, die damals seine Schüler waren. So war uns nun ein Besuch in einer Polizeistation versprochen, ein Gespräch über Jugendkriminalität mit dem dortigen Chef. Aber wie könnte es anders sein, erst ist der Chef nicht da und als er dann irgendwann kommt, weiß er angeblich von nichts (es ist mittlerweile Mittagszeit!), lässt uns wie dumme Jungs rumstehen, demonstriert seine Macht, behauptet schließlich, er dürfe uns ohne schriftlichen Befehl „von oben“ nichts sagen, tut so als wähle er Nummern auf seinem Handy, murmelt irgendwas hinein, sagt letztendlich, nein, es tue ihm leid, seine Vorgesetzten seien schon alle zu Tisch. Aha.

Gehen also auch wir einen Happen essen. Zufällig sitzt am Nebentisch ein Mitarbeiter des Deutschen Entwicklungsdienstes. Klar, dass wir Deutschsprecher sogleich ins Gespräch kommen. Er weiß Interessantes zu erzählen: So höre ich zum ersten Mal, dass Mosambik weltweit das Land mit der höchsten Steigerungsrate im Tourismus ist – 37% im letzten Jahr! (Ich hoffe, das heißt nicht, dass 37 Touristen kamen…) Allerdings sei das alles natürlich kein Massen- oder Pauschaltourismus (aha), und konzentriere sich auf den Norden oder die Mitte des Landes – Pemba, Vilankulo, Inhambane (wohin wir noch kommen wollen), Backpackers vor allem und Safari-Touristen, Südafrikaner, Zimbabwer, erste Europäer, und selbstredend hat das Ganze Grenzen durch die nach wie vor fast völlig fehlende Infrastruktur. Immerhin will man auch von der Fußballweltmeisterschaft 2010 in Südafrika profitieren, beispielsweise die Grenzübergänge alsbald ganztägig offen lassen. Der, über den wir einreisten (erfahre ich nun so nebenbei) habe nur bis 22.00 Uhr geöffnet. Mann, hatten wir ein Glück… Durch das Gespräch hatte ich nicht mitbekommen, das Thomas samt Bus mal wieder verschwunden war. Als er nun (immerhin halbwegs pünktlich für den nächsten Termin) erscheint, will ich jedoch wissen, was los ist. Und da sagt er, er habe gestern und heute versucht, einen Scheck über 2.000 Euro, der ihm aus seinem seinerzeit einbehaltenem DDR-Verdienst zustünde, einzulösen versucht. Nun weiß er, dass man ihn an der Nase herumgeführt habe, wohl nicht damit rechnete, dass er nochmals persönlich in Maputo auftauche. Und nun? Er zuckt die Schultern. Das Geld ist weg, entschwunden in irgendwelche Beamtentaschen. Proteste zwecklos. Unglaublich. Statt mit dem Bus zu fahren, möchten nun einige aus der Gruppe zum nächsten Termin lieber zu Fuß gehen. Ich frage Thomas, wie lange man da unterwegs sei. 10 Minuten. Gut. Doch wird daraus eine gute dreiviertel Stunde in schwülem Nachmittagssmog. Und als wir dann endlich im Deutsch-Mosambikanischen Institut ankommen, wo ich der Direktorin auch die Zusammenarbeit auf literarischem Gebiet anbieten will, werden wir prompt in einen stickigen Saal geführt, wo schon eine andere deutsche Gruppe hockt, Lehrer wohl und Schüler einer hiesigen Partnerschule. Man blickt uns erstaunt an: Und wer seid ihr? Wollt ihr Euch vielleicht vorstellen? Nein, will ich nicht, verdammt! Mir platzt der Kragen. Und siehe da, schon sitze ich im klimatisierten Büro der Direktorin und es ergibt sich ein erstaunlich produktives Gespräch. Sie hat jüngst eine Anthologie mit Texten mosambikanischer „Deutschlandheimkehrer“ veröffentlicht, auf Deutsch und Portugiesisch, plant das fortzusetzen, will einen Schreibwettbewerb ausschreiben. Na bitte, da hätten wir doch schon eine Basis für eine sinnvolle Zusammenarbeit. Und mit Sicherheit wird nach meiner Heimkehr ein dickes Bücherpaket für ihre im Aufbau befindliche Bibliothek auf den Weg gehen. Auch in der Merseburger Papierfabrik arbeiteten damals Mosambikaner. Wäre doch verrückt, wenn jetzt einer von denen Nutzer dieser Bibliothek würde und so auf meine Merseburg-Bücher stieße, sich an einem gemeinsamen Literaturwettbewerb beteiligte, etwas über seine Merseburg-Zeit schreibe, was ich dann veröffentlichen könnte… Na, mal sehen. Beim Abendessen unterhalte ich mich mit Peter. Er meint, dass sich Maputo in den 26 Jahren, seitdem er weg sei, sehr verändert habe. Damals waren die breiten Alleen noch gepflegt, türmte sich nirgends Müll, standen keine seengroßen Pfützen mitten in der Stadt, waren Seitenstraßen noch nicht vom Sande verweht. Damals gab’s auch noch keine Elendsquartiere vor der City, waren noch nicht Millionen von Mosambikanern durch den Bürgerkrieg aus ihren Dörfern vertrieben…

2008: Im Autorradio: Finanzcrash, -krise, -katastrophe - GAU allenthalben. Crash, Krise, Katastrophe, GAU bis mir im Nebel voraus Demonstranten aufschlieren, skandierend vor Börsen, Banken, Prunkvillen, Protzbauten wieder und ewig wieder: Wir sind die Sparer, die Sparer, wir!

2020: Die Corona-Zahlen kochen wieder hoch, auch in Europa, auch in Deutschland. Und prompt schneit mir eine Absage aus Österreich ins Haus: Seit mehr als 2 Jahren hatte ich eine Ausstellung von Werken des besten Freundes Walter Bauers, des Malers Werner Berg, vorbereitet, die nun, Anfang November, anlässlich der diesjährigen Walter-Bauer-Preisvergabe eröffnet werden sollte. Nun sagt der Kurator des Werner-Berg-Museums in Bleiburg „coronabedingt“ ab. Ein schwerer Schlag ins Kontor.

 

Schwur

für

Abu al-Quasim asch-Schabbi / Nataniel Aguirre / Israel Aharoni / Mahmud Barzandschi / Roy Black / Jacques Brel / Waleri Jakowlewitsch Brjussow / Chilperich I. / Hans Cranach / Hugo Daffner / Friedl Dicker-Brandeis / Raymond Duchamp-Villon / Ruth Elder / Maxime A. Faget / James Finlayson / Anna Freud / Jean Giono / Marek Grechuta / Ernesto „Che“ Guevara / Nikolaus Christoph von Halem / Cyril Norman Hinshelwood / Lucie Höflich / Miriam Hopkins / Danièle Huillet / Milt Jackson / Bruno Latour / Abrahamn Mapu / William Moon / Friedrich Wilhelm Neumann / Helen Morgan / Harald Reinl / Klaus Renft / Arthur Ernst Rutra / Sise Sawaneh / Oskar Schindler / Karl Friedrich Schinkel / Kurt Schwaen / Kevin Schwarze / Nadeschda Wassiljewna Stassowa / Wassil Konstantinow Tanew / Andrzej Wajda / Felix Wankel / Joachim Wohlgemuth

 

Angesichts dessen schworen wir, uns für Besseres einzusetzen:

1760 plündern österreichische und russische Truppen Berlin / Terschelling, 1799: die „Lutine“ strandet auf einer Sandbank, 240 Seeleute sterben / Madeira, 1803: Überschwemmungen nach mehrtägigen Regenfällen, 600 Menschen kommen ums Leben / 1913 bricht auf dem britischen Ozeandampfer „Volturno“ mitte auf dem Atlantik ein Brand aus, 136 Todesopfer/ Hannover, 1943: britischer Luftangriff, 1.245 Tote / Langarone, Domomiten, 1963: Flutwelle nach Bergsturz, 2.000 Todesopfer / La Higueiera, Bolivien, 1967: Che Guevara wird ermordet / 2006 zündet Nordkorea seine erste Atombombe.

 

 

10. OKTOBER

 

Tusch

mit

Christoph Buys Ballot / Salome Bey / Ed Blackwell / Oscar Brown Jr. / Alan Cartwright / Henry Cavendish / Richard de Fournival / Mychajlo Opanasowitsch Draj-Chmara / Alberto Giacometti / Dimiter Inkiow / Michèle Kiesewetter / Aleksis Kivi / Olga Wassiljewna Klepikowa / Paul Kruger / Arthur Oncken Lovejoy / Kirsty MacColl / Thelonius Monk / Anita Mui / Fridtjof Nansen / Wladimir Afanassjewitsch Obrutschew / Daniel Pearl / Harold Pinter / Julie Pomagalski / Kenule Beeson „Ken“ Saro-Wiwa / Claude Simon / Sam Theard / Giuseppe Verdi / Gert Voss / Jean-Antoine Watteau

 

Das erregte unsere Aufmerksamkeit:

Kuba: 1868 Beginn des Befreiungskampfes gegen die spanische Kolonialherrschaft / 1967 tritt der internationale Weltraumvertrag in Kraft / 1970 wird Fidschi unabhängig von Großbritannien / London, 1999: Aufrichtung des Riesenrads „London Eye“.

 

Ich notierte:

1983: Ich argwöhne, mit meinem Schreiben meinen Gedanken manchmal voraus zu sein…

1987: Übergangszeit: Sonnenschein doch Kühle, auf Arbeit schon die Zentralheizung in Betrieb, Klimaunterschiede, trockene Luft, Anpassungsschwierigkeiten, mich hat’s mal wieder erwischt – erkältet. Aus Berlin aber erfreuliche Signale: ich bin als Gast zum nächsten Schriftstellerkongress eingeladen. Mal sehen, ob das ein brauchbarer Ansatz für ein Gespräch mit Kuhbach, meinem Chef, über eine Übergangszeit des Schreibers Jankofsky sein kann.

2020: Wieder zeitig los, heute nach Kleinpaschleben bei Bernburg. Übergabe anderer Bücherkiepen in der hiesigen Grundschule. Die Kinder geben sich große Mühe, haben extra Märchenstücke einstudiert, haben sich kostümiert, singen auch. Ein sehr schöner Vormittag.

2007: Mosambik. Es ist kalt geworden über Nacht - im Frühsommer im tropischen Afrika, saukalt. Lange Hose, langärmliges Hemd, Weste, Jacke… Und es beginnt auch wieder zu regnen. Gab’s solches Wetter zu dieser Jahreszeit hier schon irgendwann mal? Erster Termin heute: mal wieder ein Besuch in einem Polizeirevier. Heute sind jedoch wir zu spät, viel zu spät, da wir fast eine Stunde die Avenidas und Ruas hoch und runter, kreuz und quer fahren, da wir (will sagen: Thomas und sein in Maputo Taxi fahrender Bruder) die angegebene Adresse nicht finden können. Unser Zuspätkommen scheint jedoch nicht zu düpieren (wenn’s überhaupt bemerkt wurde). Konkret landen wir in einer Beratungsstelle für Opfer häuslicher Gewalt. Erstaunlich, das es hier so etwas überhaupt gibt. Und da die Chefin eine Frau ist, kommt es sogar zu einem freundlichen Small Talk, aber ohne Daten, ohne Fakten. Keine Ahnung, was ich hier sollte. Weiter zu Herrn Policarpo, der uns vorige Woche schon dreimal versetzte, uns nun aber zumindest heute das Tagesprogramm gestalten wollte. Diese Gestaltung sieht so aus, dass wir im Haus der Jugendorganisation, deren Präsident er ist (was von seinen Adjunkten wieder und wieder betont wird), in einem vermüllten Hinterzimmer auf völlig verdreckten Stühlen Platz nehmen und ein endloses Palaver um die Goldene Ananas geboten wird, sprich: die Strukturen und Erfolge seiner Organisation werden vorgestellt. Fragen nach Vorgängen, die uns wirklich interessieren, wie dem heutigen Verhältnis von RENAMO und FRELIMO oder ob es Spannungen zwischen den verschiedenen Ethnien im Lande gibt, weichen sie aus. Gut, da muss man durch, das muss man absitzen wie einen Langstreckenflug. Wir sind ja nicht zum Vergnügen hier. Dumm nur, dass sie nicht mal wissen, dass man Gästen mal ein Wasser oder vielleicht sogar einen Kaffee anbietet… Immerhin stellt sich auf Nachfragen heraus, dass sein (leidlich Deutsch sprechender) Vizepräsident acht Jahre lang in Staßfurt, in der „Schule der Freundschaft“, in der mosambikanische Jugendliche zu sozialistischen Führungskadern ausgebildet werden sollten, zu Hause war. Nun ist er also hier gelandet. Die Audienz bei Herrn Policarpo hat uns drei Stunden gekostet, und so essen wir zur Kaffeezeit Mittag, allerdings in einem Restaurant an der Strandpromenade, und es gibt sogar Barracuda. Wow! Am Abend kommt hoher Besuch zu uns in die Herberge. Seinerzeit hatte Peter auch den Bruder des späteren Staatspräsidenten Chissano ausgebildet. Der (nunmehr immerhin Minister für Grenzsicherheit) holt nun seinen alten Freund zum Abendessen ab, setzt sich aber ganz selbstverständlich erst einmal ein paar Minuten in unsere Runde, erkundigt sich, ob wir zufrieden sind, ob er helfen könne. Höflichkeiten, klar, doch völlig unerwartet. Symphatischer Mann. Da er völlig privat, ergo ohne Personenschutz etc. erschien, bekommt außer uns offenbar auch niemand mit, wer hier mit uns zusammensitzt. Skurril: da latschen schlampige Backpacker vorbei, lümmeln an Nebentischen, wummern Disco-Bässe während wir mit einem der Granden dieses Landes reden. Aber irgendwie passt das auch ins Bild…

2021: Bevors wieder Winter wird, und Corona noch immer nicht besiegt ist, niemand weiß, wie weitergehen wird – in Deutschland mit einer vierten Welle? – mal wieder die Zahlen: weltweit gibt’s mittlerweile rund 220 Millionen Fälle und 4,55 Millionen Tote. Allein in den USA mehr als 700.000 Tote, in Deutschland 94.000 Tote.

 

Trugschluss

für

Absalon / Hope Bridges Adams Lehmann / al-’Abbās ibn ’Ali / al-Hussain ibn ’ Ali / Sirimavo Bandaranaike / Adam Antonawitsch Barbareka / Konrad Bayer / Roy Black / Gerold von Braunmühl / John Randolph Bray / Yul Brynner / Solomon Burke / Antonio di Benedetto / Guru Dutt / Charles Fourier / Stephen Gately / Terenti Graneli / Walter Gronostay / Lea Grundig / Trygve Emanuel Gulbranssen / Tamme Hanken / Marie Luise Kaschnitz / Sebastian Knüpfer / Nils Koppruch / Roland Kuhn / Louis Ferdinand von Preußen / Meri Te Tai Mangakāhia / Julius Mosen / Édith Piaf / Anneliese Probst / Christopher D’Olier Reeve / Evelyn Richter / Charlotte Salomon / Christian Friedrich Daniel Schubart / Johann Heinrich Schulze / Johann Schwarzer / Abel Janszoon Tasman / Lissy Templehof / Klaus-Peter Thiele / Amanda Todd / Alexei Konstantinowitsch Tolstoi / George Andrew Tucker / August Varnhagen von Ense / Gustav Albin Weißkopf / Orson Welles

 

Wir ahnten, dass dies noch nicht zu Ende sei:

1638 „kahmen in der Sahla zu Merseburgk über 16 persohnen umb, denn es war dazumahl die Brücke eingerißen, u. eine Fähre von 3 Kahnen gemachet. Zu Mittage zwischen 2 u. 3 uhr setzen sich über 16 persohnen drauff, haben auch viele schwehre wahren bey sich, so sie von Leipzigk mit sich gebracht. Als sie nun mitten auff das waßer kommen, welches dazumahl sehr groß gewesen, hat die Fähre waßer geschöpffet u. gesunken, die Leute, außer 2 persohnen, welche an die steinerne Brücke geschwommen u. mann ihnen herauß geholffen, seynd alle umbkommen“ / Cádiz, 1683: Explosion auf der Fregatte „Wappen von Hamburg“, 65 Tote / 1760 zieht ein Hurrikan sechs Tage lang über die Karibik, 22.000 Menschen kommen ums Leben / Chicago, 1871: Stadtbrand, 300 Todesopfer / 1874 wird Fidschi britische Kronkolonie / 1892 sinkt das britische Passagierschiff „Bokhara“ vor Taiwan in einem Taifun, 125 Tote / 1918 torpediert ein deutsche U-Boot das irische Passagierschiff „Leinster“ in der Bucht von Dublin, 501 Todesopfer / 1920 annektiert Italien Südtirol / Tristan da Cunha, 1961: Evakuierung der gesamten Inselbevölkerung nach Vulkanausbruch / El-Asnam, Algerien, 1980: Erdbeben, 20.000 Tote / El Salvador, 1986: Erdbeben, mehr als 1.000 Menschen sterben.

 

 

11. OKTOBER

 

Verwirklichung

mit

Cahit Arf / Armandinho / Rabah Beamri / Salah Ben Youssef / Friedrich Bergius / Carl Heinrich Bertelsmann / Art Blakey / William Lester Bowie / Emily Wilding Davison / António Carvalho de Silva Porto / Maria Firmina dos Reis / Christina Drechsler / Emile-Eugéne-Alix Fournier / Ilan Halimi / Fynn Henkel / Karl Hofer / Albert Hößler / François Mauriac / Conrad Ferdinand Meyer / Alicia Moreau de Justo / Poul Poulsen Nolsøe / Heinrich Wilhelm Olbers / Marian Paradeiser / Boris Andrejewitsch Pilnjak / Eleanor Roosevelt / Lewis Fry Richardson / Igor Andrejewitsch Sawtschenko / Hans Schiebelhuth / Franz Schuhmeier / Hans Söhnker / Fritz Sperling / Mehmet Emin Toprak / Fernando Villavicencio / George Williams / Adela Zamudio

 

Das sahen wir gern verwirklicht:

New York, 1811: weltweit erster Einsatz eines Dampfschiffes als Fähre / Schweden, 1837: Inbetriebnahme des Säfflekanals / 1954: Bildung der Demokritischen Republik Vietnam.

 

Ich notierte:

1980: Heute zum ersten Mal ein Text von mir in der „Freiheit“. Und seltsam, das erschien mir so selbstverständlich, war mir irgendwie gar nicht wichtig.

2000: Am Nachmittag zur Stadtverwaltung Leuna, Absprache des Projekttages Anfang November. Schließlich hole ich Klaus ab und wir fahren ins Domgymnasium, wo ich heute einen Vortrag über das Leben Walter Bauers halte. Es sind etliche Schüler erschienen, große Aufmerksamkeit, interessierte Fragen. Und am Ende gibt mir ein Junge sogar schon den ersten Text, den er über Walter Bauer geschrieben hat. Prima, das Projekt läuft nun also. Am Abend Vorbereitungen auf meinen morgigen Workshop in der halleschen Uni.

2007: Letzter Tag in Maputo. Das Wetter ist wieder ein bisschen besser. Ich wage, ein T-Shirt anzuziehen. Nach dem wie üblich selbstgemachten Frühstück fahren Thomas und Axel zur Bank, um die Gruppenkasse mit Meticais zu einem guten Wechselkurs aufzufüllen. Der Rest der Gruppe schlendert durchs Viertel, entdeckt gleich um die Ecke den urwüchsigen Janet-Mercado. Das eine und andere Mitbringsel wird erworben. Zum vereinbarten Zeitpunkt zurück in der Herberge klingelt das Telefon: Thomas kündigt an, dass es mindestens noch eine halbe Stunde länger dauere. Und als die beiden dann nach gut einer Stunde kommen, kommen sie ohne Bus. Angeblich sei der Fahrer in eine Verkehrskontrolle geraten und da ein Blinklicht nicht funktionierte, sei der Wagen erst einmal eingezogen wurden. Das könne dauern… Wir machen uns irgendwann zu Fuß auf den Weg. Eigentlich wollten wir heute eine Schule in einem der Vororte besuchen. Ich hatte schon hunderte Stifte, diverse Schreibblöcke und Hefte in meinem Rucksack verstaut. Nun heißt’s also: alles wieder auspacken. Glücklicherweise haben wir dank Herrn Chissanos Vermittlung kurzfristig noch einen Termin im Bildungs- und Kulturministerium erhalten, werden dort sehr freundlich von einem Abteilungsleiter empfangen. Er lässt sich genau sagen, was wir alles schon so verhandelt haben, verspricht, dem allen Nachdruck zu verleihen. Ich schlage zusätzlich vor zu prüfen, ob mosambikanische Kinder vielleicht zum nächsten Eurocamp; an dem Jahr für Jahr Kinder aus der ganzen Welt teilnehmen und über das ich mit „meinen“ schreibenden Schülern Jahr für Jahr berichte, nach Sachsen-Anhalt, konkret nach Güntersberge kommen könnten. Als wir gegen 17.00 Uhr aus dem Ministerium kommen ist unser Bus wieder aufgetaucht. Der Fahrer entschuldigt sich, dass das mit dieser Kontrolle passiert sei, lächelt verlegen. Fast glaube ich ihm. Doch dann fährt er als erstes an die nächste Tankstelle, und wie durch ein Wunder ist der Tank des erst gestern voll getankten Busses, der heute den ganzen Tag im Polizeihof stand, völlig leer… Am Abend kommt Herr Chissano nochmals zu uns. Er hat durch Peter von Thomas’ Geldproblemen gehört, will nun genau wissen, was da los ist, und verspricht zu helfen. Glaubwürdig. (Wer, wenn nicht er!) Dann lädt er uns in den Journalistenklub ein, möglicherweise ergibt sich ja das eine oder andere interessante Gespräch, meint er. Und vielleicht will der eine oder andere anwesende Journalist sogar ein Interview mit uns machen? Das letzte klappt nicht, alles andere schon. Und zwei zufällig auch in diesem Klub ihr Feierabendsbier trinkende Kabarettisten ziehen sogar spontan vor unserem Tisch einige Sketche ab. Da wird immer wieder (und sogar für uns Nicht-Portugiesisch-Sprecher verständlich) der vormalige Staatspräsident Chissano auf die Schippe genommen. Doch dessen Bruder lacht herzlich… Mit einem der Journalisten finde ich im Laufe des Abends in ein längeres Gespräch, nicht zuletzt wohl, da auch er vier Jahre in der DDR war, sogar in Halle und Naumburg gelebt hatte, folglich ganz gut Deutsch spricht. Er schreibt für ein Monatsmagazin, das in Brasilien sowie allen portugiesischsprachigen Staaten Afrikas erscheint (Kapverden, Guinea-Bissau, Angola, Mosambik). Irgendwann kommen wir auf die signifikante Armut hier zu sprechen. Interessant, was er dazu meint, sehr interessant: Derzeit gäbe es im Lande etliche Anti-Armuts-Kampagnen. Besser wäre es jedoch, Anti-Korruptions-Kampagnen zu starten. Denn Geld flösse mittlerweile aus diversen Töpfen reichlich nach Mosambik… Ich habe seit Tagen zum ersten Mal wieder ein Bier getrunken, und prompt zwickt es mich wieder. Verdammt, sollte ich mir eine Bier-Allergie eingehandelt haben?

2020: Auf Netflix entdecke ich die Doku-Serie „Somebody Feed Phil“ – weltweite kulinarische Entdeckungen mit Phil Rosendahl. Wohltuend, ja berührend, wie er verschiedenste Ess- und Trinkkulturen, Kulturen überhaupt, vorstellt, wie er schlemmt, genießt, diskutiert, kommentiert. Was für ein liebevoller Blick auf diese Welt, so weit ab des alltäglichen Drecks, des Hassens, des Provinzialismus. So könnte, so sollte Globalisierung gehen. Geschickt-aktuelle Umkehrung von: Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht…

2021: Treff mit den ersten Nachwende-Kulturamtschef Merseburgs, mit Lothar Pannebäcker, auf dem Merseburger Flughafen. Fast 30 Jahre hatten wir uns nicht mehr gesehen, nun möchte als Stellvertretender Vorsitzender des Flughafenvereins, dass ich zu ihrem Vereinsjubiläum eine Art Chronik schreibe. Gutes Gespräch mit Professor Krug, dem Gründer des Chemiemuseums und dem Flughafenchef, Herrn Luger. Wir verständigen uns darauf, dass ich nicht ihr Buch nicht alleine erarbeite, sondern ein Autorenkollegium zusammengeführt wird, in dem Fachleute ihr Wissen zum Thema einbringen können. Ich soll mit Pännecker und Luger Gespräche führen und protokollieren. Schaun wir mal.

 

Vereinsamung

für

Alcipe / Paul Andreu / Johannes R. Becher / Connee Boswell / Ford Madox Brown / Anton Bruckner / Jim Carroll / Jean Cocteau / Maurice de Vlaminck / Mehrangiz Dolatshahi / Jüri Ehlvest / Wadih El Safi / Jean-Henri Fabre / Barker Fairley / Ernst Fries / Karl Gjellerup / Pierre Grimal / Zacharias Hildebrandt / Rudolph Isley / James Prescott Joule / Fredy Knie sen. / Michaela Krinner / Dorothea Lange / Angela Lansbury / Alexei Archipowitsch Leonow / Meriwether Lewis / Mikael Lybeck / Chico Marx / Georg Pencz / Georg Wilhelm Pertz / Halina Poświatowska / Albert H. Rausch / Fernando Sabino / Satanta / Sri Chinmoy / Reinhold Tiling / Ehrenfried Walther von Tschirnhaus / Mehmet Uzun / Cal Wilson / Thomas Wyatt / Jan Žižka / Huldrych Zwingli

 

Das machte uns einsam:

1527 „ist ein grausahmer, schrecklicher Cometa bey nahe durch gantz Europeam gesehen worden, allemahl des morgens umb 4 uhr, er ist sehr groß u. lang gewesen bluthfarb u. gelbroth“ / 1634 Sturmflut in der Nordsee, 10.000 Tote, im Wattenmeer geht die Insel Strand unter / Wexford, 1649: englische Soldaten stürmen die Stadt, töten hunderte Soldaten und 1.500 Zivilisten / Jamaika, 1865: Beginn des Morant-Bay-Aufstandes, bei dem 439 Menschen ums Leben kommen / 1899 erklärt Transvaal Großbritannien den Krieg.

 

 

12. OKTOBER

 

Einweihung

mit

Oğuz Atay / Eugenio „Nicolò“ Barsanti / Will Berthold / Buchela / Otto von Corvin / Aleister Crowley / Paula Deppe / Ding Ling / Melvin Franklin / Harry Frommermann / Ernst Robert Henning / Ishida Baigan / Eduard Klischnigg / Johann Ludwig Krebs / Daliah Lavi / Li Wenglian / Harry Liedtke / Doris „Dorie“ Miller / Eugenio Montale / Arthur Nikisch / Anja Niedringhaus / Rick Parfitt / Luciano Pavarotti / Nadežda Petrović / Pavel Reimann / Fernando Sabino / Carolee Schneemann / Edith Stein / Franz Baermann Steiner / Ralph Vaughan Williams

 

Das erschien uns einweihungswürdig:

Salinwerder, 1398: Friedensvertrag zwischen dem Deutschen Orden und Litauen / 1492: erreicht Kolumbus die Bahamas-Insel Guanahani, „entdeckt“ Amerika / Boston, 1928: Erster Einsatz einer Eisernen Lunge / München, 1949: Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes / 1968 wird Äquatorialguinea unabhängig von Spanien.

 

Ich notierte:

1999: Lesung in der Grundschule Bornstedt, erwartungsfrohe Kinder, die zumeist auch schon selbst kleine Geschichten geschrieben haben, sie mir auch stolz präsentieren. Sehr schöne Veranstaltung und – ich soll wiederkommen, möglichst noch in diesem Jahr zu einer Schreibwerkstatt. Am Nachmittag zuhause Bürokram. Am Abend eine Lesung für die Georg-Forster-Gesellschaft im halleschen Händelhaus. Thema: Meine Israel-Reisen. Ich lese also folgerichtig aus „Ortungen“. Und da im Publikum u.a. mein einstiger Dienstvorgesetzter aus DDR-Zeiten sitzt, kommt mir der Abend wie eine Reise in die Vergangenheit vor... Danach nach Halberstadt ins Hotel, da morgen beizeiten schon die nächste Veranstaltung im Rahmen der Halberstädter Literaturwoche ansteht.

2000: Büro, dann letzte Vorbereitungen auf den Uni-Workshop und dann nach Halle. Immerhin erscheinen 12 Damen, die an meinem Workshop „Kreatives Schreiben“ teilnehmen wollen – 11 Studentinnen und eine Lehrerin... Ja, wenn es selbst die Uni nicht schafft Deutschlehrer „aus der Hütte“ zu locken, was soll ich da mit meinem kleinen Verein noch erreichen können... Dennoch läuft der Workshop sehr intensiv und gut. Am Abend kommen von Teilnehmern sogar schon die ersten Fax-Nachfragen rein...

2007: Heute wollen wir nach Inhambane, etwa 500 km über Land. Um rechtzeitig starten zu können, schlug Thomas gestern Abend vor, dass der Fahrer mit bei uns in der Herberge schläft. Selbstredend einverstanden. Zum verabredeten Abfahrtstermin 7.00 Uhr stehen dann aber nur die Deutschen mit ihren Koffern am Bus. Unsere afrikanischen Freunde müssen erst mal geweckt werden. Und dann geschieht mal wieder ein Wunder: Hinter Thomas kommt ein anderer Fahrer (Bruder) aus dem Zimmer, als der, der gestern Nacht dort hineingegangen war. Und natürlich chauffiert nun der unseren Bus… Um Zeit zu sparen, wollten wir unterwegs mal schnell einen Kaffee trinken – vergiss es! Eine Dose Cola und eine Banane lassen sich jedoch auftreiben, und die darin enthaltenen Wirkstoffe kommen einem deutschen Frühstück doch nahe, oder! Fahrt durch Savannenlandschaften, erst Baum-, dann Strauchsavannen, bis zum Limpopo, breites, grünes Flusstal. Und hinter der offenkundig neuen Brücke die Hauptstadt der Provinz Gaza: Xai-Xai. In einem Straßencafe essen wir einen Happen und weiter: noch liegen gut 300 km vor uns. Und das Wetter wird tropisch und die Straße (die einzige gen Norden) schlecht. Schlagloch an Schlagloch, streckenweise kann man nur Schritt fahren. Dazu allenthalben Polizeikontrollen: einmal wird bemängelt, dass die hiesige TÜV-Plakette (gibt’s so was überhaupt?) nicht an der Windschutzscheibe klebe, ein andermal wird behauptet, wir bräuchten als Reisegruppe aus Deutschland eine schriftliche Erlaubnis vom Verkehrsminister, wenn wir mit einem Kleinbus unterwegs seien. Klar, was die Jungs wollen… In die Savannen mischen sich zunehmend Palmen umso weiter wir in den Norden vordringen, aus der roten wird braune Erde, und es wird heiß, unangenehm heiß im unklimatisierten Bus. Was mich verwundert: selbst hier, weit außerhalb der großen Städte sind keine Wildtiere zu entdecken, und außer gelegentlich ein paar trägen Schildraben auch keinerlei Vögel. Gegen 19.00 Uhr kommen wir in Inhambane, genauer: in Tofo mitten in den Dünen am Indischen Ozean, an, stehen nach zwölf Stunden Fahrt erst mal wieder eine gute Stunde blöd rum, da die bekifften Typen hier nicht die passenden Schlüssel zu den freien Bungalows finden können. Und als dann endlich eine Hütte geöffnet und vorgezeigt werden kann, ist es definitiv zu spät, um nach einem anderen Quartier zu suchen… Nach knapp drei Stunden sind dann endlich alle unsere Schlüssel verfügbar. Das dürfte Guinness-Buch verdächtig sein! Und die Hütten, die wir nun öffnen, haben mit der Hütte, die man mir vorhin (vor)zeigte, nichts zu tun! Üble Absteige: ein paar in die Düne gerammte Pfähle, daran mit rostigem Draht ein paar Schilfmatten befestigt, als Dach fungieren Palmwedel, darunter dicht an dicht zwei Betten (ich teile das „Hotelzimmer“ mal wieder mit Axel), das Bettzeug klamm und versandet, keine Ablage, kein Regal, kein Schrank, Stuhl, Tisch, kein Kleiderhaken, einfach nichts dergleichen, der Platz vor den Betten reicht knapp, die Koffer abzustellen - in etwas 100 m Entfernung 1 Wasserhahn und 2 Toiletten. Irgendwie fühle ich mich an Kobo Abes bitterbösen Roman „Die Frau in den Dünen“ erinnert… Gut, die traumhafte Strandlage des Ganzen könnte manches aufwiegen, doch wozu (mal wieder) diese Rosstäuscherei! Und preiswert ist es hier auch nicht gerade, ganz im Gegenteil! Na denn, gute Nacht, Janko.

2013: Nach Buchmessen-Reportagen-Berichten-Talks träumte ich, dort sei diskutiert, wenn nicht gar beschlossen worden, kostbares Papier künftig nur noch für Bücher zur Verfügung zu stellen, deren Verfasser einen Intelligenztest bestanden hätten. Alle anderen publizierten fortan unbeschränkt dank all der elektronischen Medien.

2019: Heinersort. In trockenen Jahren hatten wir schon Dreckschober unter’n Hut gefingert, hoffend, dass vielleicht doch Maronen darunter sein könnten, um zu ’nem Pilzgericht zu kommen. Heute nun haben wir in so kurzer Zeit und gleich am Wegesrand so viele Ziegenlippen und Röhrlingen und Edleres gesammelt, dass ich fürchte, Giftiges könnte uns durchgerutscht sein. Und nach dem Verzehr, verlockend angebraten alles mit Speck und Zwiebeln, horche ich angestrengt in mich hinein, ja, weitaus intensiver als sonst.

 

Endspiel

für

Adam von Bremen / Oskar Baumann / Agnes Bernauer / Siegmund Breitbart / Arnolt Bronnen / Edith Louisa Cavell / Ray Conniff / Pierro della Francesca / Edwin / Gerrit Engelke / Carel Pietersz Fabritius / Anatole France / Elizabeth Fry / Wilhelm „Willi” Graf / Francisco Gutiérrez Carreola / Regina Jonas / Kanō Eitoku / Anna Louisa Karsch / Alfred Kerr / Kurt Lichtenstein / Rudolf Graf von Marogna-Redwitz / Audrey Mestre-Ferreras / Bernhard Minetti / Marguerite Monnot / Édouard Nanny / Jean Picard / Serge Poliakoff / Dennis Ritchie / Alexis von Roenne / Matthew Wayne Shepard / Robert Stephenson / Arkadi Natanowitsch Strugazki / Claude Tillier / Gene Vincent / Max Wertheimer

 

Da meinten wir, es sei ausgespielt:

Delft, 1654: Explosion eines Pulverlagers,  bis zu 1.200 Menschen kommen ums Leben / 1899: Beginn des Burenkrieges / Ägypten, 1992: Erdbeben, 553 Menschen sterben / 1999 überschreitet die Weltbevölkerung die 6 Milliarden-Marke / Aden, 2000: Sprengstoffanschlag auf die „USS Cole“, 17 Tote / Kuta, Bali, 2002: Sprengstoffattentate, 202 Todesopfer.

 

 

13. OKTOBER

 

Weiterbildung

mit

Mariotto Albertinelli / Levon Ananyan / Louis Appia / Neil Aspinall / Ray Brown / Thomas Dörflein / Georg Groddeck / Christiane Hörbiger / Nusrat Fateh Ali Khan / Jamal Ahmad Kashoggi / Mary Henrietta Kingsley / Lee Konitz / Hugo Lindo / Rudolf Mayer / Antonio Mediz Bolio / Migjeni / Gertraud Moller / Yves Montand / Christine Nöstlinger / H. W. L. Poonja / Brent Renaud / Pharaoh Sanders / Stepan Schahumjan / Steinn Steinarr / Arthur „Art“ Tatum / Otto Unverdorben / Rudolf Virchow / Robert Walker

 

So meinten wir klüger zu werden:

Washington, D.C., 1792: Grundsteinlegung für das Weiße Haus / Washington, D.C., 1884 Festlegung, dass der Nullmeridian durch Greenwich läuft / 1908 meldet Fritz Haber das „Haber-Bosch-Verfahren“ zum Patent an / Hoyerswerda, 1912: Gründung der Domowina / 1914 erhält Garrett Morgan das Patent für seine Gasmaske / 1923 wird Ankara neue türkische Hauptstadt / 1970 tritt in Hessen das erste Datenschutzgesetz der Welt in Kraft / Chicago, 1983: weltweit erstes privates Gespräch per Mobiltelefon.

 

Ich notierte:

1982: Gestern nahm mich Steinmann in seinem Auto zur Verbandsragung nach Piesteritz mit. Ich lese dort meinen Leuna-Roman Anfang. Die Verbandssekretärin, Siggi Sommer, bietet mir danach das Du an und sagt, ich solle mich mit der halleschen Kinderbibliothek für Lesungen in Verbindung setzen, in ihrem Namen. Sehr gut. Ja, ins Lesungs-Geschäft muss ich einsteigen, muss es erlernen. Denn heute wird mir mal wieder bewusst, da mich der gegen die Scheiben klatschende Regen, die durch Pfützen fahrenden Autos, meine mit Geschirr klappernde Frau… stören, ich mich nicht gebührend konzentrierten kann, dass ich ein lausig langsamer Schreiber bin, dass ich allein vom Schreiben wohl nie werde leben können. Vom Verlag höre ich schon mal, dass Papier knapp sei, Auflagen kleiner als geplant ausfielen, Neuauflagen in weite Fernen rückten...

1999: Um sechs Uhr frühstücken, meingott, zu mir gesellt sich aber Christa Kozik, die auch in Halberstadt liest. Und selbst die recht erfolgreiche Christa berichtet einiges über entnervende, um nicht zu sagen, entwürdigende Arbeitskonditionen für (ostdeutsche) Autoren. Eine Art Fortsetzung ihres „Engels mit den goldenen Barthaaren“ fand bis dato keinen Verlag. Christa meint, alles was nicht nur an der Oberfläche kratzt, sondern tiefer zu gehen versucht, hat’s schwer hierzulande. Ich fühle mich sehr an meinen „Novembertau“ erinnert... Die Veranstaltungen dann sind jedoch ermutigend, erwartungsfrohe, aufmerksame und viele Fragen stellende Kinder. Ich lese in drei Huy-Dörfern, will sagen: ich zeige meinen Münchhausenfilm. Dann die Aufwartung für die Organisatorinnen, die Halberstädter Bibliothekarinnen: großer Blumenstrauß und Danke. Und schon bin ich mit Rüdiger verabredet, ist die Bosch-Tagung vorzubereiten. Neben diversen Absprachen bliebt aber Zeit für einen Besuch im neuen Halberstädter Brauhaus.

2000: Freitag. Heute Symposium „Kreatives Schreiben“ an der halleschen Uni. Ich habe einen Diskussionsbeitrag einzubringen, denke, dass der ganz gut ankam. Im Anschluss an das Symposium Einweihung des von Eva Maria initiierten Kindertext-Archivs. „Großer Bahnhof.“ Ich übergebe die Texte aus den Bödecker-Schreibwettbewerben der vergangenen Jahre, hoffe dabei, dass diese Zusammenarbeit zu einer neuen Qualität der Bödecker-Arbeit (zumindest in diesem bereich) führen kann.

2007: Tofo Beach, Mosambik. Nachts um zwei fängt einer in der Hütte hinter uns an zu trommeln, um drei wird vor der Hütte neben uns mit Nutten verhandelt, und um vier kläffen lautstark streunende Hunde zwischen den Hütten… Nach dem (sehr spartanischen, aus Resten des Reiseproviants selbst gemachten) Frühstück (Kaffeetassen sind leckende Blechnäpfe…), kleiner Rundgang durch den Ort Tofo. Laut Reiseführer soll das ein Aussteiger-Paradies sein. Na, da möchte ich doch umgehend einsteigen, wo hinein auch immer… Weiter nach Inhambane, verschlafenes Provinzstädtchen (das sichtlich bessere Zeiten gesehen hat, wohl gut tausend Jahre alt sein soll). Kurze Besichtigung des Jugendklubs (von Herrn Policarpos Verein), und hier kann man sehen, was mit Fördermitteln passiert: das Haus ist das weitaus modernste und beste des ganzen heruntergekommenen Viertels und muss von den hiesigen Policarpo-Leuten erst entsichert und von diversen Schlössern befreit werden. Drin sind fünf Büros, jeweils ein Sessel und Schreibtisch, wo einmal wöchentlich, von 10.00 bis 12.00 Uhr und von 14.00 bis 16.00 Uhr Kondome verteilt werden. Toll. Unter einem Jugendzentrum hatte ich mir bislang etwas anderes vorgestellt. Weiter zum quirligen Zentralmarkt, dann zur malerischen Landungsbrücke der Fähre nach Maxixe, schlendern entlang der schönen, doch verkommenen Promenade bis zu einer Moschee aus dem Jahre 1840. Keine Frage, hier könnte man sich wohl fühlen… Weiter nach Barra, einem anderen traumhaften Strandgebiet. Hier gibt’s sogar ein richtiges Hotel, Swimmingpool, Strandbar, allerdings kommt man kaum hin, üble Wellblechpiste, wo wir auch prompt stecken blieben… Kleine Erfrischung und ich fahre mit Thomas und Gerhard zurück nach Tofo. Axel sowie Susanne und Ralf, unser Sportlerehepaar, beschließen bis dorthin am Strand entlang zu wandern, geschätzte 10 km. Nein, das ist mir in der Nachmittagsglut und angesichts meiner „Invalidengeschichte“ zu stressig. Zum ersten Mal entdecke ich heute sogar einige Vögel: Webervögel in den Kasuarinen, einen knallbunten Bienenfresser, und dann einen leuchtend blauen Vogel, eine Racke vielleicht. Und dazu wunderschöne Schmetterlinge. Zurück in Tofo gehe ich schwimmen, gleich vor unserer Hütte, aber was heißt schwimmen – die Brandung und die Unterströmungen sind so stark, dass an schwimmen nicht zu denken ist, man höllisch aufpassen muss, nicht weggetrieben zu werden. Dennoch: schön!

2021: Am Abend lese ich anlässlich des 1000-jährigen Weihejubiläums im Merseburger Dom, welche Ehre. Und ich lese aus dem Manuskript des Bandes über Merseburger Persön­lichkeiten, der im nächsten Jahr erscheinen soll, lese über Merseburger Originale, wie Paul Kundt, der vor 100 Jahren die „Babeleien“ erfand. Und ich hatte ein „lebendes Original“, hatte „Drehorgel-Mucki“ gebeten, mit mir diesen Abend zu gestalten. Drehorgelmusik im altehrwürdigen Dom und dazu dann sogar meine Geschichte über die gefakten Zaubersprüche – wunderbar! Und am Ende übergeben wir aus unserem Besitz Ori­ginaldokumente von Paul Kundt ans Domstiftsarchiv, wo schon Teile seines Nachlasses liegen.

2022: Am Vormittag und Nachmittag nehme ich mal wieder virtuell an einem PEN-Kongress teil. Neuwahl des Präsidiums, Zuwahl neuer Mitglieder, so auch, des von mir vorgeschlagenen Peter Winzer. Am Abend moderiere ich eine Lesung des letzten Walter-Bauer-Preisträgers Jens-Fietje Dwars und des letzten Walter-Bauer-Stipendiaten Christoph Liedtke in der Galerie des Leuaner Kulturhauses.

 

Wandel

für

Hossein Behzad / Gérard Berliner / Hans-Jürgen Graf von Blumenthal / Evaristo Carriego / Claudius / Guillaume Jean Maxime Antione Depardieu / Ernst Didring / Dario Fo / Louise Glück / Roland von Hößlin / Ibn Nubata / Gertrude Käsebier / Yurii Leonidowych Kerpatenko / Merab Kostawa / Kishore Kumar / Lê Đức Thọ / Hans Lehnert / Al Martino / Alice Neel / Hark Olufs / Philipp von Frankreich / Franklin Leonard Pope / Reuven Rubin / Phillip William „Phil“ Seaman / Georg Schulze-Büttger / Elzie Segar / Charles Sorley / John Lloyd Stephens / Ed Sullivan / Cahit Sıtkı Tarancı

 

An diesem Tage schien sich uns alles übel zu wandeln:

1827 erobern russische Truppen Jerewan / 1898: sinkt vor Cornwall das Passagierschiff „Mohegan“. 106 Tote / Moskau, 1972: Absturz einer IL-62, alle 176 Insassen kommen ums Leben / 1972 stürzt eine FH-227 in den Anden zwischen Argentinien und Chile ab, 16 der 45 Menschen an Bord werden nach 72 Tagen gerettet.

 

14. OKTOBER

 

Aphrodisiakisierung

mit

Hannah Arendt / Adam Antonawitsch Barbareka / Francisco Borja da Costa / E. E. Cummings / Raymond Davis Jr. / Thomas Davis / Éamon de Valera / Louis Delluc / George Perry Floyd / Lillian Gish / Pentti Haanpää / Max Hoelz / Lê Đức Thọ / Katherine Mansfield / Maurice Martenot / Dan McCafferty / Roger Moore / Johann Jakob Friedrich Wilhelm Parrot / Erik Pauelsen / Ida Pfeffer / Joseph Antoine Ferdinand Plateau / Ciprian Proumbescu / Edith Rebecca Saunders / Masaoka Shiki / Arleen Sorkin / Erik Johan Stagnelius / Phillip Tobias / Christian Trothe / Wolf Vostell / Ralf Wolter / Alexander von Zemlinsky

 

An diesem Tage fühlten wir uns bestens angeregt:

Schönbrunn, 1809: Friedenschluss im Fünften Koalitionskrieg / 1872: Inbetriebnahme der ersten Eisenbahnstrecke Japans zwischen Tokyo und Yokohama / Sheffield, 1878 erstes Fußballspiel unter Flutlicht / 1888: erste Fotoaufnahmen auf einen Rollfilm / Dorpat, 1920: Friedensschluss zwischen Finnland und der Sowjetrussland / 1947: erster Schallmauer-Durchbruch / 1968 läuft Jim Hines als erster Mensch die 100 m unter 10 Sekunden / 2006. Friedensschluss zwischen den sudanesischen Konfliktparteien.

 

Ich notierte:

1980: Alma und Ilona zu Besuch und Alma lässt durchblicken, dass seine Band „Passion“, die ja recht gut läuft, Interesse an einer Zusammenarbeit hätte. Sollte ich doch noch einmal nachdenken, als Musiker weiterzumachen? Das wäre dann wohl die letzte Möglichkeit auf einen letzten Wagen aufzuspringen, bevor der Zug ganz abgefahren ist. Bei Felix halte ich es bestimmt nicht mehr lange aus, Wochentags, wenn ich daheim sein kann und schreibe, geht’s ja. Aber dann auf der Bühne schäme ich mich zunehmend dafür, was da so abgeht.

2007: Da wir morgen Abend in Manzini, in Swasiland also, sein wollen, nehmen wir heute ein erstes Teilstück in Angriff, wollen so weit fahren, wie wir kommen und sobald wir eine akzeptable Unterkunft finden. Angenehmer Nebeneffekt: man verbringt eine Nacht weniger als geplant in den unzumutbaren Tofo-Quartieren. Beobachtung am (Straßen)Rande: Einst verkehrte offensichtlich ein Eisenbahnzug von und nach Inhambane. Das allerdings muss verflucht lange her sein, stehen doch auf den Gleisen Hütten…) Obwohl wir verabredet hatten, bestenfalls eine kurze Mittagspause einzulegen, wird mal wieder reichlich Zeit verplempert. So kommen wir schließlich nur bis Xai-Xai. Motel neben der Hauptstraßen-Tankstelle. Zimmer allerdings erstmals sogar mit Klimaanlage (die ob der mittlerweile durchaus afrikanischen Temperaturen gute Dienste leistet). Zum ersten Mal gibt’s auch ein Handtuch im Hotel, und sogar Warmwasser haben wir zum ersten Mal in Mosambik. Das allerdings schießt aus allen Hähnen so heiß, dass man damit ein Schwein abbrühen könnte. Zum Abendessen nach Praia do Xai-Xai. Kleine Bucht, schmaler, vermüllter Strand, höllischer Disco-Lärm. Und das einzige Restaurant macht zwar nach Anspruch und Preisen einen auf –zig Sterne, man sitzt aber wie in der Bahnhofshalle und wartet fast anderthalb Stunden aufs Essen. Immerhin: der Red Snapper in Zwiebeln gebraten ist lecker. Doch habe ich diese ewigen Wartereien und Lügereien, all den Stress mittlerweile so satt, dass ich in ein Stimmungstief sacke, die Gruppe nicht mehr sehen kann, einfach nur für mich allein sein will. Und während die anderen mal wieder um die Häuser ziehen, sitze ich im Motelzimmer, vor der Tür wummern die Bässe eines Autoradios, der Fahrer sitzt volltrunken, die letzte Bierdose noch in der Hand, hinterm Steuer… Einmal mehr also: gute Nacht!

2020: Am Nachmittag zur Wahlversammlung des Merseburger Freundeskreises Literatur, in dessen Rahmen ich im vergangenen Jahr einen „Arbeitskreis Walter Bauer“ ins Leben gerufen hatte. Und obwohl ich eigentlich keinerlei Funktionen mehr annehmen wollte, lasse ich mich doch in den Vorstand wählen. Immerhin bezwecke ich ja, mit diesem Arbeitskreis die weitere Erschließung des Bauerschen Erbes voranzubringen. Dann weiter nach Ilsenburg, wo ich am Abend im Rahmen der Landesliteraturtage mit meinem Freund Paul Bartsch im Kloster mugge. Wir lesen, musizieren, singen zusammen. Eine Frau spricht mich an: sie sei schon vor 35 Jahren bei einer Lesung von mir dabei gewesen, in Harzgerode, habe dann auch selbst Geschichten geschrieben und dann sogar an einer meiner Schreibwerkstatten teilgenommen. Das habe ich wichtige Impulse gegeben, sei ihr heute noch wichtig. Gut zu wissen, dass man irgendwie Spuren hinterlassen hat, sehr gut, dass das, was man aufrichtig und mit Überzeugung versucht, nicht for nothing ist.

2023: Temperatursturz nach meist schönem Sommer und langem Spätsommer: am Morgen noch 21° C, am Mittag bei Regen zehn Gard weniger. Am Abend haben wir aber schon wieder was zu Lachen: Kabarett mit Lisa Eckhart im Klubhaus Leuna. 

 

Archivierung

für

Adolf Althoff / Eduardo Arroyo / Leonhard Bernstein / František Xaver Brixi / Antonio Cesti / Robbie Coltrane / Bing Crosby / Moktar Ould Daddah / Johan Christian Clausen Dahl / Garcilaso de la Vega / Errol Flynn / Simone Frost / Thomas-Michael Fuchsberger / Arthur Holitscher / Klaus Höpcke / Randell Jarrell / Abram Fjodorowitsch Joffe / Rainer Klis / Ferdinand Kürnberger / Piper Laurie / Benoît Mandelbrot / Michail Wassiljewitsch Matjuschkin / Johann Kaspar Mertz / Julius Nyerere / Polaire / Laura Pollán / Jean-Louis Pons / Giulio Cesare Procaccini / Heinz Quermann / Johannes Erwin Eugen Rommel / Nikolai Alexejewitsch Sabolozki / Eugen Sandow / Joachim von Sandrart / Hermann Scheer / Sulli / Taillefer / Victorio / Ralf Wolter / Bilal Xhaferr Xhaferri

 

Das hätten wir lieber nicht archiviert:

Merseburg, 994 „ist von heut biß auf den 14. May ein steter Winter mit großer Kälte gewest“ / Hastings, 1066. England gerät unter normannische Herrschaft / 1805 beginnt der Dritte Koalitionskrieg / Eyemouth, 1881: in einem Sturm kommen vor der schottischen Küste 189 Fischer ums Leben / Senghenydd, Wales, 1913: Grubenunglück, 439 Bergleute sterben / 1933 tritt Deutschland aus dem Völkerbund aus und verlässt die Genfer Abrüstungskonferenz / 1942 versenkt ein deutsche U-Boot die kanadische Fähre „Caribou“ vor Neufundland, 136 Todesopfer / Qibya, Westjordanland, 1953: israelische Elitesoldaten massakrieren 69 Araber / 1962: Beginn der Kuba-Kriese / Thailand, 1973: Aufstand, 70 Studenten kommen ums Leben.

 

15. OKTOBER

 

Instandsetzung

mit

Chatschatur Abowjan / Hassan Gouled Aptidon / Mickey Baker / Thomas Bopp / Moritz Brosig / Italo Calvino / Madeleine de Scudéry / Marion Donovan / Paul-Michel Foucault / Célestin Freinet / Maksymilian Gierymski / Asaph Hall / Gottlieb Hiller / Carl Hinkel / Niels Peter Høeg-Hagen / Frank Hurley / Ilja Arnoldowitsch Ilf / Richard Kobrak / Wladimir Michailowitsch Kolzow / Fela Anikulapo Kuti / Leib Kwikto / Michail Jurjewitsch Lermontow / Alfred Meißner / María Mirabal / Benno Ohnesorg / Amparo Poch y Gascón / Mario Puzo / Rudolf Graf von Margna-Redwitz / Friedrich Nietzsche / Günther Werner Hans Ramin / Josef Anton Heinrich Ruderer / Mutianus Rufus / C. P. Snow / Gotthold Friedrich Stäudlin / Evangelista Torricelli / David Trimble / Hans-Hasso von Veltheim / José Miguel Carrera Verdugo / Vergil / Wolfgang Weyrauch / P. G. Wodehouse / Mihály Zichy

 

Da glaubten wir, es sei alles gut instandgesetzt:

1582: nach Einführung des Gregorianischen Kalenders am 4.10. wurden in katholischen Staaten 10 Tage übersprungen, am 15.10.1582 beginnt somit eine „neue Zeitrechnung“ / Köln, 1880: Feier zur Vollendung des im Jahre 1248 begonnenen Dombaus / 1997: Start der Raumsonde „Cassini-Huygens“ zum Saturn / 2003: der erste chinesische Taikonaut fliegt ins All.

 

Ich notierte:

1980: Soeben erschienen hier: Hemingway „Ein Fest für’s Leben“ – ich lese und lese: das geht mich an!

1981: Literaturnobelpreis an Elias Canetti, sehr gut. Doch ich fühle mich nicht wohl, hatte mich sogar krankschreiben lassen – Grippe. Gott sei dank ist der Moskwitsch endlich verkauft. Nun fahren wir Vaters alten Trabi.

1999: Halberstadt. Nach dem Mittagessen präsentiere ich mit den Multimedia-Fachleuten das Multimedia-Konzept der Bosch-Ausstellung. Wir kommen glücklicherweise glatt durch damit. Bestätigung also. Weniger Erfolg hat dann jedoch der Autor des geplanten Ausstellungsbuches. Das Konzept wird völlig auseinanderdiskutiert. Am Ende ist es kein Begleitbuch der Ausstellung, sondern das Begleitbuch des Förderprojektes der Bosch-Stiftung. Und dafür soll für die Ausstellung ein kleiner Katalog erstellt werden. Und ich habe plötzlich sogar noch einen Nutzen davon. Denn Dr. Künzel und ich werden spontan mit dieser Aufgabe betraut...

2007: Mosambik. Und schon geht das Kasperletheater wieder los: Von den anderen höre ich beim Frühstück, dass unser Fahrer gestern Nacht der besoffendste von allen war. Kein Wunder insofern, dass er erst eine halbe Stunde nach der verabredeten Frühstückszeit erscheint – was sich jedoch wieder ausgleicht, da uns gestern beim Einchecken zwar versichert wurde, dass dies eine Übernachtung mit Frühstück sei, heute morgen aber erst einmal alle Motel-Bediensteten gucken wie Mondkälber als wir im Frühstücksraum erscheinen, es mindestens schon mal 20 Minuten dauert, bis unsere Plastetische mit Plastetassen und –bestecken versehen werden… Während der obligaten Verkehrskontrollen stellt sich heute heraus, dass unser (aktueller) Fahrer keinen Personenbeförderungschein besitzt – 1.000 Meticais Strafe (die natürlich wir zu bezahlen haben) und Thomas muss weiterfahren. Dann fehlt die Versicherungskarte – 600 Meticais (interessant dabei zu beobachten, dass der kassierende Polizist das Strafgeld an einem nahen Stand schamlos sofort in Bier umsetzt. Prösterchen!). Und eigentlich wollten wir bestimmt nicht noch einmal durch Maputos Innenstadtgewühl fahren. Mit Peter, der sich von Chissano verabschieden, ihn dabei nochmals bitten wollte, Thomas (der noch zwei Wochen hier bleiben, nicht mit uns zurückfliegen wird) bei der Klärung seines Scheck-Problems zu helfen, hatten wir besprochen, dass dieser Treff irgendwo am Stadtrand, an der Transitstrecke, erfolgen sollte. Dann scheint Thomas aber plötzlich kein Deutsch mehr zu verstehen, kurvt nach merkwürdigen Telefonaten mitten in den dicksten Verkehr (und offenbar ohne jegliche Ahnung, wohin er will). Das kostet uns gute zwei Stunden.

Und dann streckt es sich verdammt lang hin bis Swasiland, bis Manzini. Es geht ständig bergauf. Zu unserer Überraschung, die Grenzstation: modern. Und sofort nach der Grenze wird deutlich, dass Swasiland ein zehnmal so hohes Prokopf-Einkommen hat wie Mosambik. Die Straßen haben plötzlich keine Schlaglöcher mehr, dafür wieder Mittel- und Randstreifen. Auch keine Müllberge mehr an den Straßenrändern. Zum ersten Mal dafür weite, grüne Felder, beregnet oft sogar, schmucke Häuser, gepflegte Rasen – zurück in der Zivilisation... Und dann entdecken wir im Busch neben der Straße sogar ein Gnu und dann ein Warzenschwein und dann (unglaublich!) zwei Elefanten. Manzini erreichen wir erst nach Einbruch der Dunkelheit, kurven ewig herum, da wir unsere Herberge nicht finden können (natürlich hat sich auch wieder niemand -sprich: der Fahrer- über die Strecke informiert, geschweige denn Karten parat…). Und dann erleben wir mal wieder ein afrikanisches Lehrstück: Unser Fahrer fragt an einer Tankstelle (in einem seltsamen Englisch-Bantu-Gemisch), ob hier jemand unsere Herberge kennt. Niemand kennt unsere Herberge. Nun zeigt er den Zettel, den er von Axel mitbekam, herum. Darauf steht auch eine Telefonnummer. Wir haben aber kein Handy mit einer Swasiland-Handykarte. Großes Palaver. Dann gibt der Tankwart unserem Fahrer sein Handy. Der ruft in der Herberge an, fragt aber nicht nach dem Weg, sondern (warum auch immer?), ob noch Zimmer frei sind. Und bekommt natürlich die Auskunft, dass alle Zimmer reserviert seien. Da wir das zuerst nicht kapieren, drehen wir noch einige „Ehrenrunden“, bevor ich dann drauf dränge, dass wir uns ein hiesige Handykarte kaufen, selbst anrufen, und schließlich gegen 20.00 Uhr an einem Supermarkt unsere herantelefonierten Herbergseltern treffen, die nun vor uns herfahren… Ob wir die kilometerlange, abenteuerliche, sehr abenteuerliche zum Quartier führende Piste aber (selbst bei Tageslicht) allein gefunden und befahren hätten, wage ich zu bezweifeln. Ende gut, alles gut: wir wohnen die nächsten Tage in einem wunderschön in den Hügeln über Manzini gelegenen Farmhaus. Kleine Terrasse vor dem gemütlichen 2-Bett-Zimmer nach europäischen Standard – wie herrlich sitzt es sich hier in der Nacht nach all den mosambikanischen Unzumutbarkeiten! Was für ein wohltuendes Gezirpe, Geflatter, Gequake statt Geschrei, Gedröhn, Gehupe ringsum! Riesige Nachfalter umschwirren mich – ja, das könnte seit Tagen mal wieder eine erholsame Nacht werden.

 

Interruptus

für

Werner Willy Oskar Abel / Bhanu Athaiya / Johann Ludwig Burckhardt / Rachel Cohen-Kagan / Simon de Vos / Samuel Fischer / Abraham Fraenkel / Ewgen Gwaladse / Mata Hari / Friedrich Ludwig Jahn / Danilo Kiš / Sarah Kofman / Mateuccio / Robert Müller / Henny Porten / Cole Porter / László Rajk / Agnès Rouzier / Gerd Ruge / Thomas Sankara / Paul Carl Wilhelm Scheerbart / Ida Seele / Helmut Simon / Suzanne Somers / Dan Turèll / Andreas Vesalius / Georg Wedding / Rainer Zille

 

Das empfanden wir schmerzlich als ein Ende:

1880 töten mexikanische Soldaten den Apachen-Führer Victorio und 78 seiner Stammeskrieger / 1944 fliegen bombardieren britische Flugzeuge Braunschweig, 1.000 Todesopfer.

 

 

16. OKTOBER

 

Aufstieg

mit

Louis Althusser / Raoul Aslan / Daisy Bates / David Ben-Gurion / Adolphe Biarent / Karl Blasel / Arnold Böcklin / Rembrandt Bugatti / Austen Chamberlain / Michael Collins / Kieran Doherty / Maria Goretti / Günter Grass / Lily Hildebrandt / Lotti Huber / Itō Hirobumi / Joseph Jelačić von Bužim / Bert Kaempfert / Karl Kautsky / Adolph Knigge / Angela Lansbury / Otto Mueller / Nico / Eugene O’Neill / Dan Pagis / Franz Reichelt / Detlev Karsten Rohwedder / Julie Ryff / Suzanne Somers / Robert Stephenson / Paul Strand / Johann Georg Sulzer / Oscar Wilde / Armin T. Wegner / Gerhard Wolf

 

Da sahen wir Möglichkeiten für Aufstiege:

München, 1836: Eröffnung der Pinakothek / Boston, 1845: erste Operations-Narkose mittels Äther / Leipzig, 1865: Beginn des Kongresses zur Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins / Paris, 1919: Einweihung der Basilika Sacré-Cœur de Montmartre / Schweiz, 1923: Patent für die automatische Armbanduhr / Québec, 1945: Gründung der FAO / Schottland, 1995: Inbetriebnahme der Skye Bridge / Ägypten, 2002: Eröffnung der neuerbauten Bibliotheca Alexandrina.

 

Ich notierte:

1978: Bei ungewöhnlich schönem Oktoberwetter laufe ich vom Klubhaus Deuben zum Bus, der mich nach Hohenmölsen bringen wird. „Viel Erfolg beim ersten Mal!“ hatte mir der kleine, freundliche Klubhausleiter mit auf den Weg gegeben. Zum ersten Mal einen Zirkel schreibender Schüler anleiten – ich bin gespannt.

1981: Penibel versuche ich meine Arbeitsstunden in den selbsterstellten Kategorien tagtäglich abzuarbeiten: Kinderbuch, Theorie, Erzählung, Zeitungsschau, Lektüre, Laufendes, Grammatik, Tippen… mich so bei Laune zu halten und endlich voranzukommen, voranzukommen…

1983: Von Edith Bergner wusste ich, dass der diesjährige Kunstpreis der FDJ an mich verliehen werden sollte. Klaus Schumann hatte aber in einem Gespräch ganz nebenbei fallen lassen, dass er in einer Preisjury gegen mich gestimmt habe, ich aber „etwas Kleineres“ kriegen soll. Nun gut. Als ich dann am Sonnabend beim „Podium junger Kunst“, während dem der Kunstpreis vergeben werden sollte, vom Fotograf der „Freiheit“ in allen Posen abfotografiert wurde, glaubte ich natürlich wieder, was ich schon nicht mehr zu glauben gewagt hatte… Irgendjemand muss mich für einen Idioten halten, mir ewig Knüppel zwischen die Beine werfen, versuchen offenbar, mich klapsmühlenreif zu machen. Unglaublich. Ich kann’s nicht fassen.

1999: Halberstadt. Diskussion der Bosch-Ausstellung mit Prof. Groß und Prof. Schäfer. Die Ausstellungstexte geraten ziemlich in die Kritik, da dort offenbar vordergründig Politik durchschimmert, Motto: eigentlich begann ostdeutsche Geschichte erst nach der Wende... Aber selbst hier kommt man zu einer moderaten Einigung, einem guten Kompromiss, zu einer Möglichkeit der Überarbeitung durch die jeweiligen Projektgruppenleiter.

2000: Zwei Lesungen in der Halberstädter Bibliothek am Stück, dann noch zu einer dritten nach Schwanebeck. Alles läuft gut, interessierte Kinder, zahlreiche Offizielle. Nun gut. Herrliches Wetter am Nachmittag. Ausführlicher Spaziergang durch die Halberstädter Altstadt. Am Abend wieder in die Bibliothek, nun aber als Gast. Bofi liest aus seinem neuen Buch. Sehr interessant und amüsant. Danach noch Gespräche mit den Bibliotheksdamen, schließlich mit Bofi auf ein Bier. Wir verabreden fürs nächste Jahr ein gemeinsames Projekt.

2007: Wir fahren in die Hauptstadt von Swasiland, fahren gut 40 km über eine vierspurige, in bestem Zustand befindliche Autobahn nach Mbabane. 50.000 Einwohner soll Mbabane haben, das scheint mir eher hoch gegriffen – sehr kompaktes, überschaubares Zentrum, mit einer Mall, Supermärkten, vielen kleinen Geschäften, alles in einem Talkessel gelegen (im Reiseführer steht: wie Rom auf sieben Hügeln erbaut, nun gut). Viel Grün und immer wieder herrlich lichtblau blühende Jacaranda-Bäume. Wir schlendern ein bisschen herum, tauschen Geld (das heißt hier: Lilangeni – Mehrzahl: Emalangeni!), kaufen hie und da das eine und andere Andenken, ich beispielsweise ein Tuch mit dem Konterfei des Königs Msawati III.! Irgendwann kommt ein dicker Police Officer (englische Uniform – in dieser einstigen englischen Kolonie scheint alles very british) auf mich zu, ich denke schon, es geht wieder los mit dem Geschmiere, aber nein, der klopft mir die Schulter und lacht sich halbtot: Hey, hey, Osama bin Laden, hey, hey! Wir schütteln uns die Hände und er beteuert immer wieder: It’s a joke, it’s a joke, Sir! Wir fahren ein Stück über die Autobahn zurück, kommen ins Ezulwini Valley, wo offenkundig das Andenkenhandwerk blüht. Allenthalben Stand an Stand, die Verkäuferinnen (selten nur Männer zu sehen) sind sehr freundlich, niemals aufdringlich. Und die Preise erstaunlich niedrig. Zum wiederholten Male fällt mir auf, dass Taiwan Projekte in Swasiland unterstützt, so auch diese Andenkenkooperativen (wie auf großen Werbetafeln ersichtlich). Auch Zypern soll hier sehr aktiv sein. In Mosambik war immer wieder zu sehen und hören, dass Brasilien präsent ist, mit einem großen Kulturzentrum in Maputo beispielsweise. Bilden sich in dieser Welt also auch Bündnisse aus, um Interessen durchzusetzen, von denen man im europäischen Alltag nichts erfährt? Einmal ein bemerkenswerter Verbund von kleinen Staaten, ein andermal einer der portugiesisch sprachigen? Über eine schöne Nebenstrecke gelangen wir zurück nach Manzini, geraten in die rush hour, was für ein Gedränge am Busbahnhof. Aber du hast hier niemals das Gefühl von Unsicherheit. Auffällig jedoch, dass tatsächlich nur junge Leute zu sehen sind, kaum mal einer über 30 zu sein scheint! Um 18.00 Uhr werden hier allerdings die Bürgersteige hochgeklappt. Schlagartig wirkt alles wie entvölkert. Und als wir in einem Bottle-Shop noch etwas zu trinken kaufen, rät uns der Verkäufer, wir Weißen sollten jetzt besser rasch von hier verschwinden. Es könnte ungemütlich werden! Am morgen haben wir gegenüber unseren Herbergseltern erwähnt, dass wir am Abend vielleicht grillen wollen. Und als wir nun gegen 19.00 Uhr eintreffen, brennt tatsächlich schon ein kleines Lagerfeuer, sind Stühle darum gruppiert, steht ein Grill bereit. Oh, what a service!

2020: Weltweit sind nun fast 40 Millionen Corona-Infektionen registriert, allein in Deutschland sind die Zahlen so hoch wie noch nie: pro Tag mehr als 7.000 Neu-Infektionen.

2021: Siegfried-Berger-Ehrung anlässlich seines 75. Todestages und 130. Geburtstages im Merseburger Petri-Kloster. Diese Veranstaltung hatte ich lange vorbereitet, hatte ein Lesestück geschrieben, mich mit Paul Bartsch abgestimmt, was wir musikalisch machen könnten, hatte organisiert – und musste mehrmals verschieben, coronabedingt. Nun hat diese Ehrung tatsächlich stattgefunden, sogar der Landeshistoriker schlechthin, Professor Tullner hielt eine Rede. Alles lief sehr gut, wichtiger Tag.

 

Abdankung

für

Martti Ahtisaari / Hernando Alonso / Gaston Bachelard / Johann Wilhelm Bartsch / Jakub Bart-Ćišinki / Ralph Benatzky / Art Blakey / Jorge Bolet / José Antonio Caro de Boesi / Lucas Cranach d. Ä. / Daphne Caruana Galizia / Ida Craddock / François de Malherbe / Mario Del Monaco / Joseph Salomo Delmedigo / Ahmad Schah Durrani / Max Albert Hugo Eberlein / Cäsar Otto Hugo Flaischlen / Walter Flex / Walter Friedrich / Freddie Frinton / Friedrich Theodor Fröhlich / Gallus / Georg Gloger / Wolfgang Robert Griepenkerl / Gordon Haskell / John Hunter / Deborah Kerr / Gene Krupa / Juan José Landeata / Liaquat Ali Khan / Hugh Latimer / Lullus / Flora Nwapa / Sakaria Paliaschwili / Samuel Paty / Grigori Alexandrowitsch Potjomkin / Todor „Toše“ Proeski / Rabbi Nachman / Jakob Regnart / Jürgen Schumann / Rudolf von Schwaben / Balys Sruoga / Friedrich Stapß / Jan Pieterszoon Sweelinck / Thet Win Aung / Wolfgang Widdel / Joachim Thörmer

 

An diesem Tage spürten wir heftig Abdankungen:

Leipzig, 1813: Beginn der Völkerschlacht / 1853: Beginn des Krimkrieges / 1964 führt China seinen ersten Atombombentest durch / Killeen, Texas, 1991: Amoklauf, 24 Tote.

 

 

17. OKTOBER

 

Anthologie

mit

Fritz Ascher / Ernst Blass / Luis Floriano Bonfá / Georg Büchner / Edward Montgomery Clift / Henri de Saint-Simon / Mehmedalija „Mak“ Dizdar / Emanuel Geibel / James Henry „Jimmy“ Harrison / Rita Hayworth / Marsha Hunt / Barney Kessel / Johann Friedrich Meckel d.J. / Arthur Miller / Max Ludwig Mohr / Les Murray / Alfred Polgar / Anatoli Ignatjewitsch Pristawkin / Rico Rodriguez / Alexandrine Tinné / Tuca / Karl Völker / Nathanael West / Andy Whitfield / Domenico Zippoli / Zhao Ziyang

 

Das schien uns gut in eine Anthologie zu passen:

Żurwano, 1676: Waffebnstillstandsvertrag zwischen Polen-Litauen und dem Osmanischen Reich / Campo Formio, 1797: Ende des Ersten Koalitionskrieges / München, 1810: Erstes Oktoberfest / 1855: Patentierung des Bessemer-Verfahrens zur Stahlherstellung / 1906: erste Übertragung eines Bildes auf telegrafischem Wege / Madrid, 1919: Inbetriebnahme der Metro / Lausanne, 1989: Verbot des Handels mit Elfenbein / 2017: Sieg der Anti-IS-Koalition in der Schlacht um ar-Raqqa /

 

Ich notierte:

1979: Deuben. Mittwoch, Auszeichnung der besten Brigadetagebuchschreiber im sozialistischen Wettbewerb. Ungefähr 50 Leute im kleinen Saal. Riedel quirlt umher, setzt sich dann bei seiner Rede in Szene, wie sich körperlich kleine Leute wohl immer in Szene setzen. Ich habe zwar die Arbeit gemacht, komme aber hier eigentlich nicht vor. So ist es dann auch er, der gratuliert, die Blumen überreicht, die Schecks. Mich hatte er so geschickt platziert, dass ich den Ausgezeichneten nur aus der Ferne zuwinken kann. Nun gut. Geschenkt.

1981: Zum ersten Mal wurde heute in der AJA ein Text von mir durchaus positiv aufgenommen, bezeichnenderweise: „Der Ausstieg“. Sogar ein gutes Gespräch mit Döppe. Er meint, das ganze komme wohl nicht zuletzt aus dem Bewusstsein des Inselstatus, der die eigene Situation bestimmt. Laxness beispielsweise konnte daraus Weltliteratur machen. Seltsam, schon vor einiger Zeit hatte ich mir mal notiert: Kann ein Einwohner Bhutans Weltliteratur schreiben? Und ich hatte mir die Frage mit Ja beantwortet. Die Bewusstmachung der eigenen Situation wurzelnd in Tradition ist das Entscheidende.

1985: Montag war Olaf seit langem mal wieder hier, es war ein herzlicher und langer und ungezwungener Abend wie lange nicht mehr. Seitdem höre ich seit langem wieder mit Genuss Musik… Und heute war ich vom Rat des Kreises als Ehrengast zur Einweihung der Merseburger Kaserne eingeladen – merkwürdig. Und ein Oberst sprach mit an und wusste, dass er ich mal vom Reservedienst zurückgestellt hatte und dass es dabei um ein Kinderbuch ging, richtig? Ich bin baff. Und dann will er wissen, ob ich noch im Kreis Merseburg wohne. Geht das schon wieder los mit diesen Drohgebärden, meingott!

1986: Freitag. Zu Wochenbeginn schrieb ich den letzten Satz am Leuna-Lichtmeß-Projekt (hoffe ich) und wurde für Dienstag zum Rat bestellt, zu Kuhbach. Und der eröffnete mir, dass ich Leiter des Bezirksliteraturzentrums werden soll! Aber was heißt „soll“ - muss! Alles sei schon mit der Bezirksleitung der Partei abgestimmt. Ein Nein wäre also mein Aus – zumindest in diesem Bezirk. Ich versuche irgendwie zumindest eine Interimslösung auszuhandeln, aber Kuhbach beharrt darauf, dass das eine richtige und langfristige Berufung sein soll. Das sei doch das Beste für mich! Tja, das dürfte dann wohl gewesen sein, mit dem eigenen Schreiben. Da war ich so dicht an einer Ideallösung, wollte nur noch zwei Tage die Woche mitarbeiten und nur für die Schüler und die Poeten – und nun das! Was für Wechselbäder.

2007: Swasiland. Wir fahren in den Hlane-Park, einem königlichen Naturgehege. Auf dem Wege schließen wir noch im Scherz Wetten ab, welches Getier wir in welcher Anzahl zu sehen kriegen würden, können wohl selbst nicht so recht daran glauben. Dann sitzen wir in einem offenen Landrover und werden von einem Wildhüter durch den Park kutschiert. Und es dauert nicht lange, da sehen wir Impalas und dann Wasserschweine, und dann Elefanten, eine ganze Elefantenfamilie, und schon pirschen wir uns zu Fuß an eine Herde Nashörner an – mulmiges Gefühl, als so ein Koloss plötzlich auf mich zukommt, erst knapp 2 m vor mit stoppt, doch der Guide beruhigt mich – dass seien white rhinos, völlig friedliche Breitmaulnashörner, Pflanzenfresser, die seien nur neugierig, na gut. Und nach langem Hin- und Hergefahre stoßen wir zu guter Letzt sogar auf eine Löwenfamilie, die glücklicherweise gerade eine soeben gerissene Antilope verspeist. Höchstens 5 m Luft zwischen mir und dem imposanten Löwenmännchen, kein Gitter, kein Zaun, einfach freie Wildbahn, was für ein Abenteuer – damit hatte ich beim besten Willen nicht gerechnet. Auf dem Rückweg machen wir einen Abstecher nach Siteki, einem Bergstädtchen. Auch hier alle Straßen sauber, kein Müll, freundliche Menschen. Und in der Kaufhalle spricht mich ein Mann an: Hallo, ich sah dich gestern in Mbabane und heute bist du hier, hallo, mein Freund! – Es ist der Police Officer, der gestern den Bin-Laden-Joke mit mir machte, heute allerdings nicht in Uniform. So klein ist das Land… In Manzini noch schnell einkaufen für den letzten Abend, morgen geht’s nach Johannesburg, zum Flughafen, gut 400 km zu fahren. Herrlich laue Nacht, ich setze mich eine Weile unter einen im Farmgarten stehenden Regenbaum. Regenbaum, da auf ihm Zikaden leben, die seine Rinde fressen und dann pures Wasser in Tröpfchen ausscheiden. Afrika, mal ganz anders verrückt, als bisher.

2021: Am Nachmittag nehme ich mal wieder ab einer online-Konferenz teil: der PEN diskutiert „Gendergerechte Sprache“. Unser Vertreter in der deutschen Sprachkommission hatte zuvor eine Umfrage unter PEN-Mitgliedern durchgeführt, wonach 2/3 diese Sprachregelungen ablehnen. Dem entspricht eine Umfrage von Meinungsforschern bundesweit, entsprechende Empfehlungen gab inzwischen sogar die Bundesjustizministerin. Gender-Befürworter rücken Gender-Gegner aber mittlerweile sogar in AfD-Nähe. Es geht also bei diesem ganzen Mist, um was ganz anderes. Deutungshoheiten, Einflussmöglichkeiten, Macht… Irgendwie erscheint mir diese Diskussion als wären die teilnehmenden professoralen Fürsprecher Veganer und äußerten sich über Fleisch. Vielleicht sollten diese Leute besser versuchen, einer Babylonisierung das Wort zu reden, dass Frauen künftig Frauen-Deutsch, Männer-Männer-Deutsch, Idiotinnen-Deutsche und Idioten-Idioten-Deusch sprechen, dass hochgelahrte Leute schon mal entsprechende Wörterbücher erarbeiten und Übersetzer ausbilden, gut bezahlt, selbstredend.

 

Arie

für

Jean Améry /  Ba Jin / Ingeborg Bachmann / Derek Bell / Carla Bley / August Rudolf Brenner / Franz Joseph von Bülow / Canaletto / Frédérik Chopin / Henri Crolla / Danielle Darieux / Guarneri del Gesù / Jean-Jacques Dessalines / Laure Diebold / René-Antoine Ferchault de Réaumur / Johann Carl Fuhlrott / Georg III. „Der Gottselige“/ Nicholas Grenon / Ara Güler / Pavel Haas / Julius Hackethal / Ghofrane Haddaoui / Malak Hifnī Nāsif / Gerhard Holtz-Baumert / Adolf Hölzel / Johann Nepomuk Hummel / Alfons Maria Jakob / Kannadasan / Karl Kautsky / Bernhard Kellermann / Gustav Robert Kirchhoff / Hans Krása / Sylvia Kristel / Pierre Laporte / Kurd Laßwitz / Adrian Maleika / Wolfgang Menge / Carlo Raimondo Michelstaedter / Emily Murphy / Annemarie von Nathusius / Criss Oliva / Puyi / Santiago Ramón y Cajal / Herbert Roth / Karl-Hermann Steinberg / Wladimir Stepanow / Tasada Tomotaka / Franz Peter Wirth

 

Da war uns nicht nach Singen zumute:

Paris, 1961: Massenproteste gegen den Algerienkrieg, mehrere Tote, tausende Verletzte / Niger-Delta, 1998: Explosion einer Erdöl-Pipeline, 1.200 Menschen kommen ums Leben / Gaza-Stadt, 2023: beim Einschlag einer fehlgeleiteten palästinensischen Rakete in ein  Krankenhaus kommen bis zu 400 Menschen ums Leben, mehr als 300 werden verletzt. 

 

 

18. OKTOBER

 

Spektakel

mit

James Aggrey / Salomon August Andrée / Hans Berger / Henri Bergson / Chuck Berry / Michael Beuther / Hermann Danz / Tibor Déry / Ernst Didring / James Wright Foley / Annette Hanshaw / Friedrich Hollaender / Miriam Hopkins / Félix Houphouët-Boigny / Pascual Jordan / Klaus Kinski / Heinrich von Kleist / Laclos / Lotte Lenya / Miguel Llobet Solés / Jeanne Mandello / Luca Marenzio / Melina Mercouri / Dorothea Milde / Amandus Gottfried Adolf Müllner / Laura Nyro / Anita O’Day / Pankratius Pfeiffer / Kurt Paul Schlosser / Heinrich Schütz / Mihail Sebastian / John Vanderlyn / Juri Nikolajewitsch Tynjanow / Juan Valera / Vojislav Vučković / Wendy Wasserstein / Philipp von Zesen

 

 

Das empfanden wir wohltuend als Spektakel:

Heidelberg, 1386: Eröffnung der Universität / Wittenberg, 1502: Gründung der Universität / Aachen, 1748: Friedensschluss im österreichischen Erbfolgekrieg / Eisenach, 1817: Wartburgfest / Donuastauf, 1842: Einweihung der Walhalla / Peking, 1860: Ende des Zweiten Opiumkrieges / 1907: Ende der Zweiten Haager Friedenskonferenz / Pohnpei, Neuguinea, 1910: Aufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft / Lausanne, 1912. Ende des Italienisch-Türkischen Krieges / Leipzig, 1913: Einweihung des Völkerschlachtdenkmals / London, 1922: Gründung der BBC / 1989 startet die Raumsonde „Galileo“ zum Jupiter / 1991: erklärt Aserbaidschan seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion / Bilbao, 1997: Eröffnung des Guggenheim-Museums.

 

 

Ich notierte:

1999: Seltsamer Tagesbeginn: Gerade soll ich einen Vortrag vor vollem Saal halten, da klingelt der Wecker. Ich zögere einen Moment, ob ich nun der Pflichtnachkommen oder mich einfach so aus dem Traum stehlen kann...

2000: Am Morgen nach Eckartsberga, Schreibwerkstatt in der Grundschule. Zum ersten Mal in diesem Jahr eine Nebelfahrt, die Veranstaltung selbst läuft aber ganz gut. Weiter nach Bad Bibra, um die Workshop-Planung „Unser Dorf liest“ weiter voranzubringen. Immerhin sind von den Schulen Illustrationen zu meinem Unstrut-Führer eingegangen, auch die Presse ist vor Ort, bannt die Übergabe der Zeichnungen auf Fotos, alles Weitere ist aber mal wieder schwierig mit der hiesigen Bibliothekarin, da geht dies und dort das nicht, und jenes hat sie vergessen... In Leuna schnell die wichtigsten Büroarbeiten, dann ins Domgymnasium, Exkursion zu den Walter-Bauer-Stätten der Umgebung. Alle Schüler die mitkommen zeigen sich sehr interessiert. Gutes Gefühl, dass da am Ende des Projekts etwas bewegt sein könnte. Zu Hause wartet schon Mine auf mich, will spielen, sogar mit mir zusammen Abendbrot essen, kostet dann sogar zum ersten Mal „Stinkerkäse“, da den ja der Opa gern isst...

2007: Manzini. Beim Koffer-in-den-Bus-laden unterhalte ich mich noch ein bisschen mit unserer Wirtin, will zum Beispiel wissen, ob ich die Literatur über Swasiland falsch gelesen habe, überall steht was von erschreckender Armut, wir aber haben ein ansprechendes, verhältnismäßig wohlhabendes Land gesehen. Ja, sagt sie, in einem Korridor entlang der guten Straßen und in den Städten und um die Städte herum sieht es recht gut aus, aber fernab der Wege lebt man tatsächlich unterm Existenzminimum. Dennoch sei sie vor 20 Jahren aus Südafrika hierher gekommen, lebe gern hier, da die Swasi ein freundliches, aufgeschlossenes Volk seien, man als Weißer hier nichts auszustehen, nichts zu befürchten habe. Den Elektrozaun ums Grundstück hätten sie nur, damit sich die Gäste völlig sicher fühlten. Sie selber bräuchten so was eigentlich nicht… Und Mosambik? bohre ich weiter, rührt die offenkundige Armut dieses Landes wirklich vom Bürgerkrieg her? Ja, sagt sie, eindeutig. Da sie oft rüber fahre, immer wieder Waren spende und selbst über die Grenze bringe, sehe sie auch, dass es sich in Mosambik seit drei, vier Jahren langsam zum Besseren wende, ganz langsam, die Bürgerkriegswunden aber noch entsetzlich seien. Tschüß! Wir fahren los. In Mbabane stoppt uns ein Auto. Sollte nun etwas doch noch… Nein, es ist der Hausboy. Unsere beiden Mosambikaner haben vergessen ihren Zimmerschlüssel abzugeben… An der Grenze nach Südafrika gibt’s dann aber doch noch einen leisen Misston: Wir haben schon alle Stempelstellen durchlaufen, fahren sozusagen schon im Niemandsland, da werden wir von einem Typen im Trainingsanzug angehalten, hinter ihm drei schräge Typen in Blaumännern. Angeblich fehlt mal wieder irgendein Papierchen, zumindest beharrt der Trainingsanzugtyp, der offenkundig tatsächlich den Swasi-Zoll darstellt, dieses zu sehen. Sonst keine Weiterfahrt. Grinsen. Es sei denn – 200 Emalangeni… Axel versucht zu verhandeln, keine Chance. Wir sitzen fest. Da stülpt Axel seine Hosentaschen um, zeigt alles Geld vor, das er noch hat: 110 Emalangeni. Die Typen nicken, lassen das Geld in ihren Hosentaschen verschwinden, stellen uns allerdings eine Quittung aus: über 200 Emalangeni! Doch bald kommt’s noch dicker: Seit Tagen schon hatte ich mich gewundert, wie oft unser Fahrer Öl nachfüllte, hatte immer wieder ins Gespräch zu bringen versucht, dass das nicht ganz normal sei, irgendetwas mit unserem Bus nicht in Ordnung sein müsse. Keine Reaktion. Nun steigt die Temperaturanzeige plötzlich ins Rote, Dunst im Auto, und wir stehen mitten in der südafrikanischen Einöde. Der letzte Ort mindestens 10 km hinter uns, der nächste wohl 20 km voraus. (Karten hat unser Fahrer natürlich wieder nicht.) Großes Schulterzucken und Palavern, nach einer Weile wird Mineralwasser nachgegossen, wir zuckeln noch einen Hügel rauf und rollen einen runter. Und Aus. Nichts geht mehr. Auto kaputt. Unsere Gesichter werden lang und länger. Noch liegen mindestens 250 km bis zum Flughafen vor uns. Die Zeit wird knapp. Kein Telefon funktioniert (niemand hat eine südafrikanische Handy-Karte). Was nun? – Und hatte ich nicht eben am Straßenrand noch ein Warnschild gesehen: Danger – criminal areal! Don’t Stop! - ?

Nach einer Weile stoppt ein Buschtaxi. Und schon fängt unser Fahrer wieder an, die völlig falschen Fragen zu stellen. Nein, natürlich hat der Buschtaxifahrer nicht zufällig eine Wasserpumpe oder ein Thermostat dabei. Sorry, schon will er wieder in sein Auto steigen und losbrausen, da können wir ihn gerade noch halten. Verdammt, wir müssen doch unseren Flieger kriegen. Alles andere ist jetzt völlig unwichtig! Könne er uns nicht mitnehmen, zumindest bis zum nächsten Ort? Of course! Also fix alles Gepäck umladen, ins Buschtaxi zu den schon darin Sitzenden gequetscht, kurzer Abschied von unseren beiden Mosambikanern, denen das alles offensichtlich viel zu schnell geht, denen wir aber noch alles in der Gruppenkasse befindliche Geld in die Hand drücken, damit sie irgendwie weiterkommen. Und ab geht’s. Im Buschtaxibahnhof der nächsten Stadt problemloses Umladen und Umsteigen in ein leeres Buschtaxi. Doch ob wir den Fahrpreis aufbringen können? Für 230 km Taxifahrt! Kein Problem: 600 Rand, rund 60 Euro will der Fahrer haben. Meingott, da fällt uns allen ein Stein vom Herzen! Überhaupt – gut zu sehen, wie unsere kleine Gruppe auf einmal wieder harmonisiert, alle ganz selbstverständlich die letzten Rand-Reserven hervorkramen, dann die letzten Getränke- und Essensreste herumreichen. Das war am Tiefpunkt der Reise, in Xai-Xai, als man sich gegenseitig eisig anschwieg, schon mal ganz anders gewesen… Unsere Erleichterung wird noch größer, sehr viel größer, als wir tatsächlich und nach einer Fahrt durch ein schweres Gewitter noch pünktlich den Flughafen Johannesburg betreten. Das hätte am Ende wahrhaftig noch schief gehen können…

2023: Am Abend ins Merseburger Ständehaus: Premiere der von der Siegfried-Berger-Stiftung in Auftrag gegebenen Siegfried-Berger-Biografie. Ich diskutiere mit dem Landeshistoriker schlechthin, dem Autor der Biografie Professor Matthias Tullner sowie der vormaligen Vorsitzenden der Historischen Kommission Sachsen-Anhalts Professor Ulrike Höroldt. Interessiertes Publikum, gutes Gespräch.

 

 

Schlaffheit

für

Charles Babbage / Henri Bergson / Christian I. von Sachsen-Merseburg / Enriqueta Compte i Riqué / Casimiro de Abreu / Adrianus Michiel de Jong / Dinuzulu / Thomas Alva Edison / Eberhard Feik / Gisi Fleischmann / Georg August Gaul / Charles Gounod / Jon-Erik Hexum / Jacon Jordaens / Friedrich Kittler / Robert John Le Mesurier McClure / Étienne-Nicolas Méhul / Benjamin Moloise / Koloman Josef Moser / Georg Mylius / José Ortega y Gasset / Park Young-seok / Johann Friedrich Carl Constantin Schroeter / Nancy Spero / Flurin Spescha / Leo Strauss / Wolodymir Jewtymowytsch Swidsinskyj / Takemoto Gidayū / Viktor Ullmann / Lesser Ury / Manuel Vázquez Montalbán / Erik Wallenberg / Dee Dee Warwick / Daniel Adam z Veleslavina

 

An diesem Tage fühlten wir uns schlaff:

1356 wird Basel durch ein Erdbeben weitgehend zerstört / Cholula de Rivadavia, 1519: Hernán Cortés lässt mehrere hundert Azteken massakrieren / Pantasma, Nicaragua, 1983: CONTRA-Terroristen massakrieren 47 Menschen.

 

19. OKTOBER

 

Relaxen

mit

Kalcidon Agius / Colomba Antonietti / George Habib Antonius / Miguel Ángel Asturias / Friedrich Wilhelm Bithorn / Umberto Boccioni / Caspar Butz / Wolf Durian / Farid el Atrache / Marsilio Ficino / Michael Gambon / Adam Lindsay Gordon / Eva-Maria Hagen / Leigh Hunt / Fannie Hurst / Roger Wolfe Kahn / Kikuchi Masabumi / Hermann Knaus / John le Carré / Auguste Lumière / Myeongseong / Vasco Pratolini / Keith Reid / Hilde Spiel / Mieczysław Szczuka / Peter Tosh / Ludwig „Wiggerl“ Vörg / Edo Zanki

 

Das entspannte uns:

Thorn, 1466: Zweiter Friedensschluss zwischen dem Deutschen Ordne und Polen / Leipzig, 1813: Ende der Völkerschlacht, entscheidende Niederlage Napoleons / 1856: Gründung des von Oman unabhängigen Sultanats Sansibar / New South Wales, 1972: Fund des bislang größten Goldklumpens, des 214,32 kg schweren  „Holtermann Nuggets“ / Leipzig, 1913: Gründung der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft / Bad Dürkheim, 1935: Eröffnung der Deutschen Weinstraße / New Jersey, 1943: Isolierung des Antibiotikums Streptomycin gegen Tuberkulose / 1954: Suez-Abkommen zwischen Ägypten und Großbritannien / Aachen, 1959: Eröffnung der ersten Diskothek Deutschlands / 1967 passiert die Raumsonde „Mariner 5“ die Venus / 1974 wird Nue unabhängig von Neuseeland / 2018 fliegt der Asteroid 2018 UA in einer Entfernung von weniger als 20.000 Kilometern an der Erde vorbei.

 

Ich notierte:

1981: Ich schwitze den ganzen Tag, obwohl draußen der Herbst einzieht, finde irgendwie keinen rechten „Schreibfaden“. Habe ich meine Tagesaufgaben, mein Pensum vielleicht falsch eingeteilt? Schreiben ist mir die einzige Möglichkeit Wichtiges wichtig und Unwichtiges unwichtig zu machen.

1982: Eine Woche im Pionierlager Friedrichsbrunn. Seminarleiter bei der Werkstattwoche für schreibende Schüler. Cathi mit dabei.

1985: Reichlich Arbeit nach den drei Monaten Arbeitsurlaub – morgen für drei Tage nach Stolberg, Schreibwerkstatt, dann Oranienburg, dann Berlin, dann Feldberg, Fallada-Archiv, die nächsten vierzehn Tage sind belegt - und die Wochenende mit Tagungen, Workshops, Lesungen sogar bis Ende November.

1999: Nach Spergau in die Schule. Dort übergeben mir die Schüler Texte und Zeichnungen über die Lichtmeß, die zu schreiben und malen ich sie aufgefordert hatte. Da sind erstaunliche Sachen dabei, also singen wir auch zusammen das „Leseratten-Lied“ und ich verspreche, dass ihre Texte auch bald gelesen werden können – indem ich sie nämlich in die ersten Spergauer Dorfgeschichten einreihe. Dazu dann ein Interview mit einem alten Spergauer, der mir sein Leben erzählt. Auch sind interessante Details dabei, die demnächst transkribieren werde. Am Nachmittag lasse ich mich mal wieder zu hektischer Betriebsamkeit nieder: Computerarbeit für die Bosch-Ausstellung und die Vorbereitung der Jugendbuchwoche Sachsen-Anhalts, die ich organisiere, dann noch einige Vorbereitung für mein Goethe-Projekt. Da wird’s schnell Mitternacht...

2000: Lesung in Merseburg-Süd. Zwei sechste Klassen erwarten „Novembertau“: und siehe da – große Aufmerksamkeit, kluge Fragen und am Ende stehen Schüler (!) sogar Schlange und wollen ein Buch (samt Autogramm) erwerben. Und dann kommen sogar Bestellungen von Lehrern... Ich muss am Ende nochmals nach Hause und schnell die geforderte Anzahl Bücher holen. Schönes Gefühl. Und am Nachmittag zu einem Vortrag im Rahmen des Seniorenkollegs an die Fachhochschule. Als ich die Tür des Hörsaals öffne, glaube ich meinen Augen nicht trauen zu können: Der Hörsaal ist voll, mindestens hundert Leute! Der zweite Erfolg heute also schon.

2007: Zwischenstopp in Dubai auf der Rückreise aus Mosambik und ich notiere: das war wohl die Reise mit den größten Höhen und Tiefen, mit der größten Amplitude, die ich bisher erlebte. Und obwohl ich mich inzwischen wieder gut fühle, körperlich wie mental, weiß ich nicht so recht, ob ich so was irgendwann noch mal erleben möchte. Wahrscheinlich nicht. Die Erfahrung, dass mein Körper mir eindeutig Warnsignale sandte, sollte ich besser ernst nehmen, Reisen, die nur mit Tabletten und Impfungen zu bestreiten sind, künftig meiden. Und ich denke, wenn man nun im zehntärmsten Land der Welt war, muss man nicht die Nummer eins anstreben. Armutstourismus hat Grenzen, eindeutig. So will mir nicht aus dem Sinn, dass ich in all diesen Tagen bestenfalls vier, fünf Männern meines Alters begegnete… Und überhaupt sollte man Reisen, auch wenn sie nun de facto überall hin möglich scheinen, nicht wie Briefmarken zu sammeln versuchen.

 

2023: Am Abend nach Leissling. Jürgen Mannke hatte mich zu einer Lesung aus seinem jüngsten Buch eingeladen. Die sollte eigentlich schon vor 14 Tagen in Weißenfels stattfinden, dann war aber ruchbar geworden, dass sowohl Rechts- wie Linksradikale diese Veranstaltung stören wollten, und das Ganze war abgesagt und – konspirativ sozusagen – in ein Hotel außerhalb der Stadt verlegt worden. Passend: danach werde ich bei Nebel geblitzt.

 

Ritual

für

Antoine Abel / Margaret Anderson / Horst Beseler / Maurice Rupert Bishop / Manuel Álvarez Bravo / Donald Eugene „Don“ Cherry / Camille Claudel / António José da Silva / Spencer Davis / Elenhans / Eugene Burton Ely / António Joaquim Granjo / Alija Izebegović / Jean Jülich / Harold Lockwood / Lu Xun / Samora Moisés Machel / Julius Maggi / Mukaabya Mutesa I. / Jerzy Popiełuszko / John Silas Reed / Käthe Reichel / Ernest Rutherford / Mihail Sadoveanu / Nathalie Sarraute / Jonathan Swift / Samuel van Hoogstraten / Mercy Otis Warren / Friedrich Weinreb / Unica Zürn

 

Nie würden wir das ritualisieren:

439 erobern die Vandalen Karthago / 1870 prallt der Passagierdampfer „Cambria“ bei Sturm auf die irische Felseninsel Inishtrahull und sinkt, 179 Todesopfer / Japan, 1944: Gründung der Kamikaze-Fliegerstaffel / Münchberg, 1990: Auffahrunfall bei Nebel, 121 Fahrzeuge kollidieren, 10 Menschen sterben, 122 werden verletzt / Indien, 1991: Erdbeben, 2.000 Tote / 2001 sinkt vor Java ein Flüchtlinsboot, 353 Menschen ertrinken.

 

 

20. OKTOBER

 

Versammlung

mit

Bab / Bálint Balassa / Wilhelm Bode / Zacharias Brendel / Don Byas / Christoph Caudwell / Bill Chase / Charley Chase / Jean Daniel Abraham Davel / Simon de Vos / John Dewey / Hans Andrias Djurhuus / Nadine Gordimer / Howard Tracy Hall / Maximilian Harden / Stéphane Hessel / Charles Ives / Jomo Kenyatta / Mitch Lucker / Bela Lugosi / Nellie McClung / Roger Melis / Jean-Pierre Melville / Pak Wanso / James Stuart Parker / Oskar Pastior / Joachim Perinet / Tom Petty / Otfried Preußler / John Silas Reed / Arthur Rimbaud / Aljoscha Rompe / Abel Santamaría / Muhammad Shamsuddeen III / Robert Swan / Georg Tappert / Bärbel Gertrud Wachholz / Konrad Wolf / Wilhelm Wolfsohn

 

Da versammelten wir uns gern:

London, 1708: Fertigstellung der St Paul’s Cathedral / Ancón, 1883: Ende des Salpeterkrieges zwischen Chile und Peru / 1932: Gründung des Internationalen Jugendherbergsverbandes / Sydney, 1973: Eröffnung des Opernhauses / 2018: Start der europäischen Raumsonde „BepiColombo“ zum Merkur.

 

Ich notierte:

1981: Heute zum ersten Mal in meinem Leunaer Patenbetrieb, in der Direktion Erdöl/Olefine. Sie hätten gern, dass ich mal einen ganzen Schichtzyklus mitarbeite, damit ich das, was sie machen, kennenlernen kann. Am Nachmittag zur Vorbereitung der Tage der Kinder- und Jugendliteratur eingeladen in die Bezirksleitung der SED. Schau an, da ist das also schon angekommen. Edith Brandt, die Kulturchefin liest im Schlusswort ein Gedicht einer 15jährigen Schülerin vor, veröffentlicht in der Lehrerzeitung. Ein plattes Gedicht, das totales Vertrauen in diesen Staat beschreibt. Da schreiben meine Schüler in Hohenmölsen Besseres… Doch Edith Brandt bricht beim Vorlesen in Tränen aus, sagt, sie sei hochgerührt von dieser Haltung. Meingott!

2000: Als erstes bringe ich heute morgen nochmals bestellte Bücher in die Schule nach Merseburg-Süd, bringe dann die Zeichnungen der Bibraer Kinder nach Halle zum Verlag, hole von Susanne Berner Bilder für eine Ausstellung in Magdeburg ab, stimme dabei mit Willi noch einiges in Vorbereitung auf die Bauer-Ehrung ab, schaffe es dann gerade noch rechtzeitig zu einer Lesung in der Grundschule Olvenstädt (die sehr gut läuft) und fahre schließlich zur Vorstandssitzung nach Möser. Auch läuft eigentlich alles recht gut, nur Thea stellt meine Organisation des Workshops in Bad Bibra in Frage, da die Bibraer Bibliothekarin sich bei ihr über mich beschwert habe! Das verblüfft mich doch einigermaßen, beschäftigt mich so, dass ich ihr (auch, da ich mich immer mehr von ihr allein gelassen fühle), gleich als ich am Abend wieder zu Hause bin, eine Mail schicke. Darauf hin ruft sie seit Wochen plötzlich wieder an und meint, dass ich das alles falsch sähe...

2021: Am Abend kommt Alma mit seinem Sohn Steffen, der Schlagzeug spielt, und wir proben für die Buchpremiere von „Session“ – wahrscheinlich werde ich da zum Auftakt die erste Geschichte des Buche lesen, in der ich die erste Band beschreibe, in der Alma und ich vor gut 55 Jahren in Merseburg spielten – und zur anschließenden Session wollen wir dann eben wieder bzw. nochmals zusammen auf einer Bühne stehen.

 2023: Die neue Stones-CD flattert mir ins Haus: „Hackney Diamonds“, ihr letztes Studio-Album gabs vor 18 Jahren. Jagger ist 80, Richards wird’s alsbald, doch was für eine Vitalität, was für eine Kraft kommt da noch rüber, ja, die Urkraft des Rock, die einst die Welt veränderte. Einige sehr schöne Songs sind auf der Scheibe, „Whole Wide World“ beispielsweise. Und nicht von ungefähr klingt zuletzt ein Blues auf.

Angesichts der neuen Kriegsbilder aus Israel sehe ich mich wieder im Zuge des Nahost-Friedensprozesses Ende der 1990er Jahre voller Hoffnung in Rosh-Hanikra an der Grenze zum Libanon stehen und den israelischen Soldaten zuwinken, die in ihren Stellungen „Anybody Seen My Baby“ von „Bridges To Babylon“ mitsingen.

 

Verängstigung

für

Sergei Fjodorowitsch Bondartschuk / Hanuš Bonn / Eduard Brücklmeier / Christian II. von Sachsen-Merseburg / Paul Dirac / Steven Earl „Steve“ Gaines / Naim Frashëri / Shirley Horn / Franz Eugen Klein / Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow / Burt Lancaster / Michael Mästlin / Joel McCrea / Hermann von Neuenahr d. Ä. / Otto Pankok / James Randi / Adolf Reichwein / Sylvia Rexach / Arthur Robison / May Robson / Josef Anton Heinrich Ruderer / Ronald M. Schernikau / Magda Spiegel / Klaus Störtebeker / Tabei Junko/ Weranika Tscherkassowa / Cory Wells / Ronnie Van Zandt / Henry „The Sunflower“ Vestine

 

Das machte uns Angst:

1962: Beginn des Indisch-Chinesischen Grenzkrieges / Moskau, 1982: Massenpanik bei einem Fußballspiel, 66 Tote.

 

 

21. OKTOBER

 

Lektorat

mit

Petras Aleksandravičius / Malcolm Arnold / Derek Bell / Samuel Taylor Coleridge / Celia Cruz / Alphonse de Lamartine / Günther Deicke / Domenichino / Georg Samuel Dörffel / Helmuth Viking Eggeling / Eugene Burton Ely / Gerrit Engelke / Carrie Fisher / Dizzy Gillespie / Carl Krone / Gustav Langenscheidt / Ursula K. Le Guin / Alexander Lernet-Holenia / Victor Almon McKusick / Ronald Erwin McNair / Brent Mydland / Alfred Nobel / Pylyp Orlyk / George Plantagenet / Jewgeni Lwowitsch Schwarz / Georg Solti / Charles Van Lerberghe / Claire Waldoff / Francisco Antonio Zea

 

 

Das lektorierten wir mit Freude:

1680: Gründung der Comédie-Française / 1850: Abschaffung der Visum-Pflicht im innerdeutschen Reiseverkehr / New York, 1959: Eröffnung des Guggenheim Museums / 1986 werden die Marshallinseln unabhängig von den USA.

 

 

Ich notierte:

1981: Gestern spät abends im Fernsehen: „Stalker“ von Andrei Tarkowski. Tief beeindruckt, nachgerade magische Wirkung, das wird Unausgesprochenes ausgesprochen, wird ungewöhnlich Gewöhnliches gezeigt. Diesen Film hätte ich gleich nochmals sehen wollen. Am Nachmittag bei Edith Bergner, wir sprechen über die Überarbeitung meines Kinderbuch-Manuskripts, über die Treichel-Figur vor allem, kommen so auf die jetzige „Väter-Generation“ zu sprechen. Die leben und schreiben wohl in einer Verklärung bis Verleugnung der eigenen Kindheit und Jugend, um die mit der umgebenden Realität in Einklang zu bringen, Angriffe darauf abzuwehren. So entstehen Psychosen, Bräunig-Effekt. Nicht wenige dieser Väter saufen, um den alltäglichen Alpdruck zu mildern, sich anpassen zu können. In ihrer Vorstellung sind sie dann gänzlich andere, lupenreine Leute, was den eigenen Erfahrungen, dem eigenen Erleben, was alten Überzeugungen oft diametral entgegengesetzt ist. Darüber nun können sie natürlich mit niemand reden, es würde sie brüskieren. So solle, könne ich doch auch über meinen Treichel nachdenken! Da mir alles viel zu langsam vorangeht mit meinem Schreiben, frage ich mich manchmal, ob ich vielleicht zu blöd zum Schreiben aber zu klug zum Musizieren bin. Aber vielleicht bin ich auch zu behäbig und suche nur ständig nach einer bequemen Lebensart. Oh Mann!

1989: Zurück von einer dramatisch verlaufenen Woche. Güntersberge, Wustrow, Güntersberge. In Güntersberge leitete ich mal wieder, wie stets in den Herbstferien, die Werkstatt für schreibende Schüler, fuhr von da nach Wustrow, um an den Brodowiner Gesprächen teilzunehmen. Das Umweltaktiv des Schriftstellerverbandes hatte mich dazu eingeladen, wohl aufgrund meines Leuna-Buches. Hochinteressante Runde, gute Diskussionen u.a. mit Matthias Platzeck. Und mitten in unsere Verständigungen platzte die Nachricht, dass Krenz neuer Generalsekretär sei, dann dessen Antrittsrede, dann die Folgenachrichten… Uns wurde himmelangst, da wurde so mancher blass… Wir brachen ab, sahen zu, dass wir schnell weg kamen, bevor wir hier vielleicht verhaftet worden wären… Ich also zurück nach Güntersberge, mehr schlacht als recht die Werkstatt zu Ende gebracht, die Kinder nach Hause geschickt… Dann wieder selbst zu Hause. In Leuna erschien mir alles noch trister, kaputter, stinkender als zuvor. Hier gab’s auch noch keine Versammlung (wie wohl fast überall sonst im Lande)… Ich überlege, was nun zu tun ist. Schreiben allein scheint in diesen Zeiten zu wenig. Auf dem Posten im Literaturzentrum bleiben, von da aus wirken? Oder besser hier in Leuna agieren, verändern? Alles scheint denkbar, scheint möglich nun, nur eines keinesfalls: der Rückzug ins Private.

1997: Leuna, früh morgens, letzte Vorbereitungen für meine dritte Reise nach Israel. Programm, Taschentücher, Pässe? Ok. Wie sagt man doch so schön: Aller guten Dinge sind drei. Entsprechende Vorfreude. Obwohl - in den letzten Tagen und Wochen war unser Reiseziel einmal mehr überpräsent in den Nachrichten. Jüngster Anlaß in diesem politische so heißen Land: Eine Wetterkatastrophe, Hagel in Jericho, Fluten in der Judäischen Wüste, mehrere Tote - unglaublich. Im Dauerkonflikt zwischen Juden und Palästinensern hingegen scheint nach dem letzten Hamas-Attentat des Sommers (Bombenexplosion auf dem geschäftigen Ben-Yehuda Markt Jerusalems) langsam wieder Gesprächsbereitschaft vermittelbar. Man wird sehen. Während der Fahrt nach Halle, zum Zug, allenthalben Rauhreif auf den Wiesen und Dächern, doch ein farbenprächtiger Sonnenaufgang - ein vielversprechender Gruß aus dem Nahen Osten?

Zu meiner und Achims, des Reiseleiters, Erleichterung treffen alle Mitreisenden (bis auf Denis aus Burg, der ankündigte, erst in Berlin zur Gruppe zu stoßen) pünktlich am vereinbarten Treffpunkt ein: Hauptbahnhof, Blumenladen. Einfach war es nicht, 14 Jugendliche zu finden, die gern schreiben und Israel erleben wollten. So, die wichtigsten Auswahlkriterien. 14 deshalb, da diese Teil­nehmerzahl die Reisekosten optimiert (Gruppenflug, Minibus vor Ort etc.) Bei meiner ersten sowie bei meiner zweiten Israel-Reise, vor drei Jahren bzw. vor einem Jahr, war ich einer von 14 sogenannten Multiplikatoren: Leute, die auf unterschiedlichsten Gebieten mit Jugendlichen arbeiten, vom Streetworker bis zur Sozialministerin, und die versuchen sollten in ihren Verantwortungsbereichen weiterführende Begegnungen zwischen Deutschen und Israelis anzuregen. Nun sind wir also mit Jugendlichen unterwegs, genauer: mit jungen Textern, da sich eine unserer weiterführenden Ideen umsetzen ließ. Eine Schreibwerkstatt mit jungen Israelis ist angesagt. Keine Frage, das begeisterte junge Sachsen-Anhaltiner, die man durch Schreibaufrufe, Schreibwettbewerbe, und hiesige Workshops kannte, schon. Doch nicht wenige der Angesprochenen oder mehr noch deren Eltern oder Großeltern reagierten ängstlich - was, nach Israel, da ist doch Krieg, oder? Andere schienen mittlerweile Luxus zum Reisestandard erhoben zu haben. Dennoch waren letztlich 14 junge und erwartungsfrohe Leutchen zusammengekommen, und alle im Sinne des Gesetzgebers jugendlich, zwischen 16 und 26 also - zwingende Notwendigkeit für die Förderung des Ganzen. Achim (mit dem ich nun im Übrigen bereits zum dritten Mal nach Israel unterwegs bin) bleibt nervös, bis auch der letzte Erwartete vorm Blumenladen steht. Wie gesagt, die Nachrichten der letzten Tage. Und die Gesamtfinanzierung hängt an der kompletten Teilnahme... Nun gut. Wir sitzen im Zug, wärmen uns die eiskalt gewordenen Füße und sind bester Laune.

Eine weitere Besonderheit dieser dritten Reise: Erstmals ist Jeanny dabei. Sicherlich kann eine gelegentliche Trennung für ein altes Ehepaar wie uns (in zwei Jahren können wir Silberne Hochzeit feiern, meingott) belebend wirken, ich weiß jedoch noch, wie ich sie beim ersten Israel-Trip vermisste und wie mir beim zweiten Achims Schnarchen zusetzte (wobei er stets behauptete, ich sei der grässlichere Schnarcher...). Eigentlich hatte ich das Zusammenhausen­müssen mit anderen seit meiner Armeezeit mehr als satt. Hinzu kommt, dass Israel mir mit jeder Reiseerfahrung, mit jedem Reiseerlebnis mehr in den Alltag hinein spielte. Und den teilt man ja nun mal gemeinhin mit der Ehefrau... Ich nahm die sich bietende Gelegenheit, einen Platz zur diesjährigen Reisegruppe hinzukaufen zu können, also ohne Zögern wahr. Oder anders: Irgendwie spüre ich, dass mich die Probleme dieses Landes und dabei vor allem die des Judentums zunehmend zu beschäftigen beginnen. Und wohin mich das auch immer führen mag, ich möchte dabei natürlich zuerst einmal von Jeanny verstanden werden.

Berlin-Schönefeld: check-in, erstmals bei El Al, die üblichen, mir schon von den Ausreisen in Tel Aviv bekannten Kontrollen und Verhöre - „Kennen Sie Araber? Wer hat Ihren Koffer gepackt? Haben Sie ihn irgendwann unbeaufsichtigt gelassen?“ - aber hier alles sehr zügig und freundlich. Keine Stunde und wir sitzen im Transitraum. Zwischenlandung in Rom, dummes Herumsitzen in der Maschine, keine Ausstiegsmöglichkeit, Israelflüge haben halt immer höchste Sicherheitsstufe, mamma mia! Dann endlich weiter gen Orient. Ankunft auf dem Ben-Gurion-Airport im Dunkeln. Und während ich hier sonst vor stickiger Schwüle fast einen Klimaschock fürchtete, umfangen uns lausige 19°C. Anderer Schock jedoch: Während des Landeanfluges wurde ich urplötzlich von starken Zahnschmerzen überfallen, Schmerzen, die nur ganz langsam wieder abschwellen. Ist da irgendwo ein Äderchen geplatzt oder was? Na, prima. Weiterer Schock: Niemand scheint gekommen, uns abzuholen, weder Hanna noch Joav, unsere hiesigen Partner, sind zu entdecken. Herumirren. Dann, nach endlosen Telefonaten erscheint ein junger, dicklicher, verlegen grinsender Herr - ja, gesehen habe er unsere Gruppe schon, doch habe ihn die Zielstrebigkeit überrascht, mit der wir uns bewegten. Mit dem Autobus gut hundert Kilometer bis nach Bet Oren, dem Sitz unserer Partnerorganisation, hoch über Haifa auf dem Carmel. Gegen 10 Uhr abends, nach 16 Stunden Reise, treffen wir ein. Immerhin noch kleines Abendbrot, dann ein kühles Maccabee (das bessere der beiden „einheimischen“ Biere) in der Rezeption - Lechajim, zum Wohl! Und schließlich noch ein kleines Sakrileg: Hier sind Feiertage, Sukkot, das Laubhüttenfest, während dem die Juden in eigens hierfür errichteten Hütten die Nähe zu Gott suchen. Wir finden eine vom Unwetter verwüstete und verlassene Laubhütte, trinken ein, zwei Gläschen Whisky, Achim raucht eine dicke Zigarre - ebenso hatten wir im vergangenen Jahr hier Abschied gefeiert. Wiedersehensfreude pur also, obschon ironisiert.

1998: Sofia. Unglaublich: Am Stand nautschna literatura, wissenschaftliche Literatur also, preist man mir „Mein Kampf“ an. Daneben die amerikanische Botschaft, abgesperrt und streng bewacht (sicher des nahen Kosovo wegen), vor der Haustür führt ein Vertreter den Gesandten jedoch neue Feuerlöscher vor. Und im Dimitroff-Mausoleum, aus dem man jüngst die Mumie Dimitroffs entfernte, lungern Zigeuner. Zum Flughafen dann über die Janko uliza, und während wir im wohl schmuddligsten aller Transiträume dieser Welt auf unseren Transfer warten, rollt neben einer riesiggrauen U.S. Airforce Maschine (augenscheinlich des nahen Kosovo wegen) ein Lufthansa-Jet namens „Merseburg“ aus. Unglaublich. Balkan eben. Und wie sagte mein Freund Willi doch gleich: Hier trifft zusammen, was nicht zusammen gehört.

2000: Der gestrige Streit lässt mir keine Ruhe, so rufe ich am Morgen Thea wieder an und sage ihr auch unverblümt, dass diese Art des Umgangs miteinander mich verdammt noch mal auf die Palme bringt, und dass ich den ganzen Bödecker-Krempel auch hinschmeißen kann... Nun gut, im Laufe des gut halbstündigen Telefonats scheint sich manches wieder einzurenken, immerhin ruft danach sie in Bad Bibra an, und stellt durch, dass ich der alleinige Organisator bin... Nach einem kurzen Beruhigungsspaziergang bereite ich mich dann auf die Schülerschreibwerkstatt vor. Und am Abend fahre ich mit Jeanny nach Spergau, Peter Gehre hat zu einer Geburtstagsfete in die „Linde“ geladen, stellt dabei auch seine Bilder aus. Zahlreiche alte Freunde sind gekommen, ein schöner Abend voller Gespräche über „alte Zeiten“.

 

 

 

Letzte Reise

für

 

Abū l-Hasan al-Qābisi / Pietro Aretino / Léon Askénasi / Nikolos Barataschwili / Barbecue Bob / Marge Champion / Yash Chopra / Cosmas von Prag / Heinz Czechowski / Julián del Casal / Guillermo Deisler / Johann Georg Ebeling / Isabelle Eberhardt / Hilarion von Gaza / Halyna Hutchins / Jo Ann Kelly / Jack Kerouac / Karl Korsch / Manfred Krug / Horst Krüger / Melchior Ndadaye / Horatio Nelson / Julius Caesar Scaliger / Loki Schmidt / Arthur Schnitzler / Mychajlo Wassylowytsch Semenko / Elliott Smith / Artur Streiter / Jón þorlákson / Ambrogio Traversari / François Truffaut / Richard „Dick“ Twardzik / Virginia Zeani

 

An diesem Tage verloren wir unsere Reiselust:

Merseburg, 990: herrscht „in der fünften Stunde nach dem Aufgang der Sonnen“ Finsternis / 1895 annektiert Japan Formosa / 1907: Erdbeben in Zentralasien, 12.000 Tote / Alsdorf bei Aachen, 1930. Grubenunglück, 271 Todesopfer / Kragujevac, Jugoslawien 1941: Beginn eines dreitägigen Massakers, deutsche Soldaten erschießen 2.794 Einwohner / Nemmersdorf, Ostpreußen, 1944: Rotarmisten erschießen bis zu 30 Dorfbewohner / 1948 lehnt die UNO den Antrag der Sowjetunion auf Zerstörung aller Atomwaffen ab / Prestwick, Schottland, 1948, Absturz einer Lockheed Constellation, 39 Menschen sterben / 1962: Untergang des norwegischen Postschiffes „Sanct Svithun“, 41 Tote / Alberfan, Wales, 1966: eine Halde rutscht ab, 144 Menschen kommen ums Leben.

 

 

22. OKTOBER

 

Opus Magnum

mit

Afewek Tekle / Neville Alexander / Constance Bennett / Sarah Bernhardt Matthias Biskupek / George Brassens / Anton Braun / Iwan Alexejewitsch Bunin / Robert Capa / Fritz Cremer / Joan Fontaine / Johann Reinhold Forster / Bobby Fuller / Georg August Gaul / Karl Guthe Jansky / Lew Iwanowitsch Jaschin / Adolf Abramowitsch Joffe / Joachim Jungius / Georg Friedrich Kersting / Nikolai Alexejewitsch Kljujew / Timothy Leary / Charles Leconte de Lisle / Doris Lessing / Franz Liszt / Manos Loïzos / Robert Long / Alesha MacPhail / Gummo Marx / André Neher / Rolf Nevanlinna / Robert Rauschenberg / Louis „David“ Riel / Tadeáš Salva / Johannes Siemes / Georg Ernst Stahl / Martha Wertheimer / Leslie West

 

 

Das empfanden wir als großartig:

New York, 1883: Eröffnung der Metropolitan Opera / 1938 gelingt in den USA die erste Fotokopie nach einer Schriftvorlage / 1953 wird Laos unabhängig von Frankreich / 1975 landet die sowjetische Raumsonde „Venera 9“ auf der Venus / 1990 erklärt sich Turkmenistan für unabhängig von der Sowjetunion.

 

 

Ich notierte:

1980: Schon wieder ein Angebot, in eine Band einzusteigen, dieses Mal von James, mit dem ich bei „Trend“ zusammenspielte, und per Post.

1992: Verviers. Auf dem Weg nach Aachen mal schnell auf ein Heineken oder Stella Artois vom Fass. Und vielleicht sogar eine Ansichtskarte aus belle Belgique. Nach Hinweisschildern: Eupen-Malmedy verfliegt mir jedoch die Leichtigkeit des Grenzübertritts: Nicht wenige der Gedenksteine in den Dörfern daheim für Gefallene des ersten der deutschen Weltkriege nennt Orte dieses einstigen Frontverlaufs.

1999: Am Abend nach Hettstedt, Lesung im Ratssaal mit Harald Korall, Anneliese Probst, Karlheinz Klimt und Ralf Wiener, erstaunlich viele und über fast drei Stunden aufmerksame Zuhörer.

2000: Auf nach Güntersberge zur Schülerschreibwerkstatt. Seit Jahren zum ersten Mal ohne Jeanny, Fast 50 Schüler reisen an, großer Andrang, aber alles lässt sich gut „einfädeln“. Am Nachmittag und Abend erste Seminare, ich leite die 16-18jährigen an. Gute Truppe offenbar, auch wenn ich in der Nacht erst mal noch einen Jungen aus einem dem Mädchenzimmer „entfernen“ muss...

2019: Korsika. Ajaccio. Miss Lydia, eine der Hauptfiguren Mérimées, besucht in der Hauptstadt Korsikas natürlich als erstes das Geburtshaus Napoleons. Wir folgen ihr. So überbordend kitschig der Souvenirladen im Nebenhaus daherkommt, wirkt das Geburtshaus Napoleons wohltuend seriös, gut hergerichtete und interessant möblierte Räume, liebevoll die Audioguide-Erklärungen (zumeist vorgetragen als Text seiner Amme). Dann zischen wir ein Kastanienbier „Pietra Ambrée“ und erkunden das Hinterland der Hauptstadt, fahren hinauf ins Inselgebirge. Enge bis engste Serpentinen, steile, ungesicherte Abhänge, freilaufende Rinder auf Straßen und allenthalben Erdbeerbäume, die zugleich weiß blühen und gelbe (unreife) und reife, rote, beerenartige Früchte tragen, mehlig süßliches Fruchtfleisch, zahllose kleine, harte Kerne. Fann fahren wir durch die Purelli-Schlucht bis ins Bergdorf Tollo. Wunderbare Aussicht über den gleichnamigen Stausee bis zur Bucht von Ajaccio hinunter. Kleine Brotzeit: scharfe korsische Salami, leckerer korsischer Wildschweinschinken, würziger korsischer Ziegenkäse und natürlich süffiger korsischer Rotwein. Und wohin man blickt, grünt es auf der Insel, von Gesträuch bis zu den Bäumen: Macchia en masse, kaum Menschen. „Ajaccio lag am Ende der Welt“, sagt der derzeit wohl bedeutendste Autor Korsikas Jérôme Ferrari in „Predigt auf den Untergang Roms“ (Prix Goncourt 2012!). Dabei bezeichnet sich die beschauliche Hauptstadt Korsikas doch selbst als „Cité Impériale“. Nun ja.

 

2023: Qui bono? In den letzten Tagen kochte auf den Straßen weltweit, beschämenderweise auch in Deutschland, antisemitischer Protest hoch, aggressiv gesteigert nach dem Einschlag eine Rakete in einem Krankenhaus in Gaza-City, dem möglicherweise mehr als 400 Menschen zum Opfer fielen. Und der Protest ebbte nicht ab, als deutlich wurde, dass diese Rakete nicht von den Israelis, sondern von Palästinensern abgefeuert worden war, fehlgeleitet wohl. Am folgenden Tag kam Joe Biden aus den USA angeflogen, um mit den Israelis und den Palästinensern, Jordaniern und Ägyptern über ein Ende, der von der Hamas begonnenen Kampfhandlungen, zu verhandeln. Nach dem verheerenden Raketeneinschlag waren weder Abbas, noch der jordanische König, noch der ägyptische Präsident aber weiter bereit mit dem US-Präsidenten zu reden. Und mir kam wieder in den Sinn, dass es im Ukrainekrieg in Istanbul einst Verhandlungen gab, bei denen Selenskij für eine Waffenruhe kurz vor deutlichen Zugeständnissen an die Russen stand. Und just da geisterten die Bilder über das Massaker von Butscha durch die Medien. Qui bono?

 

Opfer

für

Louis Althusser / Kingsley Amis / Ion Andreescu / Arman / János Arany / Joel Barlow / Philipp Bertkau / Helen Buchholtz / Joachim Heinrich Campe / Pablo Casals / Cassiano Dal Pozzo / Oswald de Andrade / Tommy Edwards / Franky Gee / Jeremias Gotthelf / Hans Grade / Henriette Herz / Fritz Köthe / Russell Means / Ernst Leopold Christian Mielck / Mark Murphy / Alphonse Pénaud / Edmundo Ros / Norbert Schmid / Albert Szent-Györgyi / Arnold Joseph Toynbee / Lino Ventura / Guntram Vesper / George Young / Udo Zimmermann

 

Da erreichte uns Leid:

1707 stranden vier Schiffe eines britischen Geschwaders auf den Scilly-Inseln, 1.500 Seeleute kommen ums Leben / 1859 erklärt Spanien Marokko den Krieg / Blantyre, Schottland, 1877: Grubenunglück, 215 Todesopfer / 1940 sinkt der kanadische Zerstörer „Margaree“ nach der Kollision mit einem Frachtschiff im Nordatlantik, 140 Tote / Kassel, 1943: britischer Bombenangriff, 7.000 Todesopfer / 1947. Beginn des Ersten Kaschmirkrieges / Lagos, Nigeria, 2005: Absturz einer Boeing 737 nach dem Start, alle 117 Insassen sterben.

 

 

23. OKTOBER

 

Bestätigung

mit

Felix Bloch / Michael Burston / Caspar Butz / Michael Crichton / Odet de Turnèbe / Diana Dors / Champion Jack Dupree / Gertrude Ederle / Okwui Enwezor / Gjergj Fishta / H. Benne Henton / Leszek Kołakowski / Pierre Athanase Larousse / Wilhelm Maria Hubertus Leibl / Friedrich Wilhelm Ludwig Leichhardt / Hans Lehnert / Gustav Albert Lortzing / Juan Luna y Novicio / Gary Robert McFarland / Pierre Moerlen / Otto I. „Der Große“ / Jean „Django“ Reinhardt / Alfred Gregory „Greg“ Ridley / Gianni Rodari / Ned Rorem / Pelé / Wladimir Stepanow / Adalbert Stifter / Martin Wiehle

 

 

Das bestätigten wir jederzeit:

1954: Unterzeichnung der Pariser Verträge / Budapest, 1956: Beginn des Volksaufstandes / Paris: Unterzeichnung des Friedensvertrages im kambodschanischen Bürgerkrieg / 1971: Patentanmeldung für den Airbag.

 

 

Ich notierte:

1978: Früh um fünf von fünf Tagen Tournee zurück – doch keine Zeit zum Einleben, was mir normalerweise nicht viel ausmacht – Sachenwechsel: Socken, Unterwäsche, Pullover, Bücher, Wortwechsel: Tochter, Neues, Wirtschaftsgeld, Kater, alles andere später – aber normal ist heute nichts. Früh um fünf komme ich also mit der ersten Bahn verärgert, ja, deprimiert zu Hause an: Die Band hat mir und ich habe der Band gekündigt. Ihnen passen meine und mir passen ihre Ansichten nicht. So etwas kann man vielleicht ein, zwei Tage unterdrücken, aber in fünf Tagen ständigem Zusammenseins habe ich’s irgendwann nicht mehr ausgehalten, habe meine Meinung erbrochen. Also mal wieder ein Kapitel zu. Gelernt? Ja, beispielsweise, dass man nichts erzwingen soll, was nicht wenigstens als Keimling im Kopf wächst, schon gar nicht durch Provokation.

Jeanny sagt: „Leg dich doch wenigsten noch eine Stunde hin!“ Ich lege mich eine Stunde hin und bin danach noch unausgeschlafener, verbitterter, muss nun aber nach Deuben – da ich wegen der Tournee ja Montag nicht konnte, alles schon zwei Tage aufgeschoben hatte. Am liebsten würde ich mich auf der Zugtoilette einriegeln und fahren, fahren… aber der Zug fährt nicht weit genug, also steige ich aus, bin freundlich, nehme mein erstes Honorar in Empfang, meine Freundlichkeit wächst, gehe in die Bibliothek, fahre mit dem Bus nach Hohenmölsen, lasse mir ein Klassenzimmer aufschließen, warte, warte – kein Mitglied des Zirkels erscheint. Nach einer dreiviertel Stunde gehe ich, gleichermaßen frustriert und erleichtert. Vorbereitet war ich auf Satire, so was wollte ich schreiben lassen. Vielleicht ahnten die Schüler, dass das, dass ich nicht echt gewesen wäre? Oder hätten sie vielleicht gerade heute, was Glaubwürdiges mitnehmen können?

1980: Vielleicht muss man sich gänzlich nüchtern in einen Rausch versetzen, um voranzukommen.

1999: Am Abend nach Spergau. Ich bin zur Feier „50 Jahre Lichtmeß nach dem Kriege“ eingeladen. Etwa 100 ehemalige Küchenburschen sind der Einladung gefolgt. Ich bin wohl der einzige Nicht-Spergauer und Nicht-Küchenbursche, werde deswegen selbstredend gefrotzelt. Irgendwie hat so ein Zusammenkommen schon etwas, steht weit ab vom Alltag (obwohl die Umgebung und auch das, was an diesem Abend passiert – Blasmusike und Bierchen und Miteinandersingen – eigentlich auch nur alltäglich ist), lässt irgendwie Geschichte spüren.

2019: Sardinien. Wir landen in Porto Torres an und fahren mit dem Bus nach Alghero, der, laut Reiseführer, schönsten Stadt Sardiniens. Allerdings fahren wir nicht auf direktem Wege dorthin, sondern zuerst zur Nuraghe Palmavera. Und obwohl es regnet, bestaunen wir eine ausgedehnte, doppeltürmige Ruinen-Anlage der Bronzezeit: gut erhalten die Kernanlage, wobei die Gesamtanlage der Wissenschaft noch immer Rätsel aufgibt. Eine Festung? Eher nicht, zumindest fanden sich nirgendwo Waffen. Kultstätte? Aber wofür/wogegen? Und warum gibt es auf der ganzen Insel so viele von ihnen, nach neuesten Schätzungen etwa 10.000! Gab es in der Bronzezeit überhaupt so viele Einwohner auf Sardinien? Die beiden Tumuli sind von runden Hausfundamenten und Mauerresten umgeben. Doch gewohnt haben wird hier eher niemand, zumindest nicht dauerhaft. Keine Knochenreste oder sonstige Abfälle, keine Scherben oder sonstige Wohnspuren. Interessant erscheint mir die These, die unser heutiger Guide aufstellt: Im zentralen Raum des großen Turms, der damals offenbar völlig finster war (keine Mauerdruchbrüche und auch keinerlei Russ-Spuren von Fackeln oder Feuern). Könnte vielleicht ein Schamane hier Menschen, die zuvor in den Rundhütten berauscht wurden, besprochen, verzaubert oder sonst wie manipuliert haben? Doch nochmals: warum 10.000 solcher Stätten auf dieser Insel? Und warum nur hier, nirgendwo anders? Weiter zum Capo Caccia, malerische Klippen am Ende einer weit ins Meer ragenden Halbinsel. Natürliche Buchten-Landschaft, touristische Bauten sind im Naturpark Porto Conte verboten (noch immer). In Sichtweite ragen sogenannte Sarazenen-Türme an den Küsten auf, sich harmonisch einfügende Wachtürme, aus der langen Zeit der aragonesischen Besetzung, errichtet aus Angst vor Angriffen der Araber. Und dann endlich Alghero, wo die Straßen katalanisch und sardisch beschriftet sind, eben weil diese Region jahrhundertelang Teil des Königreiches Aragon, Kataloniens also, war. Unser Guide sagt, wenn heute in Barcelona für die Freiheit Kataloniens demonstriert wird, demonstriert man hier demonstrativ gern mit. Nun gut, etwa ein Viertel der Sarden möchte (jüngsten Umfragen zufolge) Sardinien am liebsten unabhängig von Italien sehen. Das dürften dann wohl die Gesinnungsgenossen der Leute sein, die in Deutschland diese angebliche Alternative wählen: Ewiggestrige, Stetsunzufriedene, Streitsüchtige… In den Gassen Algheros sind Drähte zwischen den Häuserschluchten gespannt, daran Vogelkäfige, geschmückt mit Stoffblumen, alle Käfigtüren weit offen und bunte Vögel sitzen obenauf. Die Stadtverwaltung hatte einen Gestaltungswettbewerb ausgeschrieben, und gewonnen hatte eine Studentengruppe, die zeigen wollte, dass Menschen, die ihren Käfigen entfliehen, dass Emigranten auch, hier stets willkommen sind. Beeindruckend und wohltuend, das zu sehen. Und auch sonst ist Alghero zweifelsohne ein sehenswertes Städtchen, zumal, wenn dann auch wieder die Sonne scheint.

2020: Allein in Deutschland mehr als 11000 Neuinfektionen an einem Tag, doppelt so viele wie an schlimmsten Tagen im April. Auf meiner täglichen Fahrrad-Runde sehe ich Leute Klopapier stapelweise aus Kaufhallen tragen. Wenn ich’s nicht gesehen hätte, würde ich’s kaum glauben. Erstaunlich, was Zeitgenossen offensichtlich ängstigt.

2022: Weiter intensive Arbeit am „Kalendaricon“, das mich in der ersten Phase wohl noch ein halbes Jahr beschäftigen wird. Und mittlerweile bin ich mir sicher, dass weder „Kalendaricon“ noch „Seins Fiktionen“ – zumal die miteinander verknüft sind – gedruckt werden kann/soll – das wäre bei meinen jetzigen Planungen 11 Bände von je etwa 350 Seiten… Mal sehen, wie ich die dann so ins Internet bringe, dass ich diese beiden Projekte solange ich kann und will kontinuierlich weiterbearbeiten kann, denn im Prinzip ist es mal wieder einer meiner Versuche, „aufs Ganze“ zu gehen, einen Globus im Maßstab der Welt zu erschaffen, um ihn betreten zu können…

 

 

Beurteilung

für

Franz Bölsche / Hana „Hanička” Brady / Wilhelm Brasse / Peter Jozzeppi „Pete“ Burns / Friedrich Döppe / Ricardo Lindo Fuentes / Théophile Gautier / Abraham Geiger / Peter „Cäsar” Gläser / Eduard Goldstücker / Adolph Green / Richard Hakluyt / Marianne Hoppe / Krystana „Tanka“ Iwanowa Janewa / Al Jolson / Nikolai Alexejewitsch Kljujew / Peter Kollwitz / Juan Antonío Lavalleja / John McCarthy / Johann Gottlieb Naumann / André Neher / Georg Paul / Wilhelm Schickard / Eduard Karl Oskar Theodor Schnitzer / George Silk / Alvin Stardust

 

Das konnten wir ausschließlich negativ beurteilen:

1641: Beginn der Irischen Konföderationskriege / 1739 erklärt England Spanien den Krieg / 1915 versenkt ein britisches U-Boot das deutsche Kriegsschiff „Prinz Adalbert“ vor Libau in der Ostsee, 672 Seeleute sterben / Bodø, 1940: der Hurtigroutendampfer „Prinsesse Ragnhild“ explodiert nach dem Anlagen, 299 Menschen sterben / 1975 greift die südafrikanische Armee in den angolanischen Bürgerkrieg ein / Beirut, 1983: Bombenanschläge auf das französische und das US-Truppenhauptquartier, 299 Todesopfer / Niigita, Japan, Erdbeben, 20 Todesopfer, 1.500 Verletzte/ Osttürkei, 2011: Erdbeben, 6.000 Menschen kommen ums Leben.

 

 

24. OKTOBER

 

Performance

mit

Delmira Agustini / Christian Bärmann / Gilbert Bécaud / Luciano Berio / Anna Göldi / Wolfgang Güllich / Cecilio Guzmán de Rojas / Kurt Ivo Theodor Huber / Meredith Hunter / Wenedikt Wassiljewitsch Jerofejew / Emmerich Kálmán / Siegfried Lipiner / Carl Lohse / Ernst Leopold Christian Mielck / Hart Moss / August von Platen / Jiles Perry Richardson jr. / Barry Ryan / Paul Ryan / Dorothea Schlegel / Christoph Maria Schlingensief / Annie Taylor / Sonny Terry / Antoni van Leeuwenhoek

 

An diesem Tage erlebten wir eine wahrhaft gute Performance:

1260: Weihe der Kathedrale von Chartres / 1273: Ende des Interregnums / 1648: Unterzeichnung des Westfälischen Friedens, Ende des Dreißigjährigen Krieges, in dessen Verlauf bis zu 9 Millionen Menschen ums Leben kamen / Gulistan, 1813: Friedensschluss zwischen Russland und Persien / Großenhain, 1828: Eröffnung der ersten deutschen Volksbibliothek / Sheffield, 1857: Gründung des ersten Fußballvereins der Welt / 1945: die Charta der Vereinten Nationen tritt in Kraft / 1964: Nordrhodesien wird als Sambia unabhängig von Großbritannien / 1973: Ende des Jom-Kippur-Krieges / Cape Canaveral, 1998: das erste Raumfahrzeug mit einem Ionenantrieb, die Sonde „Deep Space 1“ wird ins All geschossen.

 

Ich notierte:

1980: Wir liegen noch im Bett, da klingelt’s und es begehrt jemand Einlass, der sich als Sekretär des Rates der Stadt Leuna ausweist. Sie da – meine fast halbjährige Eingabentätigkeit bringt Früchte! Am Dienstag soll im Rathaus eine Aussprache stattfinden, um die Schuldigen am Zustand unserer Toiletten zu finden und um weitere Maßnahmen festzulegen… Na ja – unsere Chancen scheinen aber nicht allzu schlecht zu stehen, da sich herausstellt, dass dieser Mann meinen Onkel Klaus gut kennt. Und da das Haus in Daspig, in dem wir wohnen, eigentlich rundum saniert werden müsste, einschließlich der Schlaglochstraße vorm Haus, deutet er noch was Interessantes an: Im nächsten März jährt sich der Jahrestag der Märzkämpfe zum 60. Mal. Und da wird dann die Kolonne der Regierungsgäste hier entlang fahren müssen…

1982: Obwohl es schöne Schreibwerkstatttage in Friedrichsbrunn waren – mich zuletzt eine Schar Kinder zum Auto brachte, winkte, ich jeden Abend für diem Kleinen mein Gnom-Lied spielen und singen musste – sitzt irgendwie wieder ein Stachel in mir. War das richtig, war das gut? Eine Woche nicht geschrieben! Wie soll das werden, wenn ich tatsächlich ins Bezirksliteraturzentrum einsteige, wie wird mich das strapazieren?

1999: Sonniger Spätherbsttag. Ich mache mich mit Jeanny auf den Weg nach Güntersberge. Wie alle Jahre habe ich die Schülerschreibwerkstatt des Landes zu leiten. Mit dabei sind Monika Helmecke und Siegfried Maaß. Ein eingespieltes Team. So gibt es bei den notwendigen Einteilungen, Belehrungen etc. des ersten Tages keinerlei Probleme. Ich arbeite mit den ältesten Teilnehmern, den 17/18-jährigen. Schon beim ersten Seminar wird deutlich, dass wir uns auf gutem Niveau werden verständigen können. Die Schüler bieten durchaus anspruchsvolle Texte an. Nach dem Abendbrot wie üblich die Begrüßungsdisco. Wir Erwachsenen weichen jedoch alsbald dem Lärm und ziehen uns in ein Zimmer zurück, wo man einander Neuigkeiten und sonstiges erzählen kann.

2019: Civitavecchia. Da wir das nahe Rom schon vor Jahren erkundet hatten, das antike vor allem, fahren wir heute von der neuen Hafenstadt Roms, in die alte, nach Ostia, genauer: nach Ostia Antica. Wären wir damals, bei unserem Rombesuch, nach dem Durchschreiten des Konstantinsbogen nicht weiter zum Colosseum spaziert, sondern wäre auf die hier beginnende Via Ostiensis eingebogen, wären wir nach gut 25 Kilometern schnurstracks da angekommen, wo wir nun heute stehen, in den Ruinen Ostias an der Mündung des Tibers ins Tyrrhenische Meer.

Wir kommen am Nachmittag hier an und haben wunderbares Wetter, Sonnenschein, knapp 30°C, leichte Brise. Die riesige alte Stadtanlage überzeugt wahrscheinlich auch bei schlechtem Wetter, nun aber wirkt sie einfach faszinierend. All diese großen Gebäudekomplexe an den schnurgeraden, gepflasterten Straßen unter hohen Pinien: Amphitheater, Forum, Tempel, Therme, Ladenzeilen, Waschhaus, Wirtshäuser, Villen – diese Ruhe, dieser Nadelduft – kein Problem, sich 2000 Jahre zurückzuversetzen und das geschäftige Treiben der Römer zu verstehen.

 

2023: Am Abend stelle ich die aktuelle Walter-Bauer-Preisträgerin Daniela Danz in der Leunaer Klubhausgalerie vor, Lesung und Gespräch und gute Resonanz.

 

Pamphlet

für

Starlin Abdi Arush / Ernst Heinrich Barlach / Arved Birnbaum / László József Bíró / Tycho Brahe / Johanna Braun / Hector de Saint-Denys Garneau / Christian Dior / Fats Domino / Johnny „Mbizo“ Dyani / Wolfgang Ecke / Stephan Farfler / Robert Franz / Kim Gardner / Pierre Gassendi / Victor Hollaender / Józef Jerzy Kukuczka / Franz Lehár / Gabriel Metsu / Johann Wilhelm von Müller / Maureen O’Hara / Bernardo O’Higgins / Rosa Parks / Gene Roddenberry / Richard Roundtree / Alessandro Scarlatti / Otto Schmirgal / Werner Seelenbinder / Jane Seymour / Michael Stein / Hermann Teuber / Maria Tuci / Tony Joe White / Franz Wipplinger / Erich Wustmann

 

Das wäre uns nicht mal ein Pamphlet wert:

79, Pompeji / Herkulaneum: Ausbruch des Vesuvs, bis zu 25.000 Todesopfer / 1795: Dritte Teilung Polens, Ende des Königreiches Polen / Guatemala, 1902: ein Ausbruch des Vulkans Santa María zerstört die Stadt Quetzaltenango fast vollständig / New York, 1929: „Schwarzer Donnerstag“, Beginn der Weltwirtschaftskrise / 1944 versenkt ein amerikanisches U-Boot den japanischen Kriegesgefangenentransporter „Arisan Maru“, 1.792 amerikanische Soldaten kommen ums Leben / Baikonur, 1960: Raketenunfall, mindetens 126 Menschen sterben / Lengede, 1963: Grubenunglück, 29 Bergleute kommen ums Leben / Gotthard-Straßentunnel, 2001: Brand nach dem Zusammenstoss zweier LKW, 11 Todesopfer.

 

 

25. OKTOBER

 

Walzer

mit

Julián Arcas / Donald Oskar „Don“ Banks / John Berryman / George Bizet / Emil Karl Blümml / Dieter Borsche / Richard Evelyn Byrd / Claude Cahun / Eberhard Esche / Karl Emil Franzos / Évariste Galois / Abel Gance / Annie Girardot / Nils Koppruch / Eddie Lang / Walter Rudolf Leistikow / Funmilayo Ransome-Kuti / Pablo Picasso / Helen Reddy / Peter Rühmkorf / Meta Scheele / Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein / Max Stirner / Johann Strauss (Sohn) / Charles Carroll Taylor / Beate Uhse

 

 

Das animierte uns zum Schunkeln:

Paris, 1795: Gründung des Institut de France / Paris, 1836: Aufstellung des Obelisk von Luxor / 1979 werden das Baskenland und Katalonien eingeschränkt autonom.

 

 

Ich notierte:

1981: Am Abend sehe ich einen Bericht über Nauru, wo alle 7000 Einwohner an der Ausbeute des Phospatabbaus beteiligt sind, was allen Inselbewohnern ein sehr erkleckliches Einkommen beschert. Diese Leute arbeiten nicht, sondern lassen arbeiten. Und sämtliche Nahrungsmittel, selbst Obst und Gemüse, das hier wachsen könnte, werden eingeflogen. Unvorstellbar für die Inselbewohner aber wohl, dass das Phosphat ihrer exotischen Exklave im Jahr 2000 komplett abgebaut sein wird.

1986: Heute war der Einberufsbefehl in der Post. Einschreiben. Und das alles klingt wie ein makabrer Scherz: Auf den Tag genau nach 10 Jahren werde ich für ein Vierteljahr wieder da einziehen müssen, wo ich damals diente, in Leipzig, in der Olbrichtstraße. Unglaublich.

2019: Neapel. Unser Schiff nähert sich ich der Stadt bei Sonnenaufgang, mit der Silhouette des Vesuvs vor glutrotem Himmel, grandios! Natürlich fahren wir dann nach Pompeji, wollen sehen, was der Vesuv hier vor 1940 Jahren angerichtet hatte. Fotos kennt man, Filme, Konzertmitschnitte (David Gilmore), und vor Jahren besuchten wir im halleschen Landesmuseum sogar eine Pompeji-Ausstellung. Wahrscheinlich genau in diesen Tagen vor 1940 Jahren, Ende Oktober 79 n. Chr. hatte der Vesuv diese blühende Stadt eingeäschert. In einem Brief des Augenzeugen Plinius d.J. an Tacitus steht als Datum zwar der 24. August des Jahres 79 n.Chr. – dies dürfte jüngeren Forschungen zufolge jedoch verschrieben oder falsch übermittelt sein. Mit jedem Schritt, mit jedem Blick wird mir bewusst, welche Parallelen zwischen dem Schicksal Pompejis und der heutigen Welt bestehen. Das Gebiet um den Vesuv ist heute in vier Gefahrenzonen eingeteilt. Pompeji gehört zur roten Zone, die sich bis zum Fuße des Vulkans erstreckt. Hier leben heute etwa 700.000 Menschen, die ihre Häuser zwar ohne Genehmigung, samt und sonders als Schwarzbauten errichteten, doch sie leben hier. Und das im Bewusstsein, dass die Wissenschaft unmissverständlich sagt, es sei nicht die Frage ob, sondern ausschließlich wann der Vesuv wieder ausbricht. Und wenn dieser Ausbruch dem von Plinius beschriebenem gliche, könnten unversehens eine halbe Million Menschenleben zu beklagen sein. Also: Vesuv = Erde / Neapolitaner = Menschheit? Als ich dann zu Mittag einen Wein von den äußerst fruchtbaren Hängen des Vesuvs genieße, ein Glas Lacryma Christi, dazu eine Pizza Napoli und dann eine köstliche Sfogliatelle, eine zitronencremegefülltes Blätterteiggebäck, esse, kommt mit all dieser Genuss zwar reichlich zynisch vor, aber wohl dem… Weiter nach Sorrent, Bummeln durch die quirligen Gassen, Genießen der Ausblicke von der Steilküste über die weiter Bucht hinüber nach Neapel, zum Vesuv. Und wie gesagt, es ist nicht die Frage, ob, sondern wann diese Idylle jäh zerstört werden wird.

2020: In der Nacht wurden die Uhren mal wieder um eine Stunde zurückgestellt. Zwar ist ausdiskutiert, dass man in Europa diesen Unsinn abschaffen will, doch können sich die einzelnen Mitgliedstaaten der EU mal wieder nicht über die Details einer Abschaffung der Sommer-Winterzeit-Umstellung einigen. Typisch – auch Einigungen bei einem gemeinsamen Vorgehen gegen die Corona-Pandemie wären mit Sicherheit hilfreich… Am Nachmittag lese ich in der Hoppenhaupt-Kirche Beuna. Buchpremiere meines neuen Walter-Bauer-Buches „Herbergen und Wege“. Ich war in Sorge, dass diese Veranstaltung, auf die ich seit langem hingewirkt und auf die ich mich gefreut hatte, abgesagt werden müsste – aber: alles gut, etwa 25 interessierte Zuhörer und Käufer.

2022: Bei Goldenen-Oktober-Temperaturen sitzen Jeanny und ich mittags nochmals mit einem Bierchen im Garten, wollen die angekündigte partielle Sonnenfinsternis bewundern. Doch leider zieht der Himmel nun zu. Beim zweiten Bier aber reißt die Wolkendecke auf, Gott sei dank.

 

 

Würdigung

für

Mahmoud Khairat Abu-Bakr / al-Hasan ibn Muhammad as-Saghānī / Alexandros / Carl Christian Bagger / Abebe Bikila / Jack Bruce / William Merritt Chase / Geoffrey Chaucer / Hans Chlumberg / Heinrich Cotta / Gerard Damiano / Mike Davis / Amadeo de Souza-Cardoso / Robert Victor Felix Delaunay / Diane DiPrima / Rudolf Forster / Giorgione / Bill Graham / Richard Harris / Mohammed ibn Dschuzazy / Heinrich Eduard Jacob / Johannes von Salisbury / Jeanne Lee / Mary McCarthy / Frank Norris / Pascale Ogier / Hans Olde / Otto Pick / Vincent Price / Raymond Queneau / Théophraste Renaudot / Sadako Sasaki / Meta Scheele / René Schneider / Pierre Soulages / Alfonina Stroni / Evangelista Torricelli / Henry van de Velde / Paul Vincent

 

Das würden wir nie würdigen:

1400 kommt es in Merseburg zum dritten schweren Stadtbrand, „welcher Faulhansen Brannt genennet worden. Dieser Faulhanß ist ein wächter auff dem Thurm an Sixtithore gewesen, u. hat sich mit einem Bürger mit nahmen tantzewohl von wegen zweyer alten pfennige gezancket, u. solchen darauff das Hauß heimlicherweise angestecket. Zu solcher Zeit ist die Stadt Merseburgk abermahl umb den Marckt, u. sonsten das mehrere theil bis auff die Gotthartsgasse abgebrannt. Solcher Faulhanß hat nach solcher Zeit 4 Jahr denn dem Rathe vor ein Haussmann oder wächter gedienet. Letztlich ist solche übelthat bey ihme u. seinem weib offenbar worden, darauff sie den beyde Mann und weib vor dem Sixtthore auff dem Jüden Kirchhoffe zu Pulver verbrannt worden“ / 1918 kentert das kanadische Dampfschiff „Princess Sophia“ vor Alaska, alle 343 Menschen an Bord sterben / 1927 geht der italienische Luxusdampfer „Principessa Mafalda“ vor Poro Seguro, Brasilen, unter, 312 Todesopfer / Mentawai-Inseln, Indonesien, 2010: Tsunami, mehr als 400 Tote / 1983 besetzen die USA Grenada / Bagdad, 2009: Selbstmordanschläge, 155 Menschen sterben / Lewistin, Maine, 2023: Amoklauf, 18 Tote / Acapulco, 2023: in einem Tropensturm sterben mindestens 39 Menschen.

 

 

26. OKTOBER

 

Vernetzung

mit

Theodor Althaus / Ahmad Bābā / Andrei Bely / Karin Boye / Dimitrie Cantemir / Jackie Coogan / Georges Jacques Danton / Hans Leo Haßler von Roseneck / Astrid Hutten / Mahalia Jackson / Christian Juncker / Franz Wilhelm Junghuhn / Carl Koldewey / Beryl Markham / François Mitterand / Pascale Ogier / Ulrich Plenzdorf / Carl Leonhard Reinhold / Domenico Scarlatti / Don Siegel / Henry Vahl / Wang Yangming / Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin

 

An diesem Tage fühlten wir uns gut vernetzt:

1825: Inbetriebnahme des Erie-Kanals zwischen dem Eriesee und dem Hudson River / Frankfurt am Main, 1861: Johann Philipp Reis präsentiert sein Fernsprechgerät / 1838 scheidet Honduras aus der Zentralamerikanischen Konföderation aus / 1898 erkennt Italien nach Unterwerfungsversuchen die Unabhängigkeit Äthiopiens an / 1905 wird die Union von Schweden und Norwegen nach einer Volksabstimmung aufgelöst / 1947 Kaschmir wird Teil von Indien / 1954: das Freie Territorium Triest wird Italien eingegliedert / 1955 wird Österreich neutral / Wadi Araba, 1994: Friedensvertrag zwischen Israel und Jordanien / 1998: Ende des Peruanisch-Ecuadorianischen Grenzkrieges.

 

Ich notierte:

1985: „Begegnung der dritten Art“ – Berlin in kalten Nebel, auf dem Weg zum Verlag, beim Gendarmenmarkt, kommt mir Minister Höpcke entgegen, blickt mich an, lächelt und – nickt mir grüßend zu, winkt. Ich brachte wohl nur ’n blödes Staunen zustande.

1986: Gut, dass diese Tage ausgebucht sind, Lesungen, Veranstaltungen etc., immer wieder Hektik. So kocht die Angst vor dem Scheißreservedienst nicht allzu hoch.

1988 Schorsch macht mir Sorgen. Nicht nur, dass er immer häufiger ins Klubhaus geht - soll er, er braucht seinen Kreis dort, um sich auszuquatschen, aber uns scheint, als wiche er uns neuerdings aus. Fühlt er sich allein gelassen? Cathi hat mal wieder einen neuen Freund, ich neuerdings den Computer… Meine Kinderbuchlektorin rief im Büro an, ich müsse das neue Kinderbuch umarbeiten, ihrer Meinung nach sei es für die falsche Altersstufe geschrieben.

1989: Nach Briefen, die ich an die 1. Kreissekretäre Leunas und Merseburgs schrieb nun die Aufforderung, auch für die Zeitung zu schreiben, meine Gedanken öffentlich darzulegen. Schon übermorgen soll mein Artikel erscheinen, in der Wochenendausgabe. Und ich halte mich keineswegs zurück, fordere beispielsweise die sofortige Veröffentlichung der Umweltdaten! In Leuna rührt sich jedoch nach wie vor nichts. Auch beim Bürgermeister habe ich vorgesprochen. Er sieht keine Notwendigkeit für öffentlichen Disput. Und das Werk hält sich bedeckt… Wie lange noch? Was kann ich bloß tun? Große Unruhe in mir.

1994: Galiläa, 21. Heshwan 5755: Tag des Friedensschlusses Israels mit Jordanien, Live-Übertragung der Unterzeichnung in jedem Radio, jedem TV am Weg. Beim Mittagessen wird Levi, unser Guide, von einer arabischen Familie spontan an den Tisch gebeten, um mit ihnen ein Glas Wein zu leeren. Dann, unterwegs von Rosh Hanikra, waffenstarrender Grenzübergang zum Libanon, nach Akko, der Kreuzfahrerstadt, singt er uns Ostdeutschen: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit...“

1999: Nach dem Mittagessen laufen wir mit den schreibenden Schülern zum Güntersberger Bahnhof und fahren mit der Harzbahn nach Straßberg, wandern zum Schaubergwerk Grube Glasebach. Beeindruckende Untertage-Anlage. Vor allem Flussspat wurde hier einst abgebaut. Aber den größeren Mädchen vor allem scheint das nicht so sehr zu imponieren. Wenn schon, derartige Exkursionen habe ich schon immer mit geplant und werde ich immer weiter mit planen. Denn selbst in der Ablehnung liegt ja eine gewonnene Erfahrung... Nach der Besichtigung bleibt noch etwas Zeit den Ort zu erkunden. Wir können uns des Gefühls nicht erwehren, dass hier irgendwie die Zeit stehen geblieben ist. Malerische Ortslage, doch auf Besucher scheint man hier partout nicht eingerichtet. Keine Gaststätte geöffnet, nicht mal ’n Imbiss, nur so’n traurig-muffiger Tante-Emma-Laden. Und dann beginnt’s auch noch zu regnen. Na ja, damit war fast zu rechnen, denn für den Abend war heute ein Lagerfeuer geplant. Das fiel auch schon in den vergangenen Jahren mit schöner Regelmäßigkeit ins Wasser...

2000: Güntersberge. Abschlussseminar: meine Gruppen hat die am Sonntag von mir gestellte Aufgabe, Renshis, Kettengedichte, zu schreiben, bestens umgesetzt. Dann die Abschluss-Lesung aller Teilnehmer und zu guter Letzt die Auswertung: Großes Lob etlicher Teilnehmer: so etwas Offenes, Anregendes habe man noch nie erlebt... Großer Abschiedsschmerz etlicher Teilnehmer... Am späten Nachmittag bin ich wieder zu Hause. Post, Mails, Anrufe etc. pp. Am frühen Abend schon spüre ich überdeutlich, mein Schlafdefizit...

 2023: Endlich kam ich dazu, ein Buch des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers Jan Fosse zu lesen: „Schlaflos“. Eine Art nordische Weihnachtsgeschichte, originell, beeindruckend.

 

Verdikt

für

Miguelina Aurora Acosta Cárdenas / Paul Barrère / Fita Benkhoff / Molly Brown / Elbridge „Al” Bryant / Alma Cogan / Carlo Collodi / Gerty Cori / Peter Carl August Cornelius / Elisabeth Flickenschildt / Arkadi Petrowitsch Gaidar / Walter Gieseking / Rex Gildo / Gion Nankai / Swan Hennessy / William Hogarth / Arno Holz / Itō Hirobumi / Ixtlilxóchitl / Nikos Kazantzakis / Elem Germanowitsch Klimow / Max Kruse / Hattie McDaniel / Philipp Nicolai / Philippe Pinel/ Heinz Piontek / Julie Powell / Samuel von Pufendorf / Johann Theodor Roemhildt / Johann Balthasar Schupp / Sophie Schwarz / Igor Iwanowitsch Sikorski / Elizabeth Cady Stanton / Albrecht Daniel Thaer / Siegfried Unseld / Charles Van Lerberghe / Benedict Wallet Vilakazi / Aby Warburg / Yagi Jūkichi

 

Das konnten wir nur verdammen:

1530 nimmt der Johanniterorden Malta in Besitz / 1859: sinkt der Clipper „Royal Charter“ vor Anglesay, Wales, 449 Todesopfer / Moskau, 2002: Eliteeinheiten beenden eine Geiselnahme im Dubrowka-Theater, 119 Geiseln und die tschetschenischen Terroristen sterben / Accra, Ghana, 2011: Hochwasser, 17 Menschen kommen ums Leben.

 

 

27. OKTOBER

 

Abstraktion

mit

Salomon An-ski / Klas Pontus Arnoldson / Aššurbānipal / Maxim Sosontowitsch Beresowski / Graham Bond / Aleksandrs Čaks / Jean-Pierre Cassel / Hester Chapone / Christian I. von Sachsen-Merseburg / Ruby Dee / Nawal El Saadawi / Fred Frohberg / Hermann Geiger / August Neidhardt von Gneisenau / Caroline Hartmann / Lee Krasner / Annie Krauß / Roy Lichtenstein / Peter Lustig / Reuven Moskovitz / Conlon Nancarrow / Thomas Nipperday / Roland Oehme / Ōno Kazuo / Niccolò Paganini / Sylvia Plath / Reinhard Priessnitz / Boyd Albert Raeburn / Saitō Tetsu / Mary Sidney / Isaac Merritt Singer / Nancy Storace / Oliver Tambo / Dylan Thomas / Ilia Tschawtschawadse / Rudolf Wilke / Scott Richard Weiland / Otto Zeitke

 

 

Das vermochten wir bestens zu abstrahieren:

1682: Gründung von Philadelphia / New York, 1904: Inbetriebnahme der U-Bahn / 1937: Patentanmeldung für die Xerographie / Oberhausen, 1954: Eröffnung der ersten Kurzfilmtage / 1956 kommt das Saarland zur BRD / 1969: Erstes Vergabe des Wirtschafts-Nobelpreises / 1979 wird St. Vincent und die die Grenadinen unabhängig von Großbritannien / 1984: Inbetriebnahme der Baikal-Amur-Magistrale / Málaga, 2033: Eröffnung des Museo Picasso.

 

 

Ich notierte:

1980: Beim Gespräch im Leunaer Rathaus aufgrund meiner Eingaben ist sogar die Vorsitzende der ABI, der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion zugegen, und die macht richtig Druck! Ein Lokaltermin wird vereinbart – Schadensfeststellung und Festlegung der Behebung des Ganzen. Sogar unser seit langem gestellter Antrag für eine größere Wohnung soll nun weitergeleitet werden. Schau, und warum ging das bislang nicht? Aber warten wir erst einmal ab…

1982: Heute pflanzte ich zum ersten Mal einen Baum, bei uns im Hausgarten. Eine Fichte. Ich hoffe, sie wächst! Und für mich gab ich ihr sogar einen Namen: Fridolin. Noch immer kein Vertrag vom Verlag.

1986: Auf Fragen reagiere ich kurz vorm Reservedienst zunehmend wie Otto, unsere Katze: es gibt die, aber es gibt die auch nicht.

1999: Güntersberge. Nach den Vormittagsseminaren rücken heute zahlreiche Gäste an. Die Premiere des neuen Schüler-Schreibbuches steht auf dem Programm. Siegfried als Herausgeber moderiert. Fast 50 Grundschüler lesen. Am Abend nutzen so viele „meiner“ Seminarteilnehmer die angebotene Möglichkeit zur individuellen Konsultation, dass ich fast nicht zum Bierchen in der „Erwachsenenrunde“ komme. Gutes Gefühl, denke ich doch, dass das auf ein gewachsenes Vertrauen zurückzuführen ist. Auch werden mir „unter vier Augen“ Texte gezeigt, die bislang in tiefen Taschen verborgen blieben, gute, konsequente, sehr ehrliche Texte zumeist.

2000: Notiz im aktuellen FOCUS: „US-Historiker und Journalisten halten Bau und Fall der Berliner Mauer für zweitrangig, ergab eine Umfrage des einzigen Medien-Museums der Welt, des Newseum in Virginia. Befragt nach den 100 bedeutendsten Ereignissen des 20. Jahrhunderts, setzten mehrere Hundert Experten die Atombombe von Hiroshima, die Mondlandung sowie das Bombardement von Pearl Harbour auf die ersten drei Plätze. Der Mauerfall erscheint erst auf Position 27. Politisch wenig korrekt ist die Einordnung der Reichspogromnacht 1938. Sie landet auf Platz 93, vier Positionen hinter dem Baseball von Babe Ruth (60 Home-Runs) aus dem Jahre 1927.“

2020: Am Nachmittag kommt Volker Stein, der Leunaer Kulturchef, vorbei und wir besprechen, dass die lange geplante Walter-Bauer-Preisvergabe in der nächsten Woche auf jeden Fall stattfinden wird. Sollte es wieder zu einem Lockdown kommen, würden wir alles virtuell stattfinden lassen.

 

Alternative

für

Abu’l-Fida / Rudolf Agricola / Rafael Alberti / Judith Auer / Ulugh Beg / Michael Beuther / Willi Bredel / Martha Brunet / Wladimir Konstantinowitsch Bukowski / Mkrtitsch Chrimjan / Titus Charles Constantin / Jacques Demy / Johann Dubez / Jiří Frejka / Wiktor Granowskij / Johann Gottlieb Graun / František Halas / Hans Werner Henze / Ingo Insterburg / Majk Herwasijowytsch Johansen / Margery Jourdemain / Kakuyū / John Oliver Killens / Eduard Künneke / Machbuba / Lise Meitner / Heinz Meynhardt / Walter von Molo / Oliver Nelson / Rolf Nesch / Nestor von Kiew / Ida Pfeffer / Lou Reed / Wasken Sarkissjan / Alfred Schirokauer / Michael Servetus / Philip Sidney / Rex Stout / Ugo Tognazzi / Ernst Wimmer / Bernard Wolfe

 

An diesem Tage erkannten wir keine Alternative:

1662 verkauft England Dünkirchen an Frankreich / Peniche, Portugal, 1892: Untergang des britischen Passagierdampfers „Roumania“, 113 Tote / Černová, 1907: ungarische  Gendarmen massakrieren 15 slowakische Demonstranten / Italien, 1922: Mussolinis „Marsch auf Rom“ beginnt / China, 1934: Mao Tse –tungs „Langer Marsch“ beginnt / 1941 sinkt der US-Flugzeugträger „Hornet“ in der Schlacht bei den Santa-Cruz-Inseln, 111 Seeleute kommen ums Leben / Srinagar, 1947: Beginn des Ersten Indisch-Pakistanischen Krieges / 1998: Hurrikan in Mittelamerika, mehr als 7.000 Menschen kommen ums Leben / Bagdad, 2003: Anschlagsserie, mehr als 40 Todesopfer.

 

 

28. OKTOBER

 

Koinzidenz

mit

Francis Bacon / Alewtina Alaxandrowna Bilinkina / Coluche / Richard Doll / Irmgard Düren / Erasmus von Rotterdam / William Hodges / Majk Herwasijowytsch Johansen / Ahmed Kaya / Stanislaus Kostka / Harriet Ndow / Grigol Robakidse / Gustav Sack / Hans Schomburgk / Karl Friedrich Stellbrink / Arieh Ludwig Strauss / Caroline Unger / Evelyn Waugh / Bernhard Wicki

 

An diesem Tage sahen wir Übereinstimmungen:

Cambridge, Massachusetts, 1636: Gründung der Harvard-University / New York, 1886: Einweihung der Freiheitsstatue / 1962: Ende der Kuba-Krise / Woomera, Australien, 1971: Start des ersten britischen Satelliten.

 

Ich notierte:

1983: Prosa ist mir derzeit nicht möglich, ich versuche Lieder zu schreiben, erst die Musik, dann den Text dazu…

1986: Von Edith Berner höre ich heute, dass Sylvia, meine Noch-Chefin, mich als ihren Nachfolger ins Gespräch brachte – weil sie weiterkommen, weil sie aufsteigen will, und so jemand definitiv benennen musste. Fies. Ausweglos offebar.

1994: Almog. Im Toten Meer hatten wir gebadet und unter den Wasserfällen En-Gedis geduscht, die Massada bestiegen und am flirrenden Horizont Sodom gesehen. Und nun führt uns Ari, PR-Manager des hiesigen Kibbuz, in sein Heiligtum: Hinter meterdicken Betonmauern haben sie, nur wenige Kilometer von Qumran entfernt, Kopien aller dort gefundenen Schriftrollen der Essäer ausgestellt. Einmalig, keine Frage. Und sollte der Frieden nicht das halten, was man sich verspricht, könne dieser Bunker selbstredend sofort wieder zu dem werden, was er war.

1999: Güntersberge. Nachdem die schreibenden Schüler in den Autos ihrer Eltern und Großeltern entschwunden sind, schließen wir Erwachsenen gleich noch eine Vorstandssitzung an. Eine für mich möglicherweise sehr wichtige, trägt Thea Iser hier doch erstmals öffentlich vor, worüber wir beide in letzter Zeit des Öfteren gesprochen hatten. Sie möchte im nächsten Frühjahr als Geschäftsführerin ausscheiden, in den Vorruhestand gehen, schlägt mich als ihren Nachfolger vor. Allgemeine Zustimmung. Verfahrensfragen müssen geklärt werden.

2020: Am Abend verkündet die Bundesregierung einen neuen Lockdown ab 2. November, vorerst für 4 Wochen. Das dürfte alles, was ich für dieses Jahr noch vorhatte, in Frage stellen, Veranstaltungen, Reisen, Treffen… Yuval Noah Hariri hatte schon vor einigen Ta­gen in einem Interview gesagt: „In 50 Jahren werden sich die Menschen gar nicht so sehr an die Epidemie selbst erinnern. Stattdessen werden sie sagen: Dies war der Moment, an dem die digitale Revolution Wirklichkeit wurde. Die Menschheit verständigt sich jetzt darauf, einen Großteil ihres Lebens online zu verbringen. Das hat Vorteile, birgt aber auch eine Gefahr: Im schlimmsten Fall werden sich die Menschen in 50 Jahren daran erinnern, dass im Jahr 2020 mithilfe der Digitalisierung die allgegenwärtige Überwachung durch den Staat begann.“

2022: Am Abend Lesung in Kirchscheidungen. Hiesige Heimatfreunde hatten erfahren, dass in meinen Texten gelegentlich auch die Unstrut eine Rolle spielt. Klar, damit kann ich dienen und mit diversen anderen Texten auch. Dazu geladen war eine junge Musikerin, die Klavier spielte und sang. Interessierte Zuhörer. Gutes Gespräch.

 

 

Kompromiss

für

Cleveland Abbe / Johan August Arfwedson / Eugene Earl Bostic / Heinrich von Brühl / Thomas Brunner / Mady Christians / Marcel Cerdan / Camilo Cienfuegos / William Dobson / Armita Garawand / Kurt Gerron / Jiří Gruša / Friedrich von Hagedorn / Evelyn Hamann / Ted Hughes / Taha Hussein / Jien / Ruthard Ködel / Jerry Lee Lewis / John Locke / Fredy López Arévelo / Franca Magnani / Ottmar Mergenthaler / Taylor Mitchell / Otto Möhwald / Spiridon Neven DuMont / Johann Karl August Musäus / Emil Wilhelm Samuel Palleske / Matthew Perry / Sebastião Rangel Gomes / Gisela Schlüter / Rainer Schulze / Kornei Iwanowitsch Tschukowski / Hans Uhlmann / Klaus Wunderlich / Kateb Yacine

 

Da erkannten wir keinen Kompromiss:

Merseburg, 979 hat „mann am Himmel gräuliche Feuer-Zeichen mit Schrecken“ gesehen / Japan, 1707: Erdbeben, mehr als 5.000 Tote / Peru, 1746: Erdbeben, 18.000 Tote / Pinjarra, Australien, 1834: britische Polizisten massakrieren bis zu 30 Aborigines / Japan, 1891: Erdbeben, 7.273 Todesopfer / Baku, 1995: Brand in der U-Bahn, 289 Menschen kommen ums Leben / Kostenko, Kasachstan, 2023: Grubenunglück, 32 Bergleute sterben.

 

 

29. OKTOBER

 

Feuerwerk

mit

Laura Bassi / Baruj Benecerraf / Louis Blanc / James Boswell / Fanny Brice / André Marie Chénier / Lee Clayton / Eddie Constantine / Niki de Saint Phalle / George Desmarées/  Adolph Diesterweg / Karl Djerassi / Kevin Mark DuBrow / Otto Flake / Recha Freier / Jean Giraudoux / Uri Nissan Gnessin / Claire Goll / Peter Green / Hermann Haack / Zbiegniew Herbert / Abram Fjodorowitsch Joffe / Danny Laine / Sibyl Moholy-Nagy / Robert Müller / Heinz Nittel / Mirco Nontschew / René Pollesch / Robert Norman „Bob“ Ross / Shin Saimdang / Ré Saupault / Eugen Schönhaar / Mark Sheehan / John Haley „Zoot” Sims / Ré Soupault / Ľudovit Štúr / Akim Tamiroff / Lajos Tihanyi / Sultanmachmut Toraighyrow / Clivia Vorrath

 

Da glaubten wir ein Feuerwerk zu erleben:

Konstantinopel, 1888: der Suez-Kanal wird zur internationalen Wasserstrasse erklärt / 1918: Abspaltung der südslawischen Länder von Österreich-Ungarn / 1923 Kemal Atatürk ruft die türkische Republik aus / Berlin. 1923: Beginn des Rundfunks in Deutschland / 1956 wird Tanger Marokko eingegliedert / Los Angeles: 1969: eine Nachricht wird über zwei weit entfernte Rechner versandt, Beginn des Internets / 1991: passiert eine Raumsonde erstmals einen Asteroiden / Südafrika, 1998: die Wahrheits- und Versöhnungskommission präsentiert ihren Abschlussbereicht über die Apartheidzeit / Rom, 2004: Unterzeichnung der Europäischen Verfassung.

 

Ich notierte:

1999: Am Abend spielen wir mal wieder einen live-act in der Ölgrube: Cream, Spencer Davies Group, Procol Harum. Das waren noch Zeiten, als wir das zum ersten Mal hörten und nachspielten... Und offenbar fühlen sich heute Abend etliche alte Fans so erinnert, sehr gute Stimmung, musikalisch läuft’s auch ganz gut. Und dann spricht mich sogar eine Frau an, eine Frau Doktor sogar, die sagt, sie sei in der 9. Klasse an der Penne gewesen, als ich im Abiturjahrgang war, und wie sehr ich ihnen damals als Rocker in DDR-Zeiten imponiert habe, und dass uns doch wohl klar sein müsse, dass die Leute hier weniger wegen der alten Musik, sondern hauptsächlich wegen uns kämen... Ich weiß gar nicht so recht wohin mit solchen Komplimenten. Andererseits höre ich das auch wie eine Stimme aus der Vergangenheit, die mir klar macht, wie alt ich mittlerweile doch schon bin, dass ich keine 18 mehr bin...

2001: Unglaublich, wie rasch die Realität der alltäglichen Bombardierungen Afghanistans zum Alltag wird. Irgendwie ist da weit hinten im Kopf noch ein dumpfer Druck, aber es ist ja so viel zu tun… Was aber wäre eigentlich zu tun? Denn dass dieses Treiben der Amis nicht die Lösung des Problems sein kann scheint klar. Mittelalterlich Strukturen haben sich modernster Technik und modernster Waffen zunutze gemacht und werden nun mit den modernsten (und teuersten) Waffen zu treffen versucht. Man trifft aber nur ein 25 Jahren im Krieg verwüstetes Land. Und auf jeden Fall bleiben die mittelalterlichen Trojanischen Pferde in dieser verrückt modernen Welt. Dazu bin ich doppelt erstaunt, dass es mich als Autor nicht umtreibt: Da mir meine alltägliche Arbeitswelt, das Ausdenken und Umsetzen von Projekten, Programmen etc. - ähnlich wie das Schreiben von Geschichten, aber mit realeren Ergebnissen, größeren Erfolgsschüben – erscheint? Da ich vollständig in die Gestaltung dieser kleinen Welten eingesogen bin? Sie mir ähnlich Halt geben, wie das Ausdenken, Ausschreiben fiktiver Welten? Und wäre es sinnvoller, nützlicher, wenn’s so wäre?

2017: Dank Uhrenrückstellung, des vermeintlichen Zeitgewinns wohl, träumte mir die perfekte Geschichte: meisterhaft von Anfang bis Ende, einfach vollendet, die seit langem gesuchte gemäße neue Form, Inhalt schlichtweg die Weltenformel, ja, ich war glücklich in dieser Nacht, schweißlos und ohne Harndrang. Am morgen dann waren aber sogar göttlich dralle Actrisen verblasst und vage nur noch vermochte ich mich zu erinnern, dass alles mit einer grünpfotigen Katze begann. Schrödingers?

2020: Kurz entschlossen gehen wir am Abend ins Klubhaus essen. Wer weiß, wann Gaststätten mal wieder öffnen… Und da im Nebensaal der Stadtrat tagt, erfahre ich aus erster Hand, dass die Festveranstaltung zur Vergabe des Walter-Bauer-Preises gecancelt wurde, vollständig. Verschiebung vielleicht auf den 4.11.2021, Bauers 117. Geburtstag, denn immerhin konnte ich schon bewirken, dass die in der nächsten Woche in diesem Rahmen mitgeplante und schon abgesagte Eröffnung der Ausstellung mit Werken Werner, mittlerweile auf diesen Tag fixiert wurde.

 

2023: Jeanny und ich wagen nochmals was Neues: eine Flusskreuzfahrt. Entscheidendes Argument war, dass wir an der Haustür abgeholt und bequem zum Schiff nach Passau gefahren werden. Einschiffung: Völlig problemelos. Modernes Schiff, etwa 150 Reisende, schöne Kabine, gute Atmosphäre – los geht’s.

 

Fixierung

für

Alexander Nikolajewitsch Afinogenow / Duane Allman / Sargis Barchudarjan / James P. Beckwourth / George Brassens / Bruno Cassirer / Jean-Baptiste le Rond d’Alembert / Gottfried Duden / Albert Dulk / Harry Frommermann / Ghazi Muhammad / Andreas Hammerschmidt / Woody Herman / Ishida Baigan / Pejo Jawarow / Konradin / Moische Kulbak / John Leech / Peter James Lenz / Louis B. Mayer / Adolphe Menjou / Minik, Peary Wallace / Leonard Nelson / Joseph Pulitzer / Walter Raleigh / Matthias Ronnefeld / Marie Thomas / Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski / Larry Willis / Hendrik Witbooi

 

An diesem Tage fühlten wir uns heftig fixiert:

1187 ruft Papst Gregor VIII. zum Dritten Kreuzzug auf / Männedorf, 1445: kommen bei der Seeschlacht auf dem Zürichsee zwischen den Kriegsflotten von Schwyz und Zürich mindestens  16 Menschen ums Leben / 1665 kolonisiert Portugal das Königreich Kongo / 1867 sinkt bei den Britischen Jungferninseln das Passagierschiff „Rhone“ im Sturm, mindestens 124 Tote / 1894: prallt der neuseeländische Passagierdampfer „Wairarapa“ auf das Great Barrier Riff und sinkt, 121 Menschen kommen ums Leben / New York, 1900: Explosion in einer Chemiefabrik, bis zu 200 Todesopfer / 1929: "Schwarzer Dienstag" an der New Yorker Börse, Beginn der "Großen Depression" in den USA und der Weltwirtschaftskrise/ 1942 versenkt ein deutsche U-Boot das britische Passagierschiff „Abosso“ im Nordatlantik, 362 Menschen sterben / Sewastopol, 1955: das sowjetische Schlachtschiff „Noworossisk“ explodiert im Hafen, 608 Seeleute kommen ums Leben / Orissa, Indien, 1999: ein Zyklon trifft auf Land, 10.000 Todesopfer.

 

30. OKTOBER

 

Publizieren

mit

Louise Abbéma / Martin John Lars Adler / Michael James Andrews / Frank Bannert / Homi Jehangir Bhabha / Mychajlo Lwowytsch Bojtschuk / Clifford Brown / Lena Christ / Heinrich Cotta / Mitra Devi / Theodor Heinrich Friedrich / Rudolf Forster / Ruth Gordon / Jiří Haussmann / Georg Heym / Senna Hoy / María Izquierdo / Krystina „Tanka” Iwanowa Janewa / Kostas Karyotakis / Francisco Ignazio Madero Gonzáles / Louis Malle / Nadeschda Jakowlewna Mandelstam / Friedrich Michael / Karl Oppermann / Nicolae Paulescu / Giaime Pintor / Ezra Pound / Hermann von Pückler-Muskau / Alfred Arthur Sisley / Ueda Bin / Paul Valéry / Wolfgang Vogel / Johanna von Koczian / Peter Warlock / Christopher Wren

 

Das publizierten wir jederzeit gern:

1697: Frieden von Rijswijk zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich / Wien, 1864: Ende des Deutsch-Dänischen Krieges / 1880 wird Tegucigalpa wird Hauptstadt von Honduras / Russland, 1905: Gründung der Duma / 1967: erstes Rendesvouz mit automatischer Ankopplung im All durch zwei Sojus-Raumschiffe /  Istanbul, 1973: Inbetriebnahme der Bosporus-Brücke / 1990: Durchstich im Eurotunnel zwischen England und Frankreich / Dresden, 2005: Weihe der wiedererrichteten Frauenkirche.

 

Ich notierte:

1981: Hubertusberg, Fläming. Erwachen nach laut durchzechter Nacht: allein, nein, einsam in Bett und Zimmer, Kälte im Regen da draußen, Sturm... Ach, ihr nassfelligen Pferdchen dort, ihr großen, euch entlaubenden Bäume - ich ahne, dass unser Leben kein ewiges ist.

1988: Fahrt nach Berlin. Lektoratsgespräch zum Leuna-Manuskript im Verlag Neues Leben. Ich hoffe, das geht so aus, dass mir Hoffnungen bleiben und ich meinen Arbeitsalltag als eine Art Überwinterung sehen kann.

1994: Tel Aviv, Dizengoff Boulevard, Haltestelle, Linie 5 (die’s auch in Leuna gibt): Vor Tagen zerfetzte eine Terrorbombe hier einen vollbesetzten Bus. Verkohlter Baumstumpf, Fotos der Toten daran, Kränze, Blumen und Kerzen, Bürgersteig voller Kerzen und trauernder Juden. Aus dem Straßencafé nebenan blitzen Touristen. Ich geh mich besaufen.

1999: Am Abend kommt Seni, hat seine Wandergitarre dabei, und wir spielen unplugged unsere ganz alten gemeinsamen Songs, meine Texte, seine Melodien – Vorbereitung auf die „Ortungen“-Premiere. Denn zumindest einen meiner ganz alten Texte habe ich ins Buch mit aufgenommen. Und ich will ihn durchaus als das präsentieren, was er mal war – und wer wir mal waren. Im Sinne von Selbstverständnis und Selbstverständlichkeit. Und selbstredend macht dieses back to the roots schlichtweg Spaß. Mal sehen, ob das rüberzubringen sein wird. Denn normalerweise haben die Welt in der ich groß wurde und die Welt in der ich mich nun als Schreiber bewege kaum etwas miteinander zu tun. Ich sehe noch die hochnäsigen, grinsender Gesichter von Lektoren und Autoren aus meinen Anfangszeiten – ein Rocker, der Schriftsteller werden will – das kann doch nicht seriös sein...

 

2023: Wien. Während ich hier schon mehrmals dienstlich war, entdeckt Jeanny heute eine neue Stadt, na ja – ein Anschnuppern bei einer Busrundfahrt. Ringstraße mit all den Prachtbauten, Prater, Belvedere. Dann Spaziergang zum Stephansdom. Einen Großen Brauen und einen Fiaker-Krapfen, und schon zurück zur Anlagestelle in Nussdorf. Eigentlich hatten wir uns mit Anna, der Walter-Bauer-Erbin treffen wollen, die in Wien studiert, aber leider kurzfristig nach Kärnten musste.

 

Pietät

für

Abu al-Salt / Olegario Víctor Andrade / Hermann Blumenau / Karl Bodmer / Poggio Bracciolini / Edmund Cartwright / Gordon A. Craig / Henry Dunant / Uwe Greßmann / Maximilian Harden / Wolfgang Heinz / Gustav Hertz / Ibn Challikān / Jin Yong / José Ingenieros / Karl Wilhelm Jerusalem / Emmerich Kálmán / Claude Lévi-Strauss / Christian Ludwig Liscow / Rose Macaulay / Diego Armando Maradona / Joan Mitchell / Jean Mouton / Harry Mulisch / Ramón Novarro / Ozaki Kōyō / Bruno Schönlank / Mamie Smith / Ernst Stadler / Pedro Vargas / Xian Xinghai

 

An diesem Tage waren wir voller Pietät:

Nowaja Semlja. 1961: Zündung der Wasserstoffbombe „Zar“, die Explosion gilt bis dato als die größte jemals von Menschen erzeugte / Schweinsburg-Culten, 1972: Zugunglück, 28 Tote / Türkei, 1983: Erdbeben bei Erzurum und Kars, mehr als 1.300 Tote / Honduras, 1998: durch einen Hurrikan kommen 5.500 Menschen um Leben.

 

31. OKTOBER

 

Konstruktion

mit

Alcipe / Jean Améry / Adolf von Baeyer / Karel Havlíček Borovský / John Franklin Candy / Philippe de Vitry / Carlos Drummond de Andrade / Bernard Edwards / Booker Ervin / Ralph Erwin / Zaha Hadid / Meindert Hobbema / Hokosai Katsushika / Illinois Jacquet / John Keats / Dedan Kimathi / Michael Landon / Natasja / Helmut Newton / David Graham Phillips / Alí Primera / Karl Radek / Henri Regnault / Anlloyd Samuel / Max Walter Schulz / Bud Spencer / Otto Sverdrup / Jan Vermeer / Fritz Walter / Ethel Waters / Hubert Wilkins / Johann Karl Wezel

 

An diesem Tage glaubten wir an Konstruktionen:

Wittenberg, 1525: Martin Luther veröffentlich seine Thesen / 1848: Ende der Wiener Oktoberrevolution /  South Dakota, 1941: Fertigstellung des Mount Rushmore National Memoria / 1956 landet erstmals ein Flugzeug am Südpol.

 

Ich notierte:

1981: Fünf Tage war ich mit dem Literaturzentrum in Hubertusberg, vor allem Gespräche mit Korall. Und irgendwie werde ich mich wohl für eine der beiden Nachwuchsförder-Einrichtungen entscheiden müssen, AJA oder Literaturzentrum. Doch fällt mir das schwer. Zur AJA kommen die interessanteren Leute, das Zentrum bietet praktische Möglichkeiten, Sachs hat mir ja schon immer mal geholfen. Ich muss einfach arbeiten, arbeiten, arbeiten, bis die Intention, die mich zu einem Text brachte, für den Leser auch halbwegs erkennbar wird. Jendryschik sagte eines Abends: es gäbe hier drei Literaturen: die der schreibenden Arbeiter, die der Kinder- und die der Erwachsenenliteratur. Wie meinen? Früher verspürte ich oft Gelüste aus Fenstern zu springen oder Fernseher zu zerdeppern, soll ich nun vielleicht besser den Wunsch verspüren, Leute zu umarmen, abstrakt natürlich?

1983: Gestern beim Literaturfest im Pionierpalast Berlin sehr reserviertes Verhalten des Verlages mir gegenüber: Katrin Pieper saß vor mir, wandte sich irgendwann zu mir um und meinte, man müsse mal wieder ausführlich miteinander reden, im Januar habe sie vielleicht Zeit. Keine Frage, sie glaube an meine Schreibfähigkeiten, doch müsse ich den Beweis dafür alsbald mit einer neuen Geschichte antreten…

1986: Nun gab mir der Mitteldeutsche noch die Nachricht mit auf den Weg zur Fahne, dass es nichts werde mit meinem Roman, Schluss aus! Was für eine Intrige! Scheiße.

1987: Nach hektischen drei Wochen erstmals wieder Zeit für einen Tagebucheintrag. Kalt ist es geworden. Ich musste, bevor ich mich daheim an die Schreibmaschine setzte, erstmal den Ofen anheizen. Herbst und Winter – klassische Schreibzeit? Nein, so sieht es derzeit leider nicht aus, bei allem „Rückenwind“, den mir der Erfolg der Gegenwartsliteraturtage einbrachten. Doch mal sehen, vielleicht genügt er, um meinen Seiltanz zwischen eigenen Ansprüchen und deren Realisierung nicht lebensgefährlich werden zu lassen.

 

2023: Budapest. Hier waren wir beide noch nicht. Traumhafte Anfahrt zum Zentrum, vorbei an den großen Sehenswürdigkeiten am Pester wie Budaer Donauufer, bis zum Liegeplatz an der Freiheitsbrücke. Vorm Start zur Stadtrundfahrt kracht ein Gewitter los. Dem heftigsten Regen entgehen wir in der großen Markthalle. Und als es schon dunkel wird, stehen wir trockenen Fußes auf dem Heldenplatz. Dann, bei der Ausfahrt erscheinen das weltberühmte Pracht-Parlament, das Schloss, die Fischerbastei und all die Flussbrücken abgestrahlt, noch sehenswerter.

 

Kündigung

für

Jacob Abbott / Doğan Akhanlı / Fra Bartolommeo / Marie Bashkirtseff / Leon „Chu“ Berry / Ludwig Blenker / Heinrich Blücher / Wenzeslaus Brack / Marcel Carné / Thomas Cochrane / Sean Connery / Faisal Arefin Dipan / Daniel Dumile / Federico Fellini / Marc Fosset / Indira Gandhi / Harry Houdini / Charlotte Jacobs / Peter Kersten / Ki no Kaion / Leonardo Leo / Max Linder / Johann Friedrich Meckel d. J. / Sophie Mereau / Anton Pashku / River Jude Phoenix / Norman Gilbert Pritchard / Max Reinhardt / Christian Gotthilf Salzmann / Egon Schiele / Studs Terkel / Herwarth Walden / Elmar Wepper / Anteo Zamboni

 

Das kam uns generell wie eine Kündigung vor:

São Paulo, 1996: eine Fokker 100 stürzt nach dem Start ab, 99 Todesopfer / New York, 1999: eine Boeing 767 stürzt kurz nach dem Start ab, alle 217 Insassen sterben / 2011 überschreitet die Weltbevölkerung die 7-Milliarden-Schwelle / 2015 stürzt ein Airbus A312 über der Sinai-Halbinsel ab, 224 Menschen kommen ums Leben.

 

 

1. NOVEMBER

 

Erholung

mit

Ilse Aichinger / Joe Arroyo / Julia Bányai / Fita Benkhoff / Nicolas Boileau / Hermann Broch / Minna Cauer / William Merritt Chase / Santos Cifuentes / Stephen Crane / Günter de Bruyn / Francisco de Enzinas / Wadih El Safi / Justus Miles Forman / Hermann von Gilm zu Rosenegg / Ric Grech / Johan Nordahl Brun Grieg / Yossef Gutfreund / Georg Philipp Harsdörffer / Werner Holz / Georg Kenner / Ernst Lossa / Homero Manzi / Tarquinia Molza / Calvin Russell / Carlos Saavedra Lamas / Edward Said / Stephan Schütze / Jim Steinman / Joseph Karl Stieler / Else Ury / Julius von Voß / Andraes Paul Weber / Alfred Lothar Wegener

 

So vermochten wir uns zu erholen:

Vatikan: 1512: Michelangelo enthüllt die Deckenfresken der Sixtinischen Kapelle / 1781: Aufhebung der Leibeigenschaft in den habsburgischen Ländern / 1844: Inbetriebnahme der Brennerstraße zwischen Innsbruck und Schönberg im Stubaital / Bayern 1849: Herausgabe der ersten deutschen Briefmarke / Bordeaux, 1868: erstes Frauen-Radrennen weltweit / :Niederlande, 1876: Eröffnung des Nordseekanals / Berlin, 1895: erste kinematographische Vorstellung der Welt / BRD, 1961: Einführung des ersten vollständigen Postleitzahlensystems weltweit / 1981: Antigua und Barbuda wird unabhängig von Großbritannien / 1993 tritt der Vertrag von Maastricht in Kraft / Straßburg, 1998: Errichtung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte / Wien, 2006: Gründung des Internationalen Gewerkschaftsbundes / 2023, London: "KI-Gipfel"

 

Ich notierte:

1995: Fürstenwalde. Gestern also wurde der Dom hier wieder eingeweiht, einstiges Zentrum des Bistums Lebus, sinnlos abgefackelt in den letzten Tagen des zweiten der Weltkriege. Heute schon jedoch stehe ich vor verschlossener Tür. Nächste Führung: 14.00 Uhr. Na, danke.

2000: Projekttag im Rahmen der Walter-Bauer-Ehrung in Leuna. Am Vormittag mit Willi, dem diesjährigen Preisträger, zu einer Lesung in der Grundschule. Dann zeige ich ihm Bauers Wirkungsstätten in Merseburg und Leuna und stelle ihm der Bürgermeisterin vor. Mittag ins Kulturhaus. Willi hat noch ein Rundfunkinterview, ich bereite mit den Pelikanen schon den Pier-Saal für die beiden Nachmittagsveranstaltungen vor. Zuerst eine Art Info-Veranstaltung für Schüler der Leunaer Sekundarschule, die natürlich überhaupt nicht wissen, wer Walter Bauer war... Dann die Vorstellung des Domgymnasium-Projektes in Kombination mit einer Lesung schreibender Schüler. Läuft sehr gut. Ich habe durchaus das Gefühl, etwas bewirkt, etwas vorangebracht zu haben.

Anschließend mit Jeanny nach Berlin. Kommen gut durch, beziehen unser Zimmer im Forum-Hotel am Alex wie die anderen Teilnehmer der Bosch-Ausstellungseröffnung und fahren mit der U-Bahn zum Potsdamer Platz. Hier waren wir das letzte Mal, als noch Hasen über die riesige Freifläche hoppelten. Da hat sich ja weißgott mittlerweile einiges getan... Wir schlendern, essen gut zu Abend, sehen im IMAX-Kino einen 3D-Film über New York und spazieren schließlich durch Brandenburger Tor und Unter den Linden entlang zurück ins Hotel.

2019: In langen Tourneenächten erzählte ich einst gern den Witz vom Wettstreit der Trompeter: einer in silbernen Klamotten mit silberner Trompete spielt wunderbare Stücke vor, dann kommt einer in goldenen Klamotten und spielt auf seinem goldenen Instrument Unglaubliches, bis schließlich ein verdreckt Verlodderter mit einem völlig verbeulten Blechhorn nur Scheiße bläst – und gewinnt! Ja, das, was heute weltweit geschieht kommt mir verdammt wie dieser Witz vor.

2021: Mittags langes Telefonat mit dem Büro des Ministerpräsidenten, letzte Absprachen vor der wegen Corona um ein Jahr verschobenen Walter-Bauer-Preisverleihung übermorgen. Es sieht gut aus, Dr. Haseloff wird kommen, wenn nicht höhere Gewalt dazwischen kommt. Am Abend bringen Florian und Harald aus Bleiburg Gemälde und Grafiken ihres Großvaters Werner Berg, des besten Freundes Walter Bauers. Zum ersten Mal werden seine Arbeiten in Mitteldeutschland ausgestellt. Das hatte ich alles organisieren können, und nun wird im Rahmen der Preisverleihung auch diese Ausstellung eröffnet. Abendessen „beim Italiener“, gute Gespräche.

2022: Mehr und mehr beschleicht mich ein Gefühl, all das, was ich erlebte, nur geträumt zu haben. Oder anders: vermischen sich mir zunehmend Träume und Realitäten?

 

2023: Bratislava. Herrliches Wetter. Ein erstes Bierchen, einen Borovička in der Altstadt. Dann zur Burg, beeindruckende Anlage oberhalb der City. Davor das slowakische Parlament mit riesiger Staatsflagge samt entsprechenderm Fahnenmast. Wir hören, der sei mindetens fünf Meter höher, als der vorm ungarischen Parlamentsgebäude. Ach ja, mal wieder alte Nigglichkeiten zwischen kleinen Völkern. Habsburgisch pittoresk die Gassen der Staré Mesto, Krönungskirche, Stadtmauer, Altes Rathaus bis zur Hans-Christian-Andersen-Statue an der Promenade. Ja, der große Märchenerzähler kam einst mit dem Dampfschiff von Wien hierher und schrieb in seinen Memoiren so nett über Pressburg, dass ihm hier glatt ein Denkmal gesetzt wurde. Schau an.

 

Entlastung

für

Juan Bosch / Boso / Cyrill Demian / Hugo Distler / Pjotr Iwanowitsch Dolgow / Mac Dre / Paulo Paulino Guajajara / Alfred Jarry / Carl von Linné d. J. / Jón Loftsson / Mitch Lucker / Robert Helmer MacArthur / Wladimir Semjonowitsch Makanin / Lya Mara / Pat Martino / Brittany Lauren Maynard / Florence Mills / Theodor Mommsen / Jacques Fabrice Herman Perk / Jacques Piccard / Ezra Pound / Nikolai Michailowitsch Prschewalski / Pavel Reimann / Giulio Romano / Wayne Static / Yma Sumac / Heinrich Tessenow / King Vidor

 

An diesem Tage spürten wir alles andere als Entlastung:

1304: die Landverbindung zwischen Rügen und dem Ruden vor Usedom wird in einer Sturmflut unterbrochen, zwei Dörfer gehen gehen unter / 1436: Tetenbüll, Sturmflut in der Nordsee, 180 Tote / 1570. Sturmflut zwischen Flandern und Nordwestdeutschland, 20.000 Menschen kommen ums Leben / Cádiz, 1625: Beginn des Englisch-Spanischen Krieges / 1700: Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges / Eniwetok-Atoll: die USA zünden die erste Wasserstoffbombe der Welt / Lissabon, 1755: Erdbeben und Tsunami, mehr als 60.000 Todesopfer / 1954: Beginn des Algerienkrieges / Bad Reichenhall, 1999: Amoklauf, 4 Tote.

 

 

2. NOVEMBER

 

Präludieren

mit

Paweł Bogdan Adamowicz / Carmen Amaya / Bunny Berigan / George Boole / Daniel Boone / Amar Gopal Bose / Johannes Benjamin Brennecke/ August Buchner / Jean Siméon Chardin / Antonio di Benedetto / Charles Edgar „Eddy“ du Perron / Odysseas Elytis / Keith Emerson / Robert Gover / Shere Hite/ Wera Michailwona Jermolajewa / K’inich K’an Joy Chitam II. / Felicitas Kukuck / Burt Lancaster / Lloyd Morrisett / Carola Neher / Park Young-seok / Leo Perutz / Prodigy / Fritz Puppel / Georges Schehadé / Richard Serra / Song Huizong / Georges Sorel / Rudy Van Gelder / Luchino Visconti / Phil Woods / Bilal Xhaferr Xhaferri

 

An diesem Tage hörten wir prägende Einleitungen:

Frankreich, 1789: Säkularisierung des Kirchenbesitzes / 1886: Carl Benz erhält das Patent für sein Auto / 1949 erkennen die Niederlande ihre einstige Kolonie Indonesien als unabhängigen Staat an / 1992 wird Galileo Galilei von der katholischen Kirche rehabilitiert / 2022: Friedensabkommen zwischen Äthiopien und Tigray-Separatisten.

 

Ich notierte:

1995: Ein Kollege aus Niedersachsen, dem eine Professur in Halle an der Saale zuteil ward, bat mich, ihm bei der Suche nach einem Haus behilflich zu sein. Die Telefonnummer des Schriftstellers, Natio­nalpreisträger, Akademie- und Bezirksleitungsmitglied einst, der plante wegzuziehen und seinen Frieden nun irgendwo weit im Westen zu machen, erwies sich jedoch als falsch. Statt seiner mel­dete sich ein Privatclub, Sauna, Massagen undsoweiter undsofort. So ändern sich die Telefonnummern.

2000: Berlin. Nach dem Hotelfrühstück in die Nikolaikirche, wo die Bosch-Ausstellung aufgebaut wurde. Sieht sehr gut aus hier, der Kontrast zwischen dem historischen Gebäude und er modernen Historien-Ausstellung ist beeindruckend. Gut besuchte Pressekonferenz, dann mit den Oberen der Stiftung zum Mittagessen. Zurück ins Hotel, umziehen, dann Rüdiger aus seiner „Residenz“ in der Marchlewskistraße abholen und zur Eröffnung. Die Rednerliste lässt mir die „Ohren klingen“: Prof. Güntzer, Generaldirektor Stiftung Stadtmuseum Berlin, Prof. Knopp, Kurator der Robert Bosch Stiftung, Marianne Birthler, neue Chefin der Gauck-Behörde, Jürgen Jankofsky... Zudem füllt sich die Kirche bis zum letzten Platz, da dürften 300 bis 400 Leute anwesend sein... Aber alles klappt bestens und ich denke, nicht die schlechteste Figur bemacht zu haben... Da schmeckt anschließend im „Paddenwirt“ das Bier besonders gut. Im Laufe des Abends fragt mich Prof. Güntzer, ob ich aus einer Pfarrersfamilie stamme, denn er als Wessi sei bisher nur Ossis begegnet, die imposant auftreten und reden konnten, die aus Pfarrersfamilien stammten. Nein, natürlich nicht, entgegne ich zu seiner offensichtlichen Verwunderung, ich sei Arbeiterkind. Worauf er erstaunt ausruft: Na, dann sind Sie ja ein Naturtalent“...

2011: Allenthalben in diesen Tagen im Fernsehen: Vor 50 Jahren kamen die ersten türkischen Gastarbeiter nach (West)Deutschland, gab es einen entsprechenden Staatsvertrag. Im August noch war stets nur von „50 Jahren Mauerbau“ die Rede. Sollte ich tatsächlich der Erste sein, dem in den Sinn kommt, dass diese beiden Daten des Jahres 1961 vielleicht zusammengehören, dass es ein Problem fürs Wirtschaftswunderland war, als all die lieben Brüder & Schwestern nicht mehr in Scharen kamen?

2017: Wäre Mallorca nicht der Ausgangs- und Endpunkt dieser Kreuzfahrt, wären wir wohl nie hierher gekommen - zu verrufen der „Ballermann“, zu peinlich, sich scharenweise besaufende Deutsche samt animierender Schlager-Fuzzis und anderer Halbwelt-Größen… Der Flughafen von Palma de Mallorca überrascht schon mal positiv: weitläufig, doch modern, freundlich. Draußen Frühlingstemperaturen und mediterranes Licht und baustellenfreie Autobahnen vorbei an gepflegten Parks, Aussichtspunkten, Burgen, Neubauvierteln, Einkaufszentren zum Hafen. Weit und breit nichts zu sehen von dem, was dieser offenkundig schönen Insel den „Ballermann-Ruf“ einbrachte. Und auch unser Schiff scheint Anlass zur Freude zu geben, all inclusive. Vor dem Auslaufen noch die obligate Seerettungsübung, bei der wir uns allerdings lächerlich machen. Seitdem wir das letzte Mal kreuzfahren waren, wurde obsolet, mit angelegter Rettungsweste am Sammelplatz zu erscheinen. Doch woher sollte man so etwas wissen? Und so stehen wir denn als Einzige mit diesen klobigen, schweißtreibenden Dingern herum, lassen die nun aber trotzig umgeschnallt. Oder so: Was hat eine solche Übung für einen Sinn ohne Weste finden, Weste anlegen, Weste tragen? Erstaunlich, was auf dieser Welt alles beliebig wird.

2020: Am ersten Tag des neuerlichen Lockdowns sitzen wir mittags im Garten, trinken ein Corona-Bier bei 25°C: verrückt!

2023: Letzter Tag unserer Mini-Kreuzfahrt. Anlegen in Weißenkirchen, Fahrt mit einer Mini-Bahn durch die buntblättrigen Weinberge der Wachau nach Dürnstein, mit knapp 800 Einwohnern die zweitkleinste Stadt Österreichs. Dafür tummeln sich hier sogar im November noch Scharen von Amis, Chinesen, Japanern -und Deutschen selbstredend. Keine Frage, das Städtchen mit Schloss, Burg- und Klosterruine und malerischen Häuschen ist sehenswert. Und natürlich uss ein Achtele des hiesigen Gelben Muskatellers probiert werden.

 

Tja, und dann geht’s weiter donauaufwärts, zurück nach Passau. Gut möglich, dass wir irgendwann nochmals eine Flusstour unternehme. Dann wohl auf einem anderen Strom, dem Rhein vielleicht, gen Amsterdam. Mal sehen.

 

Plädoyer

für

Lena Amsel / Inés Arredondo / Théodore Aubanel / Leo Baeck / Sybille Bergemann / Robert Biberti / Acker Bilk / Robert Bodanzky / Alexander Burnes / Eva Marie Cassidy / Paul Frees / Bogaletch „Bogo“ Gebre / Herb Geller / Bettisia Gozzadini / Joseph Emanuel Hilscher / Hirata Atsutane / Gerhard Kofler / Jenny Lind / Afanassi Nikolajewitsch Matjuschenko / Adam Michna / Mississippi John Hurt / Jutta Müller / Hans Erich Nossack / Walter Oehmichen / Anton Pann / James Stuart Parker / Pier Paolo Pasolini / Oleg Konstantinowitsch Popow / Hal Roach / Jakiw Hryhorowytsch Sawtschenko / Johann Samuel Schroeter / Daniel Seghers / George Bernard Shaw / Mortimer „Mort“ Shuman / James Thurber / Johannes Urzidil / Theodoor „Theo“ van Gogh / Rodolphe Wytsman / Themistocles Żammit / Fritz Zorn

 

Das wäre uns kein Plädoyer wert gewesen:

1856: der französische Passagierdampfer „Lyonnais“ kollidiert vor Nantucket mit einer Bark, 130 Tote / 1942 versenkt ein deutsches U-Boot das niederländische Passagierschiff „Zaandam“ vor der brasilianische Küste, 134 Menschen kommen ums Leben / 1988 wird der erste Internet-Wurm freigesetzt / Wien, 2020: Terroranschlag am Vorabend des zweiten österreichischen Corona-Lockdowns, vier Tote.

 

 

3. NOVEMBER

 

Liaison

mit

Karl Baedecker / Vincenzo Salvatore Carmelo Francesco Bellini / Jeremy Brett / Charles Bronson / William Cullen Bryant / Heinrich Campendonk / Annibale Carracci / Benvenuto Cellini / Hanns Heinz Ewers / Inoue Keizō / Isang Yun / Willem Kalf / Phil Katz / Jakub Kolas / Lukan / André Malreaux / Samuil Jakowlewitsch Marschak / Meiji / Karlheinz Miklin / Pomaré V. / James Richardson / Marika Rökk / Alma Rosé / Joachim Seyppel / Magda Spiegel / Vilhjálmur Stefánsson / F. K. Waechter / Dieter Wellershoff

 

So hätten wir jederzeit weiterführende Beziehungen aufgebaut:

1903 wird Panama unabhängig von Kolumbien / 1914: Patentierung des Büstenhalters / 1957 fliegt das erste Lebenwesen, die Hündin Laika mit „Sputnik 2“ ins All / 1978 wird Dominica unabhängig von Großbritannien / 1986 erlangt Mikronesien die Unabhängigkeit von den USA / New York, 2014: Eröffnung des One World Trade Center.

 

Ich notierte:

1980: Seit ein paar Tagen schreibe ich nun an meinem Kinderbuch, ermutigt durch Edith Bergner, die mir ja auch zum Deuben-Vertrag verholfen hatte. Der Stoff hat direkt mit dem Auftragswerk zu tun, das hier im Mai aufgeführt wurde. Ein Mädchen, eine schreibenden Schülerin, entdeckt, dass ihr Großvater Wachmann in einem Zwangsarbeiterlager war. Der Zirkelleiter vermittelt, erklärt. Das geht gut von der Hand. Und vom Schriftstellerverband bin ich sogar schon eingeladen, daraus zu lesen. Mal sehen, was ich da zu hören kriege, wie die Reaktionen ausfallen…

1981: Nachts, in der Sendung “Arena“ eine Diskussion unter anderem mit Kunert und dem Maler/Sänger Fuchs und der Sängerin von „Ideal“. Die wird vom Moderator dann befragt, was denn sie zum Thema der Sendung, zu Ängsten, zu sagen habe, und sie spricht von einer Kunst der Intellektuellen, deren Geschwafel ihr Angst mache. Darauf mischt der Basser der Gruppe ins Gespräch und wird vom Moderator prompt abgebügelt: Er sei hier als Musiker und als solcher habe er hier Musik zu machen, nichts weiter… Das ist es! Genau das! Als Musiker findest du nie Eingang zu solchen Runden, wirst du von vornherein auf erschreckend voreingenommen Art ausgeschlossen von wichtigen Gesprächen, von Verständigungen…

1988: Gestern Abend noch im Leuna-Werk, bei „meinen“ Schichtern. Sie erzählen mir, was ich wohl fast symbolisch derzeit für Stimmungen in der Gesellschaft stehen kann: Seit etwa fünf Jahren haben sie diverse Mängel in einer Messwarte zur Reparatur angezeigt. Mittlerweile sind die Arbeitsbedingungen dort so heruntergekommen, dass durch die verrostete Messwartentür Ratten eindringen. Und um das primitivste Maß an Zumutbarkeit wieder herzustellen, hat das Kollektiv 50 Mark aus der Brigadekasse entnommen und einen Schlosser zugesteckt, der versprach, demnächst die Tür „schwarz“ zu reparieren.

1999: Nach dem gestrigen Dauerwolkenbruch scheint heute wieder die Sonne. Interview für die Spergauer Dorfgeschichten. Am Nachmittag nach Mühlbeck ins Buchdorf zur Jahresversammlung des Schriftstellerverbandes. Endlose Diskussionen um immer weniger werdendes und immer schwieriger erreichbares Fördergeld, die Einflusslosigkeit des einzelnen Autors und die Schwächen des gewerkschaftlich orientierten Verbandes.

2017: Mitten im Mittelmeer holt uns jäh die Nicht-Urlaubs-Realität ein: Mein letztes Kinderbuch beginnt mit einem an einem Urlauberstrand anlandendem Flüchtlingsboot. Und auf der Höhe von Murcia stoppt plötzlich unser Schiff, da steuerbords ein Flüchtlingsboot entdeckt wurde. Menschen schwenken Tücher, schreien, trillern. Über Bordfunk gibt der Kapitän dann bekannt, dass die spanischen Behörden angewiesen haben, die Ankunft eines Küstenschutzbootes abzuwarten, nur direkt einzugreifen, wenn Seenot bestünde. Und aus einem Boot werden alsbald zwei, dann drei, vier und am Ende sind es sechs. 58 Flüchtlinge, deren Bötchen nun wie Entenküken im Schlepptau des Küstenschützers schaukeln, werden die Spanier schließlich an Bord genommen haben. Gut. Doch unsereins beobachtet mit einem Bier in der Hand die Szenerie und fragt sich: war das Zufall?

2021: Am Vormittag Werksrundfahrt mit meinen beiden österreichischen Gästen, Florian, dem Erben Walter Bauers, und Harald, dem Kurator des Werner-Berg-Museums, dann Plastikpark- und Dombesichtigung. Und dann um 17.00 Uhr die Preisverleihung an Jens-Fietje Dwars. Christoph Liedke erhält das Walter-Bauer-Stipendium. Sogar der Ministerpräsident Dr. Haseloff kam und sprach, und er erzählte sogar, dass er aus dem jüngsten Band meiner Walter-Bauer-Reihe, seinen Enkeln vorgelesen habe. Allerdings erschien keine Presse, die Kulturredaktion der MZ unter Herrn Montag treibt ihre Feindschaft gegen mich immer weiter…

 

Laudatio

für

Alexander Aitken / Fariduddin Attar / as-Sulamī / Fritz Baumgarten / Léon Bloy / Thomas Brasch / Pedro Álvares Cabral / Juan Chassaing / Olympe de Gouges / Petronilla de Meath / Lonnie Donegan / Hryhorij Danylowytsch Epik / Rainer Fuhrmann / Pawlo Petrowytsch Fylypowytsch / Joachim Knappe / Desző Kosztolány / Mykola Hurowytsch Kulisch / Les Kurbas / Henri Matisse / Gary Robert McFarland / Annie Oakley / Omar / Walerjan Petrowytsch Pidmohylny / Pirminius / Walerjan Lwowytsch Politschtschuk / Franz Xaver Friedrich „Fritz“ Quant / Helmut Richter / Mykola Kostjantynowytsch Serow / Kay Starr / Leon Theremin / Georg Trakl / Marko Mykolajowytsch Woronyj

 

An diesem Tage war uns keinesfalls nach laudatieren zumute:

Abruzzen, 1706: Erdbeben, mehr als 1.000 Todesopfer / Hongkong, 1839: Beginn des Ersten Opiumkrieges / Santander, 1893: Explosion des Frachters „Cabo Maccichaco“ im Hafen, 590 Menschen kommen ums Leben / 1916 wird Katar britisches Protektorat / 1943 ermorden Nazis in den Lagern Majdanek, Poniatowa und Trawniki mehr als 43.000 Juden / 1966: Wirbelsturm im Golf von Bengalen, mehr als 1.000 Tote / Salang-Tunnel, Afghanistan, 1982: Explosion eines Tanklastzuges, mehr als 2.000 Menschen sterben / Jajarlot, Nepal, 2023: Erdbeben, mindestens 157 Tote.

 

 

 

4. NOVEMBER

 

Abstimmen

mit

Walter Bauer / Ciro Alegría Bazán / Benno Besson / Werner Borchardt / Willem Breuker / Oscar Lorenzo Fernández / László Gyopàr / Christian Gottlieb Haubold / Ernest Hello / James Honeyman-Scott / Camille Jenatzy /  Robert Georg Adolf Alfred Jentzsch / Kurt Held / Klabund / Gert Ledig / Štefan Lux / Robert Mapplethorpe / La Belle Otéro / Roy Ravana Junior / Guido Reni / Will Rogers / Józef Rotblat / Smizer Schylunowitsch / Eugene Sledge / Tony Sly / Wayne Static / Pierre Verger / Donald Lenzelin Wedekind / Lena Hilda Zavaroni

 

Darüber stimmten wir gern ab:

Neapel, 1737: Eröffnung des seinerzeit größten Opernhauses der Welt, des Teatro San Carlo / Kiel, 1918: Beginn der Novemberrevolution / Ägypten, 1922: Entdeckung des Grabes von Tutanchamuns im Tal der Könige / 1950: Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention.

 

Ich notierte:

1981: Am Vormittag das Exposé zur neuen Fassung von „Sprachlos“ (das ist nun schon die fünfte!) fertig und sogleich an Edith Bergner geschickt. Ich hoffe sehr, damit nun mit dem Kinderbuchverlag endlich zu Potte zu kommen.

1982: Heute Nachmittag im Haus des Lehrers Halle eine Beratung mit allen möglichen Institutionen über die Gründung eines Bezirkszirkels schreibender Schüler – den ich leiten soll. Da wird mein Zeitetat wohl noch kleiner, begrenzter, werden meine Tage verplant und verplant… Konrad meint, ich solle dem gelassen entgegensehen, auch ruhig bleiben, da der Verlag noch immer nichts Genaues sagte. Dabei müsste ich am Wochenende das letzte Kapitel des Kinderbuches geschrieben haben, ich bin so im Text, dass die Geschichte sich von allen schreibt, dass ES schreibt… Und ich muss am Wochenende auch zum Abschluss kommen – nächste Woche steht die erste Lesungs-Tournee an – in Wittenberg!

1999: Walter Bauer wäre heute 95 geworden. Nicht von ungefähr also hatte ich versucht die „Ortungen“-Premiere heute stattfinden zu lassen, was mir tatsächlich gelang. Claus, der Chef der Leunaer Kulturhaus-Galerie“ zeigte sich von Anfang von dieser Idee begeistert, die Leunaer Raffinerie sponserte Wein und Büfett, und Harry, mein Verleger, schaffte es eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn mit den druckfrischen Büchern zu erscheinen. Volles Haus und dabei liebe und bedeutende Gäste. Mein „Überraschungs-Coup“ – mit Seni gitarrespielend und singend selbst die „musikalische Umrahmung“ zu sein - glückt auch. Da baut sich im Saal eine fast hörbare Spannung zwischen meinen vertonten ganz alten Texten und den neuen Reise-Erfahrungen auf. Und als ich zu guter Letzt meinen Besuch an W.B.s Grab in Toronto schildere, ist es mucksmäuschenstill. Keine Frage, ein wichtiger Tag. Mal sehen, wie das Buch „läuft“. Die Presse ignorierte es (auch zur Empörung der anwesenden Politiker) mal gleich wieder von vornherein. Nicht mal’n Fotograf taucht auf. Nun gut, machen wir uns eben unsere eigenen Bilder. Und feiern.

2017: In der Nacht passieren wir die Säulen des Herakles, die Straße von Gibraltar. Am Morgen erreichen wir Cadiz, die Stadt, die angeblich von Herakles gegründet wurde. Der Pier quasi in Innenstadtlage. Klar, an diesem idealen Naturhafen lebten Iberer, Phönizier (Hannibal wuchs hier auf!), Römer, Vandalen, Westgoten, Mauren, Spanier – gut 3000 Jahre ständige Besiedlung, womit dies wohl eine der ältesten Städte Europas ist. Blick auf imposante Kirchenkuppeln und –türme schon vom Schiffsbalkon aus. Doch uns zieht es weiter, wir wollen nach Sevilla heute. Fahrt über einen riesigen, modernen Brückenbogen, der sich von der Landzunge, auf der Cadiz liegt, über den Golf von Cadiz bis zum Festland spannt, Autobahn vorbei an Jerez de la Frontiera, der Sherry-Stadt, durch die Ebene des Guadalquivir zu der Stadt, die laut Guide als die , na ja, auf jeden Fall eine der schönsten Städte der Welt, na ja, auf jeden Fall Andalusiens gilt. Auf jeden Fall war Sevilla nach der Entdeckung Amerikas eines der, wenn nicht das Zentrum der Welt. All die Reichtümer aus den neuen spanischen Kolonien wurden nicht etwa im Hafen von Cadiz angelandet, sondern die Gold- und Silberschiffe fuhren den Guadalquivir mehr als 100 Kilometer flussauf bis ins sichere Sevilla, um ihre Ladungen zu löschen, hier wurden die Schätze verwaltet und verteilt. Kein Wunder, dass Kolumbus hier begraben wurde. Einer der Gründe für den Niedergang Sevillas war dann nicht von ungefähr die Versandung des Guadalquivirs. Schon mit dem ersten Innenstadt-Eindruck sind die Pracht und die einstige Macht gegenwärtig. Grandios der Alcázar, der Königspalast, mit seiner wunderbaren maurisch-jüdischen-christlichen Architektur und Kunst. Gewaltig die Kathedrale, die größte gotische der Welt. Beeindruckend auch all die Paläste ringsum, aber nicht minder, das verwinkelte einstige Judenviertel sowie die weitläufigen Parks und Gärten und die einstige Tabakfabrik, heutige Universität, in der Carmen spielt... Ende der 1920er Jahre versuchte man an einstige Größe anzuknüpfen, richtete eine ibero-amerikanische Weltausstellung ein. Alle Staaten, die einst zum spanischen Kolonialreich gehörten (aber auch Portugal) erbauten feste Pavillons: durch Maya-Kunst geprägte beispielsweise der kleine Guatemalas oder mit exotisch bunten Kacheln verzierte größere Kolumbiens. Die Größe und Ausstattung der Pavillons entsprach offenbar dem Selbstverständnis der jeweiligen Staaten. Als wir den spanischen ansteuern grinst unser Guide und sagt, dass man hier eine wichtige spanische Charaktereigenschaft vorgeführt bekommt: die Bescheidenheit… Zehn Jahre baute man an diesem pompösen, schlossähnlichen Rondell, in dessen Hof man Droschke oder auf dem umlaufenden Kanal mit Schmuckbrücken Gondel fahren kann. Zum Glück geht in diesem Augenblick ein Wolkenbruch nieder. Und als wir wieder auf die Autobahn einbiegen, steht über der Stadt ein Regenbogen.

2020: Das hatte mir in meinem kleinen Leben noch gefehlt: eine Gerichtsverhandlung. Heute war es nun soweit. Amtsgericht Magdeburg: Der Friedrich-Bödecker-Kreis Sachsen-Anhalt e.V. (vertreten durch die Anwaltskanzlei des Kulturministers!) gegen Jürgen Jankofsky – Saal 28. Fast zweieinhalb Jahre nach meinem entehrenden Rausschmiss versucht man nun auch 4.000 Euro von mir einzutreiben, die ich angeblich veruntreut haben soll, da das Land als Fördermittelgeber, diese 4.000 Euro sich natürlich vom Fördermittelempfänger, dem Bödecker-Kreis also, nach deren de facto Selbstanzeige durch meinen Rausschmiss (den sie ja damals irgendwie begründen mussten) zurückholen will. Der Versuch dieser Bande, das auch strafrechtlich relevant zu machen, ist längst entschieden, die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren (trotz Beschwerde des Bödecker-Kreises) eingestellt. Und heute nun werde ich zumindest nicht verurteilt. Der Richter schlägt einen Kompromiss vor: wenn ich 1.000 zahle, würde das nicht als Schuldeingeständnis gewertet, sondern nur das Verfahren, das sich ansonsten, beim Arbeitstempo hiesiger Gerichte noch gut 3 Jahre hinziehen könnte, beenden. Ja, ich will endlich meine Ruhe vor diesen Leuten haben. Nun aber kann diese Bande aber angeblich nicht zustimmen, man müsse sich erst im Vorstand abstimmen. Der Richter räumt eine Widerrufsfrist für diesen Deal bis 25. November ein. Ich nicke nochmals, ist mir doch seit langem klar, dass dies alles eine (kultur)politische Intrige war, um mich kalt zu stellen, deren Ansichten durchzusetzen. Dagegen kann ich letztlich nicht an, Widerstand würde alles nur noch schlimmer machen. Leckt mich…

2022: Walter-Bauer-Preisvergabe im Merseburger Ständehaus. Ich habe die Ehre die Laudatio für die diesjährige Stipendiatin zu halten, für Anna Mochar.

 

 

Andacht

für

Etkar Josef André / Chertek Amyrbitowna Antschimaa-Toka / Lotte Berk / Michael Crichton / Charles Churchill / Stig Halvard Dagerman / Gilles Deleuze / Helena Demuth / Marion Donovan / Cyprian Ekwensi / Gabriel Fauré / Eugene Field / Dante Andrea Franzetti / Richard Gerstl / René Girard / Johann Nikolaus Götz / Kateryna Wiktoriwna Handsjuk / Hara Takashi / Ken Hensley / Karl-Heinz Jakobs / Franz Janowitz / Kanō Tan’yū / Greta Keller / Adam Lux / Jakob Ludwig Felix Mendelssohn Bartholdy / Wilfried Edward Salter Owen / Joachim Perinet / Jitzchak Rabin / Miklós Radnai / Norman Ramsey / Raschīd ad-Dīn / Salomon Reinach / Gustav Benjamin Schwab / Catherine Amy Dawson Scott / Robert Stamm / Jacques Tati / Sofja Andrejewna Tolstaja / Rudolf Wilke / Ida Wüst / Yohl Ik’nal / Ernst Ziller

 

Dem erinnerten wir uns gewiss nicht andächtig:

Cape Flattery, Washington, 1875: der Raddampfer „Pacific” kollidiert mit einem Segelschiff und sinkt, 273 Menschen kommen ums Leben / Florenz, 1966: Hochwasser des Arno, zahlreiche Tote.

 


5. NOVEMBER

 

Restaurierung

mit

John William Alcock / Alexander Christian Friedrich von Württemberg / Washington Allston / Gaius Sollius Modestus Sidonius Apollinaris / Rudolf Augstein / John Berger / Hermanus „Herman“ Brood / Kitty Clive / Joe Dassin / Erich Dieckmann / Raymond Duchamp-Villon / Walter Gieseking / Henri Guilbeaux / Sarah Guppy / Jon-Erik Hexum / Vivian Leigh / Carl Leverkus / Joel McCrea / Ricardo Miró / Mihai Moldovan / Kira Muratowa / Gram Parsons / Jaime Roldós Aguilera / Hans Sachs / Mihail Sadoveanu /Anna Maria von Schürmann / Uwe Seeler / Leopold Stein / Manfred Streubel / Ike Turner / Jupp Wiertz

 

An diesem Tage hofften wir auf Restaurierung:

Konstanz, 1414: Eröffnung des Großen Abendländischen Konzils / 1712: Waffenstillstand im Spanischen Erbfolgekrieg / Itaipú, 1982: Inbetriebnahme des derzeit größten Wasserkraftwerks der Welt / 2007 erreicht eine erste chinesische Raumsonde eine Umlaufbahn um den Mond / 2018 stößt die amerikanische Sonde „Voyager 2“ in den interstellaren Raum vor.

 

Ich notierte:

2000: Sonntag. Strohwitwer, was dazu führt, dass ich Mittag nicht mal die Suppendose aufkriege, die mir Jeanny kaufte, da ich keinen Öffner finde... nsonsten Büroarbeiten, Musikhören und Einstimmen auf die nächsten, offenkundig „superhektischen“ Wochen.

2011: Um zighundert Millionen Tonnen seien die Schadstoffemissionen seit dem letzten Klimagipfel weltweit gestiegen, höre ich in einem Vorbericht zum diesjährigen Klimagipfel, und befürchte, dass dort nun übers Furzen debattiert wird.

2017: Auf Fuerteventura waren wir zwar schon, sogar drei Mal, von der Inselhauptstadt Porto del Rosario kennen wir bis dato jedoch nur den Flughafen. Vom Seehafen gelangt man direkt ins Städtchen, bescheidene, weiße Kirche, neu gestaltete, doch überschaubare Fußgängerzone und immerhin ein Museum zu Ehren von Miguel de Unamuno, der 1926 hierher verbannt war und vor allem mit seinem Gedichtband „Von Fuerteventura nach Paris“ (wohin er dann exilierte) die Insel in die Literatur einbrachte. Knapp 30°C werden es heute. Da hätte man am Stadtstrand durchaus baden gehen können. Mangels Badesachen sitzen wir aber schließlich oberhalb des Strands in einer kleinen, weißen Bodega und genießen Tapas.

2019: Merseburg. Heute vor 262 Jahren könnten Preußen nach der Schlacht bei Rossbach (von der Napoleon später sagte, dass diese verheerende Niederlage den Beginn der Französischen Revolution markiere) mit zahllosen anderen französischen Gefangen auch den siebzehnjährigen Cornett im Karabinerregiment Donatien Alphonse François, Comte de Sade in die diesige Stadtkirche eingepfercht haben. Erwähnt hat er das später nie, doch müsste dieser Aufenthalt ihn geprägt haben, traf er hier doch vor allem Masochisten.

2020: Allein in Deutschland fast 20.000 Neu-Infektionen an einem Tag! Und bei den Amis hat sich Trump – obwohl Biden bei der Stimmauszählung vorn liegt –zum Wahlsieger erklärt…

2021: Die Zahl der Corona-Infektionen schießt wieder in die Höhe, erreicht schon Spitzen höher als vor einem Jahr. Die vierte Welle ist da.

2022: Am Vormittag holen Jeanny und ich Anna Mochar, die diesjährige Walter-Bauer-Stipendiatin, und deren Mutter im Hotel in Merseburg ab. Dom, Zaubersprüche, Bad Lauchstädt, Querfurt, Freyburg. Dabei berede ich mit Anna Idee meiner Stiftung, für die ich sie ja als Kuratorin gewinnen will. Am Abend essen wir gemeinsam im Klubhaus Leuna.

 

 

Ruhe

für

Mariotto Albertinelli / Nadia Anjuman / Aspazija / Brunolf Baade / Isaiah Berlin / Alexis Carrel / Aaron Charles Carter / Baldev Raj Chopra / Jill Clayburgh / Marília Dias Mendonça / Simon Dschanaschia / Hans Egede / John Fowles / René Goscinny / Theresa Hak Kyung Cha / Bobby Hatfiled / Theodor von Heuglin / Vladimir Horowitz / Kanō Motonobu / Frederik „Kunngi“ Kristensen / Monika Lätzsch / Bernhard Lichtenberg / James Clerk Maxwell / Julius von Minutoli / Yaşar Nezihe / Oran Thaddeus Page / Roger Peyrefitte / Reinhard Priessnitz / Jean-Marc Reiser / Ignacy Schiper / Arthur „Art“ Tatum / Maurice Utrillo / August Weismann / Link Wray

 

Das ließ uns keine Ruhe:

1530: Sturmflut im Westerscheld-Stromgebiet, mehr als 100.000 Menschen kommen ums Leben / 1757 „Nachmittage nach 2 uhr aber gieng auff einmahl das Treffen bey Rossbach an, welches biß 5 Uhr, da es finster wurde, unaufhörlich dauerte, und erschröcklich anzuhören war, weil immer ein Schlag den andern verfolget that. In nicht gar langer Zeit sahe mann auf dem Wege von Közschen nach Mersbeurg viele theils starck, theils leicht blessierte geritten kommen, und auf den Abend vernahm mann, daß der König von Preußen das Schlacht-Feld behalten, die Französ. Armee nacher Freyburg getrieben, viele 1000 Mann von derselben zu Kriegs-Gefangenen gemacht u. viele Stücken erbeutet habe“ / 1911 annektiert Italien die Kyrenaika und Tripolitanien / 1914 annektiert Großbritannien Zypern / Fort Hood, Texas, 2009: Amoklauf, 13 Tote.

 


6. NOVEMBER

 

Studium

mit

Michel Bouquet / Ray Conniff / Erika Crisek / Sophia de Mello Breyner Andresen / Charles Henry Dow / Glenn Lewis Frey / Kurt Goldstein / Julius Hackethal / Thomas Kyd / Jonas Lie / Robert Musil / Mike Nichols / Erik Ode / Christoph Hermann Ananda Probst / Diana E. H. Russell / Douglas Wayne Sahm / Rebecca Lucile Schaeffer / Alois Senefelder / John Philip Sousa / Sigmund Theophil Staden / Nikolai Michailowitsch Suetin / Süleyman I. / Bao Tong / Ella Getrud Trebe / Richard Weiner / Rozz Williams / George Young

 

Das studierten wir gern und immer wieder:

Den Haag, 1919: Erste Hörfunksendung weltweit / 1943 befreit die Rote Armee Kiew von den deutschen Besatzern / Nairobi, 1982: Unterzeichnung des Internationalen Fernmeldevertrages / Myanmar, 2005: Verlegung der Hauptstadt von Rangun nach Naypyidaw.

 

Ich notierte:

1999: Um sechs raus und mit Jens, Cathi und Jeanny nach Ústí, will sagen: die Abholung des ersten gedruckten Zeit-Zeugenberichtes, der Memoiren von Dr. Gena, wurde von mir zum Familienausflug umfunktioniert. Und tatsächlich gibt es keinerlei Probleme. Nebel zwar in Zinnwald, aber nach drei Stunden sind wir wie verabredet in Ústí. Ich übernehme die Broschüren, gute Produktion (ich gebe gleich den nächsten Auftrag), wir gehen in der nahen Kaufhalle einkaufen, genießen auf dem Rückweg beste böhmische Hausmannskost, reichlich und spottbillig, erkunden kurz vor der Grenze noch einen Markt, fahren schließlich über Bahratal und Dresden nach Leuna zurück. Streckenweise Regen, aber am Ende ein gleißendes Abendrot.

2017: Arrecife. Stadtrundgang: Vom Hafen über eine schön gestaltete Promenade zur alten Hafenfestung mit sehenswertem Heimatmuseum. Weiter durch die Fußgängerzone des Geschäftsviertels in die Altstadt, zu einem Binnenhafen mit Kneipenmeile. Köstlich, die kanarischen Schrumpelkartoffeln, papas arrugadas mit Mojo-Soße, rot und grün.

2021: Zur Session in der Ölgrube hatte ich etliche Hör-Tipps erhalten. Heute kam eine CD von den „Winerly Dogs“, die ich daraufhin bestellt hatte. Grandios! Wenn ich Rocker geblieben wäre, würde ich heute wohl was in der Art spielen.

 

Status quo

für

Georg Anton Benda / Carl Wilhelm Julius Blancke / Adolf Brütt / Christina von Stommeln / Maria de Lourdes / Manitas de Plata / Karin Dor / Juana Manuela Gorriti / Joachim Gottschalk / Gustav II. Adolf / Ha Ryun / Benno Haan / Ezard Haußmann / Hans Hermann von Katte / Oskar Kohnstamm / Walter Krämer / Pit Krüger / Maurice Leblanc / Karel Hynek Mácha / Michel Majerus / Dick Morrissey / Günter Naumann / Walter Niklaus / Friedrich Pincus / Mario Savio / Ignaz Schuster / Gene Tierney / Pjotr Iljitsch Tschaikowski / Edgar Varèse / Joseph Victor Widmann / Alexander Solomon Wiener / George Williams

 

An diesem Tage vertrauen wir keinem Status quo mehr:

Frankreich, 1576: Beginn des sechsten Hugenottenkrieges / 1884 wird Papua britisches Protektorat / Krakau, 1939: 183 Professoren und Universitätsmitarbeiter werden in die KZs Dachau und Sachsenhausen verschleppt / 1942 versenkt ein deutsches U-Boot das britische Passagierschiff „City of Cairo“ im Atlantik, 104 Menschen sterben / Marokko, 1975: Beginn des „Grünen Marsches“ nach Westsahara.

 


7. NOVEMBER

 

Empfehlung

mit

Adolf Abrahawowicz / Andres Alver / Benny Andersen / Pearl Argyle / Emilo Ballagas / Albert Camus / Carl Carl / Christian III. Moritz / James Cook / Marie Curie / Heinrich Dathe / Auguste Villiers de L’Isle-Adam / Francisco de Zurbarán / Julián del Casal / Wolfram Eicke / Joseph Furttenbach der Jüngere / Madeline Gins / Helmut Graßhoff / Ibn Hazm / Al Hirt / Ljuben Stojtschew Karawelow / Lew Jefimowitsch Kerbel / Yitzhak Lamdan / Paul Lincke / Lucy Lloyd / Konrad Lorenz / Nestor Iwanowytsch Machno / Herman Jacob Mankiewicz / Joe May / Lise Meitner / Barry Newman / C. V. Raman / Fritz Reuter / Johann Gottfried Schnabel / Sabina Naftulowna Spielrein / Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg / Aaly Tokombajew / Leo Trotzki/ Lesser Ury / Marie Wiegmann / Gary Windo

 

Das empfahlen wir jederzeit weiter:

1659: Pyrenäenfriede zwischen Frankreich und Spanien / 1665 erscheint erstmals die „London Gazette“ / 1801 präsentiert Alessandro Volta die ersten Batterien / 1869 findet zwischen Paris und Rouen das erste internationale Straßenradrennen der Welt statt / Craigellachie, British Columbia, 1885: Inbetriebnahme der Canadian Pacific Railway / Dayton, Ohio: 1910: erster Luftfrachtflug weltweit / Petrograd, 1917: Beginn der Oktoberrevolution / New York, 1929: Eröffnung des Museums of Modern Art / Zwickau, 1957: der erste „Trabant“ rollt vom Band / 1963: „Wunder von Lengede“ – zwei Wochen nach einem Grubenunglück werden 11 Bergleute lebend geborgen.

 

Ich notierte:

2020: In der Zeitung lese ich: Ken Hensley ist tot, Keyboarder von Uriah Heep. Einmal mehr also höre ich zum Gedächtnis eine CD: „Demons and Wizards“. Die LP hatte ich vor mehr als 45 Jahren für mindestens 150 Ostmark auf dem Schwarzmarkt erstanden – dafür hätte ich damals mit Familie gut einen Monat leben können, aber die musste ich haben, unbedingt, da war man noch Idealist… „Easy leavin“ war einer der Standards, die ich als Rocker jahrelang spielte und auch sang, meingott – easy living, wie lange ist das her.

2021: Gestern wurde in Darmstadt der Büchner-Preis an Clemens J. Setz vergeben. Da ich den jungen österreichischen Autor (Jahrgang 1982) nicht kannte, hatte ich mir eines seiner Bücher besorgt: „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ – klang interessant. Und tapfer kämpfte ich mich durch den 1000-Seiten-Klotz, hoffte, dass mal irgendwas anderes als endlose Aneinanderreihungen von kalkuliert Tabus brechen wollender Szene begönne, etwas anderes als Peinlichkeit einsetzte, ein Sinn erkennbar würde. Nach gut 200 Seiten gab ich auf. Was soll so was? Warum für so was den höchstangesehenen deutschen Literaturpreis? Büchner würde kotzen (um mit Setz zu sprechen)… Was ist das für ein Preisgericht? Was wollen die? Der Hessische Landbote hätte die Einladungen zur Preisverleihung sicher nicht zugestellt.

 

Empathie

für

Jorge Carrera Andrade / Lykke Aresin / Aram Asatryan / Rudolf Augstein / Ludolf Bakhuizen / Sébastien Briat / Bully Buhlan / Cándido Camero / Leonard Cohen / Christoph Derschau / Alexander Dubček / Werner Friedrich Giggenbach / Hugo Haase / Regine Heinecke / Hidari Sachiko / Klaus Koch / Henry Lehrman / Walentina Logatschowa / Elijah Parish Lovejoy / Lu Haodong / Pedro Vicente Maldonado Sotomayor / Steve McQueen / Ludwig Müller-Uri / Ozaki Hotsumi / Eleanor Roosevelt / Florencio Sánchez / Heinrich Seidel / Richard Sorge / Hans Thoma / Cajetan Tschink / Alfred Russel Wallace / Marie Luise Weissmann / Wolfgang Weyrauch / Richard Yates / Albin Zollinger

 

Da vermochten wir keinerlei Empathie aufzubringen:

Barcelona, 1893: Bombenattentat im Gran Teatre del Liceu, 23 Todesopfer / 1941 versenkt ein deutscher Bomber das sowjetische Hospitalschiff „Armenija“ im Schwarzen Meer, bis zu 4.800 Menschen kommen ums Leben / Lagos, Nigeria, 1996: Absturz einer Boeing 727, alle 143 Insassen sterben.

 


8. NOVEMBER

 

Transplantation

mit

Schahram Amiri / Stéphane Audran / Christiaan Barnard / Milton Bradley / Elfriede Brüning / Ken Dodd / Sarah Fielding / Gottlob Frege / Edmond Halley / Rudolf Waldemar „Rudi“ Harbig / Robert Häusser / Jack Kilby / Norman Lloyd / George Maciunas / Margaret Mitchell / Joseph Monier / Rolf Áke Mikael Nyqvist / Patti Page / Qiu Jin / Rama VII. / Minnie Julia Riperton / Hermann Rorschach / Bram Stoker / Dorothea Viehmann / Stefan Weber / Peter Weiss / Xu Guangqi

 

Das sähen wir gern transplantiert:

Schweiz, 1307: angebliches Darum für den Rütlischwur / Breslau, 1329: erster bezeugter Arbeitskampf, Streik der Gürtlergesellen / 1887: Patent für das Grammophon / 1895: Entdeckung der Röntgenstrahlen / Paris, 1907: erste öffentliche Bildübertragung per „Faksimiletelegraph“ /1925: Patent auf das Rhönrad / 1949 erhält Kambodscha die formale Unabhängigkeit von Frankreich / Vandenberg, 1969: Start des ersten deutschen Satelliten

 

Ich notierte:

1982. Auf zu Lesungen nach Wittenberg in aller Herrgottsfrühe – unglaublich surrealer Sonnenaufgang, was für Farben!

1985: Auto kaputt, irreparabel offenbar. Was für ein Jahr!

1999: Scheußliches Wetter. Doch zwei Lesungen in der Schule Zöschen, gute Veranstaltungen. Am Nachmittag mal wieder ein Dorfgeschichten-Interview in Spergau, am Abend mit Seni zu Herbert nach Kleinkorbetha um den nächsten Oldie-Abend abzustimmen: Jimi Hendrix, Doors, Steppenwolf. Und wann immer mir zwischendurch ein Stündchen Zeit bleibt, nutze ich die für die Überarbeitung von Bosch-Texten sowie der Kürzung eines Manuskriptes eines Mansfelder Bergmannes, das als nächstes in der Zeitzeugen-Reihe erscheinen soll.

Presse: „London/dpa. Die Beatles sind nach einer Umfrage die beliebteste Musikband des Jahrtausends... John Lennon wurde zum ‚einflußreichsten Musiker aller Zeiten‘ gekürt.“

Vor Mitternacht im Fernsehen eine Diskussionsrunde in der Alfred Grosser sagt: das 20. Jahrhundert habe mit dem Ersten Weltkrieg begonnen und sei 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer zu Ende gegangen. Danach begann irgendetwas Neues...“

2000: Halb sechs aufstehen, da ich zu einer Lesung in die Altmark muss. Das ist ein gutes Stück zu fahren. Als ich beim Morgenkaffee schnell mal die Zeitung durchblättere, glaube ich, nicht recht zu lesen: Ein Artikel über Eichi ist drin – gut natürlich, da es um die Figur geht, die er für das Spergau-Projekt mit den Kindern zusammenbaut; - weniger gut, ja Mist: der Schreiberling verbindet diesen Artikel mit irgendwelcher Stimmungsmache gegen den Spergauer Bürgermeister, greift den an, da er das Projekt angeblich nicht unterstütze. Schlimm so was, verrückt, irrational, denn nun werden Eichi und ich den Beweis antreten müssen, das, was da in der Zeitung steht, nicht gesagt zu haben... Und der Tag geht so weiter: hinter Gardelegen werde ich „geblitzt“, und im Veranstaltungsort Beetzendorf werde mir in der Aula fünf fünfte Klassen vorgesetzt. Meingott. Das aber geht dann erstaunlich gut, ja wird sogar eine hervorragende, sehr intensive Veranstaltung. Von Beetzendorf nach Gerwisch, wohin ich alle Bödecker-Mitarbeiterinnen zu einem Arbeitsessen eingeladen habe. Bevor es nächste Woche mit der Interlese und dem Bödecker-Jubiläum richtig stressig wird, möchte ich bei guter Stimmung nochmals alle organisatorischen Details durchgehen. Von Gerwisch ins Kultusministerium, auch hier eine Absprache aus gleichem Grunde, dazu ein Koordinierungsgespräch für 2001. Klingt alles ganz hoffnungsvoll. Von Magdeburg schließlich nach Hildesheim, „Einklinken“ in die hier stattfindende Jugendbuchwoche. Abendessen mit den Kolleginnen Margret Steenfatt und Petra Kunik sowie der gastgebenden Bibliothekarin.

2016: Das Gipfelkreuz des Scharfreiters (2102 m) - erst das alte, wenig später nur aber auch das frisch gezimmerte, müheselig aufgerichtete - brutal abgesägt, zerhackt – lese ich. Ein nackter Däne - Künstler vorgeblich - pappt seinen Schwanz an Luthers Wittenberger Thesentür. Und die Amis wählen Trump. Amen.

2017: In Marokko waren wir noch nie, ergo auch nicht in Agadir. An diese Stadt habe ich jedoch eine Kindheitserinnerung, weiß, dass die durch ein Erdbeben fast völlig zerstört wurde, sehe noch die Trümmerbilder. Tatsächlich wurde Agadir am 29. Februar 1960 so schwer verwüstet, dass man die Stadt um die alte Kasbah aufgab und einige Kilometer südlich völlig neu aufbaute. Ein Touristenzentrum nun. Nichts als Hotelklötze und Souvenirläden und Restaurants und am weiten, feinen Strand ein Riesenrad sind beim Stadtrundgang zu entdecken, allerdings auch reichlich Bettlerinnen mit Kleinkindern… Am Nachmittag fahren wir mit dem Bus ins Hinterland, durch die fruchtbare Sous-Ebene nach Taroudant. Altes Berberstädtchen mit vollständig erhaltener Stadtmauer vor der Kulisse des Hohen Atlas, gern verglichen mit Marrakesch. Jacques Chirac wurde hier als Sohn eines Fremdenlegionärs geboren und der Fernandel-Film „Ali Baba“ hier gedreht… Auffällig in der Provinz Taroudant, dass Ortsschilder aber auch Schulbeschriftungen oft dreisprachig sind: Arabisch, Latein (Französisch also) und in Tifinagh, der Berberschrift (und die zugehörige Berbersprache wäre hier wohl Tachelhait, da in dieser Region der Stamm der Chleu ansässig sein soll, die diese Sprache sprechen). Taroudant erscheint uns als die absolute Kehrseite des neuen Agadir. Vielleicht war das alte auch märchenhaft orientalisch, Taroudant ist es auf jeden Fall: die etwa fünf Kilometer lange, bezinnte Stadtmauer mit ihren wehrhaften Türmen, der quirlige Souk. Und auf dem Hauptplatz stehen sogar Märchenerzähler und Zauberer wie vor tausendundeinem Jahr und bannen ihr Publikum, nicht wenige aus der Handy-Generation! Rückfahrt in einen farbenprächtigen Sonnenuntergang hinein.

 

2023: Am Abend ins Klubhaus. Treff mit einem „Neu-Leunaer“, erst vor anderthalb Jahren zugezogen und schon an Walter Bauer interessiert. Er war vor vierzehn Tagen zur Lesung mit Daniela Danz und hatte mich um ein Gespräch gebeten, da so viel mehr über WB wissen möchte. Und dann erweist sich sogar, dass Dr. Förster Kontakte zu Nachfahren des Schweizer Komponisten Walter Furrer hat, der einst drei Texte aus „Stimme aus dem Leunawerk“ für Chor vertonte, die wohl bis heute nie aufgeführt wurden. Na, dann wollen wir doch mal versuchen, ob diese Kompositionen die nächste Walter-Bauer-Preisverleihung bereichern können.

 

Totenmesse

für

Salomon An-ski / Kokomo Arnold / James Booker / Pierre Bottero / William Lester Bowie / Buchela / Iwan Alexejewitsch Bunin / Melozzo da Forli / Erich Dieckmann / Edwin L. Drake / Dorothy Dunnett / Johannes Duns Scotus / Wolf Durian / Lore Feininger / Carlos Fonseca / César Franck / Bedřich Fritta / Witali Lasarewitsch Ginsburg / Chales Francis Hall / Hannes Hegen / Jeanne-Claude / Pierre Kartner / Dorothy Mae Kilgallen / Catharina Margaretha Linck / Jean Marais / Martin von Tours / Dan McCafferty / John Milton / Red Mitchell / Madeline Charlotte Moorman / Dick Morrissey / Willis O’Brien / Patti Page / Jeanne-Marie „Manon“ Roland de La Platière / Olga Wladimirowna Rosanowa / Charles Kingsford Smith / Lena Vandrey / Chad Varah / Collin Walcott / John Wallis / Wizlaw / Xu Guangqi

 

An diesem Tage zelebrierten wir eine Totenmesse:

1520: „Stockholmer Blutbad“, Hinrichtung von 82 Adligen, Bischöfen und Gefolgsleuten / Merseburg, 1572 ist „ein neuer ungewöhnlicher stern erschienen, gegen Mitternachtswerths bey der Cassiopeia, welcher den gantzen winter über geschienen, ließ sich auch sehen am hellen tage bis umb 8 uhr“ / Prag, 1620: Schlacht am Weißen Berg, 5.700 Tote / Tippecanoe, Indiana, Massaker an indianischen Frauen und Kindern durch US-Kundschafter / 1867: Explosionen im walisischen Bergwerk Ferndale Colliery, 178 Bergleute sterben / München, 1923: „Hitler-Ludendorff-Putsch“ / Lubango, Angola, 1983: Absturz einer Boeing 737 nach dem Start, alle 130 Insassen kommen ums Leben/ Philippinen, 1991: Taifun und Sturmflut, 7.000 Todesopfer.

 

 

9. NOVEMBER

 

Idealisierung

mit

Mark Akenside / Friedrich Arndt / Gertrude Astor / Gail Borden / Welimir Chlebnikow / Choi Hong-hi / Hermann Conring / Dorothy Jean Dandridge / Adolf Dietrich / Günter von Drenkmann / Marie Dressler / Ignacio Ellacuría / Thomas „Tom“ Fogerty / Robert Frank / Étienne Émile Gaboriau / Henriette Charlotte von Nassau-Idstein / Imre Kertész / Imre Lakatos / Hedy Lamarr / Elijah Parish Lovejoy / Zivia Lubetkin / Erika Mann / Phil May / Johann Matthäus Meyfart / Mezz Mezzrow / Jean Monnet / Willi Neubert / Mabel Normand / Lauro Olmo / Pierre Philippeaux / Carl Sagan / Ulrich Schamoni / Ignacy Schiper / Anne Sexton / Michail Nechemjewitsch Tal / Heiti Talvik / Kay Thompson / Mary Travers / Iwan Sergejewitsch Turgenjew / Stanford White / Wolfgang Widdel / Erich Wustmann

 

 

Das wäre uns jederzeit eine Idealisierung wert:

Rom, 324: Einweihung der Lateran-Basilika / Sevilla, 1729: Ende des Englisch-Spanischen Krieges / Hamburg, 1843: Gründung des Thalia-Theaters / Deutschland, 1918: Ausrufung der Republik / Kassel, 1953: Eröffnung der ersten Fußgängerzone Deutschlands / 1953 wird Kambodscha vollständig unabhängig von Frankreich / USA, 1967: die erste Ausgabe des „Rolling Stone“ erscheint / Berlin, 1989: „Mauerfall“ / Culham, 1991: erster nennenswerter Kernfusions-Erfolg in der Forschungsanlage Joint European Torus.

 

 

Ich notierte:

1980: Seit ein paar Tagen schon liegt Schnee. Verrückt – wann gab es zu dieser Jahreszeit schon mal Schnee – und in Leuna, wo durch das Werk eh alles wärmer scheint! Ich gehe mit Cathi rodeln, mache eine Schneeballschlacht, baue mit ihr im Schorschs Garten einen Schneemann, nein, eine Schneefrau – das will Cathi so. Mit der Lager-Geschichte komme ich nach wie vor gut voran, doch kommen mir Zweifel, ob das ein Buch für Kinder werden kann.

1981: So lange ich muggte, fehlte mir der notwendige Abstand um über „die Szene“ zu schreiben. Und nun fällt es mir immer schwerer nah genug ranzukommen?

1982: Erste Lesungen in Wittenberg gestern ganz gut. Heute Eröffnung eines Schulklubs gemeinsam mit Konrad. 9./10. Klassen, eigentlich nicht mein Publikum, ich fühle mich nicht wohl dabei, spüre auch Konrads große Routine. Am Ende fragen mich aber zwei Lehrer, wo sie „Sprachlos“ kaufen könnten… Ach ja, wenn’s denn endlich gedruckt wäre…

1999: Scheußliches Wetter auch am „Schicksalstag der Deutschen“. Nach harter Computerarbeit lockt’s mich am Abend aber schließlich doch aus dem Haus: Festakt des Landkreises zum 10. Jahrestag des Mauerfalls im Merseburger Schlossgartensalon. Da möchte man schon hingehen, zumal wenn man eingeladen ist. In der Nachrichten schier Unglaubliches: heute (!) erdolchte ein 15jähriger Gymnasiast in Meißen seine Geschichts(!)lehrerin. Auf dem Schulhof sollen zuvor Wetten abgeschlossen worden sein, ob er’s sich denn traut...

2000: Am Morgen zu Lesungen in eine Hildesheimer Grundschule, anstrengend, da es jeweils eine Doppelstunde zu sein hat, aber nett. Mittagessen in einem Panoramarestaurant mit schönem Blick über die Stadt bei Braunkohl und Bregenwurst. Dann zum Dom, tausendjähriger Rosenstock und natürlich die phantastische Bernwardstür. Am Nachmittag noch eine Veranstaltung in einem Jugendhaus, schwierige Klientel, dennoch bringe ich sie am Ende sogar zum Mitsingen. Am Abend wieder gemeinsamer Kneipengang mit den Kollegen. Petra Kunik bringt von der heutigen Kristallnacht-Gedenkfeier zwei Mitglieder der hiesigen jüdischen Gemeinde, ein Ehepaar, mit. Zuerst scheint das ein recht anregendes, interessantes Gespräch zu werden, dann kommt man aber auf die aktuelle Situation in Israel, und die Frau demonstriert, was das Problem in diesem Konflikt ist: hochgradige Intoleranz. Sie schnattert und schnattert und belehrt und verbreitet Halb- und Unwahrheiten, dass es schon peinlich ist. Das alles kenne ich von meinen Israel-Besuchen zur Genüge, halte mich tunlichst zurück. Sinnlos hierzu etwas zu sagen, zumal als Deutscher. Dabei hätte ich als Ostdeutscher in dieser Wessirunde heute durchaus auch etwas einbringen können. Immerhin fiel heute vor 11 Jahren die Mauer, meingott, so lange ist das erst her?

2017: Gibraltar. Das Städtchen am Fuße des Felsens erscheint pittoresk altenglisch, immer wieder geprägt von den wuchtigen Verteidigungsanlagen. Stimmungsvolle Pubs – natürlich zischen wir im „Lord Nelson“ (der hier unweit in der Schlacht von Trafalgar fiel) ein gutes Guinness. Mit der Seilbahn aufs Felsplateau. Fantastischer Blick über die Bucht, über Marina und Hafen zur gegenüberliegenden Säule des Herakles, bis nach Afrika. Und natürlich allenthalben die berüchtigten Affen (von denen Churchill sagte, dass Gibraltar britisch sei, solange die hier lebten), die sich heuer jedoch schläfrig, friedlich zeigen.

2021: Am Abend zum Leunaer Kulturausschuss. Ich bin eingeladen, um Details meiner avisierten Schenkung an die Stadt zu besprechen. Vor zwei Jahren hatte ich, quasi als Vorlass, der Stadt Merseburg fürs Walter-Bauer-Archiv bereits all meine Manuskripte, Unterlagen, Materialien vermacht, die mit Bauer und meiner Merseburger Chronikarbeit zu tun hat. Leuna will ich nun meine Bibliothek, Kunst- und Musikbesitz schenken. Das erweist sich dann aber als gar nicht so einfach, da der Leunaer Stadtarchivar, der sich schon immer mal wieder durch Fachidiotie hervortat, massiv dagegen spricht, Unterstützung von einem Linken-Abgeordneten erhält. Da könne ja jeder kommen und bei der Stadt sein Zeugs abladen wollen. Wo solle denn das alles gelagert werden. Im Archiv etwa? Das ist doch kein Museum! Da entstünden der Stadt doch etliche Folgekosten etc.pp… Alle anderen Kulturausschussmitglieder, parteiübergreifend, äußern sich empört, weisen diese Einwände als ehrverletzend zurück. Am Ende beschließt der Ausschuss mit einer Gegenstimme dem Stadtrat, mit mir einen Schenkungsvertrag zu schließen.

2023: Durch mit dem zwölften, dem letzten Band meiner Tagbuch-Reihe "Der 31. Dezember". 

 

Ikonisierung

für

Guillaume Apollinaire / Gertrude Astor / Bao Tong / Robert Blum / Gal Costa / Gottfried von Cramm / Roman Josef Cycowski / Gaspar da Costa / Charles de Gaulle / Friedrich Fink / Emil Frommel / Ernst Fuchs / Gilbert Genesta / Thomas Girtin / Johan August Hugo Gyldén / Friedrich von Hoym / Har Gobind Khorana / Konstantin VII. / Johann Heinrich Justus Köppen / Leo Lania / Stieg Larsson / Fritz Lattke / Yves Montand / Giovanni Battista Piranesi / Howard Pyle / Miklós Radnóti / Jacques Rigaut / Joseph Anton Rueb / Kurt Scheele / Werner Schulz / Scipione / Gregorius Skoworoda / Max Schoberth /  Rudolf Schraut /Anna Dorothea Therbusch / Dylan Thomas / Ari Þorgilsson / Allen Toussaint / Toyen / Miguelito Valdés / Chaim Weizmann / Andreas Paul Weber / Samson Benjamin „Sam” Wieland

 

Das hätten wir nie ikonisert:

1799: Staatsstreich Napoleon Bonapartes, Ende der Französischen Revolution / Boston, 1872: Großbrand, 20 Tote / 1913 erreicht der Great Lakes Storm, der zahlreiche Menschenleben fordert, im Gebiet der Großen Seen seinen Höhepunkt / Genf, 1932: Schweizer Soldaten erschießen 13 antifaschistische Demonstranten / Deutschland, 1938: Pogrom-Nacht, hunderte Juden werden ermordet oder nehmen sich das Leben / 1963: Ōmuta, Japan, Kohlenstaubexplosion, 458 Bergleute sterben.

 

 

10. NOVEMBER

 

Erhellung

mit

Oscar Amoëdo y Valdes / Jean-Hilaire Aubame / Robert Blum / Richard Burton / Álvaro Cunhal / Terence Davies / Funakoshi Gichin / Werner Friedrich Giggenbach / Oliver Goldsmith / Jiří Gruša / William Hogarth / Samuel Gridley Howe / Martin Jahn / Greg Lake / Alexandre Levy / Nicholas Vachel Lindsay / Martin Luther / John Phillips Marquand / Russell Means / Achmad Mochtar / Christian Morgenstern / Ennio Morricone / Brittany Murphy / John Knudsen Northrop / Juan Jesús Posadas Ocampo / Patrick Henry Pearse / Abd ar-Rahman Scharkawi / Roy Scheider / Friedrich Schiller / Screaming Lord Sutch / Granville Sharp / Lisa Tetzner / Hans-Jochen Tschiche / Andrei Nikolajewitsch Tupolew / Petrus Frans van Kerckhoven / Arnold Zweig

 

An diesem Tage fühlten wir uns erhellt:

Zürich, 1859: Friedensschluss im Sardinischen Krieg / Wien, 1909: Innbetreibnahme der ersten Freiluftkunsteisbahn der Welt / 1918. der deutsche Kaiser Wilhelm II. geht ins Exil / 2020. Ende eines Krieges um Bergkarabach  zwischen Armenien und Aserbaidschan.

 

Ich notierte:

1980: Irgendwie scheine ich wirklich so etwas wie einen sechsten Sinn zu haben: Auf dem Weg zum Zahnarzt, auf dem ich sonst stets mit jedem Schritt unruhiger, ängstlicher wurde, werde ich heute immer ruhiger. Und tatsächlich war dann keine Sprechstunde: Wegen Todesfall geschlossen. Allerdings habe ich nun immer noch diese schreckliche Zahnruine im Mund, die ich mir schon vor der Fahne ziehen lassen wollte, wozu mir aber ewig der Mut fehlte…

1983: Unterwegs nach Ufa, erste Flugreise meines Lebens. Brenzliger Nebel, rote Sonne am Morgen. Fast hätte ich verschlafen. (Wohl ein bisschen zu lange aufgeblieben gestern, mit Jeanny Abschiedssekt getrunken, schlecht eingeschlafen - Reisefieber?) Hetzen zur Straßenbahn, die fährt mir vor der Nase weg. Fast wäre ich gleich wieder umgekehrt. Doch dann die nächste Bahn eben. Und in Halle stehen die anderen Teilnehmer der kleinen Kulturdelegation, die an einem Friedensmeeting im Partnergebiet des Bezirkes Halle, in Baschkirien teilnehmen soll, noch auf dem Bahnsteig, frieren, vorwurfsvolle Blicke. Aber was soll’s. Der Zug nach Berlin hat Verspätung, reichlich Verspätung. Sorge, ob denn das Flugzeug nicht ohne uns startet... Aber nein, dank dieses Nebels summieren sich irgendwie die Verspätungen. Unser Glück. Und durch all diese Hektik werde ich so abgelenkt, dass ich schließlich gar nicht so recht realisiere, dass ich plötzlich in der Luft bin, fliege, auf ein schier endloses sonnig-silbriges Wolkenmeer starre und starre und dann schon in Moskau bin, Finsternis. Busfahrt durch breite, neondämmrige Straßen zum Hotel, irgendwo auf den Lenin-Bergen jenseits der Moskwa. Erschöpfung.

1999: In den Spätnachrichten sagt irgend so ein Arschloch von russischem General, Grosny, die Hauptstadt Tschetscheniens werde vollkommen zerstört und habe das Recht verwirkt jemals wieder aufgebaut zu werden. Und dabei schaut die Welt zu und empört sich nicht und handelt schon gleich gar nicht wie im Kosovo...

2000: Ab acht schon wieder je zwei Stunden für Grundschüler in Wittenberg, läuft gut. Dann im „Tiefflug“ nach Hannover. Einchecken im hiesigen Tagungshotel und zur Uni, wo Klaus Urban für uns beide eine zusätzliche „Tandem-Lesung“ organisiert hat. Anschließend fährt er mich ins Rathaus. Eröffnung des „Treffpunkt Hannover“, dem renommierten Treffpunkt der bundesdeutschen Kinderbuchautoren, an dem ich nun also auch erstmals teilnehmen darf. Etwa 200 Kollegen wohl kommen hier zusammen. Etliche kennt man natürlich, dabei nicht zuletzt die Ossis, von denen man einige seit der Wende nicht mehr sah... Der Bödecker-Preis geht im Laufe des Tages an Benno Pludra. Großer Applaus. In der Diskussion steht Jurij Brězan auf und sagt, er sei sicherlich der einzige hier, der noch im Kaiserreich geboren wurde, und er denke, dass er wohl zum letzten Male hier sei. Das klingt dann am Ende wie Abschiedsworte, als er den Bödecker-Kreisen auch weiterhin alles Gute wünscht. Anrührend. Beim Bier sitze ich am Abend mit Harry Bösecke beim „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ zusammen, den ich kurz nach der Wende in Köln kennen gelernt und seitdem auch nicht mehr gesehen hatte. Man verabredet sich für Kommendes.

2021: Fast 40.000 Corona-Neuinfektionen in Deutschland an einem Tag – so viele wie noch nie seit Beginn der Pandemie.

2022: Noch immer ist es so warm und sonnig, dass wir ein Mittagsbierchen im Garten genießen können. Gut auch, angesichts explodierender Energiepreise, dass wir die Heizung noch nicht nutzen müssen.

 

Ehrerbietung

für

Hanan al-Barassi / Asaf Khan / Mustafa Kemal Atatürk / Anita Berber / Ricciotto Canudo / Günter von Drenkmann / Robert Enke / Hossein Fatemi / Otto Flake / Abel Gance / Ludwig Gandorfer / André Glucksmann / Adolph Goldberg / Martha Goldberg / Dick Katz / Ken Kesey / Georg Klepzig / Alexei Wassiljewitsch Kolzow / Hermann Lange / Theo Lingen / Norman Kingsley Mailer / Miriam Makeba / Carmen McRae / Rose Montmasson / Eduard Müller / Sverre Patursson / Debra White Plume / Johannes Prassek / Annemarie Reinhard / Arthur Rimbaud / Montserrat Roig i Fransitorra / Andreas Jakob Romberg / Kenule Beeson „Ken“ Saro-Wiwa / Bartholomäus „Barthel” Schink / Helmut Schmidt / Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg / David Robert „Chim“ Seymour / Justine Siegemund / Siger von Brabant / Karl Friedrich Stellbrink / Margot Stern Strom / Raimund-Roger Trencavel / Victor Young / Gert Westphal

 

Dem würden wir keine Ehre erbieten:

1848: Ende der Revolution in Berlin / Cabo Vilán, Spanien, 1890: das britische Kriegsschiff „Serpent“ strandet und geht unter, 172 Seeleute sterben / Rumänien, Erdbeben, 1940: 1.000 Todesopfer / Bismarck-Archipel, 1944: Explosion des US-Munitionstransporters „Mount Hood“, etwa 1.000 Tote und Verletzte / Ancash, Peru, 1946: Erdbeben, 1.400 Menschen kommen ums Leben / Los Angeles, 1984: Präsentation des ersten Computervirus / Amman, 2005: Terroranschläge in drei Hotels, mindestens 53 Tote.

 

 

11. NOVEMBER

 

Elektrisierung

mit

Fanizadi Akuda / Bibi Andersson / Francesco Anzani / Jorge Arias Gómez / Louis Antoine de Bougainville / Lilja Jurjewna Brik / Filippo Buonarotti / René Clair / Diponegoro / Fjodor Michailowitsch Dostojewski / Hugo Makibi Enomiya-Lassalle / Hans Magnus Enzensberger / Howard Fast / Alfred Hermann Fried / Carlos Fuentes / Noah Gordon / René Harris / Heinrich IV. / Johannes Itten / Matthías Jochumsson / Stepan Petrowitsch Krascheninnikow / Roberto Matta / Donald Michie / Christlob Mylius / Stanisław Orzechowski / Alice Ramsey / Bernhard Romberg / Robert Ryan / Johann Philipp Sack / Paul Signac / Frans Snyders / Franz Storch / John Baxter Taylor / Kurt Vonnegut

 

 

Das elektrisierte uns:

Konstanz, 1417: endgültiges Ende des abendländischen Schismas / 1480: Ende der mongolischen Herrschaft über Russland / Zsivatorok, 1606: Ende des Langen Türkenkrieges / Compiègne, Pilsen, 1842: erstmals wird Pilsener Bier ausgeschenkt / 1918: Unterzeichnung des Waffenstillstands, Ende des Ersten Weltkrieges, in dessen Verlauf mehr als 9 Millionen Soldaten und fast 11 Millionen Zivilsten ums Leben kamen / 1918: Polen wird Republik / 1930 erhalten Albert Einstein und Leo Szilárd das Patent auf den von ihnen erfundenen Kühlschrank / Schwedt, 1960: Grundsteinlegung für die Erdölraffinerie / 1975 wird Angola unabhängig von Portugal / 1992 beschließt die Church of England, Frauen für das Priesteramt zuzulassen.

 

 

Ich notierte:

1981: Faschingsauftakt. Und ich am Abend im Klubhaus der Gewerkschaften beim Zirkel schreibender Arbeiter, geleitet von Korall. Dabei der Vorzeige-schreibender-Arbeiter Bernt-Bärtl, der immerhin beim Mitteldeutschen Verlag demnächst einen Band haben soll. Doch was der liest, was der quatscht, meingott… Ein fast blinder, fast tauber (defektes Hörgerät) 84jähriger liest Kampfgedichte wie: „Jugend, genieße die Früchte unseres Planens…!“ Erstaunlich, das ich in solchen Runden, mich selbst beobachtend, neben mich trete. Und umso hanebüchener der geredete Blödsinn wird, stehe ich, auf eine Reaktion von mir wartend, neben mir. Und dann – schweige ich. Was wohl auch besser ist, da das, was ich sagen könnte, hier wohl nur auf Unverständnis stoßen würde. Doch darf mir diese Selbstunterdrückung nicht zur Schizophrenie ausarten!

1983: Moskau. Nach dem Frühstück Kremlbesichtigung. Irgendwie kommt mir das alles unwirklich vor. Laufe ich tatsächlich über’n Roten Platz, passiere eines der monumentalen Kremltore? Was wir beim Rundgang durch die Machtzentrale dieses Riesenreiches aber zu hören und sehen bekommen, kommt mir nicht minder wunderlich vor: Die größte Glocke der Welt wird uns gezeigt, die allerdings niemals läutete, und die allergrößte Kanone, die niemals schoss... Am Nachmittag Stadtrundfahrt. Es beginnt zu schneien. Moskau im Schnee! Alles wie im Film. Da nutzt es auch nicht, dagegen anzufotografieren. Und das heutige Datum, Karnevalsauftakt, 11.11., wirkt dem auch nicht gerade entgegen.

Gegen 16.00 Uhr wieder im Hotel. Mit Achim, den ich als Philosophiedozenten schon bei etlichen Schulungen in Halle und Umgebung kennenlernte, und Bolle, den Maler, mit dem ich mich während der Penne-Zeit im Sprint duellierte, chartere ich ein Taxi, und wir begeben uns postwendend wieder ins Zentrum. Kalinin-Prospekt, Büchergeschäft. Sagenhaftes hatte ich gehört, was es hier für ansonsten unerreichbare Schätze zu erwerben gäbe. Doch außer einem Stefan Zweig findet nichts mein Interesse. Auf der Straße ein Unfall: Ein Auto erfasst im Flockenwirbel einen Mann, der wird in die Luft geschleudert und mitgeschleift. Der Fahrer stoppt, steigt aus, blickt sich hilfesuchend um. Ein Milizionär hastet heran. Die beiden stellen den von mir Totgeglaubten wieder auf die Beine, klopfen seine Sachen ab, lassen ihn die Gliedmaßen bewegen. Choroscho! Und ab ins Auto und Tschüß! Unglaublich. Am Abend dann im Hotel, modernes Gebäude, erst vor drei Jahren, zu den Olympischen Spielen fertig gestellt. Die Restaurants aber leer, selbst das im 17.Stock mit Panoramablick über die Stadt. Und eine Kapelle spielt nur für uns drei. Na denn, Sekt! Spottbillig, das Ganze. Unbeschwertheit stellt sich ein. Und langsam beginne ich daran zu glauben, dass ich wirklich hoch oben über Moskau sitze. Kneif mich mal!

1989: Unglaublich, ein Taumel – die Grenzen sind auf! Gestern fuhr ich in aller Herrgottsfrühe von der Autorenrunde des Verlags bei Potsdam nach Berlin, zu Emil, und wir versuchten mit all den Massen über die Warschauer Brücke nach Westberlin zu gelangen – aussichtslos, mehrere Stunden eingekeilt. Zurück nach Leuna, Jeanny und Cathi geholt – und ein neuer Versuch – heute klappte es nun. Ein Traum?

1998: Prag. Vom Golem kommen wir zur Stasi und merken nicht, wie wir im Kreise laufen am Altstädter Ring. Erst als wir direkt über uns vier sich kreuzende Kondensstreifen entdecken, versuchen wir uns neu zu orientieren.

1999: Zwei Lesungen anlässlich der Jugendbuchwoche in Merseburg. Am Nachmittag ein Schreibworkshop, am Abend eine Podiumslesung mit allen teilnehmenden Autoren in der Aula des Domgymnasiums. Gute Texte werden gelesen, es herrscht auch eine gute Atmosphäre im Saal. Leider erschien mal wieder kein Pressevertreter. Es ist eine Schande, wie Presse mit solchen Ereignissen umgeht. Man ignoriert sie einfach, hat offenkundig andere Linien zu vertreten, Gartenzwergkunst und Skandale. Beides können wir leider nicht bieten, also findet die Jugendbuchwoche des Landes Sachsen-Anhalt in den Medien schlichtweg nicht statt.

2017: Barcelona. Als wir diese Reise buchten, vor einem Jahr etwa, war da nicht die leiseste Ahnung, dass es mit diesem Zielort problematisch werden könnte. In den letzten Monaten kochten jedoch katalanische Unabhängigkeits-Bestrebungen hoch und höher, wurde ein Abspaltungs-Referendum (das von der spanischen Zentralregierung als ungesetztlich eingestuft wurde) mit massiver Polizeipräsent und sogar –gewalt behindert, rief das katalanische Regionalparlament nach endlosem Hin und Her schließlich die Unabhängigkeit aus und wurde dies wiederum in Madrid als Rebellion gewertet, wurden Mitglieder der Regionalregierung verhaftet, andere, so der katalanische Ministerpräsident Puigdemont, flohen nach Brüssel. Einige dieser „Puigisten“ sind wohl mittlerweile auf Kaution wieder frei, alle werden sich aber vor der spanischen Justiz verantworten müssen. Und für Dezember sind Neuwahlen angesetzt. Bis dahin und damit hofft Madrid offenbar die pari-pari-Situation zu verändern (etwa die Hälfte der katalanischen Bevölkerung ist für und die andere Hälfte gegen die Separierung). Nachdem in Barcelona gestern wohl 750.000 Menschen für die Freilassung ihrer Politiker demonstriert hatten, besucht heute, am Sonntag also, erstmals seit Beginn der Unruhen der spanische Ministerpräsident Rajoy Katalonien, um für seine Regierungspartei zu werben. So lange wir heute durch die Stadt schlendern. Bleibt jedoch alles ruhig. Polizei an allen Ecken und Enden, nun gut. Und auf einer entfernten Kreuzung zieht mal ein rothemdiger Demonstrationszug seines Wegs, das ist alles. Wir laufen im Sonnenschein vom Kolumbus-Denkmal zur Rambla, zur Kathedrale, zum Gaudi-Museum, zum Triumphbogen und schier endlich weiter durchs Häusergewirr bis zur Sagrada Familia, Gaudis Zuckerbäckerkirche. Zurück zum Hafen dann mit der U-Bahn, das ist einiges bequemer.

2019: In der Zeitung: wir werden wohl das wärmste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen registrieren können, die wärmste Novemberdekade schon mal auf jeden Fall. Ich verfasse und unterzeichne: Betreuungs- und Patientenverfügung, Vorsorge-, Konto- und Depotvollmacht und ändere mein Testament (Familienscharmützel), Mail an die Notarin mit Terminanfrage.

2020: Am Vormittag Gespräch mit dem Merseburger Oberbürgermeister. Er hatte gebeten, sich mit mir über einen bessere Nutzung der Merseburger Zaubersprüche auszutauschen. Interessantes Gespräch. Er scheint wohl etwas anzustreben, was ihm bei der nächsten Wahl nutzen könnte. Wenn das aber dem Ansehen meiner Vaterstadt dient, bin ich gern bereit mitzuwirken. Immerhin hatte ich mich ja seit der Wende für die Zaubersprüche eingesetzt, hatte mich als Stadtschreiber sogar mit dem Domstift angelegt. Wenn die Identität und Ansehen stiftenden Möglichkeiten der Zaubersprüche zur Wendezeit vielleicht bei minus 5 % lagen (da sich niemand darum kümmerte und ich ständig gegen Wände rannte), sind wir jetzt vielleicht (nach ansehnlichen Präsentationen) vielleicht bei 40-50% - sage ich OB Bühligen. Da läge also noch Entwicklungspotential, beispielsweise durch eine Än­derung des Namenszusatzes Merseburgs von „Dom- und Hochschulstadt“ in „Stadt der Zaubersprüche“. Wir beide wissen, dass die Domstiftsverwaltung mittlerweile eine Aufwertung der Zaubersprüche über die UNESCO anstrebt – als hört er mir interessiert zu, stellt sich für Merseburg ein „Zauberhaus“ (in der ehemaligen Sitte-Galerie) oder besser noch eine „Zauberwelt“ vor. Wir scheinen uns einig, dass hier alles gut abgestimmt und dialektisch angegangen werden muss. Ich sage ihm also meine Unterstützung zu. Am Abend Vorstandssitzung des Merseburger Freundeskreises Literatur, in dessen Rahmen ich eine Arbeitsgruppe Walter Bauer gegründet und mich dann infolge in den Vorstand. hatte wählen lassen. In Corona-Zeiten muss diese Sitzung virtuell stattfinden, als Video-Konferenz. Schau an, so macht man also notgedrungen neue Erfahrungen…

2021: Bevor möglicherweise wieder ein Lockdown verhängt wird, starten wir nochmals zu einem Kurz-Trip: heute nach Bad Frankenhausen. Kyffhäuser (hier waren wir schon Jahrzehnte nicht mehr), Bauernkriegspanorama (dto.) und schönes Wellness-Hotel.

2022: Am Nachmittag nach Zeitz. Mein Freund Klaus feiert anlässlich seines 75. Geburtstages die Finissage einer Werkausstellung in der Moritzburg. Interessante Gäste, gute Gespräche.

 

Erbe

für

Ilse Aichinger / Moustapha Akkad / Jassir Arafat / Victor Bailey / André Bazin / Alfred Edmund Brehm / Alexander Calder / Julien Offray de La Mettrie / Johann Friedrich Dieffenbach / Johann Andreas Eisenbarth / Vivian Fuchs / Gérard Grisey / Henry Nicholas Gunther / Gyurme Namgyel / Hàn Măc Tú / Volker Handloik / Johann Georg Carl Harrys / Margarete Heymann / Hongzhi Zhenjue / Wera Michailowna Imber / Søren Aabye Kierkegaard / Gustav Langenscheidt / Keith Levene / Lili’uokalani / Francisco Javier Mina Larrea / Berry Oakley / Albert Richard Parsons / Ain Rannaleet / Jannis Ritsos / Friedrich Rohmer / Wolf Schneider / Dieter Schubert / August Vincent Theodor Spies / Phil Taylor / Tupaia / Nathaniel „Nat“ Turner / Artturi Ilmari Virtanen / Mina Witkojc

 

Dieses Erbe würden wir nicht als ein solches erkennen:

Merseburg, 1577 „schien am Himmel ein großer Comet mit einem sehr langen schwantze, stand gegen Mittag u. kehrte seinen schwantz gegen morgen“ / Japan, 1855: Erdbeben, mehr als 6.000 Todesopfer / Kaprun, Österreich, 2000: Brand in der Gletscherbahn, 155 Menschen kommen ums Leben.

 

 

12. NOVEMBER

 

Cartoon

mit

Firmin Abauzit / Mary Astell / Roland Barthes / Alexander Porfirjewitsch Borodin / Tadeusz Borowski / Jacques Alexandre César Charles / Vic Chesnutt / Sor Juana Inés de la Cruz / Ding Shan-de / Michael Ende / Johann Friedrich Gustav von Eschscholtz / Stephan Farfler / Ullrich von Hassell / Kurt Hoffmann / Samuel „Sam“ Jones / Grace Patricia Kelly / Wilhelm Lachnit / Loriot / Charlie Mariano / Les McKeown / Oskar Panizza / Hans Werner Richter / Emanuel Ringelblum / Auguste Rodin / Gerhard Johann David von Scharnhorst / Wolfgang Schlüter / Heinz Schubert / Mortimer „Mort“ Shuman / Jo Stafford / Elizabeth Cady Stanton / Sun Yat-sen / Johannes Thienemann / Tiradentes / Chad Varah / Dieter Wedel

 

Das erfreute uns wie ein Cartoon:

Amsterdam, 1638: Anlage eines der ersten botanischen Gärten der Welt, des Hortus Botanicus / 1918 erhalten Frauen in Deutschland das aktive und passive Wahlrecht / 1980 passiert die Raumsonde „Voyager 1“ den Saturn.

 

Ich notierte:

1982: Letzter Tag der Wittenberger Lesungs-Tournee. Gestern kam in die Hoteltristesse hinein wie aus weiter Ferne die Nachricht vom Tod Breshnews.

1983: Moskau. Soll man am Morgen nicht so weitermachen, wie man am Abend aufhörte? Ein Schlückchen Sekt ist noch in der Flasche. Na denn, Prosit. Doch die Ernüchterung kommt schnell: Besichtigung der Allunionsausstellung, und das im Schneesturm bei drei Grad Minus! Keine Frage, einen Wintereinbruch in Moskau zu erleben, hat etwas Besonderes, etwas literarisches fast sogar, doch bei diesem Wetter und ohne Führung über das riesige, Pavillon übersäte Gelände zu irren, ist was ganz anderes. Die Ausstellungshallen, die wir auf gut Glück betreten sind voll gähnender Langeweile. Im Pavillon Elektrotechnik beispielsweise nichts als Kabel und Gabelstapler. Schließlich entdecke ich auf einer Art Jahrmarkt ein kleines Büfett: heißer Malzkaffee und Brötchen, na bitte. Etliche Russen stehen ungerührt vom Schneesturm im Freien und schlürfen aus klobigen Henkelgläsern Bier, brr! Dann entern wir einen übers Ausstellungsgelände kurvenden Mini­bus. Doch auch diese Fahrerei erweist sich schnell als viel zu zugig. Wir landen im Biologischen Garten. Subtropen. Und zum ersten Mal sehe ich eine reifende Grapefruit und dann auch Apfelsinen an einem Baum. Und das an solch einem Tag, und hier! Schwärme von Spatzen schwirren durchs satte Grün und werden von Schwärmen von Tauben durchs Glasdach beäugt, neidisch offenbar. Können sich die großen Tauben nicht durch die kleinen Schlupflöcher ins Warme zwängen. Uns ist der Aufenthalt in dieser Ausstellungshalle so etwas wie der Spatz in der Hand... Um die Unwirklichkeiten auf die Spitze zu treiben, stoßen wir am Ende nahe des Busses, unter einer Art Triumphbogen auf einen fliegenden Händler, der Ordensspangen feilbietet. Wir sind zuerst ungläubig. Die kann man wirklich kaufen, was die Jackenbrüste so vieler Kriegsveteranen ziert kann man einfach so kaufen? „Da, choroscho, otschen choroscho!“ Bolle zückt tatsächlich sein Portemonnaie und steckt sich so ein buntes Ding an. Wir können uns kaum halten vor Lachen. Bolle, Held der Sowjetunion oder irgend so was. Zum Mittagessen werden uns in einem Hotel saure Pilze und Lauchsalat serviert. Sehr schmackhaft. Dann zum Puschkin-Museum, eine der weltbedeutendsten Kunstsammlungen wohl. Unbeschreiblicher Andrang, Schlangen wie vorm Lenin-Mausoleum und trotz Schneegestöbers, zum Glück werden wir als „Delegazia is GDR“ durchgelotst, Hektik und Gewühl in den Garderoben. Schließlich die weitläufigen Ausstellungshallen, leider sind wir viel zu sehr in Eile, keine rechte Konzentration auf all die phantastischen „Impressionisten“ beispielsweise möglich. Schon finden wir uns im GUM wieder, nicht minder berühmtes Kaufhaus. Treiben im Geschiebe, Ellenbogen raus. Sektkaufen, Marke „Salut“, na, das passt. Dann der Rote Platz, orange und rot angestrahlt, und es schneit und schneit noch immer. Die roten Sterne auf den Kreml-Türmen drehen halb um ihre Achse. Am Denkmal des Unbekanntes Soldaten legen selbst jetzt, am Sonnabend Abend und bei diesem Wetter Frischvermählte in endloser Folge Blumen nieder!

Noch einmal durch das breite Verkehrsgewühl, letzte Blick auf den Kreml und ab in den Bus und zurück ins Hotel. Einer der ordensgeschmückten Portiers fragt Olga, unsere Dolmetscherin: „Otkuda?“ - Woher? Dabei beäugt er misstrauisch Bolles Ordensspange. Um Himmelswillen, kommt nun das große Donnerwetter, Beschimpfungen, Handgreiflichkeiten oder was? Nein, als er hört, daß wir Deutsche sind, nimmt er Haltung an, Hände an die Hosennaht und so, radebrecht: „Cheinrich Choffmann von Fallersleben“ und singt plötzlich: „Deutschland, Deutschland über alles...“ Nun allerdings sind es die Genossen unserer Reiseleitung, die argwöhnisch auf Bolles Ordensbrust gucken. Am Abend wieder Tanz in allen leeren Sälen. Im Restaurant ist’s aber zu kalt, der Wind pfeift durch die Fensterfront. Schneeverwehungen. Wir entscheiden uns für die Kokteli-Bar, sitzen in weißen Ledersesseln unter Fächerpalmen und trinken unseren Salut. Irgendwann versuchen sich uns zwei Kaukasier aufzudrängeln, versuchen uns in schauderhaftem Englisch klarzumachen, dass sie uns Mädchen besorgen könnten, Frauen, wenn wir wollen. Nein, wir wollen nicht. Und als sich Bolle drohend reckt und auf seine Ordensspange tippt, ziehen die Typen tatsächlich ab. Na bitte, sage noch einer, dieses Blechzeugs sei zu nichts nütze.

1999: Am Vormittag noch eine Lesung im Rahmen der Hildesheimer Jugendbuchwoche, dann nach Halle, Bürokram im Künstlerhaus. Die neue Geschäftsführerin kommt mir hinterhergerannt und verkündet grinsend, dass der Herr Vorsitzende mich wegen der Änderung eines alten Vertrages zu sprechen wünsche, ich möchte bitte anrufen. Schau an, so lange ich hier die Geschäfte führte glänzte der Herr Vorsitzende nur durch Ignoranz und Arroganz. Scheint Zeit zu werden, dass wir in diesem Hause vollständig die Zelte abbrechen... Weiter in die Wittekindschule und in die Klosterstraße, das Schreibprojekt, das ich hier voranzubringen versuche, bringt langsam interessante Texte und Diskussionen, läuft also gut. Zuhause wartet jedoch noch reichlich Computerarbeit...

Heute vor 7 Jahren starb Schorsch, mein Schwiegervater und Freund. Mit Jeannys Geschwistern und deren Ehepartnern hatten wir uns damals geschworen, an diesem Tag zu Schorschs Gedenken zu einem Blues-Abend zusammenzukommen, Blues, Schorschs Lieblingsmusik. Allerdings sitze ich an diesem (und schon die letzten vier, fünf Jahre zuvor) allein, da sich die Familie seit SchorschsTod doch zusehends auseinanderlebte.

2000: Sonntag. Letzter Tagungstag in Hannover. Kurz nach Mittag mit Zdenek Slaby, der ab morgen unser „Interlese-Gast“ ist, nach Merseburg. Zdenek ins Hotel gebracht, schnell nach Hause, Sachen wechseln, Post durchsehen, Verträge und Infos für die Interlese einpacken, auf jeden Fall aber auch ein paar Minuten mit Mine gesprochen, die stolz erzählt, dass sie im Urlaub Schwimmen gelernt habe, dann ins Hotel nach Merseburg, wo nach und nach die anderen Interlese-Autoren eintrudeln: Emma Guntz aus Straßburg, Vladislav Čejchan aus Prag und natürlich auch mein belgischer Freund Jan de Piere.

2022: Beim Durchforsten von Geburtstagslisten im Internet für mein „Kalendaricon“ fällt mir auf, das am Anfang meistens Könige, Bischöfe etc. stehen, in der Mitte Wissenschaftler und Künstler und am Ende Schauspieler und Sportler, Fußballer vor allem.

 

 

Chuzpe

für

Alfred Ahner / Bahā’ullāh / Kamal Ahmed Bamadhaj / Kurt Walter Barthel / Jean-Sylvain Bailly / Konstantin Biebl / Jonathan Gregory Brandis / Errol Brown / Alejandro García Caturla / William Holden / Fred Holland Day / Elizabeth Cieghorn Gaskell / Umberto Giordano / Henryk Mikołaj Górecki / Jakob von Heine / William Holden / Kanō Sadanobu / Fernand Khnopff / Kenny Kirkland / Stan Lee / Percival Lowell / Mitch Mitchell / Edmund Dene Morel / Mehran Karimi Nasseri / Friedrich Overbeck / Lasgush Poradeci / Wolfgang Schlüter / Tomasz Sikorski / Helfrich Peter Sturz / Tony Thompson / Inge Trisch / Maria van Oosterwijk / Cornelis Vreeswijk / Julius Wilhelm Zincgref

 

Das quälte uns dreist:

Hamm, 1908: Schlagwetter-Explosion in der Zeche Radbod, 348 Bergleute kommen ums Leben / 1944 kentert das deutsche Schlachtschiff „Tirpitz“ nach einem britischen Luftangriff bei Tromsø, 1.204 Seeleute sterben / Bangladesh, 1970: Zyklon und Sturmflut, mehr als 300.000 Todesopfer / Dili, Osttimor, 1991: indonesische Sicherheitskräfte massakrieren 270 Menschen / 1996 kollidieren über Charkhi Dadri, Indien, eine Il-76 und eine Boeing 747, alle 349 Insassen kommen ums Leben / Türkei, 1999. Erdbeben: 370 Tote / 2017: Erdbeben an der Grenze zwischen Iran und Irak, 540 Todesopfer / New York, 2001: ein Airbus A300 stürzt kurz nach dem Start ab, 265 Menschen sterben.

 

 

13. NOVEMBER

 

Kur

mit

Augustinus von Hippo / Michail Wassiljewitsch Butaschewitsch-Petraschewski / Jarosław Dąbrowski / Tilly Edinger / Erdmuthe Dorothea von Sachsen-Merseburg / Dorothea Christiane Erxleben / Hans Fitting / Martin Gumpert / Peter Härtling / Karl Jakob Hirsch / Huang Xianfan / Candye Kane / Christian Adolph Klotz / Jean-Baptiste Louis Claude Théodore Leschenault de La Tour / Liang Siyong / Gary Marshall / John Montagu / Ondraszek / Ernst Ottwalt / Michail Wassiljewitsch Butaschewitsch-Petraschewski / Ranjit Singh / Reuven Rubin / Rudolf Schwarzkogler / Jean Dorothy Seberg / William Shenstone / Robert Louis Balfour Stevenson / Helene Stöcker / Ojārs Vācietis / Mary Wigman / Peter Graf Yorck von Wartenburg / Charles Frederick Worth / Walter Zwarg

 

Das kam uns wie eine Kur vor:

München, 1906: Grundsteinlegung für das Deutsche Museum / 1990: Veröffentlichung der ersten Webseite.

 

Ich notierte:

1981: Freitag. Und seit heute morgen arbeite ich im Schichtzyklus mit dem von mir zu betreuenden Erdöl/Olefine-Kollektiv. Auf jeden Fall bringt das fürs Erste meine Tagesplanungen durcheinander.

1982: Zu Hause hoffte ich, Post vom Kinderbuchverlag zu finden. Wieder nichts, dafür aber eine Einladung zu den nächsten Tagen der Kinder- und Jugendliteratur der DDR.

1983: Moskau. Um sechs Uhr raus. Schneesturm noch immer. Mit dem Bus nach Domodedowo. Inlandflughafen. Aber was ist hier los! Alle Hallen sind völlig überfüllt. Auf den Steinfußböden liegen Leute in Reihen wie Erschossene nebeneinander und schlafen. Seit gestern schon soll hier nichts mehr geflogen sein, rien ne va plus, Konjez filma. Der Delegationsleiter verhandelt und schnell werden wir in den internationalen Transitraum geführt. Hier ist’s zumindest warm und es gibt ein Büfett. Wir versuchen uns einzurichten, uns die Zeit zu vertreiben, schachteln, schachteln um Sekt. Dann wird geskatet, die Stunden schleichen dahin, nichts bewegt sich. Und aus allen Gesichtern weicht langsam das Lächeln, zunehmend ernste Mienen, Sorgenfalten. Dann spielt schon niemand mehr. Wir sitzen und warten auf Informationen. Um 15.00 sollen wir erfahren wie’s weitergeht, dann um 18.00 Uhr... Von irgendwoher kommt das Gerücht auf, dass seit Mittag hin und wieder ein Flugzeug gestartet, nur noch keines gelandet sei. Zweckoptimismus oder Wahrheit? Fassbare Bewegung: Im vier Stunden Rhythmus bekommen wir nun je ein Paar Wiener Würstchen mit rotem Kaviar vorgesetzt. Gutes Zeichen, schlechtes Zeichen? Draußen schneit’s noch immer. Ob man uns in Ufa schon vermisst? In Moskau schienen wir für die Verantwortlichen längst aus dem Plan - oder warum holt man uns nicht einfach ins Hotel zurück? Um 18.00 Uhr die Information: nächste Information um 23.00 Uhr. Um 23.00 Uhr die Information: keine Information mehr heute.

2000: Am Morgen Lesung aus „Novembertau“ in der Sekundarschule Merseburg-West. Läuft ganz gut. Dann ins Pelikan-Büro, in der Sparkasse Geld für die Autorenhonorare der Interlese-Gäste geholt, schnell nach Hause, wichtigste Büroarbeiten, Mittags die nächste Lesung, nun mit Klaus Urban in der Berufsschule Merseburg, läuft nicht so gut, diverses Desinteresse der Jugendlichen, aber wir beide „ziehen“ mit Spaß unsere anderthalb Stunden „durch“. Wieder nach Hause, Büro und Umziehen, dann den Gäste die Honorare auszahlen und mit ihnen zum kleinen Stadtrundgang, Dom, Schloss, Neumarktbrücke, Markt und in die Sparkasse. Offizielle Eröffnung der Interlese, erlesenes Publikum, stellvertretender Landrat, Landtagsabgeordnete, Schuldirektoren etc. pp. Läuft wiederum gut. Danach gemeinsames Abendessen mit den ausländischen Gästen. Gegen halb elf reichlich geschafft wieder zu Hause. Die Kinder fangen mich im Flur ab, Hiobsbotschaft, Jens hat Probleme mit seinen Kaufhallen-Bossen, sieht nach Intrige aus und könnte auf Kündigung hinauslaufen. Mist! Und so was passiert offenbar wirklich immer dann, wenn man sich nicht kümmern kann.

2021: Etwa 49.000 Infektionen mehr… allein in Deutschland mehr als 5 Millionen Infizierte seit Beginn der Pandemie, fast 100.000 Tote… weltweit mehr als 250 Millionen Infizierte, 5,1 Millionen Tote…

 

Kranzniederlegung

für

Abbo von Fleury / Nick Alexander / Otto Blumenthal / Ida Boy-Ed / Thomas Brasch / Lodovico Carracci / Thomas Chippendale / Arthur Hugh Clough / Vittorio De Sica / Vine Deloria jun. / William Etty / Ueli Gegenschatz / Roland Hanna / Heinrich der Seefahrer / Chester Himes / Bryan Stanley „B.S.“ Johnson / Hertha Kräftner / Lonzo / Bruno Maderna / Gerhard Marcks / Max Ludwig Mohr / Camille Pissarro / David Poisson / Gioachino Rossini / Rudolf Schock / Ludwig Uhland / Bärbel Gertrud Wachholz / Reinhard Weisbach / Fritz Wrampe

 

An diesem Tage war uns nach Kranzniederlegung zumute:

1002: „St.-Bryce-Day-Massaker“, alle in England lebenden Dänen warden getötet / Héricourt, 1474: Beginn der Burgunderkrieges / Ostsee, 1872: Sturmflut, 271 Tote / 1885 erklärt Serbien Bulgarien den Krieg / Amude, Syrien, 1960: Feuer in einem Kino, 152 Kinder kommen ums Leben / Nassau, Bahamas, 1965: das US-Passagierschiff „Yormouth Castle“ gerät in Brand und sinkt, 90 Tote / Bhola, Pakistan, 1970: Flutwelle durch einen Zyklon, über 500.000 Menschen kommen ums Leben / 1972 Sturm über Belgien, den Niederlanden und Norddeutschland, mindestens 73 Todesopfer / Armero, Kolumbien, durch einen Vulkanausbruch kommen 20.000 Menschen ums Leben / Aramoana, Neuseeland, 1990: Amoklauf, 14 Todesopfer / Paris, 2015: islamistische Terroranschläge, 130 Menschen sterben, 683 werden verletzt.

 


14. NOVEMBER

 

Avance

mit

Jacob Abbott / Leo Hendrik Baekeland / Frankie Banali / Frederick Grant Banting / Walter Baumann / Marie François Xavier Bichat / Konrad Biesalski / Cato Bontjes van Beek / Boutros Boutros-Ghali / Louise Brooks / Bruno H. Bürgel / Butz’aj Sak Chiik / Aaron Copland / Lorenzo De Ferrarari / Amadeo de Souza-Cardoso / Gregorio del Pilar / Karlheinz Drechsel / Benjamin Fondane / Robert Fulton / Fanny Hensel / Johannes Lucas von Hildebrandt / Johann Nepomuk Hummel / Hussein I. / Taha Hussein / Jurga Ivanauskaitė / Horst Janssen / Astrid Lindgren / Sacheen Littlefeather / Charles Lyell / Claude Monet / Leopold Mozart / Gyan Mukherjee / Mikael Nalbaldian / Jawaharlal Nehru / Ottilie Pohl / Gunter Sachs / Alec John Such / Tor Ulven / Edward Higgins White II / Narciso Yepes / Friedrich Wilhelm Zachow

 

Das registrierten wir als Vorteil:

1899: Ende des Samoa-Konflikts zwischen Deutschland, den USA und Großbritannien / Wien, 1901: Karl Landsteiner gibt die Entdeckung der Blutgruppen A, B und 0 bekannt / 1918: Proklamierung der Republik Badern / Island. 1963: die Insel Surtsey erhebt sich aus dem Meer / 1967: Patenterteilung für den Rubinlaser / Buxtehude, 1963: Einrichtung der ersten Tempo-30-Zone Deutschlands / 1971 „Marine 1“ schwenkt als erste Sonde auf eine Umlaufbahn um einen anderen Planeten ein, den Mars / 1994: Inbetriebnahme des Eurotunnels zwischen Calais und Folkestone.

 

Ich notierte:

1977: Leipzig. Mittwoch. Am Morgen war ich noch reichlich verkleistert, legte mich noch Mal bis gegen halb acht hin, dennoch fragte mich dann der Abteilungskommandeur, ob ich gestern einen gesoffen hätte. Ich knurrte irgendwas Unverständliches. Für den weiteren Tag war Ensembleprobe angesetzt. Und die lief mal wieder so an, dass erstmal alles unklar war. Gestern Abend hatten die Leute, die nicht mit beim Auftritt waren, den Combo-Keller ausgeräumt, da der ab heute gemalert werden sollten. Natürlich kam niemand um zu malern. Und bis wir alles wieder eingeräumt, geordnet und aufgebaut hatten, war’s Mittag. Am Nachmittag puzzelte ich dann mit Olaf und Matthias, unserem Saxophonisten und Blasorchesterleiter, an einem neuen Stück, das ich geschrieben hatte: „Jenny“. Am Abend schließlich ging ich mit Matthias, Böttcher (dem zweiten Kontrabassisten) und Meyern (dem Tubisten) in den Ausgang. Automatisch liefen wir zum „Iwan“ und zechten munter drauflos. Als wir wieder in die Kaserne hineinwollten zeigte es sich, dass das gar nicht so einfach war: ein berüchtigter Hauptmann, Spitzname Haubutz, war Offizier vom Dienst und untersuchte peinlichst alles Mögliche. Vorm Kasernentor drängten sich die Ausgänger in langer Schlange. Und auch ich musste den Mantel ausziehen, Ausweise und Portemonnaie vorzeigen, die Taschen umkrempeln und Bemerkungen einstecken. Aber so war bei mir natürlich nichts zu finden.

1980: Heute mit Wilhelm Bartsch zusammen in Droyßig gelesen, danach noch lange geschwatzt und schließlich übernachtet hier.

1983: Domodedowo. Früh halb fünf nach kurzem, flachen Schlaf in zusammengerückten Sesseln erwacht, zerknautscht, entsetzlicher Geschmack im Mund und doch fühle ich mich optimistisch. Denn irgendwie ist das Ganze hier doch kaum noch zu steigern, oder? Vor mir das Leitwerk einer IL-62, weiter draußen andere Riesenvögel auf dem schneeweißen Rollfeld. Bewegen die sich gar? Um mich herum Schlafende. Sogar diese Singeklubtypen, die hartnäckig und nervtötend versuchten die ganze Halle durch infantilen Singsang und Auf-dem-Kamm-Blasen in Stimmung zu versetzen scheinen erschöpft. Ein Glück. Die Szene hat zweifellos etwas Kafkaeskes. Hier wurde man abgestellt wie ein herrenloser Koffer. Für das verantwortliche Moskauer Reisebüro schienen wir längst abgereist, in Ufa jedoch längst nicht angekommen. Gelbe Tanklastzüge rollen durch die Nacht. Landen da schon erste Maschinen, beginnen andere mit Startvorbereitungen? Keinerlei Bewegung nach Ufa hin oder von Ufa her jedoch offenbar. Aus der IL-62 klettert ein Pilot, steigt in die dahinter stehende TU-154. Schwankt der? Findet da etwa ein Bordfest statt? Dann sind wir 24 Stunden in diesem Transitraum. Es wird immer schwerer die Stühle zu behaupten. Sobald jemand pinkeln oder sich die steif werdenden Beine vertreten geht, werden sie von anderen Wartenden weggeschleppt. Aber wir erfahren: Um 14.00 Uhr gibt’s die nächste Information! Wie idiotisch kommt mir heute unser gestriges Verhalten vor, als wir im Glauben, mal eben eine kleine Wartezeit verkürzen zu müssen, um Sekt schachtelten! In diesem Riesenland gelten andere Relationen, in jeder Beziehung. Halb zwölf wird Frühstück gereicht. Dazu trällert unser Singeklub ein Liedchen vom Sieg der Arbeiterklasse, Titel: „In Moskau wird das Wetter gemacht“. Merken die’s noch? Überhaupt beginnen sich die Dinge nun langsam zu entwickeln: Einem unserer Teilnehmer ist der Koffer „abhandengekommen“. Der Reiseleiter entblödet sich nicht zu empfehlen, der Mann solle einen Zettel schreiben mit Namen, Adresse und so, vielleicht sei alles nur eine Verwechslung... Am Nachmittag werden nunmehr zum fünften Mal schlappe Würstchen mit Kaviar gereicht. Ich kann’s schon nicht mehr sehen, geschweige denn essen. Doch gibt’s immerhin auf einmal Bier, und sogar trinkbares, nicht dieses trüb-flockige „Moskowskoje“. Man sitzt also im Büfett und versucht sich zu besaufen. Am Nebentisch lassen sich Westdeutsche und Schweizer nieder, soeben hier abgeliefert offenbar. Als die von uns jedoch hören, wie lange wir hier schon kampieren, schlagen die sofort Krach - und siehe da - werden umgehend ins Hotel zurückgebracht!

Nun langt’s. Und als die nächste Information wieder nur die Ankündigung der nächsten Information ist, fordern wir von unserer Reiseleitung eine Versammlung, Krisensitzung, was weiß ich. Und die kommt dann tatsächlich zustande. Beschwichtigungsversuche der FDJ-Bosse, alles wird gut, bla bla. Mir reicht’s. Ich versuche der allgemeinen Stimmung Ausdruck zu verleihen. War am Bier­tisch nicht eben sogar noch vom Streik, von Flugverweigerung, vom Platzen-Lassen des großen Friedensmeetings die Rede gewesen! Doch schau an, so mancher, der vor kurzem noch putschen wollte, „kneift nun den Schwanz ein...“ Was soll’s, habe ich eben meine Meinung gesagt. Und etwas scheint’s sogar bewegt zu haben. Der Reiseleiter verspricht, sich zu kümmern und uns in einer halben Stunde wieder alle zusammenrufen zu wollen. Daraus wird natürlich nichts. Einer Subalternen erscheint jedoch bald darauf und raunt: „Abflug zweiundzwanzig fünfundzwanzig. Weitersagen!“ Unglaublich. Was wäre gewesen, wenn wir schon gestern Mittag, so wie heute die Westdeutschen „auf die Barrikaden gestiegen“ wären? Der Zweifel an dieser Information scheint aber tief zu sitzen. Bis zur Abflugzeit, die dann wirklich fast korrekt ist, sind einige sternhagelvoll. Ich schleppe eine Schnapsleiche durch die Abfertigung. Die Stewardessen beginnen zu palavern, wollen die Besoffenen nicht fliegen lassen. Lächerlich. Und tatsächlich heben wir zu guter Letzt um halb zwölf Uhr nachts, nach fast vierzig Stunden Aufenthalt, von Domodedowo ab. Potenzierung der Unwirklichkeiten: Unterm Kabinenfenster das nächtliche Moskau, illuminierter Stadtplan? Die Landung dann nach anderthalb Stunden Flug recht hart, Absacken, Rütteln zuvor - Sturzflug oder Absturz oder was? Nahm unser Pilot an dieser Party da teil? Die Uhren in Ufa zeigen schon 4 Uhr. Ach so, nochmals zwei Stunden Zeitverschiebung. So liege ich um fünf Uhr morgens im Hotel „Rossija“ wieder in einem Bett, zwei Tage also fast, nachdem ich aus einem solchen aufgestanden war...

1987: Eine gute Woche offenbar. Währen der Werkstatt des Verlages Neues Leben reifte die Hoffnung, nun mit diesem Verlag (statt dem Mitteldeutschen) mit meinem Leuna-Projekt voranzukommen. Dann in Suhl, Lesungen, erfolgreich, interessant. Zu Hause dann aber ein Gespräch mit dem Direktor von Cathis Schule. Ich hatte um Aufklärung gebeten, warum während der obligaten Buchenwaldfahrt einige Jungen aus der Klasse im KZ „Genickschussanlage“ gespielt und dann Cathi, die sich darüber empörte, als „Judensau“ beschimpften. Das sei nun alles nicht wahr, höre ich, und Cathis Klassenleiterin sei persönlich beleidigt durch meinen Klärungsversuch.

1999: Sonntag. Kurz nach acht starten wir gen Antwerpen. Graues, regnerisches Novemberwetter. Wir kommen jedoch so gut voran, dass wir bereits kurz nach eins die belgische Grenze passieren. Und als ich Jan nun wie vereinbart per Handy anrufe, um eine Treffpunkt zu verabreden, ist Jan nicht erreichbar. Erst als ich durch die Altstadtgassen Antwerpens kurve, schrillt mein Handy. Gerade noch rechtzeitig (oder kongenial?) kann mich Jan so zum Hotel lotsen. Er hatte uns schlichtweg so zeitig nicht erwartet. Müht sich nun aber zu uns zu kommen, ist gegen fünf im Hotel, zeigt uns die Stadt, die wir uns so anders vorgestellt hatten, irgendwie als Industriestadt. Doch welche Perle Flanderns ist die Altstadt Antwerpens! Diese Straßenzüge mit den typischen verglasten Giebelhäusern aus der Renaissance, die stolz aufragende Kathedrale, diese (zumal in der Scheinwerfer-Beleuchtung) hochimposante Schelde-Promenade! Wir sind sehr angenehm überrascht. Und Vorzüge flandrischer Küche und Braukunst bewirken schließlich zu guter Letzt ihr übriges...

2021: Am Abend ruft Konrad nach langer Zeit mal wieder an, es gehe ihm gut, kaum noch Herzprobleme und seine Schlaganfälle glaubt er gut überwunden zu haben. Und er sagt, dass er endlich meine „Martysburg Surrogate“ gelesen habe, das beste Buch wohl, das ich je geschrieben habe, erstmals eins voller Humor. Wow – wie lange kennen wir uns als Schriftsteller – 45 Jahre? Gelobt hat er mich, glaube ich, wohl noch nie.

 

 

Amputation

für

Max Ackermann / George Adams / Rainer Baumann / Wilhelm Ferdinand Bendz / Luciano Bianciardi / Katharina Brandis / Camilo Marcelo Catrillanca Marin / Christian III. Moritz / Walter Cramer / Jacques Davila / Manuel de Falla / Franz Josef Degenhardt / Rosso Fiorentino / Morten Grundwald / Thaddäus Haenke / Ernst Happel / Georg Wilhelm Friedrich Hegel / Rolf Hoppe / Justinian I. / Paul Klinger / Wilhelm Lachnit Gottfried Wilhelm Leibniz / Maruyama Gondazaemon / Edmund Meisel / Hector Hugh Munro / Alexander Jaroslawitsch Newski / Nichiren / Mario Nuzzi / Jean Paul / Tony Richardson / Wolfgang Schreyer / Ludwig Michael Schwanthaler / Song Taizu / Tosa Mitsuoki / Flora Tristan / Orhan Veli / Booker T. Washington / Paul Wieczorek

 

Das kam uns vor wie eine Amputation:

Aguerre, Teneriffa, 1495: die Spanier besiegen die Ureinwohner der Kanarischen Inseln, die Guanchen / 1861 geht die preußische Korvette „Amazone“ vor der niederländischen Küste im Sturm unter, mehr als 100 Seeleute sterben / 1909 kollidiert das französische Passagierschiff „La Seyne“ vor Singapur mit einem britischen Dampfer und sinkt, 101 Tote / 1940 zerstören deutsche Bomber die Altstadt von Coventry, 568 Menschen kommen ums Leben / Stéblová, Tschechoslowakei, Eisenbahnunfall, 118 Menschen kommen ums Leben.

 

 

15. NOVEMBER

 

O.K.

mit

Dieter Aschenborn / Ed Asner / James Graham Ballard / Giovanni Battista Belzoni / George Bizos / Jorge Bolet / Hans Dominik / Dugazon / Joy Fleming / Carlo Emilio Gadda / Hara Tamiki / Ali Haurand / Wilhelm Herschel / Johann Heinrich Justus Köppen / Emil Krebs / Johann Caspar Lavater / Susanne Lothar / Gerd Mackensen / Clyde MacPhatter / Mantovani / Georgia O’Keeffe / Heinz Piontek / Emmy von Rhoden / Johannes Erwin Eugen Rommel / Francesco Rosi / Sakaida Kakiemon / Miriam Schapiro / Johannes Secundus / Claus Philipp Maria Schenk Graf von Stauffenberg / Hara Tamiki / Tony Thompson / Logan Whitehurst / John Whiting

 

Da gaben wir unser O.K.:

Madrid, 1530: Ende des Englisch-Spanischen Krieges / 1825 erkennt Portugal die Unabhängigkeit Brasiliens an / Genf, 1920: Erste Sitzung des Völkerbundes / Deutschland, 1923: Einführung der Rentemark, Ende der Inflation / 1966 schafft der Vatikan den „Index Librorum Prohibitorum“ ab / 1974: Errichtung der internationalen Energieagentur durch die OECD / 2005 entfällt die Sperrstunde in britischen Pubs.

 

Ich notierte:

1981: Sonntag. Heute frei und morgen wieder Schicht. Ich spüre, wie man für Verlockungen in den „Zwischenzeiten“ anfällig wird: Fernsehen, Biertrinken, Dösen…

1982: Ich frage mich mal wieder, ob mein Leben nichts als die ewige Suche nach dem für drei Menschen notwendigem Geld sei, da erfahre ich von Jeanny, dass Cathi auf einer Klassenarbeit, die sie verbockte, meine Unterschrift gefälscht habe. Schock. Meine Tochter macht so was? Vertrauensverlust? Von ihr? Von mir? Was mache ich denn falsch? Wie sollte ich sonst leben, wo? Als was? Gut, dass ich nach Deuben, dass ich arbeiten muss.

1983: Ufa. Halb elf Frühstück in einem riesigen Saal in dem auch noch eine Band spielt, zum Frühstück, meingott! Danach sollen fünf Leute zu einem Pressegespräch, möglichst von jeder Kunstsparte einer, der Rest zur Stadtrundfahrt. Da ich der einzige Schriftsteller der Gruppe bin, melde ich mich freiwillig. Doch der Reiseleiter lehnt ab. So habe ich denn die Folgen meines gestrigen Auftritts auszukosten: Die Stadtrundfahrt erweist sich als Fahrt zu einem Kulturhaus, wo eine Probe unseres Singeklubs stattfinden soll. Na prima, zwei Stunden blödes Rumsitzen. Dann Rückfahrt zum Mittagessen. Auch in Ufa beginnt es zu schneien. Schaler Beigeschmack... Schließlich doch Stadtrundfahrt, Neubaublöcke, triste Boulevards, hie und da ein altrussisches Häuschen, Denkmal des Dichters und Nationalhelden Salawat Juljajew, Höhepunkt: Einkaufsmöglichkeit in einem Glasgeschäft. Viktor, unser Dolmetscher, preist die Einzigartigkeit baschkirischer Glasprodukte. Nun gut. Einige unserer Leutchen scheinen jedoch in einen wahren Kaufrausch zu verfallen, was uns eine dreiviertel Stunde Verspätung einbringt. Die wird dann beim Abendbrot wieder rausgeholt...Hopp, hopp alles ab zum Festival des politischen Liedes! Glücklicherweise hatte Achim schon von Halle aus ein Gespräch mit dem Vorsitzender der hiesigen Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft vereinbart, um eine Anthologie baschkirischer Lyrik zu edieren. Ich schließe mich an. Wir werden zum Sekretariat des Schriftstellerverbandes gebracht. Freundliches Gespräch. Mir wird sogar versprochen, eine Übersetzung von Geschichten schreibender Schüler, die ich mitbrachte, anfertigen zu lassen. Wäre schön, wenn’s klappt. Dann doch zu diesem Festival, als befürchtete man, wir könnten etwas verpassen... Uni, Audimax. Hier kreischt und fiept das politische Lied... Endlich Schluss. Unsere Reiseleitung überreicht überschwänglich Gastgeschenke. Umarmungen. Dann ein Kurz-Steh-Prasdnik-Bankett. „Toi“ heißt angeblich „Fest“ auf Baschkirisch. Na, da können wir uns wohl nur noch toi, toi, toi wünschen. Denn als wir im Hotel ankommen, hat hier schon alles geschlossen.

1999: Ein zwar frostiger, doch nachgerade wunderbar sonniger Tag. Jeanny und ich laufen durch Antwerpens Altstadt, die in dieser Illumination zahlreiche weitere Reize offenbart. Zuerst laufen wir fast die gleich Strecke wie gestern Abend, genießen den Blick über die Schelde, beäugen die alte Burg, den Steen, laufen dann bis zum romantischen Beginenhof, schlendern schließlich zum Bahnhof und dann die Keyserlei, die Prachtstraße mit all den Juweliergeschäften und den Brillantenschaufenstern hinauf. Zu Mittag isst Jeanny einen gewaltigen Topf frischer Muscheln, ich genieße das Dagmenue: Vorsuppe, Steak mit Pommes und Apfelkuchen und natürlich gutes Bier. Danach braucht mein Abendvortrag noch eine besondere Vorbereitung: ein Nachmittagsschläfchen. Am Abend dann mein Vortrag in der altehrwürdigen Handelshochschule. Hörsaal voller Studenten, auch einige Professoren und Mitarbeiter der Landesvertretung Sachsen-Anhalts aus Brüssel. Beim Reden habe ich ein ganz gutes Gefühl, dass das, was ich zum vereinbarten Thema „10 Jahre Wende aus der Sicht eines ostdeutschen Schriftstellers“ zu sagen habe, ganz gut ankommt und verstanden wird. Gleich nach dem Vortrag lebhafte Diskussion mit einigen Zuhörern. Schließlich laden uns Thomas und Elke vom Landesbüro zum Abendessen ein. Großes Interesse an meiner und der Arbeit des Friedrich-Bödecker-Kreises. Da könnte einiges an Zusammenarbeit erwachsen.

2000: Zwei Lesungen in Magdeburg. Sehr gut und anregend beide. Dann ins eine-welt-Haus zu letzten Absprachen vor unserer großen Jubiläumsfeier am Freitag. Weiter zu Heinz Kruschel, um ihn über alles persönlich zu informieren, was zum Bödecker-Jubiläum so alles laufen soll. Ganz ruhig versuche ich das und so funktioniert es offenbar auch. Im Hotel diverser Schriftkram. Am Abend mit Jan de Piere zu Harry Ziethen, um über unser Buch zu sprechen. Das läuft dann aber und völlig unerwartet nicht so gut. Harry sieht nicht so recht, dass da zwei Leute aufeinander zugegangen sind, sieht kein Konzept verwirklicht, hätte sich vor allem gewünscht, dass Jan auf meine literarischen Angebote eingegangen wäre, hackt auf Jans Teil herum... Ist er pleite oder was? Ich verstehe es nicht. Seltsamer Vorgang, zumal er mir auch seit Wochen eine Kalkulation für das nächste Schülerschreibbuch vorenthält. Ich bin ein bisschen ratlos.

2020: Heute schon meine zweite Video-Konferenz – ein Testlauf für die nächste PEN-Tagung, die am Freitag als Video-Konferenz stattfinden soll…

2022: Die Medien melden, dass die UNO gesagt habe, die Weltbevölkerung überschreite heute die 8-Milliarden-Grenze…

 2023: Am Nachmittag leite ich seit langem mal wieder einen Schreib-Workshop in der Leunaer Stadtbibliothek.

K.O.

für

Michael James Adams / Albertus Magnus / Julián Apaza Nina / W. Ross Ashby / Lionel Barrymore / Gabriel Bethlen / Andrzej Bursa / Louis Canivez / Mohamed Choukri / Johann Amos Comenius / Peter Rudolf de Vries / Balthasar Denner / Fintan von Rheinau / Jean Gabin / Laurence Gandar / Christoph Willibald Gluck / Hans Christian Gram / Niels Peter Høeg-Hagen / Gerhart Hauptmann / Pantaleon Hebenstreit / Charles Jones / Johannes Kepler / Johanna Kinkel / William Murdoch / Meret Oppenheim / Henry Pacholski / Bertha Pauli / Penda / Adolf Pichler / Tyrone Edmund Power III. / Emilio Pujol / Wilhelm Raabe / Anlloyd Samuel / Max Walter Schulz / Annemarie Schwarzenbach / Johann Christian Senckenberg / Henryk Sinkiewicz / Max Spohr / Johann Staden / Paul Thiersch / Kwame Ture / Dorothea Viehmann / Gerhard Zachar / Juliusz Zarębski

 

Da gingen wir K.O.:

1533 erobert und plündert Francisco Pizarro die Inka-Hauptstadt Cuzco / Berlin, 1884: Beginn der Kongokonferenz zur kolonialen Aufteilung Afrikas / 1956: Niederschlagung des ungarischen Aufstandes / Colombo, 1978: Absturz einer DC-8 beim Landeanflug, 183 Menschen kommen ums Leben / 1983: Teilung Zyperns / Istanbul, 2003: Sprengstoffanschläge auf zwei Synagogen, 24 Todesopfer / Bangladesh, 2007: Zyklon, 3.447 Menschen sterben.

 

 

16. NOVEMBER

 

Exkursion

mit

Girolamo Abos / Chunia Achebe / Joe Appiah / Kazys Binkis / Engelbert Brinker / Henri Charrière / Eddie Condon / Jean-Baptiste le Rond d’Alembert / Antonio Gades / Jónas Hallgrímsson / W. C. Handy / Paul Hindemith / Kalākaua / Giorgios Karaivaz / Julius Leber / Karel Hynek Mácha / Casimir Jerzy Oberfeld / Friedrich Pincus / France-Albert René / José Saramago / Werner Sellhorn / Hubert Sumlin / Tiberius / Max Zimmering

 

An diesem Tage fühlten wir zielsicher auf einer Exkursion:

1904: Gründung von Grytviken als Hauptstadt Südgeorgiens / Duetschland, 1909: Gründung der ersten Fluggesellschaft der Welt, der DELAG / Schweiz, 1938: erste Herstellung von LSD / London, 1945: die Verfassung der UNESCO wird beschlossen / 1965 startet die sowjetische Raumsonde „Venera 3“ zur Venus / Puerto Rico, 1974 Sendung der „Arecibo-Botschaft“ an Außerirdische.

 

Ich notierte:

1983: Ufa. Nach dem Aufstehen süßer Quark und hopp hopp in den Bus. Besuch einer Kunstgewerbefabrik, Teppiche, Holzlöffel, Gardinen besichtigen. Dann zum Essen und hopp hopp in die Musik- und Theaterausbildungsstätte, genannt Akademie. Professor Soundso empfängt uns, sein Auftritt wird von seinen Auszubildenden heftig fotografiert und gefilmt. Dann üben Schauspieleleven für uns eine Tschechow-Szene, ständiges peinliches Dazwischenfahren des Ausbilders, klar, hier soll vor allem gezeigt werden, wer hier der Meister ist. Dann spielt eine Studentin des Klavierfaches am Klavier ein Klavierstück des Rektors, Professor Soundsos. Und anschließend konzertiert das Balalaika-Orchester. Und anschließend konzertieren Kinder der Spezialklasse für Musik, Musikschüler eben. Auf der Rückfahrt zum Hotel frage ich Viktor, ob es vielleicht möglich sei, dass wir an die von Ufa doch sicherlich nicht sehr weit entfernte Grenze zwischen Europa und Asien gefahren werden könnten. Viktor schweigt, doch mustert mich, als hätte ich gesagt, mir gefalle das Programm nicht oder wolle er gleich sagen: Wärt ihr doch pünktlich gekommen! Nun gut. Nach dem Abendessen hopp hopp zum eigentlichen Anlass unseres Besuches hier: das Kampfmeeting der Ufaer Jugend und ihrer Freunde für den Frieden! Die Probe durfte ich ja bereits miterleben. Nun beginnt das Programm mit Parolen, lauthals geschrien, Parolen, immer wieder. Wir sitzen hinter Afghanen, ihr Betreuer ein sowjetischer Oberleutnant. Singsang auf der Bühne, dann werden ordenbehangene Veteranen ans Mikrofon gebeten, haben von ihren Heldentaten zu berichten. (Hat Bolle seine Spange an? Gottseidank nein.) Ein steinalter tatarischer General am Stock kommt als letzter an die Reihe, klar Hierarchien sind hier alles. Als er wieder von der Bühne stakst, will ihm eine Frau behilflich sein. Doch das lehnt er brüsk ab, verharrt an der Treppe bis ihm ein junger Mann den Arm bietet. Zum Finale werden Achim und ich plötzlich aufgefordert mit auf die Bühne zu steigen. Da wir die einzigen Bärtigen hier sind oder weshalb? War das geplant oder was? Es hilft nichts, wir müssen. Also hüpfen wir letztlich Hand in Hand mit allen möglichen Leutchen in einer Art Polonaise von der Bühne durch den Saal. Und das Fernsehen hält voll drauf. Hallo! Nächsten Dienstags soll’s sogar landesweit, von Brest bis Wladiwostok also ausgestrahlt werden (hören wir). Also nochmals winken und freundlich gehüpft... Vielleicht haben die Kellner im Hotel unseren Auftritt dufte gefun­den. Tatsächlich können wir heute Abend noch ein paar Flaschen Wein kaufen. Und dann haben auf einmal alle aus der Gruppe (ausgenommen der Leitung, versteht sich) das Bedürfnis miteinander zu reden, zu trinken, zu scherzen, ja einander erstmals vorzustellen. Mangels eines geeigneten Raumes setzen wir uns in den Flur. Das allerdings ruft die Etagenfrau, die Deschurnaja, auf den Plan. Gekeife, Gekreisch. Sie werden die Administration holen, ja die Miliz! Viktor versucht zu beschwichtigen. Am Ende quetschen sich 23 Mann in ein 2-Bett-Zimmer. Na denn, Prost!

1999: Antwerpen. Nach dem Frühstück in die St. Jacobskirche zu Rubens Grab. Dann Besichtigung des Rubens-Hauses und zu guter Letzt in die imposante Liebfrauenkathedrale wo auch zwei weltberühmte Rubens Gemälde hängen, die „Kreuzerrichtung“ und die „Kreuzabnahme“. Am Nachmittag habe ich wieder zu arbeiten, während Jeanny im Hotel bleibt. Ich diskutiere mit drei Seminargruppen in der Handelshochschule, jeweils anderthalb Stunden, anstrengend, aber interessant. Deutlich wird, dass die hiesigen Studenten kaum über die ostdeutsche Situation Bescheid wissen, das aber weniger Desinteresse oder Ignoranz, denn vielmehr der schlecht informierenden Medienlandschaft zuzurechnen ist. Denn wie gesagt, die Seminare knistern förmlich von gespannter Aufmerksamkeit. Auch mit Jan komme ich heute immer besser ins Gespräch. Er erzählt mir nicht nur seine Familiengeschichte (einschließlich Eheproblemen und Scheidung, doch auch von den Ursprüngen seines Faibles für die deutsche Sprache, die wohl auf eine österreichische Stiefschwester zurückgeht), sondern sogar, dass er sich im Juni, als er zur Interlese in Sachsen-Anhalt war, in eine bulgarische Dolmetscherin verliebt habe. Ja, er zeigt mir sogar einen so entstandenen Gedicht-Zyklus, einen Zyklus, den er bislang noch niemanden gezeigt habe, aber nach meiner so offenen und eindringlichen Seminararbeit wolle er nun auch ganz offen sein... Wir kommen so weit, dass wir als Idee ein gemeinsames Buch erwägen: Flame schreibt über einen Deutschen und seine Heimat, Deutscher schreibt über einen Flamen und dessen Land. Verbindungsglied: die deutsche Sprache. Immerhin arbeitete Jan über deutsch-flämische Homonyme. Das könnte ein reizvoller Ansatz sein. Wir versprechen uns, intensiv darüber nachzudenken und da wir uns im Dezember bereits wieder sehen werden, da ich Jan zu einer Konferenz nach Genthin einladen konnte, wollen wir mal sehen, ob wir bis dahin in unseren gemeinsamen Intensionen und Möglichkeiten schon ein bisschen weiter sind.

2000: Nach dem Frühstück mit Jaroslaw Tichy nach Wanzleben. Duplizität der Ereignisse: Als ich vor Jahren schon einmal der „Kraftfahrer“ für Tichy war, verbrannte der mir mit einer Zigarette den Autositz, heute zerschramme ich mir bei der Einfahrt in den engen Bibliothekshof den hinteren Kotflügel... Mist.

Am Nachmittag wieder ins eine-welt-Haus. Fernsehinterview. Am Abend mit allen nun anwesenden Interlese-Autoren zum Abendessen: Viktor Timtschenko aus der Ukraine kam noch hinzu und auch Karin Gündisch aus Rumänien. Der Bödecker-Ehrenvorsitzende Hans-Georg Noack zieht es vor im Hotel zu bleiben, nachdem er mich beschimpfte, weil ich ihm angeblich nicht die richtige Klassenstufe für seine morgige Geburtstagslesung organisierte...

 

2023: Heute Vormittag lese und singe ich für die beiden Vorschulgruppen des Kindergartens Merseburg-West. Sehr aufgeschlossene Kinder, die Märchen kennen, mit ihren Betreuerinnen sogar schon mal im Dom waren und mir zum Abschied ein Merseburg-Lied singen. Na bitte, es geht doch!

 

Extraktion

für

Ignacio Aldecoa / Sofonisba Anguissola / Antonia S. Byatt / Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz / Muhyī d-Din Ibn ’Arabi / Ignazio Ellacuría / William Clarke Gable / Fritz Greiner / Gustav II. Adolph / Johannes Lucas von Hildebrandt / Usama ibn Munqidh / Adolf Abramowitsch Joffe / Josef Kainar / Pehr Kalm / Ahmed Kaya / Alice Liddell / Carl von Linde / Joan Lindsay / Arthur Martens / Johann Albert Werner Munzinger / Othmar / Marian Paradeiser / Julius Petri / Paul Pörtner / Adolf Reinach / Wilhelm Heinrich Riehl / Louis „David“ Riel / Sattar Khan / Godefridus Schalcken / Abbas Mirsa Scharifzadeh / Heinrich Schütz / Edie Sedgwick / Robert Holbrook Smith / Georg Tappert / Carry van Bruggen

 

Das kam uns wie eine Extraktion vor:

1846 annektiert Österreich die Republik Krakow / 1888. Beginn des dritten Anglo-Birmanischen Krieges / Ostende, 1937: eine JU-52 streif bei der Landung einen Fabrikschornstein und stürzt ab, 11 Tote.

 

 

17. NOVEMBER

 

Motivation

mit

Grace Abbott / Lothar Aermes / Nicolas Appert / Arman / Max Barthel / Agnolo Bronzhino / Jeffrey Scott Buckley / Karl Eduard von Bülow / Gene Clark / Peter Edward Cook / Voltairine de Cleyre / Luce Douady / Anna Feldhusen / Carl Gassner / Curt Goetz / Sarah Harding / Rudolf Hirsch / Rock Hudson / Christa Johannsen /  Ellis Kaut / Jacqueline Lamba / Archibald Lampman / Berta Lask / Gordon Lightfood / Daschdordschiin Natsagdordsch / Günter Naumann / Noguchi Isamu / Toni Sailer / August Sander / Geoerge Silk / Arthur Spanier / Max Spohr / Robert Dean Stethem / Lee Strasberg / Karl Ole Rasmus Villumsen / Roger Vitrac / Vespasian / Lew Semjonowitsch Wygotzki

 

Das motivierte uns:

Jena, 1846: Carl Zeiss eröffnet seine Werkstätte / Ägypten, 1869: Eröffnung des Suez-Kanals / Innsbruck, 1963: Inbetriebnahme der Europabrücke im Zuge der Brenner-Autobahn / Helsinki, 1969: Beginn der SALT-1-Verhandluzngen zwischen der Sowjetunion und den USA / 1970: Patent für die EDV-Maus / 1970: rollt das sowjetische „Lunochod 1“ über den Mond.

 

Ich notierte:

1980: Mal wieder eine Woche Studium. Am Abend, Jeanny ist auf Nachtschicht, lege ich mir eine Platte von Vroni Fischer auf. Oh verdammt, dass die nun nach Franz Bartzsch auch rüber ist. Da kommt mal wieder was nie wieder, nie. Ich kenne die beiden noch seit den Anfängen, nicht nur einmal hatten wir im Jugendklubhaus Leuna zusammen gebechert. Und später, als sie schon berühmt waren, grüßte man sich immerhin stets noch, wenn man sich sah. Ach, was ist das bloß für eine Zeit. Wer bleibt denn noch? Angst vor Kommunikationsverlusten.

1982: Verbandsexkursion zur Kunstausstellung nach Dresden, beizeiten los. Doch ich sehe, in Cathis Zimmer brennt schon Licht. Sie liegt im Bett und liest, erzählt, sie habe nicht mehr schlafen können, habe schlecht geträumt: ein Gespenst wäre auf die Kinder losgegangen und sie sei gestolpert. Ich sei aber achtlos an ihr vorbeigegangen, als hätte ich sie nicht mehr lieb. Und da habe das Gespenst sie weggezogen… Ach, Cathi.

1983: Ufa. Da das Frühstück einmal mehr so gut wie ungenießbar ist, nichts zu trinken, nicht mal ein Glas Wasser (gegen das sich hierdurch entwickelnde Murren versucht der Reiseleiter immerhin anzuerklären, dass er laut Vertrag vereinbart habe: pro Essen ein Getränk!) fahren Achim und ich mit dem Taxi sofort zum Sekretariat der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft. Misstrauisch wird uns nachgeblickt, dabei wollen wir doch bloß noch einmal über die geplante Anthologie sprechen. Eigentlich hatten wir schon gestern kommen sollen, doch Viktor, der Russe ist, hatte uns gesagt, der Vorsitzende, der Baschkire ist, habe keine Zeit für uns an diesem Tag. Nun stellt sich aber heraus, dass der Vorsitzende gestern auf uns gewartet hatte... Insofern wundert mich nicht, dass das Gespräch vor allem darum kreist, die Gedichte eines in Ufa wohnen­den Russen aus dem Manuskript zu streichen, ausschließlich Texte von Baschkiren zu übersetzen und zu veröffentlichen. Schlussargument des Vorsitzenden: Wer soll schon die Baschkiren loben, wenn nicht die Baschkiren selbst! Hatten wir am Rande in diesen Tagen nicht irgendwo gehört, dass Baschkirien im nächsten Jahr den 425. Jahrestag des freiwilligen Anschlusses an Russland feiern werde? Wahrscheinlich kommt es hier auf die richtige Aussprache von „freiwillig“ an, wahrscheinlich wird das begangen. Der Vorsitzende lässt uns in seinem Dienst-Moskwitsch zum Uniwermag bringen, zum größten Kaufhaus am Platze. Hastiges Geschenkekaufen, Nippes, aber was soll’s. Um zwölf müssen wir zurück im Hotel sein. Hastiges Kofferpacken, hastiges Mittagessen und hopp hopp in den Bus. Es beginnt leicht zu schneien, der angesagte Schneesturm bleibt allerdings aus. Schon sah ich wieder die in der Flughafenhalle wie erschossen in langer Reihe liegenden Wartenden vor mir. Zumindest so viel hatte ich begriffen: der Einzelne, ein Menschenleben zählte hier, in diesem Riesenreich nichts, gar nichts.

Auf dem Flughafen werden wir jedoch sehr zügig und freundlich abgefertigt. Ehe wir uns versehen, sind wir schon in der Luft. Und da die Flugzeit nur einsfünfundvierzig, die Zeitverschiebung aber zwei Stunden beträgt, sind eine halbe Stunde vor Abflug bereits in Domodedowo. 15.00 Uhr. Um 18.00 Uhr wieder im Moskauer Quartier. Duschen, schön. Überhaupt fühle ich mich nun irgendwie heimisch in Moskau. Die Stimmung steigt, auch bei den anderen offenbar. Die Ungewissheiten werden geringer. Und eine Gewissheit wird größer: Es geht nach Hause, zweifellos! Nach dem Abendessen fährt das „bewährte Moskau-Team“, fahren Achim, Bolle und ich mit dem Taxi noch einmal in die Stadt, ins neue Kaufhaus „Moskowskoje“. Wir bleiben bis zur erfreulich späten Schließzeit, bis 21.00 Uhr, kaufen, die Mitbringsel, die es in Ufa nicht gab. Dann hockt in der Fußgängerunterführung am Leningrader Bahnhof ein Mann ohne Beine auf einem primitiven Holzwäglein und bettelt uns an. Und noch eine neue Erfahrung: In der Hotelbar kommen wir mit einem NDR-Team ins Gespräch. Einer der Redakteure lobt das Land über alle Maßen, behauptet, in Hamburg sogar ein russisches Restaurant zu führen. Tja, die Welt scheint tatsächlich anders, als man uns daheim in unserem kleinen Ländchen weiszumachen versucht.

2000: Nun ist er also heran, der Bödecker-Geburtstag, für den ich seit gut einem halben Jahr die „Strippen gezogen“ habe. Halb acht los in die Magdeburger Einstein-Schule, wo am Vormittag alle 27 Klassen nun je einen Autor abbekommen sollen. Und im Prinzip klappt es dann auch. Gut so, denn „das Fernsehen“ ist dabei. Von da hetze ich ins eine-welt-Haus, wo nun ab Mittag das Hauptprogramm läuft. Zuerst Pressegespräch, nun gut, das übliche Pressedesinteresse an good news, aber immerhin ist die „Volksstimme“ vertreten. Dann die Jubiläums-Mitgliederversammlung. Festrede: Otto Fuhlrott, Grußworte u.a.: Hans Bödecker, Herrmann Quien für den Landtag (mit Zusicherung der weiteren Unterstützung!), Hans Bernd Günter für den Kultusminister (mit Zusicherung der weiteren Förderung!). Dann InterLese-Kolloquium, läuft so lala... Dann Lesung schreibender Schüler und zu guter Letzt der Deutsch-Bulgarische Abend mit Rotwein und Büffet und so. Und wer jetzt noch da ist, von den lieben Kollegen, dürfte wohl auf jeden Fall auf seine Kosten kommen. Gegen zehn mache ich mich auf die Heimfahrt, bin gegen Mitternacht reichlich geschlaucht mal wieder zu Hause...

2022: Am späten Nachmittag Premiere meiner neuen „Merseburger Persönlichkeiten“ in der Hofstube des Schlosses. Gut besucht. Zuvor war ich jedoch reichlich nervös geworden, da die Premierenbücher erst vier Stunden vor Beginn aus der Druckerei geliefert wurden.

 

2023: Deutschlandweiter Vorlesetag. Ich lese zuerst mit dem Merseburger OB, dann mit dem Kulturausschuss-Vorsitzenden im Domgymnasium, am Nachmittag mit Klaus-Dieter Urban bei der Arbeiterwohlfahrt in Leuna. Zaubersprüche selbstredend.

 

Metapher

für

Georges Besse / Jakob Böhme / Ruth Brown / Arthur Conley / Elisabeth von Thüringen / Friedrich II. „Der Große“ / Gertrud von Helfta / John Glascock / Gregor von Tours / Herman Hollerith / Ricarda Huch / Alan Hull / James Price Johnson / Michael Karoli / Katharina II. die Große / Helmut Kolle / Yitzhak Lamdan / Wilhelm Lehmann / Alain-René Lesage / Doris Lessing / Audrey Geraldine Lorde/ Martin Mair / Robert Owen / Giovanni Pico della Mirandola / Gobelin Person / Ferenc Puskás / Vincent Reffet / Joachim Ringelnatz / Auguste Rodin / Victor Serge / Natela Swanidse / Dorothea Viehmann / Heitor Villa-Lobos / Young Dolph

 

Dafür fanden wir keine Metapher:

1874 sinkt das britische Segelschiff „Cospatrick“ im Südatlantik, 467 Todesopfer / 1905 wird Korea japanisches Protektorat / Athen, 1973: Niederschlagung einer Studentenrevolte, mindestens 24 Tote / Luxor, 1997: Terroranschlag vor dem Hatschepsut-Tempel, 58 Menschen kommen ums Leben.

 

 

18. NOVEMBER

 

Zentrierung

mit

Sait Faik Abasıyanık / Tschabua Amiredschibi / Rudolf Bahro / Alain Barrière / Pierre Bayle / Len Bias / Canela / Donald Eugene „Don“ Cherry / Louis Daguerre / Wolfgang Heribert von Dahlberg / Richard Dehmel / John Langdon Down / Eduard Duller / Carl Friedrich Christian Fasch / Robert Graf / Anton Graff / David Hemmings / Pedro Infante Cruz / Joris Ivens / Poul F. Joensen / Frank Köllges / Lamoral von Egmond / Wyndham Lewis / Louis Ferdinand von Preußen / Klaus Mann / Hannes Mayer / Ana Maria Mendieta / Johnny Mercer / Madeline Charlotte Moorman / Adolf Erik Nordenskiöld / Ignacy Jan Paderewski / Klaus Poche / Qabus bin Said / Hans Reimann / Compay Segundo / Alan Shepard / Antun Branko Šimić / Andreas Tscherning / Carl Maria von Weber / Friedrich Weinreb / Ulrich Wildgruber / Johannes Jacobus „Joost“ Zwagermann

 

Da schein uns manches auf den Punkt gebracht:

Rom, 1626: Einweihung des Petersdomes / Warschau, 1705: Friedensschluss im Großen Nordischen Krieg zwischen Polen-Litauen und Schweden / Wien, 1738: Frieden im Polnischen Thronfolgekrieg / 1841: Ende des Bolivianisch-Peruanischen Krieges / 1918 erklärt Lettland sein Unabhängigkeit / 1926 Bildung des Commomwealth of Nations / 1928 hat Mickey Mouse den ersten Sauftritt im Zeichentrickfilm „Steamboat Willie“.

 

Ich notierte:

1980: Leipzig, Literaturinstitut. Heute lese ich im Prosa-Seminar aus meinen neuen Texten, empfinde beim Lesen Sicherheit und dann Kritik als Hilfe. Rothbauer sagte, da sei noch einiges an Spreu, es seien aber auch schon gute Weizenkörner zu finden. Die Spreu wolle er mir demnächst genau aufzeigen. Ich hoffe, dass diese nicht meine Weizenkörner sind…

1983: Moskau. Gestern Nacht ging alkoholisch doch einiges durcheinander: Sekt, Bier, grusinischer Wein, Cognac. Trotzdem raffen wir uns zu einem letzten Stadtbummel auf. Die letzten Rubel ausgeben. Halb zwölf Abfahrt vom Hotel, gegen Eins erreichen wir den Internationalen Flughafen Scheremetjewo 2. Reibungslose Abfertigung. In der Hallenbar häufeln wir die allerletzten Kopeken für ein allerletztes Moskauer Bier auf. Dann durch den roten Einstiegsschlauch direkt ins Flugzeug. Und ich habe erstmals einen Fensterplatz! Endlich kommen drei Dinge zusammen, die ich mir wünschte: Tag-Flug, Pünktlichkeit und Aussicht. Ich genieße die langsam unter mir wegziehende Landkarte, die Wolkenformatio­nen, das Türkis des Himmels, dann das dunkle, schwere Blau, lasse mich selbst durch gleißendes Sonnenlicht nicht abschrecken. Und welche Freude bei allen, als es deutsche Kost gibt! Alles juchzt bei Hühnchen und Schinken und Berliner Pils. Letzte Spannungen in der Gruppe verfliegen, Adressenaustausch. Und schon setzt die Maschine zur Landung an.

1989: Endlich mal wieder ein Tag am Schreibtisch zu Hause. Nur Sitzungen, Versammlungen, Diskussionen, meist bis spät in die Nacht hinein. Eine der Diskussionen traf mich doch sehr: am Mittwoch auf Arbeit hatten sich plötzlich die beiden Mitarbeiterinnen, die sich eigentlich spinnefeind waren und seit langem im Büro das Klima vergifteten, zusammengetan und zogen nun gegen mich, den Chef, los. Vorwurf: ich sei der Grund allen Übels, ihrer bisherigen Feindschaft natürlich sogar. Das Peinliche ist gut zu verkraften, spricht für sich selbst, das Verdrehen von all dem, was wir hier – durchaus auch gemeinsam – für junge Schreibende hinzukriegen versuchten, schmerzt. Da eigentlich schon klar ist (obwohl ich mit Kuhbach noch nicht darüber sprechen konnte, wie das mit dem Literaturzentrum weitergehen soll), dass alles umstrukturiert werden soll (ich dann mit Sicherheit nicht mehr zur Verfügung stehen werden) die Arbeit des Literaturzentrums bedeutungslos wird. Dieses Gekeife hätten sich die Damen (beides Frauen von „lieben“ Kollegen, von mir einst auf deren Bitten eingestellt) sparen können – gut, für die bin ich nun die Obrigkeit, gegen die man anschreien muss… Vierzehn Tage muss ich nur noch offiziell hier erscheinen, dann habe ich Urlaub und dann…

2000: Am Abend nach Magdeburg mit Jeanny. Wir sind von den Chefs der MIDER-Raffinerie zum Landespresseball eingeladen. So sehr ich heute vielleicht mal meine Ruhe gehabt hätte, kann man solch einen Termin natürlich nicht ausschlagen. Und so steif oder langweilig wie ich befürchtet hatte, wird der Abend dann gar nicht. Mit Dr. Gieseler, dem MIDER-Chef, lässt sich gut plaudern, das Büffet ist hervorragend, das Rahmenprogramm kurzweilig. Erst gegen zwei Uhr nachts ziehen wir uns ins Hotelzimmer, eine Etage überm Festsaal zurück.

2021: 65.000 Neuinfektionen an einem Tag… Der Bundestag beschließt, die „epidemische Notlage“ für ganz Deutschland nicht zu verlängern… Ich storniere alle für die nächste Zeit geplanten Kurz-Trips…

 

Zeitverlust

für

Aleijandinho / Micha Josef Berdyczewski / Bessarion / Niels Bohr / Cab Calloway / Gia Marie Carangi / Bartolomeu de Gusmão / Paul Éluard / James Abram Garfield / Abdullah Goran / Slide Hampton / Wilhelm Hauff / Karl Hecker / Horst Hussel / Jeanne-Claude / Heinar Kipphardt / Matthía Jochumsson / Man Ray / Walter Nernst / George Emil Palade / Marcel Proust / Ned Rorem / Leo Joseph Ryan Jr. / Douglas Wayne Sahm / Jacob Schweppe / Ruth Crawford Seeger / Mauritz Stiller / Leonard Joseph „Lennie“ Tristano / Malcolm Young / Nikolaus Zrinski

 

An diesem Tage verloren wir Zeit:

Clermont, 1095: Beginn des Konzils, auf dem für den Ersten Kreuzzug geworben wird / Dordrecht, 1421: Sturmflut, bis zu 10.000 Todesopfer / 1904 rammt das britische Dampfschiff „Hilda“ vor der bretonischen Küste ein Riff und sinkt, 125 Tote / Harwich, 1939: der niederländische Ozeandampfer „Simon Bolivar“ gerät in ein Minenfeld und sinkt, 102 Menschen kommen ums Leben / Jonestown, Guyana, 1978: beim Massenselbstmord von Anhängern des Peoples Temple sterben mindestens 900 Menschen / London, 1987: Brand im U-Bahnhof Kings Cross St. Pancrass , 31 Todesopfer.

 

19. NOVEMBER

 

Vereidigung

mit

Géza Anda / Siegfried Behrend / Hiram Bingham III. / Tamara Bunke / Elise Bürger / René Caillié / José Raúl Capablanca y Graupera / Debiprasad Chattopadhyaya / Christian II. von Sachsen-Merseburg / Ferdinand de Lesseps / Jeronim de Rada / Wilhelm Dilthey / Tommy Dorsey / Henri Frenay / Indira Gandhi / Ofra Haza / Wolfgang Jeschke / Juri Walentinowitsch Knosorow / Max Kruse / Michail Wassiljewitsch Lomonossw / Brittany Lauren Maynard / Jan Otčenášek / Vinzenz „Zenz“ Peristi / Johann Jacob Saar / Anna Seghers / Friedrich Schrader / Bertel Thorvaldsen / Gene Tierney / Friedrich Ludwig Zacharias Werner / August Willich

 

Darauf hätten wir jederzeit geschworen:

Madrid, 1819:  Eröffnung des Museo del Prado / Kuba, 1837: Inbetriebnahme der ersten Eisenbahnlinie Lateinamerikas / Berlin. 1892: Eröffnung des Theaters am Schiffbauerdamm / 1999. startet China seinen ersten unbemannten Raumflug.

 

Ich notierte:

1980: Mittags sehe ich vorm Leipziger Rathaus einen völlig verrosteten Moskwitsch stehen und bedauere es sehr, keinen Fotoapparat dabei zu haben. An der Fahrertür steht, umgeben von riesigen Rostflecken und faustgroßen Rostlöchern steht: VEB Fahrzeugvertrieb Leipzig. Als ich das dann den Kommilitonen erzähle, meint Wolfgang de Bruyn: der fahrende Beweis, dass dieses Land alles ausliefert… Später gehe ich zu Frau Professor Schmidt und frage, ob es nicht möglich sei, im Rahmen des von ihr gegebenen Unterrichts in Literaturkritik etwas über den „Wundertäter, Band 3“ zu sagen, zumal Strittmatter ja ihr erklärter Freund sei. Überraschend ihre Reaktion: Sie sagt, sie freue sich über diese Anfrage, da sie die uns hätte nicht stellen können. Jedoch sei sie beauftragt, dieses Buch nicht zu besprechen, außerdem hätten das ja gewiss noch nicht alle lesen können, bei der geringen Auflagenhöhe und all den Widrigkeiten des Buchvertriebs. Sie sei aber gern bereit, außerhalb des Unterrichts Interessanten Fragen zu beantworten… Im Seminar nehmen wir dann anlässlich des 80. Geburtstages von Anna Seghers deren Briefwechsel mit Georg Lukacz durch, der stammt aus dem Jahr 1938…

1981: Auswirkungen des Schichtzyklus: Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Gefühl mit beiden Beinen nicht mehr auf dem Boden der Realität zu stehen – dem Schreiben, völlig gestörter Rhythmus. Frage: Was fangen Schichter mit ihrer Freizeit an? Mit der Gewissheit des nächsten Schichtzyklus vor Augen? Wie tief kann man den empfinden, verstehen, leben? Gestern kam eine Karte zur Einberufungs-Überprüfung, abgeschickt am Freitag, dem 13.! Die fehlte gerade noch…

1987: Erstaunlich, wie äußerer Druck, der durch die Kontroverse mit Cathis Schule entstand, eine Familie zusammenschweißen kann. Drohungen des Elternaktivvorsitzenden. Man will offenbar alles, was in Buchenwald passierte, im Sande verlaufen lassen… Schon verstanden, wenn ich Krach schlüge, müsste es Cathi ausbaden…

1999: Über Nacht ist der Winter eingezogen. Leuna liegt am Morgen tief verschneit. Mine krietscht vor Vergnügen über die weiße Pracht. Ich denke: Gott sei Dank erst heute, zwei Tage früher und ich hätte wohl ein Problem gehabt von Antwerpen zurückzukommen... Heute muss ich nur nach Halle, Künstlerhaus, Wittekindschule, Klosterstraße. Die Straßen sind einigermaßen befahrbar, die Besprechungen und Seminare erfolgreich.

2000: Sonntag. Um sieben aufstehen, frühstücken und nach Halle, wo ich in den Franckeschen Stiftungen die Arbeitsgruppe „Geschichten“ beim heutigen Kinderkongress leiten soll. Lässt sich ganz gut an, und ich bringe meine Schüler auch nach und nach zu interessanten, ehrlichen Texten über ihre Stadt Halle. Diese Texte wiederum werden am Abend der Oberbürgermeisterin vorgelesen, die verspricht, sich um benannte Missstände zu kümmern. Möge es nützen. Am Abend seit langem mal wieder zu Hause, geschafft...

2001: Seltsamer Traum: Ich kaufe mir eine Segelyacht für eine Mittelmeerkreuzfahrt, merke dann aber, dass ich vom Segeln überhaupt keine Ahnung habe und gehe lieber wieder arbeiten…

 

Verteidigung

für

 

Abū Hāmid Muhammad ibn Muhammad al-Ghazālī / Carmen Amaya / Leopold Andrian / Antonio de Torres / Kevin Mark DuBrow / Dschāmi / James Ensor / Casimir Funk / Erving Goffman / Paul Grimm / Karl Hanusch / Carl Gustaf Hellqvist / Georg Hermann / Iwan Iwanowitsch / Danny Kalb / Wilhelm Kleinsorge / Emma Lazarus / Sanne Ledermann / Leopold von Anhalt-Köthen / Mechthild von Hackeborn / Mike Nichols / Pontianus / Nikolas Poussin / Della Reese / Alfred Gregory „Greg“ Ridley / Grigol Robakidse / João Guimarães Rosa / Frederick Sanger / Franz Peter Schubert / Bruno Schulz / Thomas Shadwell / Boris Natanowitsch Strugazki / Kurt C. Volkhart / Theobald Wolfe Tone / Xu Zhimo

 

Das war nicht zu verteidigen.

Köln, 1367: die Hanse beschließt eine Krieg gegen Dänemark / 1887 sinkt im Ärmelkanal der niederländische Ozeandampfer „W. A. Scholten“ nach der Kollision mit einem Kohlefrachter, 132 Todesopfer / Harmont, Belgien, 1918: Explosion eines Munitionszuges, mehr als 1.000 Tote / 1969 übernimmt Indonesien West-Papua nach Wahlbetrug bei einer Volksabstimmung / Funchal, 1977: eine Boeing 727 rollt über die Landebahn hinaus und stürzt in einen Abgrund, 131 Menschen sterben / Mexiko-Stadt, 1984. Explosion in einem Öllager, 500 Todesopfer / Haditha, Irak, 2005: US-Soldiers massakrieren 24 Zivilisten / Abyei, 2023: bei Kämpfen zwischen Truppen des Sudans und des Südsudans kommen mindstens 32 Zivilisten um Leben.

 

 

20. NOVEMBER

 

Drehbuch

mit

Duane Allman / Stefan Bellof / Herbert Bochow / Will Brüll / John Barnes Chance / Thomas Chatterton / Choi Eun-hee / Henri-Georges Clouzot / Wilhelm Daene / Micheil Dschawachischliwi / August Euler / Karl von Frisch / Nadine Gordimer / Hu Yaobang / Edwin Hubble / Dr. John / Robert Francis „Bobby“ Kennedy / Bernhard Klamroth / Walter Kohut / Wilhelm Georg Alexander von Kügelgen / Selma Lagerlöf / Ruth Laredo / Benoît Mandelbrot / Hermann Misch / Pauli Murray / Juliane Noack / Franz Pfemfert / Maja Michailowna Plissezkaja / Heinrich Rathjen / Wolfgang Schreyer / Friedrich-Ludwig Graf von der Schulenburg / Libertas Schulze-Boysen / David Robert „Chim“ Seymour / Lily Tembo / Miroslav Tichý / Johann Georg August Wirth

 

Da fanden wir Stoff für ein gutes Drehbuch:

1371: Beginn des Kölner Weberaufstandes / Manila, 1606: Gründung der Universität /Santo Tomas / Königs Wusterhausen, 1928: erste Bildfunkübertragung der Welt / 1945: Beginn der Nürnberger Prozesse / Lusaka, 1994: Unterzeichnung des Friedensvertrages im Angolanischen Bürgerkrieg / 1942 offizielle Eröffnung des Alaska-Highways / 1985 wird die erste Version von Microsoft „Windows“ veröffentlicht / Japan, 2000: Präsentation des ersten humanoiden Roboters.

 

Ich notierte:

1978: Dreiviertel eins steige ich in Hohenmölsen aus dem Bus. 15 Minuten Verspätung also. Um pünktlich zu sein, bleibt mir genau noch eine Stunde bis zum Zirkelbeginn. Also schnell in die Bibliothek, die entliehenen Bücher zurückgegeben, einen neuen utopischen Roman für Jeanny ausgeliehen und fertig. Die Bibliothek und die Gaststätte befinden sich im gleichen Großkastenneubau. Nur um die Ecke und rein ins Treppenhaus. Hier hängt ein gigantisches rotgrünblaues Mobile und bewegt sich nicht. Die Gaststätte ist entsprechend groß, doch völlig leer. Im Vorwort zur Speisekarte lese ich: „Die Atmosphäre unserer Räumlichkeiten trägt wesentlich dazu bei, daß unsere Gäste für einige Stunden hier Erholung und Entspannung finden können…“. Mir gegenüber eine Tür mit dem Schild Toiletten, über dem Schild ein Glasfenster. Hinter dem Fenster wischt eine Frau das Glas und beobachtet mich eingehend bei der Nahrungsaufnahme. Ich bin fertig, nach gut einer halben Stunde schon. Schade, nach fünf Stunden wäre ich vielleicht entspannt gewesen. Ich bin pünktlich in der Schule, die Siebentklässer sind auch pünktlich, die Neuntklässer werden von den Siebentklässlern entschuldigt, da sie zum Wehrkundeunterricht mussten. Ich versuche mal wieder zu erklären, was Satire ist und kann.

1981: Halle. Am Nachmittag zur Schriftstellerverbandstagung. Ich lese meinen Essay „Das Kind im Brigadetagebuch“, sehe viele erstaunte, aufmerksame Gesichter, werde danach erstmals mit Namen angesprochen.

1989: Verrückt, alles mühselig ersparte (der Notgroschen für Zeiten wie sie für mich jetzt offenbar anstehen, beschäftigungslos also) abheben und verpulvern – wie so viele jetzt hier aus Angst vor einer drohenden Währungsreform.

1999: Gestern war Mine gnatzig mit mir. Verständlich, so wenig wie ich in letzter Zeit für sie Zeit hatte. Also nehme ich mir heute einfach (und trotz drückender Schreiblasten) Zeit für sie, wir spielen im verschneiten Garten und ihrem Zimmer. Und ich gönne mit sogar ein Mittagsschläfchen, schlafe so fest ein, dass ich von einer Schwebebahn träume, die ab sofort zwischen London, Chelsea Street (gibt’s die?) und Merseburg, Strandkorb Station, verkehrt...

2000: Büro, reichlich Büro, auch zu den Pelikanen. Am Abend nach Merseburg zur Präsentation der „Merseburger Notizen“, als Mitautor darf ich neben OB und Sparkassendirektor in der ersten Reihe sitzen – gut, dass ich zu diesem hochprovinziellen Akt Jeans anhabe... Schön, dass ich so mal wieder Dr. Pleßke sehe, klar, dass wir reichlich zu schwatzen haben. Danach noch mit Steffen Looke ins sein Lokal „Ritters Weinstuben“, um die Interlese-Übernachtungen abzurechnen.

2020: Weltweit nun mehr als 55 Millionen bestätigte Corona-Fälle, mehr als 1,3 Millionen Tote, allein in den USA 250.000, in Deutschland fast 14.000. Und weltweit nehmen Protestaktionen von „Querdenkern“ und anderen Corona-Leugnern zu. Absurd, einfach absurd, was hier schon läuft und sich wohl weiter zusammenbrauen wird. Heute Nachmittag nun, wie gesagt, PEN-Kongress am Computer. Kein gutes Gefühl im Verlauf dieser Tagung, irgendwie wird der PEN zur kleinkarierten „political correct Wessi-Quatschbude“.

 

Demut

für

Seth Abderhalden / Abū l-Faradsch al.Isfahānī / Robert Altman / Dieter Bellmann / Menasse ben Israel / Wolfgang Borchert / Kaspar Brusch / Clyde Cessna / Francesco Cilea / Hebe de Bonafini / Giorgio de Chirico / Benedetto Croce / Pierre de la Rue / Albert Dietrich / Buenaventura Durruti Dumange / Helga Hahnemann / John Harington / Dieter Hildebrandt / Hu Yaobang / Herbert Kegel / Georg Kolbe / Paula Modersohn-Becker / Robert Franklin Palmer Jr. / Gunilla Palmstierna-Weiss / Charles Plumier / Dieter Rex / Anton Grigorjewitsch Rubinstein / Galina Wassiljewna Starowoitina / Jean-Marie Straub / Ludwig Sütterlin / Lew Nikolajewitsch Tolstoi / William Trevor / Anna Barbara Walch-Künkelin / Udo Walz / Zumbi

 

Das empfanden wir demütigend:

1780: Beginn des vierten Englisch-Niederländischen Seekrieges / Mekka, 1975: Besetzung der Großen Moschee, in deren Verlauf mehr als 1.000 Menschen ums Leben kommen / Ohrid, 1993: eine Jak-42 prallt gegen einen Berg, alle 116 Insassen sterben /Istanbul, 2003: Anschläge auf britische Einrichtungen, 27 Todesopfer / Kanpur, Uttar Pradesh, 2016: Eisenbahnunfall, mindestens 142 Tote / Dominikanische Repubublik, 2023, mindestens 21 Menschen kommen ums Leben / Brazzaville, 2023: Massenpanik in einem Fußballstadion, 37 Tote.

 

 

21. NOVEMBER

 

Hörspiel

mit

Abd al-Karim Qasim / Alexander Berkman / Heinz Bosl / Etta Cameron / Marko Čelebonović / Walter Dreizner / Johannes Driesch / Olav Duun / Karl Friedrich Fries / Erich Garske / Wilhelm Gemoll / Pierre Grimal / Coleman Hawkins / Keizan Jōkin / Jeanne Mammen / Jean Hippolyte Marchand / René Margritte / François Maynard / Oskar Messter / Alphonse Mouzon / Lena Muchina / Otto Müller / Fritz Novotny / Mermon Parwin / Qian Zhongshu / Friedrich Schleiermacher / Isaac Bashevis Singer / Wassil Konstantinow Tanew / Francisco Tárrega / Tosa Mitsuoki / Voltaire / Wilhelm Waiblinger / Eduardo White

 

Das hörten wir gern:

Paris, 1783: Start des ersten bemannten Heißluftballons / Frankfurt am Main, 1848: Gründung des Centralmärzvereins, der ersten modernen Partei Deutschlands / 1905 wird in Großbritannien die Röhren-Diode patentiert / 1936: Inbetriebnahme des Schkeuditzer Kreuzes, des ersten Autobahnkreuzes Europas / 1990: Unterzeichnung der Charta von Paris, in der der Kalte Krieg für beendet erklärt wird / 1995: Unterzeichnung des Dayton-Vertrages zur Neugestaltung Bosnien-Herzegowinas.

 

Ich notierte:

1995: Dayton. Friedensabkommen zwischen Serben, Kroaten und Moslems geschlossen. Endlich Hoffnung für Bosnien-Herzegowina, Hoffnung für den Balkan schlechthin, und überhaupt. Ungerührt jedoch zünden die Franzosen auf Mururoa erneut eine Atombombe.

1999: Nach Arbeit an Schülertexten mit Mine zum Mittagessen zu meinen Eltern. Gefüllter Kloß, Spezialität meiner Mutter. Es schneit mal wieder.

2018: Das letzte Mal war ich vor Beginn des Arabischen Frühlings in Tunesien, der ja hierzulande seinen Anfang nahm: die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi im Dezember 2010 in Sidi Bouzid. Nun holt mich mein alter Freund Salah im Flughafen Tunis ab. Wie damals, als wir gemeinsam im Auto nach Touzeur gefahren waren, denke ich, dass wir wiederum in einen Mietwagen steigen, um in die Wüste zu kommen, und ich in Sidi Bouzid um einen Stopp beten kann oder Salah von sich aus einen Stopp einlegt. Doch Überraschung: wir fliegen! Und das dauert! Obwohl Salah für sich und mich gültige Tickets hat, Abflugzeit: 15.30 Uhr, werden wir erstmal am Inlands- Check-In abgewiesen. 15.30 Uhr fliegt heute ein Flieger nach Djerba. Wir sollen später wieder vorbeikommen. Wann – später? Schulterzucken, so sehr Salah auch aufgebracht mit den Tickets herumfuchtelt. Doch geht es offenbar nicht nur uns so, mit diesem Flieger wollten weitere Schriftsteller zum Literaturfestival Tozeur gelangen. Schon gesellt sich der italienische Teilnehmer zu uns, dann der ägyptische, dann eine Libanesin, eine Syrerin, zwei Jordanier, ein Mauretanier. So vergeht die Zeit wenigstens in einem Smaltalk Arabisch-Französisch- Italienisch-Englisch. Und schon tief in der Dunkelheit landen wir schließlich tatsächlich in Tozeur, finden sogar noch ein offenes Restaurant. Hier gibt’s Bier aus Kaffeetassen und Couscous mit Dromedarfleisch. Wohl bekomm’s. Und auch das Hotel ist von der schlichten Art: Kein Tisch, kein Stuhl im Zimmer, Fernseher funktioniert nicht, Kühlschrank ebenso (mangels Steckdose). Und in meinem Drei-Bett-Zimmer stehen zwar drei Betten, doch gib es nicht ein Zudeck, nicht eine Decke. Gut, die lange Fußmatte könnte ich nutzen… Dennoch schlafe ich so gut, wie im Hetzkampagnen-Deutschland schon lange nicht mehr.

 

Horoskop

für

Georgius Agricola / al-Qudai / Hassan Gouled Aptidon / Annibale Caro / David Cassidy / Jacques de Vaucanson / Dariush Forouhar / Pierre Gemayel jun. / Hartmut Gründler / Gunnar Gunnarsson / Hanaoka Seishū / Marie Hassenpflug / Heinrich von Kleist / Iwan Andrejewitsch Krylow / Silvio Meier / Montanus / Robert Victor Neher / Hirsch David Nomberg / Henry Purcell / Georg Queri / C. V. Raman / Bruno Rossi / Abdus Salam / Yoshida Shōin / Carl von Steuben / Hermann Sudermann / Henriette Vogel / Maxie Wander / Yoshida Shōin / Emil Zátopek

 

An diesem Tage misstrauten wir den Sternen:

1710. Beginn des vierten Russischen Türkenkrieges / 1916 sinkt das Schwesternschiff der „Titanic“, das Lazarettschiff „Britannic“ in der Ägäis nach einer Minenexplosion , 30 Tote, 40 Verletzte / Dublin, 1920: „Bloody Sunday“, Paramilitärs erschießen 14 Menschen, 65 werden verletzt / Birmingham, 1974: Bombenanschlag der IRA, 21 Tote, 182 Verletzte / Cusca, Peru, 2023: Busunglück, mindestens 23 Tote.

 

 

22. NOVEMBER

 

Normierung

mit

Erdre Ady / Sayyid Shayk al-Hadi / Gerhard Altenbourg / Fikret Amirow / Wilhelm Friedemann Bach / Helene Böhlau / Benjamin Britten / Hoagy Carmichael / Christoph Cellarius / Thomas Cook / Charles de Gaulle / Georg Dehio / José Míguel Covarrubias Duclaud / El Lissitzky / George Eliot / Emanuel Feuermann / André Gide / George Robert Gissing / Andreas Hofer / Jörg Hube / Clemens von Ketteler / Conradin Kreutzer / Maria Lazar / Dora Maar / Adrian Maleika / Hanna Maron / Fritz Mauthner / Michail Leontjewitsch Mil / Wiley Hardeman Post / Rakhmabai / Ranavalona III. / Erasmus Reinhold / Joaquín Rodrigo / Aleksander Saebelman-Kunileid / Sayyib Shaykh al-Hadi / Gunther Schuller / René-Robert Cavalier, Sieur de La Salle / Michael Kenneth Williams / Zhu Ziqing

 

Das erfüllte unsere Norm:

Vordingborg, 1365: Friedensschluss zwischen der Hanse und Dänemark / 1943 erhält der Libanon seine vollständige Unabhängigkeit von Frankreich / 1959: erste Ausstrahlung des „Sandmännchens“ im DDR-Fernsehen / Kiew, 2004: Beginn der „Orangen Revolution“.

 

Ich notierte:

1981: Langsam kommt mir wieder der „geordnete“ Tagesablauf nach meiner Schichtarbeit in Gang. Das Wichtigste ist nun einmal Kontinuität beim Schreiben. Davon darf man sich nicht abbringen lassen. Allerdings habe ich durch die Mitarbeit im Werk Neues gesehen und erfahren, werde versuchen, dieses Neue auch zu verarbeiten, zu schreiben… Mein Kollektiv rückt heute schon wieder zum nächsten Zyklus ein – unvorstellbar. Im Januar soll ich zu einer Tagung der AJA lesen, zu der sich die neue Nachwuchssekretärin des Verbandes aus Berlin angemeldet hat. Ich hoffe, dann nicht eingezogen worden, nicht bei der Reserve zu sein. Die Leuna-Geschichte, die langsam Formen annimmt und vielleicht sogar ein Roman werden könnte, könnte ich lesen – falls…

1982: Am Nachmittag bei Horst Deichfuss, Gespräch über Brigadetagebücher (er leitet die Schreiber seit Jahren in Bitterfeld an). Wir kommen natürlich rasch auf den Eklat bei der letzten Verbandstagung zu sprechen, Specht hatte Willi provoziert, indem er meinte, wer nichts verdiene, könne auch kein Schriftsteller sei. Willi war hochgegangen, erwiderte, dass dies also ein Misstrauensantrag der Alten gegenüber den Jungen sei. Die Jungen meinten ja eh, dass die Alten dickes Geld verdienten, da sie unerträgliche Kompromisse gegenüber der künstlerischen Wahrheit eingingen. Irgendwie fühle ich mich mittlerweile zwischen allen Stühle sitzen, denke ich doch, dass man das Umfeld, die Möglichkeiten des eigenen Schreibens mit beeinflussen, mitbereiten müsse, dass man selbst auch gesellschaftliche Verantwortung übernehmen müsse, sich direkt um die Chancen von Literatur kümmern müsse. Deichfuss lässt durchblicken, dass man im Verband eine Spaltung in Alte und Junge diskutiert…

1999: Weiter mit den Texten und ersten Gestaltungsideen für die Spergauer Dorfgeschichten. Dann schreibe ich eine Rezension zu Helmeckes Norwegen-Buch und organisiere schließlich noch einiges für die laufende Projektarbeit. Und das war’s dann auch schon mal wieder für einen Tag.

2018: Tozeur. Ich versuche von Salah zu erfahren, was sich seit dem Arabischen Frühling verändert habe in Tunesien. Zuvor war er der Generalsekretär, nun ist er Präsident des Tunesischen Schriftstellerverbandes. Das weiß ich schon. Aber sonst? Er lächelt salomonisch. Und als ich ihm erzähle, dass ich bei der Einreise-Passkontrolle endlos befragt wurde, welchen Beruf ich habe und nachdem ich writer angegebenen hatte, die Passkontrolleurin wieder und wieder wissen wollte, für welche newspaper ich schriebe, und ich wieder und wieder sagte: „No, I’m not a journalist“, sie dennoch weiter bohrte welche newspaper es denn sei. Und erst als mir in den Sinn kam zu sagen: „I’m a poet – I write about love!“, schaltete sie plötzlich von verbissen auf freundlich um und stempelte ruckzuck meinen Pass. Als ich dies also Salah erzählte, sagte er nur: Pass auf, was du sagst! Aja. Kutschfahrt durch die Oase von Tozeur, eine der größten, wenn nicht gar die größte der Sahara wohl. Vor acht Jahren wurde mir dies schon mal geboten. Und eine Neuerung bemerke ich: um einige der Dattelpalmen ist Erde angehäufelt, zwei mal vier im Quadrat etwa. Die Binnenfläche fein von Plastik- und sonstigem Müll gesäubert. Das seien neue Pachtgärten, erklärt der Kutscher. Bald werden hier Tomaten oder Paprika wachsen.

Am Nachmittag weiß ich noch immer nicht, was mich beim Festival erwartet und was von mir erwartet wird. Kein Plan, keine Erläuterungen. Immerhin wird nun in ein anderes Hotel umgezogen. Aus meinem Drei- wird ein Zweibettzimmer – und die Betten haben sogar ein Zudeck! Als ich das Fenster öffne, höre ich im Hotelgarten einen Kuckuck rufen. Der war mir also vorausgeflogen. Hallo! In diesem Hotel gibt es allerdings wieder andere Probleme: Geld tauschen kann ich frühestens nächsten Morgen. In der Bar gibt’s aber nur was gegen cash, nein, aufs Zimmer schreiben ist unmöglich! Und dann sehe ich Kakerlaken durchs Zimmer huschen. Und was für welche! Beim besten Willen, kann ich mich nicht erinnern solche Tierchen hierzulande früher schon mal in Hotels gesehen zu haben.  Und auf einmal – es ist längst dunkel und der Muezzin hat längst gerufen, läutet das Telefon und Salah sagt: Komm, wir gehen in ein anderes Hotel. Hm – ich habe doch nicht gemeckert, nicht eine Silbe…? Kann man hier jetzt meine Gedanken lesen? Also denn nun das dritte Hotel in 24 Stunden, das scheint einen Stern mehr zu haben, immerhin. Doch zum dritten Mal endlose Eincheckformulare ausfüllen, Koffergeld geben… das kommt langsam Entwicklungshilfe nahe. Weiter keinerlei Informationen über das Festival jedoch. Na denn, gute Nacht.

2022: Gerüchteweise hatte ich gehört, mein alter Musikerfreund Alma habe einen Schlaganfall gehabt. Heute Vormittag besuche ich ihn. Er erzählt von Krankenhaus und Reha, die aber nicht so recht genützt habe, der Kopf funktioniere nicht mehr immer so, wie er solle… Ich erzähle von meinem halbjährigen Dauerkatheder. Zwei alte Männer umarmen sich still, und wir verabreden uns zu Weihnachten auf einen Kaffee – oder vielleicht doch ein Bierchen?

 

Nachwort

für

Hans Sebald Beham / Maurice Béjart / Anthony Burgess / Carlos Cardoso / Arthur Stanley Eddington / Esiko / Adolph Johannes Fischer / Erich Fried / Martin Frobisher / Noah Gordon / Joseph Groll / Asaph Hall / Jon Hendricks / Michael Kelland John Hutchence / Aldous Huxley / John Fitzgerald „Jack“ Kennedy / Otto Kersten / Georg Kreisler / Volker Lechtenbrink / C. S. Lewis / Lin Zexu / Jack London / Ludger Lütkehaus / Elinborg Lützen / Hugh Oge MacMahon / Ricardo Flores Magón / Toni Mau / Pablo Milanés / René Moawad / Paul Motian / Hans Reichel / Johann Christian Reil / María Sabina / Friederike Sophie Seyler / Arthur Seymour Sullivan / Kusma Tschorny / Marie Versini / Mae West

 

Da formulierten wir ein Nachwort:

1412: Sturmflut an der Unterelbe, bis zu 30.000 Todesopfer / 1847 gerät der Raddampfer „Phoenix“ auf dem Michigansee in Brand, 250 Menschen kommen ums Leben / 1873 kollidiert der französische Passagierdampfer „Ville du Havre“ im Nordatlantik mit einem Kipper und sinkt, 226 Menschen sterben / 1878: Beginn des Zweiten Anglo-Afghanischen Krieges / 1927 wird Albanien italienisches Protektorat / Beirut, 1989: Autobombenexplosion, 24 Todesopfer / Phnom Penh, 2010. Massenpanik während es Wasserfestes, 339 Menschen kommen ums Leben.

 

 

23. NOVEMBER

 

Rendezvous

mit

Herbert Achternbusch / Miguelina Aurora Acosta Cárdenas / William Ætheling / Françoise Noël Babeuf / Thomas Birch / Paul Celan / Manuel de Falla / Julien Offray de La Mettrie / Geeta Dutt / Eberhard Feik / Marieluise Fleißer / Günter Gaus / Frank Giering / Andrew Goodman / Karl Hecker / Boris Karloff / Wiktor Stepanowitsch Kossenko / Peter Lindbergh / Harpo Marx / Habbo Gerhard Lolling / Virgilio Masciadri / Nikolai Nikolajewitsch Nossow / Otto I. (der Große) / Valdemar Poulsen / Kurt von Rohrscheidt / Andreas M. Schmidt / Urmuz / Johann Christoph Winters / Wladislaw Nikolajewitsch Wolkow

 

An diesem Tage hofften wir auf ein Rendezvous:

1847:Ende des Sonderbundskrieges, der letzten bewaffnete Konflikt auf Schweizer Boden / Cambridge, Massachusetts, 1969: erste Isolation eines einzelnen Gens / 1977: Start des ersten europäischen Wettersatelliten „Meteosat-1“ / Budapest, 2001: Unterzeichnung der Konvention gegen Datennetzkriminalität.

 

Ich notierte:

1980: Leipzig. Ich erzähle Rothbauer von meinem Kinderbuchprojekt und er fragt mich, ob ich unter Erfolgszwang stünde. Ich antworte: nur mir selbst gegenüber! Denn dass ich versuche, aus der Unterhaltungsbranche auszusteigen, weiß er ja. Aber einmal nachgedacht, glaube ich nun doch, dass er Recht hat, dass ich endlich mal wieder beweisen will, für was ich stehe, wer ich bin, was ich kann. Dieses unbedingte Wollen gab es bei mir wohl das letzte Mal vor sechs, sieben Jahren, als ich noch mit meiner Band Zakk-Set umherzog, als ich die Musik spielte, die völlig die unsere war. Damals wie heute empfand ich die Erhaltung der eigenen Phantasie als Selbsterhaltungszweck. Und damals wie heute halten mich Leute für überheblich, nur aus Eitelkeitsgründen handelnd. Dabei ist mir das doch einfach Bedürfnis so zu handeln! Also doch Erfolgszwang? Und keine Frage, am schnellen Erfolg darf ich nicht interessiert sein, sondern nur an einer wirklichen Befriedigung…

2000: Am Morgen mit meinen Eltern zum Notar, um Passagen unseres Hausvertrages, die Jeanny „sauer aufstießen“, ändern zu lassen. Dann nach Bad Bibra, letzte Kontrollabsprache vor dem „Dorf liest“-Workshop, der nächstes Wochenende stattfinden soll. Frau Spaar, die Bibliothekarin, die mir so viel Ärger bereitete, ist krank, empfängt uns aber zu Hause. Und siehe da – sie ist „lammzahm“, findet alle Vorschläge zum Ablauf wunderbar. Na bitte. So laufen dann auch die Absprachen mit dem Hotelier bestens und die Presse erscheint auch noch. Nachmittag Lesung aus „Novembertau“ in der Begegnungsstätte „Rossmarkt“ in Merseburg. Dietmar hat kräftig die Werbetrommel gerührt, so erscheint ein erstaunliches Publikum, auf der einen Seite eine 7. Klasse, auf der anderen zahlreiche Senioren. Doch die Lesung klappt gut. Lebhafte Diskussion und gekauft wird am Ende auch nichts schlecht. Am Abend zur Lesenacht nach Spergau. Jürgen Elste, der Bürgermeister, ist von Anfang an dabei. Und siehe da, auch er gibt sich, nach all dem Zeitungsärger und Finanzanteile nicht beisteuern wollen und so, plötzlich „lammzahm“. Versichert sich auch meiner künftigen Unterstützung und so... Und den Kindern macht es auch viel Spaß, wir lesen, singen, scherzen, und am Ende gibt’s sogar eine Polonaise durchs Schulhaus.

2018: Tozeur. Beim Frühstück höre ich, dass es wohl nach dem Frühstück so etwas wie eine Eröffnung des Festivals gäbe. Und tatsächlich sehe ich gegen halb zehn dann einige beschlipste Herren durch den Hotelgarten zu einem Nebengebäude schlendern. Und – voila! – über dessen Tür hängt plötzlich ein Transparent: „Welcome to the Tozeur International Festival of Poetry!“ Der Saal ähnelt einem Zeltinneren und füllt sich nach und nach. Eine Stunde lang sind alle Leute hier – Kollegen? – damit beschäftigt Selfies von sich im Saal und mit dem einen oder anderen Anwesenden zu machen. Ist das die Begrüßungszeremonie? Dann marschieren ganz wichtige Schlipsträger ein, Salah natürlich dabei, das Gebrabbel, Gemurmel verebbt. Und schon scheppert die Nationalhymne aus den Saallautsprechern. Alles springt auf, singt mit, klatscht am Ende. Und nun kommen die Reden, ausschließlich auf Arabisch natürlich beim Internationalen Festival. Dann Ballett, Lautsprecher auf maximale Verzerrung, dann Propagandalyrik der palästinensischen Delegation, sogar eine Zehnjährige in PLO-Kampfuniform skandiert… Die kurdische Delegation in Peschmerga-Tracht flötet und trommelt und singt, und die Palästinenser animieren zum Mitklatschen. Und dann Freudentrillern die Frauen… Der Delegierte aus Nigeria in schönster Boubou-Tracht schläft. Und schon ist Mittag. Ein Programm habe ich jedoch noch immer nicht, habe keine Ahnung, wie’s weitergeht, muss also irgendwie auf „Sichtkontakt“ bleiben. Um 3 bewegt sich was, um 4 beginnt schließlich im Saalzelt ein Podiums-Palaver. Rasch leert sich der Saal. Man sieht sich beim Lunch.

2021: In der Zeitung wird heute berichtet, dass ich der Stadt Leuna meine Bücher, meine Grafiken und Bilder, meine Platten und CDs etc. vermachen will, es aber noch Details zu klären gäbe. Schon am Nachmittag kommen der Stadtratsvorsitzende und der amtierende Bürgermeister zu mir und wir klären, was zu klären ist. Vor zwei Jahren schenkte ich der Stadt Merseburg ja schon meinen literarischen Nachlass, Manuskripte, Briefe, Recherchen etc., nun dürfte also auch gesichert sein, dass nichts von dem, was ich ein Leben lang gesammelt hatte am Ende vielleicht auf dem Müll landet. Unsere leiblichen Nachkommen wissen das ja leider nicht zu schätzen…

 

 

Rausch

für

Francesco Barozzi / Alfred Julius Becher / Jagadish Chandra Bose / Charles Bourseul / Tommy Boyce / Agnolo Bronzino / Otto Brunfels / Matthäus von Collin / Betty Comden / Roald Dahl / Karl Dall / Rudolf Drößler / John Boyd Dunlop / Ingeborg Feustel / Beatriz Galindo / Mariana Grajales / Üzeyir Hacıbǝyov / Larry Hagman / Hermann Haller / Heidemarie Härtl / Stan Hasselgård / Wieland Herzfelde / Jr. Walker / Klaus Kinski / Arvid Kleven / Claude Lorrain / Louis Malle / André Malreaux / Roberto Matta / Philippe Noiret / Anita O’Day / Antoine-Franōois Prévost / Stanisław Przybyszewski / Ren Xiong / Tamir Rice / Nicolaus Roeg / Aljoscha Rompe / Manuela Sáenz / Georg Wilhelm Steller / Hugo von Tschudi / Philipp von Zesen

 

Das erschien uns wie im Rausch:

Frankreich, 1407: Beginn des Bürgerkrieges der Armagnacs und Bourguignons / 1641: Beginn des englischen Bürgerkrieges / 1939 versenken deutsche Schlachtschiffe südlich von Island den britiscxhen Hilfskreuzer „Rawalpindi“, 265 Tote / 1942 ein japanisches U-Boot torpediert den britischen Passagierdampfer „Tilawa“ im Indischen Ozean, 280 Todesopfer / Haiphong, 1946: Beginn des Indochinakrieges / 1980: Erdbeben in der italienischen Region Irpina, 2.915 Menschen kommen ums Leben / Komoren 1996: eine Boeing767 zerbricht nach einer Notwasserung, 125 Tote / Bagdad, Badr City, 2006: Explosion von sechs Autobomben, 202 Menschen sterben, 255 werden verletzt / 2009: Massaker in der philippinischen Provinz Maguindanao, 57 Tote.

 

 

24. NOVEMBER

 

Zertifizierung

mit

Margaret Anderson / Marie Bashkirtseff / Ludwig Bechstein / Samira Bellil / Bernd Bergel / August Boeckh / Helen Buchholtz / Rafael Cansinos Assenz / Serge Chaloff / Tony Clarkin / Carlo Collodi / Michel de Klerk / Baruch de Spinoza / Henri de Toulouse-Lautrec / Charles de Valois / Donald Dunn / Wolfgang Ecke / William Webb Ellis / Werner Heiduczek / Swan Hennessy / Scott Joplin / Ahmadou Kourouma / Ricardo Piglia / Novelle Hamilton Richards / Arwed Roßbach / Ali Schariati / Carl Cowen Schirm / Alfred Schnittke / Laurence Sterne / Johann Jacob Friedrich Weinbrenner / Wen Yidüo / Teddy Wilson

 

Das zertifizierten wir gern:

1642 entdeckt Abel Tasman Tasmanien / Hadar, Äthiopien, 1974: „Lucy“, ein 3,2 Millionen Jahre altes Skelett, wird gefunden / 1980: Einrichtung des Malawisee-Nationalparks / Wien, 1988: Einweihung des Mahnmals gegen Krieg und Faschismus / Gaza, 2023: die ersten 24 von 249 Anfang Oktober von der Hamas entführten Geiseln kommen frei.

 

Ich notierte:

1999: Wieder Arbeit an den Spergauer Dorfgeschichten. Und am späten Nachmittag fahre ich sogar selbst nach Spergau. Cathi lud zum ersten Geburtstag ihrer Kindertanzgruppe ein. Schöne Veranstaltung.

Doch was für eine Pressemeldung heute: „Rom/dpa. Zum Heiligen Jahr 2000 kommt der Beichtstuhl mit Klimaanlage. Bei dem neuen Stuhl handelt es sich geradezu um ein High-Tech-Produkt, im Winter stellt die Klimaanlage auf Heizen um. Der Priester, der in dem Leder-Sessel sitzt, kann am Armaturenbrett Warm und Kalt regulieren. Als weitere Erleichterung dürfen die Gläubigen auf neue Betstühle hoffen, die das Niederknien bequemer machen sollen...“ Na, das war‘s doch, was uns noch fehlte.

2000: Büro, dann diverse Besorgungen in Merseburg, u. a. versuche ich zum zweiten Mal eine Reise nach London zu buchen – vor zwei, nein drei Jahren hatte ich das schon mal gemacht, da wollten wir mit Rothers losziehen, doch die kamen in Finanzschwierigkeiten... So nun also mutig ein zweiter Versuch, doch auch der scheitert erst mal, da ich als Termin just den Wechsel von Winter- auf Sommerreisezeiten ausgewählt hatte – da spielen alle Computer verrückt, und letztendlich gebe ich’s gegen Mittag auf, als sich ein Ausflug nach Stonehenge partout nicht buchen lässt. Das übliche halt in dieser Konsumgesellschaft – immer wenn ich schon mal wirklich was kaufen will, gibt’s das nicht... Am Nachmittag und nach Terminverschiebung bringe ich dann aber doch noch eine Buchung unter – der dritte Versuch also, möge es nützen, sprichwörtlich!

2018: Tozeur. “The same procedere as every day? No!“ Als ich das Festzelt betreten will, hängt über dem Eingang ein anderes Plakat, Staatsflagge mit Fotos martialisch dreinblickender Helden. Und die security beäugt mich misstrauisch. Nach einiger Suche finde ich heraus, dass das Festival heute in einem Saal im Hotel tagt. Ach, wenn es doch so etwas wie einen Plan gäbe… Oder wird der nur mir vorenthalten? Ansonsten: Yes, the same procedere… Dann ein Hoffnungsschimmer: Um diesem Langeweilestress zu entkommen, hatte ich Salah gebeten, ob es nicht vielleicht möglich sei, mir den nahen Chott el Jerid zu zeigen, einen riesigen, periodischen Binnensee, der im Winter Wasser führt. Eine Attraktion offenbar. Und nach einer Weile verkündete mir Salah, dass dies eine gute Idee sei, am Nachmittag nun sogar alle Festivalteilnehmer zum Chott el Jerid fahren würden. Tatsächlich finden sich am Nachmittag (eine Stunde später als nach Nachfragen herausgefunden) an Kleinbussen Teilnehmer ein. Und es regnet! Doch zum Chott geht es nicht. Nein, da sei kein Wasser drin. Dafür soll gezeigt werden, wo vor Jahrzehnten eine Folge von Star Wars gedreht wurde. Wow! Mos Espa heißt dieses Fantasie-Dorf mitten in der Wüste. Pappmaché, Touristenfang, Kamelreiten, Fenek Fotografieren etc.pp. Zurück über Nefta, ein Wüstenstädtchen nahe der algerischen Grenze. Und ohrwurmgleich nistet sich mir ein alter Song von Aphrodites Child ein (den ich einst spielte): „You shall come to me to the end of the world…“

2019: Totensonntag. Unbändige Sehnsucht wie aus dem Nichts: all die Medaillen und Orden, die mir einst angepinnt wurden, nochmals an die Hemdbrust zu heften: Goldene Schneeschuhe Kratzerplatten Aktivistenblech… und mit meiner treuen precision und der alten Band ein letztes Mal zu rocken, hard, really hard: Speed King Hocus Pocus… Doch finde ich keine Bühne mehr, offenbar.

2021: Ab heute gilt in Sachsen-Anhalt die 2-G-Regel: nur Geimpfte oder Genese dürfen noch in Gaststätten, Kultur- und Sporteinrichtungen. Möge es nützen.

 

Zyklus

für

Abd ar-Rahman Scharkawi / Aron Atabek / Vittorio Benussi / Barbara Brodi / Elise Bürger / Eric Carr / Ruth Chatterton / Albert Collins / Celio Secondo Curione / Adolf Damaschke / Michel de Klerk / Edison Wassiljewitsch Denissow / Marcus Johann Theodor DuMont / Hans Magnus Enzensberger / Helga Feddersen / Gu Hara / Ludwig Hirsch / Anna Marie Jarvis / Wilhelm Jensen / Nikolai Iljitsch Kamow / John Knox / Lautréamont / Hans Peter „Mani“ Matter / Freddy Mercury / Doris „Dorie“ Miller / László Moholy-Nagy / Mazzino Montinari / Johannes Oekolampad / Hans Otto / Richard Perls / Persius / George Raft / John Rawls / Diego Riveira / Supayalat / Melanie Janene Thornton / Harry Thürk / Big Joe Turner / Heidelinde Weis

 

Da hofften wir, dass das nicht zyklisch sei:

Savoyen, 1248: Bergsturz im Chartreuse-Massiv, bis zu 5.000 Tote / 1700: Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges / Sudan, 1899: Niederschlagung des Mahdi-Aufstandes / Johanngeorgenstadt, 1949: Brände in Uranminen, angeblich sterben bis zu 2.000 Bergleute / Türkei und Iran, 1976: Erdbeben: 5.000 Todesopfer / Guilin, China, 1992: Absturz einer Boeing 737 beim Landeanflug, alle 141 Insassen kommen ums Leben.

 

 

25. NOVEMBER

 

Liberalisierung

mit

Nathaniel „Nat” Adderley / Asmahan / Ba Jin / Carl Friedrich Benz / Jan Böhm / Johann Ludwig Burckhardt / Catarina Cornaro / Ernst Däumig / Lope de Vega / Paul Desmond / Joe DiMaggio / Francis Durbridge / José Maria Eça de Queiroz / Marianne Ehrmann / Reinhard Alfred Furrer / Kate Gleason / Terenti Graneli / Franz Xaver Gruber / Jeffrey Hunter / Margitta Jankofsky / Herbert Junck / Georg Kaiser / Leo Katzenberger / Wilhelm Kempff / Nodar Kumaritaschwili / Mark William Lanegan / Dieter Liesegang / Petro Marko / Monte Melkonian / Ricardo Montalbán / Johann Friedrich Reichardt / Isaac Rosenberg / Bartholomäus „Barthel” Schink / Johann Anton Schneiderfranken / Percy Sledge / Thea Sternheim / Sergei Iwanowitsch Tanejew / Nikolai Iwanowitsch Wawilow

 

An diesem Tage glaubten wir an Liberalisierung als Chance:

Templin, 1317: Ende des Norddeutschen Markgrafenkrieges / 1491: Ende des Emirats von Granada, der letzten muslimischen Region auf der iberischen Halbinsel / 1610: Entdeckung des Orion-Nebels / New York City, 1783: die letzten britischen Truppen verlassen die USA / Alberta, 1885:Gründung des Banff-Nationalparks / Abercorn, Deutsch-Ostafrika: Kapitulation der „Deutschen Schutztruppe“ / Berlin, 1915: Einstein stellt seine Allgemeine Relativitätstheorie vor / 1975 erlangt Surinam seine vollständige Unabhängigkeit von den Niederlanden / 1986: Inbetriebnahme des King Fahd Cuaseway zwischen Bahrein und Saudi-Arabien / Uelzen, 2000: Eröffnung des Hundertwasser-Bahnhofs.

 

Ich notierte:

1981: Mutters Geburtstag. Von meinem Onkel Norbert erfahre ich einiges über den Tod meines Onkels Peter. Der Schwedter Generaldirektor dementierte in der Betriebszeitung ein im Werk kursierendes Gerücht, Peter habe Vortage seines Selbstmords, eine Besprechung in seinem Zimmer Türen schlagend verlassen. Das sein eine freiwillige Selbsttötung gewesen und habe mit betrieblichen Dingen nichts zu tun… Wann schon hätte ein Generaldirektor in diesem Land jemals ein Gerücht dementiert? Norbert sagt, man hätte ihm eigentlich zugesichert, dass er den Untersuchungsbericht lesen könne, doch, ließ dieser noch immer, verdächtig lange also, auf sich warten… Peter war Leiter Technologie und er fürchtete wohl, dass ihm stagnierende Produktionszahlen vorgehalten werden könnten, angeblich sollen sogar schon zwei Typen um seinen Stuhl gebuhlt haben…

1985: Heute zur Einberufungsüberprüfung. Und nun die Gewissheit, dass ich im nächsten November für ein Vierteljahr wieder einziehen, dass ich zur Reserve muss! Absurd – dass ist, als hätte man mir Knast verordnet, ein „Denkzettel“ ist das wohl allemal… Aber nun weiß ich wenigstens, woran ich bin.

1999: Am Vormittag nach Halle, Besprechung zum geplanten Siegfried-Berger-Lesebuch. Dann nach Mücheln, zur Sanierungsgesellschaft. Unglaublich, aber wahr, die suchen händeringend Möglichkeiten um Maßnahmen im Jugendbereich zu schaffen, sind da vom Arbeitsamt nicht nur gefördert, sondern auch gefordert. Verrückt – uns streicht man alles, was seit Jahren funktionierte und erfolgreich war, weg und macht seitdem nur Schwierigkeiten, und hier schmeißt man das Geld offenbar nur so nach... Allerdings könnte es im Konkreten schwierig werden, da uns nicht mal jemand sagte, dass für bestimmte Förderformen die Termine ablaufen... Aber die Leute hier sind sehr freundlich und es scheint dennoch gangbare Wege zu geben. Allerdings muss ich schleunigst diverse Papierchen besorgen und verfassen und das natürlich wieder dann, wenn der Terminkalender schon überquillt... Von Mücheln in die Goethe-Schule, von dort zu Seni zur Probe. Mehr als sechs Stunden, meingott! Aber vielleicht (und hoffentlich) wird sich das beim morgigen Hendrix-Doors-Steppenwolf-Abend in der Ölgrube auszuzahlen. Ich bin zumindest fürs Erste mal heiser...

2000: Am Morgen nach Wittenberg zur Tagung der Europaschulen der Bundesrepublik in der Leucorea. Ich präsentiere den Bödecker-Kreis mit einem kleinen Stand. Mittag zurück, Umziehen und zu Mutters 70. Geburtstag nach Merseburg.

2018: Tozeur. Rückflug nach Tunis. Und the same procedere like every day… mit einem absoluten Höhepunkt aber: 14.00 Uhr sollten wir im Hotel abgeholt werden, 14.30 Uhr kam das Auto – und 14.50 Uhr waren wir schon wieder zurück im Hotel. Der Flug war stillschweigend von 16.00 Uhr auf 23.00 Uhr verschoben wurden. Tatsächlich fliegen wir dann um 1.30 Uhr… Morgens um halb vier im Hotel in Tunis. Groggy.

2019: Mein Wanst / Geht mir zunehmend / Auf dem Geist.

2021: Nun mehr als 100.000 Tote seit Beginn der Corona-Pandemie allein in Deutschland.

Linderung

für

William Ætheling / Edward Alleyn / Mathilde Franziska Anneke / Therese von Artner / Albert Ayler / Johann Jakob Bachofen / Heinrich Barth / Benjamin Bathurst / Irene Cara / Fidel Alejandro Castro Ruiz / Henri Coandă / Agnethe Davidsen / Andrea Doria / Nick Drake / Valentin Elizalde / Johann Maria Farina / Karlhans Frank / Nelson Goddman / Sabino Arana Goiri / Chico Hamilton / Laurence Harvey / Henry von Heiseler / Johannes Vilhelm Jensen / Louis Lachenal / Diego Armando Maradona / Matéo Maximoff / María Mirabal / Elsa Morante / Mukai Genshō / Ludvig Mylius-Erichsen / Gérard Philipe / Josef Gabriel Rheinberger / Jacques Pierre Joseph Rode / Hans Scharoun / Upton Sinclair / Karl Ferdinand Sohn / Heinrich Stromer / Ignatius Taschner / Sithu U Thant / Karl Anton Vogt / Isaac Watts / Yukio Mishima / Ossip Zadkine

 

Das erschien uns als das blanke Gegenteil von Linderung:

1120 sinkt vor Barfleur in der Normandie das „Weiße Schiff“, der englische Thronfolger William Ætheling und zahlreiche Begleiter sterben / 1343 verwüstet ein Tsunami Amalfi / 1795: Dritte Teilung Polens / Coringa, Indien, 1839: Zyklon mit Sturmflut, 300.000 Todesopfer / Georgia, 1915: Neugründung des Klu-Klux-Klan / Berlin, 1936: Unterzeichnung des Antikominternpakts zwischen Deutschland und Japan / Masar-i-Scharif, 2001: Revolte inhaftierter Taliban-Kämpfer, 600 Tote / Dschidda, 2009: Überschwemmungen nach Starkregen, mehr als 100 Menschen sterben.

 

26. NOVEMBER

 

Autorisierung

mit

Aelius Aristides / Louise Franziska Aston / Slavko Avsenik / Dieter Bähtz / Bernardo Bertolucci / Hans Bredow / Francisco Canaro / William Cowper / Gordon A. Craig / Alice Herz-Sommer / Ibn al-Dschazarī / Françoise Gilot / Eugène Ionescu / Uladsimir Karatkewitsch / Mark Margolis / John Matshikiza / Ferdinand Mongin de Saussure / Tilo Prückner / Charles Monroe Schulz / Karl Siegmund Freiherr von Seckendorff / Tina Turner / Norbert Wiener / William Griffith Wilson / Ralf Wolter / Karl Ziegler

 

Das autorisierten wir jederzeit wieder:

Fleix, 1580: Friedensschluss im Siebten Hugenottenkrieg / New York, 1832: Inbetriebnahme der erste (Pferde)Straßenbahn / 1924 Gründung der Mongolischen Volksrepublik / 1949 konstituiert sich Indien als Republik / Hammaguier, Algerien, 1965: Frankreich startet seinen ersten Satelliten ins All / Berlin, 1988: erstmalige Vergabe des Europäischen Filmpreises, des „Felix“.

 

Ich notierte:

1982: Zurück aus Droyßig von einer Großveranstaltung, wo ich so was wie der Benjamin war, ansonsten nur Großkopferte: Hüttner, Bentzien, Saalmann, Elias, Friedrich, Schumachers… Und Eva-Maria Kohl schob mir das Ehrenbuch der Schule zu, ich solle für alle was reinschreiben…

1999: Im Künstlerhaus heute ein Gespräch mit der neuen Geschäftsführerin. Ihr sei gesagt worden, dass Konrad und ich beispielsweise den Verlag gegründet hätten, um Geld aus dem Haus ziehen zu können. Ich verkneife mir zu fragen, wer denn das gesagt habe und erkläre ihr stattdessen, warum der Projekte Verlag Projekte Verlag heißt – um Projekte des Künstlerhauses (und nun selbstredend auch die anderer Partner) kostengünstig dokumentieren zu können. Es sei also genau umgekehrt wie behauptet. Offenbar erscheint ihr meine Argumentation logischer als die andere, und so kommen wir überein, wie man künftig zusammenarbeiten könnte (hoffe ich). Dann in die Wittekind-Schule zu meinen Schreibschülern, die wieder sehr bei der Sache sind, mir heute sogar Obst mitgebracht haben. Und am Ende muss ich sogar noch ein Buchstabenspiel mit ihnen spielen. Da bestehen sie drauf. Nach einer Stippvisite in der Klosterstraße nach Hause, letzte Vorbereitungen auf den Oldie-Abend in der Ölgrube. Und dann geht’s los. Ich bin reichlich nervös, denn Hendrix zu spielen und Jim Morrison zu singen, ist nicht eben das Einfachste, und unmäßig viel geprobt dafür haben wie weißgott auch nicht. Aber es klappt alles gut, sehr gut sogar. Musikalisch vielleicht unser gelungenster Abend bisher. Am Ende durchaus so etwas wie ein Hochgefühl, zumal die Ölgrube auch so voll wie noch nie ist und mit Beifall nicht gegeizt wird...

2018: Tunis. In Salahs Präsidentenbüro kommen wir mit Projektabstimmungen gut voran. Mir gelingt es einen Direktkontakt mit Edward, meinem armenischen Freund und Präsident des dortigen Schriftstellerverbandes herzustellen. Das Genozidopfer-Buch, das Edward und ich 2015 herausgaben, soll nun auch ins Arabische übersetzt werden. Schon mailt Edward die französische Fassung her. Ich kläre Detailfragen mit Salah. Das sollte klappen. Er wiederum findet eine Schule in Khairouan, die eine Anna-Hood-Gang gründen will. Und dann unterschreibe ich sogar eine Vereinbarung, dass mein Kinderbuch „Wer das liest ist doof“ an der hiesigen Universität übersetzt und in Tunesien verlegt werden kann. Bei meinem letzten Besuch sprach Salah nur Arabisch und Französisch, verständigen konnten wir uns nur mittels eines Dolmetschers. Mittlerweile spricht er Englisch, sonst wären wir heute nicht so weit gekommen, mitnichten. Das lässt hoffen, auf Künftiges, zumal sich heute herausstellt, dass mein Freund Salah mittlerweile nicht nur Präsident des Tunesischen, sondern auch des Maghrebinischen Schriftstellerverbandes ist.

2020: Nachdem sich der neue Vorsitzendes des Merseburger Freundeskreises Literatur und der neue Kulturamtsleiter der Stadt in absurden Hahnenkämpfen verharkten und sich die Situation immer weiter zuspitzte, habe ich heute die von mir in diesem Freundeskreis gebildete „Arbeitsgruppe Walter Bauer“ aus dem Verein herausgelöst, bin aus dem Verein ausgetreten, um Schaden vom Ansehen WBs abzuhalten und die AG weiterführen zu können. Was für eine Provinzposse, doch leider typisch für Merseburg.

 

2023: Angesichts der deutschen Staatshaushaltskrise wird in Talk-Shows gern hochgekocht, dass wir nicht noch einmal den Fehler machen dürfen, uns von autoritären Staaten abhängig zu machen, dass wir seriöse (Handels)Partner brauchen. Gemeint wird da natürlich Russland und China. Was aber, wenn im nächsten Jahr Trump wiedergewählt werden sollte?

 

Abschiedswort

für

Juhan Aavik / Abdul-Qader Arnaout / Ingálvur av Ryni / Myron „Tiny“ Bradshaw / Hedwig Courths-Mahler / Betico Croes / John Cromwell / Philippe de Broca / Tommy Dorsey / Joseph von Eichendorff / Joseph Fickler / Sven Hedin / Clementine Helm / Alfred Walter Heymel / Regine Hildebrandt / Bodil Ipsen / Ove Joensen / Ada Lovelace / Richard Lucae / Conrad Ferdinand Meyer / Adam Bernard Mickiewicz / Joseph Edward Murray / Heinz Neumann / Pellegro Piola / Philippe Quinault / Géza von Radványi / John Henry Rostill / Otto Sverdrup / Sojourner Truth / Arnold Zweig

 

An diesem Tage hörten wir Abschiedsworte:

1553: Eroberung von Kulmbach durch bundesständige Truppen im Zweiten Markgrafenkrieg, alle männlichen Einwohner werden getötet / Merseburg: 1638 „ist ein großer wind entstanden, u. frühe vor 5 uhr sehr gewetterleuchtet, umb 8 uhr vormittage hat es abermahl einen hellen plitz u. darbey einen starcken Donnerschlag getahn, daß die Kirchen und Häußler davon erschüttert“ / 1898: in einem Sturm sinkt vor Neuengland der Passagierdampfer „Portland“, 192 Todesopfer, an Land sterben mehr als 450 Menschen / Sheermess, 1914: Explosion des Schlachtschiffes „Bulwark“, 738 Seeleute kommen ums Leben / Türkei, 1943: Erdbeben: 4.000 Todesopfer / Dschidda, 1979: Absturz einer Boeing 707 nach dem Start, alle 156 Insassen sterben / 2003: letzter Flug der „Concorde“ / 2008: Mumbai, Beginn mehrtägiger Terroranschläge bei denen 174 Menschen ums Leben kommen und 239 verletzt werden /

 

 

27. NOVEMBER

 

Eintakten

mit

Antoine Abel / James Agee / Lothar Bellag / Benigno Simeon jr. „Ninoy“ Aquino / Klara Blum / Wilhelm Adolf Diesterweg / Alexander Dubček / Johann Georg Adam Forster / Achim Frenz / Pantaleon Hebenstreit / Jimi Hendrix / Klaus Höpcke / Al Jackson jr. / Olha Julianiwna Kobyljanska / Claude Lanzmann / Bruce Lee / Peter Lilienthal / Helene von Mülinen / Peter Pan / Eddie South / Hans Uhlmann / Domenico Tintoretto / Amanda Todd / Chaim Weizmann

 

An diesem Tage fühlten wir uns bestens eingetaktet:

Berlin, 1905: Konstituierung des Deutschen Städtetages / 1971 erreicht die sowjetische Raumsonde „Mars 2“ als erster Raumflugkörper einen Mars-Orbit / 1990 stellt das deutsche Bundesverfassungsgericht fest, dass Pornografie Kunst sein könne / Norwegen, 2000: Inbetriebnahme des derzeit längsten Straßentunnels der Welt, des Læradalstunnels / Amiens, 2005: erste erfolgreiche Gesichtstransplantation.

 

Ich notierte:

1978: Hohenmölsen. In „meiner“ Projektschule sagen mir die kleinen schreibenden Schüler, dass die großen nicht mehr kommen werden. Warum? Schulterzucken. Dafür erscheint der Stellvertretende Direktor für außerschulische Arbeit und sichert mir seine volle Unterstützung bei der Nachwuchsgewinnung zu. Toll.

1980: Heute kam ich erst morgens um sechs von der Mugge zurück, blieb gleich auf, schaffte um sieben den Trabi in die Werkstatt, legte mich dann erst hin. Halb elf klingelt’s. Lotte, unser alter Klampfer. Er will bei Felix mit einsteigen, braucht die Knete, in der Rock-Szene sei nicht mehr zu verdienen, Scheiß Discos. Ich gebe ihm Felix’ Telefonnummer. Am Nachmittag kommt er noch mal, sagt, dass es geklappt hat, dass wir nach Jahren wieder zusammen spielen werden.

1999: In SINN UN FORM neue Gedichte von Johannes Kühn unter der Überschrift „Jahrhundertwechsel“ zwei mir notierenswerte Strophen: „Was wird es geben/ für den alten Mann/ im neuen Jahrhundert,/ im neuen Jahrtausend?/ Vielleicht noch viel!...//... Mit Zweifelmienen uns anzuöden/ ist kein Leben. Mit Angstgebärden/ in die Luft zu schlagen// ist keines Mannes würdig...“

2000: Am Vormittag eine Lesung in Heide-Nord, dann bleibe ich gleich in Halle und bespreche mit R. O. Hahn einige mögliche Varianten einer künftigen publikatorischen Zusammenarbeit. Weiter nach Merseburg, wo im Pelikan-Büro heute eine Reporterin des MDR erscheint, die mich und einige schreibende Schüler interviewen möchte.

2020: Der deutsche Lockdown wird bis kurz vor Weihnachten verlängert. Mehr als 1 Million Infektionen hier landesweit, fast 16.000 Tote, weltweit mehr als 60 Millionen Fälle, 1,5 Millionen Tote.

2021: Nun ist eine neue Corona-Mutation aufgetaucht, die von der WHO als Omikron-Variante benannt wurde, die wohl noch weit ansteckender als der bislang grassierenden Delta-Typ sein soll und gegen die möglicherweise der bisherige Impfschutz versagt… Ab Mittag nehme ich mal wieder an einer Internet-Konferenz teil, dieses Mal die Jahrestagung der „Kogge“.

 

2023: Tagung der Siegfried-Berger-Stiftung im Ständehaus. Nach dem Ende der jahrelangen der Null-Zins-Politik werden wir im nächsten Jahr erstmals etwas Geld generieren können, reden also über denkbare Projekte.

 

 

Entäußerung

für

Carl Christian Agthe / Friedrich Aue / Edward Bach / Mickey Baker / John Carradine / Richard Christopher Carrington / Robert de la Fresnaye / Lya de Putti / Guillaume Dufay / Alexandre Dumas d. J. / Fanny Elßler / Johann Georg Fellinger / Guido Gezelle / Gregor vom Sinai / Barbro Hiort af Ornäs / Horaz / Jorge Ibargüengoita / P. D. James / Herbert Kaufmann / Black Kettle / Athanasius Kirchner / Manfred Köppe / Lotte Lenya / Leonid Isaakowitsch Mandelstam / Maurikios / Harvey Bernard Milk / Eugene O’Neill / Will Quadflieg / Ángel Rama / Ken Russell / Jacopo Sansovino / Manuel Scorza / Franz Baermann Steiner / Gottfried Heinrich Stölzel / Marta Traba / Désirée von Trotha / Jeghische Tscharenz / Émile Verhaeren / Karl Vesper

 

Dem hätten wir uns gern entäußert:

511: Aufteilung des Frankenreiches nach dem Tod Chlodwig I. / 1868 massakrieren US-Soldiers am Washita, Oklahoma, mehr als 100 Cheyenne / Jilava, 1940: rumänische „Eiserne Garden“ ermorden mehr als 60 Funktionäre im Gefängnis / Bitterfeld, 1977: Kesselexplosion einer Dampflok, neun Tote / Madrid, 1983: Absturz einer Boeing 747 beim Landeanflug, 181 Todesopfer / Rustenberg, Südafrika, Berwerksunglückh, 11 Tote.

 

 

28. NOVEMBER

 

Brückenschlag

mit

Tuğçe Albayrak / Laura Antonelli / Gato Barbieri / William Blake / Alexander Alexandrowitsch Blok / John Bunyan / Friedrich Engels / Heinz Galinski / Barbara Grabowska / John William Hargreaves / Luke Howard / John Wesley Hyatt / Józef Koffler / Jonasz Kofta / Tobias Langhoff / Claude Lévi-Strauss / Jean-Baptiste Lully / Hubert Mayr / Matsubara Miki / Alberto Moravia / Hedvig Charlotta Nordenflycht / Ferdinand Ries / Anton Grigorjewitsch Rubinstein / Pawel Grigorjewitsch Scheremet / Georg Schumann / Anna Nicole Smith / William Stanley Jr. / John Lloyd Stephens / Tomi Ungerer / Jakob Wich / Jaroslav Žák / Stefan Zweig

 

Das sahen wir als Brückenschlag:

1520: gelingt die erste Fahrt durch die Magellan-Straße / 1654: Ende des Ersten Bremisch-Schwedischen Krieges / London, 1660: Gründung der Royal Society / 1821: Panama erklärt sich für unabhängig von Spanien / 1912 erklärt Albanien seine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich / Amerongen, Niederlande, 1918: Wilhelm II. unterzeichnet seine Abdankungsurkunde / Berlin, 1919: Eröffnung des Großen Schauspielhauses / 1943: Beginn der Konferenz von Teheran zur Neuordnung Europas / 1960: Mauretanien wird unabhängig von Frankreich / 1964 wird „Mariner 4“ zum Mars gestartet / 1967: Entdeckung des ersten Pulsars durch Jocelyn Bell Burnell / 1975 erklärt sich Osttimor für unabhängig von Portugal / 2012 wird die Deutsche Digitale Bibliothek freigeschaltet.

 

Ich notierte:

1979: Da sich der konkrete Vertragsschluss für mein Auftragswerk für die Gedenkstätte Pelkau noch immer hinauszögerte, hakte ich heute nach und erfuhr von Riedel, dass er sich an den Schriftstellerverband mit der Bitte gewandt hatte, die Honorarhöhe für mich vorzuschlagen – keine Antwort, nur der Verweis, beim Justitiar des Mitteldeutschen Verlages nachzufragen… - keine Antwort. Das war’s also. Unglaublich. So schlug mir Riedel nun vor, dass wir uns einfach so einigen, Handschlag. Die Summe, die er dann nannte, lag jedoch unter dem, was ich heimlich zu hoffen gewagt hatte – doch ich ging darauf ein. Ich kann nicht länger pokern, brauche das Geld. 3000 Mark schlug Riedel vor, aber – das Arrangement könne er extra bezahlen und er könne auch vertraglich absichern, dass ich dann die Gesamtproben leite und auch dafür bezahlt werde. Und: seine Sekretärin stellt mir sogleich einen Barscheck über 1000 Mark aus. Und: zu Haus sagt Jeanny, dass sie einen Vierer in 6 aus 49 habe. Unglaublich.

1985: Heute Buchpremiere mit dem Kinderbuch in Merseburg, im Festsaal des Hauses der Kultur. Was für ein Panoptikum! Ich in der Saalmitte auf einem Podest mit weißgedecktem Tisch, Blumensträußchen, über mir riesiges Plakat mit meinem Namen (schwarz auf gelbem Grund – wie’n Ortseingangsschild), mindestens eine Stunde lang schlangestehende Leute, ’ne Menge bekannte Gesichter, eine Frau will unbedingt das heutige Datum eingeschrieben haben – e sei nämlich der Todestag ihrer Mutter – und als ich ihrem Wunsch nachkommen, packt sie einen Packen Texte aus, ihre Gedichte, sagt sie, und ich wohl mal so freundlich sein könne… und schon ist da auch ’n Typ der behauptet, ’nen Roman zu schreiben… Wie gut gemeint, wohlgesonnen das alles ist, aber nicht minder nervend…

1999: Erster Advent. Arbeit an den Spergau-Texten, aber am Abend sogar Zeit und Muße für Mine. Weihnachtslieder singen.

2000: Gegen sieben los gen Magdeburg: Bödecker-Geburtstagslesungen Teil 2, nun in einer Grundschule, der Grundschule Stormstraße. Heute sind wir nur 5 Autoren, unspektakulär das Ganze also, aber es läuft auch ganz gut. Weiter nach Niegripp, langsam rückt das Jahresende näher, da will alles gut abgeschlossen sein, und weiter nach Möser. Von da weiter nach Halle. Das ist aber nicht so recht zu erreichen: zwei Tage vor der offiziellen Eröffnung der sehnsüchtig erwarteten Autobahn Halle-Magdeburg, erlebe ich noch mal die „harte Variante“: Totalsperrung der Bundesstraße zwischen Dodendorf und Atzendorf. So fahre ich denn letztlich über Aschersleben nach Halle... Hier habe bin ich noch zu einem Gespräch mit dem neuen Intendanten des Thalia Theaters und seiner PR-Chefin verabredet. Das Gespräch lässt auf eine interessante Zusammenarbeit im neuen Jahr hoffen...

 

Bloßstellung

für

Abdul-Bahā’ / Virgil Abloh / Tuğçe Albayrak / Wasfi at-Tall / Frédéric Bazille / Maria Benz / Gian Lorenzo Bernini / Enid Blyton / Luc Bondy / Otto Brahm / Canela / Frédéric „Fred“ Chichin / Charles Crodel / Jean de Thévenot / Enrico Fermi / Washington Irving / Margareta „Meta” Klopstock / Jan Sladký Kozina / Tobias Langhoff / Filipe José Machado / Georg Major / Maria Theresia / Matsuo Bashō / Tony Meehan / Conrad Ferdinand Meyer / Georg Möbius / Leslie Nielsen / Christen Pram / David Prowse / Carlo Scarpa / Friedrich Wilhelm von Steuben / Fritz von Unruh / Otto Unverdorben / Ojārs Vācietis / Richard von Volkmann / Wolf Weitbrecht / Richard Nathaniel Wright / Stanisław Mateusz Ignacy Wyspiański / Francisco Antonio Zea

 

An diesem Tage fühlten wir uns hilflos bloß:

1599 gab es in Merseburg einen Frosteinbruch und die Kälte hielt bis Ende Februar an und war „so steng, daß fast alle Brunnen aus gefrohren, Obst-Bäume und Weinstöcke erfrohren“ / 1729: Beginn des Natchez-Aufstandes, in Fort Rosalie, Mississippi, werden 229 Kolonisten getötet / Antarktis, 1979: eine neuseeländische DC-10 prallt bei einem Rundflug gegen den Mount Erebus, alle 257 Insassen sterben / 1987 stürzt eine Boeing 747 nach einem Brand vor Mauritius in den Indischen Ozean, alle 159 Menschen an Bord kommen ums Leben / Tongchuan, Shannxi, 2004, Grubenunglück, 166 Bergleute werden verschüttet.

 

 

29. NOVEMBER

 

Solidarisierung

mit

Ai Xia / Ludwig Anzengruber / Chadwick Boseman / Danny Doherty / Gaetano Donizetti / Christian Andreas Doppler / John Ambrose Fleming / David Goldblatt / Johann Gottfried Gruber / Ernst Happel / Wilhelm Hauff / Jørgen-Frantz Jacobsen / Petra Kelly / Arvid Kleven / Hryhorij Mychajlowytsch Kossynka / Madeleine L’Engle / Leopold von Anhalt-Köthen / Carlo Levi / C. S. Lewis/ Siegbjørn Obstfelder / Christine Pascal / Bertha Pauli / Annemarie Reinhard / Ludwig Schumann / Gottfried Semper / William „Billy“ Strayhorn / Joachim Vadian / Frances Amelia Yates

 

Damit solidarisierten wir uns sogleich:

1516: Friedensvertrag zwischen Frankreich und den Schweizer Eidgenossen / London, 1814: erstmals wir „The Times“ im Schnelldruckverfahren hergestellt / Warschau, 1830: Beginn des Novemberaufstands gegen die russische Besatzung / Schweiz, 1847: Ende des Sonderbundskrieges / 1929 erster Flug über  den Südpol / 1945 wird Jugoslawien Föderative Volksrepublik / 1970: erste Ausstrahlung des „Tatort“ in der ARD / Vatikanstadt, 1984: Argentinien und Chile unterzeichen einen Vertrag zur Lösung der Grenzstreitigkeiten im Beagle-Konflikt.

 

Ich notierte:

19981: Konrad Potthoff überbringt mir bei Dirk Mandels Geburtstagfete die frohe Botschaft, dass wir beide zur Vorbereitung der Tage der Kinder- und Jugendliteratur in einem Org. Büro mitarbeiten können. Na, da bin ich ja gespannt.

1987: Sonntag nach dem Schriftstellerkongress. Noch müde, doch prall voller Anregungen, und bekräftigt, unbedingt schreiben zu müssen!

1999: Frühlingshafte Temperaturen, Sonnenschein. Langsam komme ich mit den Spergau-Texten zu Ende, beginne zu kopieren. Am Nachmittag eine Lesung für Senioren in Bad Dürrenberg. Volles Haus, auch einige Presse da. Am Abend sortiere ich die Spergau-Texte zu Broschüren, schweißtreibende Angelegenheit. In den Nachrichten die Meldung, dass es in Cambridge erstmals gelungen sei, ein menschliches Chromosom vollständig zu entziffern.

2000: Erstaunlich warmes, fast frühlingshaftes Wetter, Morgennebelschleier über der Aue, rötlich fahles Morgenlicht, und so sehe ich auf der Fahrt gen Oschatz stolz einen Graureiher stehen. Na, wenn das kein gutes Omen ist... Tatsächlich laufen die Lesungen dann sehr gut, auch wenn ein Reporter der hiesigen Zeitung sich ziemlich in Szene setzen muss... Am Nachmittag Büroarbeiten, u.a. kam mal wieder ein Fax vom Regierungspräsidium Magdeburg rein, die in der Finanzierung meines Film „Schloss in der Börde“ herumstochern (das Projekt lief 1995!) und am liebsten die Gesamtfinanzierung von schlaffen 170.000 DM zurückhaben möchten. Da kommt Freude auf!

2020: Mail vom Vorsitzenden des Merseburger Freundeskreises Literatur, in der er mich ultimativ auffordert, alle Daten bezüglich der AG Walter Bauer zu löschen bzw. zu vernichten und ihm dies umgehend zu bestätigen, eidesstattlich! Andernfalls müsse ich mit einer Anzeige und Hausdurchsuchung rechnen. Ja, wir denn langsam die ganze Welt verrückt, Corona-Koller oder was?

 

Schrei

für

Bella Achatowna Achmadulina / Ahkal Mo’ Nahb I. / Wiktor Petrowitsch Astafjew / Ralph Bellamy / Alonso de Ercilla y Zúñiga / Walter Matthias Diggelmann / Jens Christian Djurhuus / Nikolai Alexandrowitsch Dobroljunow / António Ferreira / Frauenlob / Philipp Nicodemus Frischlin / Cary Grant / George Harrison / Hathumod / Hans Holbein d.J. / Chris Howland / Hans Henny Jahnn / Jakob von Sarug / Fanny Janauschek / Karl IV. / Henry Kissinger / Erich Wolfgang Korngold / Soja Anatoljewna Kosmodemjanskaja / Marcello Malpighi / Zeppo Marx / John McCrea / Mario Monicelli / Claudio Monteverdi / Roland Oehme / Karl Peglau / Francisco Pi i Margall / Giacomo Puccini / Karl Asmund Rudolphi / Paul Ryan / Levon Schant / Philip Scheidemann / Johann Hermann Schein / Mary Somerville / Hans Süß von Kulmbach / Jørn Utzon / Johann Bernhard Vermehren / Natalie Wood / Christian Wilhelm Zeraeua

 

Da war uns nach Schreien zumute:

Antiochia am Orontes, 528: Erdbeben, 4.870 Tote / Syrien, 533: Erdbeben, bis zu 130.000 Todesopfer / Walla Walla, Oregon, 1847: Cayuse töten Marcus Whitmann und 16 Siedler / 1862 töten Colorado-Milizen beim „Sand-Creek-Massaker” 133 Chayenne und Arapaho / Nevada, 1952: erster unterirdischer Atomwaffentest / Kebumen, Java, 1967: Staudammbruch, bis zu 200 Menschen sterben / 1975 marschieren erste indonesische Truppen in das soeben unabhängig gewordenen Osttimor ein / Moiwana, Surinam, 1986: Massaker im Bürgerkrieg, 39 Zivilisten kommen ums Leben / 1987 explodiert eine südkoreanische Boeing 707 über Burma, 115 Tote.

 


30. NOVEMBER

 

Audienz

mit

Andrés Bonifacio / Jagadish Chandra Bose / Robert Broom / Martha Chase / Winston Churchill / Chandra Bahadur Dangi / Andrea Doria / Fritz Eckhardt / Siegfried Einstein / Nelsan Ellis / Elizabeth Wolstenholme Elmy / Siegfried Fall / Johann Christoph Förster / Gregor von Tours / Otto von Guericke / Hanaoka Seishū / Hans Krása / Rudolf Lavant / Carl Loewe / Brownie McGee / Sanja Milenković / Lucy Maud Montgomery / Ippolito Nievo / Gordon Parks / Helmut Richter / Philip Sidney / Tom Simpson / Clyfford Still / Mark Twain / Robert J. Widlar / June Pointer Whitmore

 

 

Da machten wir gern unsere Aufwartung::

Hamburg, 1676: Gründung der ersten Feuerversicherung weltweit /

1786 wird  in der Toskana als erstem Land der Welt die Folter und die Todesstrafe abgeschafft / Paris, 1886: erste Revue im „Folies Bergère“ / 1966 wird Barbados unabhängig von Großbritannien / 1967 erlangt die britische Kolonie Südjemen die Unabhängigkeit / 1975 wird aus der Republik Dahomey die Volksrepublik Benin / Rom, 1977: Gründung des Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung / 1990 ist die Berliner Mauer bis auf museale Reste vollständig abgerissen.

 

 

Ich notierte:

1981: Halle. Erster Tag im Org. Büro für die Tage der Kinder- und Jugendliteratur. Unklarheit über meine Aufgaben. Auf jeden Fall wird viel Arbeit auf mich zukommen. Ich muss sehen, dabei die eigene Arbeit nicht zu vergessen, davon nicht zu weit wegzutreiben.

1989: The day after sozusagen. Nach einer Serie von Diskussionen ist nun alles vorbei: Abberufung als Leiter des Bezirksliteraturzentrums Halle – auf meinen Wunsch hin. Noch vierzehn Tag Urlaub, und dann – freischaffend? Ich fühle mich eher als arbeitslos. Denn ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen kann, privat und überhaupt. Doch erst mal aus allem raus. Gut so, wichtig! Schlimm, wie die Schuld der großen Bonzen nun mitzutragen ist. Und wer weiß wohin ich geschoben worden wäre, wenn ich wirklich mitgespielt hätte…? Warum überhaupt hatte ich mich auf diesen Weg, auf die Kulturpolitik, ziehen lassen? Um zu verändern! Nun wird verändern, weißgott. Doch meine Quittung ist bitter.

1999: Im Künstlerhaus Verwaltungskram für den Verlag. Noch mal schnell nach Hause, Taschen packen für den Abend. Ich bin zu einer Lesung schreibender Schüler nach Harzgerode eingeladen, von Ingrid Hinze, dem guten Geist des Schreibnachwuchses hier. Sehr schöne, stimmungsvolle Veranstaltung im Harzgeröder Schloss. Voller Saal. Danach lädt mich Ingrid zum Abendbrot ein. Und da ich am Ende bei Hinzes übernachte, gibt’s noch unendlich viel zu erzählen.

2000: Ich entscheide mich, wohin wir im nächsten Jahr mit Mine in den Urlaub fahren wollen: Lanzarote, Mines erster Flug. Klar, das buche ich dann sogar gleich...

2021: Mir müssen mal wieder zwei Hautkrebs verdächtige Male entfernt werden. Vor dieser kleinen ambulanten Operation versuche ich gleich auch einen Booster-Impftermin für mich und Jeanny zu bekommen. Und obwohl die Politiker und die Medien händeringend an „die Menschen“ appellieren, sich rasch impfen zu lassen, um das Grassieren des Virus einzudämmen, müssen wir noch sechs Wochen warten. Erst Mitte Januar wäre der nächste Termin frei, da den niedergelassenen Ärzten neuerdings die Impfdosen reglementiert wurden, nun wöchentlich zugewiesen werden. So viel zu also, zu politischen Drücken und den Realitäten im Lande…

2022: Am Abend Buchpremiere „Phönixlied“ im Literaturhaus Halle mit meinem Lektor und André und meinem Verleger Roman. Stimmungsvolle Veranstaltung, ich habe sogar O-Töne von Walter Bauer dabei, ein russischer Pianist begleitet am Flügel. Danach mit André und Anett Oelschlaegel auf zwei, drei Bierchen mit guten Gesprächen.

 

Achtung

für

Kathy Acker / Wladimir Iljitsch Amlinski / Johann Elias Bach / Johann Ernst Elias Bessler „Orffyreus“ / August Theodor Blanche / Hélène Boucher / Bonaventura Francesco Cavalieri / Guy Debord / Jorge Donn / Gertrude Ederle / Johann Friedrich Anton Fleischmann / Wilhelm Furtwängler / Meinhard von Gerkan / Erich Gloeden / Erich Grisar / Max Halbe / Etty Hillesum / Christiane Hörbiger / Elizabeth Kenny / Harry Graf Kessler / Otfried Friedrich Krzyzanowski / Ernst Lubitsch / Shane MacGowan / Christine McVie / Fatima Mernissi / Zdenĕk Miler / Theodor Mommsen / Luigi Mosca / Theodor Mundt / Maria Severa Onofriana / Fernando Pessoa / Francis Picabia / Esmond Marcus David Romilly / Alexandre Roussel / Paul Otto / Walter Saal / Max Skladanowsky / Hilde Spiel / Squanto / William Steinway / Jonathan Swift / Tiny Tim / Trude Unruh / Paul William Walker IV / Dorrit Weixler / Oscar Wilde / Ulrich Wildgruber / Hubert Wilkins / Michael Wolgemut

 

So verloren wir Achtung:

Veracruz, 1838: Ausbruch des Kuchenkrieges zwischen Frankreich und Mexiko / 1939 überfallen sowjetische Truppen Finnland / Philippinen, 2006: Schlammlawine am Vulkan Mayon, mehr als 300 Menschen sterben / 2023: bei Überflutungen infolge wochenlanger, schwerer Regenfälle kommen in Kenia und Somalia mindestens 200 Menschen ums Leben .

 


1. DEZEMBER

 

Fiktion

mit

Franz Bardon / Julee Cruise / Jan Długosz / Enrique el Mellizo / Anna Heilmann / Paul Hübner / Anna Louisa Karsch / Johan Henrik Kellgren / Martin Heinrich Klaproth / Ledi Sayadaw / Kurt Lichtenstein / Morris / Eggert Ólafsson / Jaco Pastorius / Richard Pryor / Jean Lowry Rankin / Lou Rawls / Red Cloud / Karl Schmidt-Rottluff / Nora Schimming-Chase / Ivica Šerfezi / Matthew Wayne Shepard / Rex Stout / Ernst Toller / Erdmann Uhse / Violette Verdy / Paul Vincent / Carola Williams / Minoru Yamasaki

 

An diesem Tage kamen uns Fiktionen in den Sinn:

1167: Gründung des Lombardenbundes / 1640:Ende der Personalunion Portugals mit Spanien / Cincinnati, 1866: Eröffnung der Suspension Bridge / Berlin, 1876: Inbetriebnahme des ersten städtischen Rohrpostnetzes / 1884: Einführung der deutschen Krankenversicherung für Arbeiter / 1913 beginnt die Ford Motor Company die Fließbandarbeit ein / 1918: Vereinigung Siebenbürgens mit Rumänien / 1918 wird Island selbständiges Königreich/ 1925: Unterzeichnung der Verträge von Locarno zwischen Deutschland und den Siegermächten des Ersten Weltkrieges / 1959: Unterzeichnung des Antarktis-Vertrages mit dem Verbot der militärischen Nutzung dieses Kontinents / Österreich, 1978: Inbetriebnahme des Arlbergtunnels / 1990: Durchbruch beim Bau des Eurotunnels.

 

Ich notierte:

1976: Leipzig. Am 1.12. beginnt der Winter bei der Fahne, nicht eher, nicht später, also kriegen wir auch keinen Tag zuvor Handschuhe, die haben dann aber nur 4 Finger, Handschuhe für Krüppel in spe also?...

1980: Heute wurde das Monstrum in meinem Mund endlich besiegt, ich bin meinen fauligen, ewig schmerzenden Zahn los, komplikationslos gezogen! Dr. Maue, könnte mir meine Zahnarzt-Phobie nehmen, gibt mir Vertrauen. Tja, das war heute aber wohl auch (angesichts des Gesamtzustand meiner Zähne) der erste Schritt hin zur Gebisserzeugung – als Teil einer Restauration meiner selbst? Aber was rede ich da so geschwollen einher! Ich bin einfach erleichtert…

1987: Halle. Gestern mit schreibenden Schülern im Jugendtheater. Wir sehen „Der Drache“ von Jewgeni Schwarz. In der Pause empören sich „meine“ schreibenden über die Unaufmerksamkeit, das Lärmen der anderen Schüler, fühlen sich gestört. Das ist bemerkenswert. Jedoch glaube ich nicht an eine prinzipielle Ablehnung des Stückes durch die Störer. Am Ende, bei der Verabschiedung der Schauspieler werden der böse Drache ausgepfiffen und der gute Lanzelot beklatscht. Der Sinn des Ganzen wurde also durchaus erfasst. Nur verhielten sich diese Schüler, zumal in der Gruppe, gegenüber dem dramatischen Genre, gegenüber bewegten Bildern, wie sie sich auch zu Hause verhalten – wie vorm Fernseher!

1999: Sturm, Regen. Ich fahre von Harzgerode nach Quedlinburg. Zwei Veranstaltungen in der Stadtbibliothek. Gute Gespräche. Dann zurück nach Hause. Unterwegs hole ich noch die fertiggebundenen Spergau-Mappen ab. Sehen sehr gut aus. Hat es sich also gelohnt, dass ich vom Zusammenlegen der Texte noch immer Muskelkater habe (hoffe ich).

2000: Auf nach Bad Bibra. Als erstes habe ich eine Lesung in der Grundschule Saubach. Die Direktorin sagt zur Eröffnung, dass ich der erste Schriftsteller sei, der in diese kleine Schule kommt. Na, da muss man sich entsprechend anstrengen. Und es wird auch eine sehr schöne Lesung. Die Direktorin lädt mich danach zum Essen ein. Das lässt man sich selbstredend gefallen. In Bad Bibra dann um 14.00 Uhr die Eröffnung des Workshops, Bürgermeister, Landrat etc., übergehend in die Premiere des „Unstrutnix“ mit all den Kindern, die durch den Zeichenwettbewerb mit illustriert haben. Volles Haus, gute Stimmung, auch die Presse zieht mit. Dann mit den Seminarteilnehmern zur Besichtigung in die Bibraer Bücherei und die Käserei. Nach dem Abendbrot Lichtbildervortrag über Bad Bibra und zu guter Letzt noch eine Weinverkostung. Na, da kann doch keiner meckern...

2020: Heute eine befreiende Mail von meinem Anwalt: es gab keinen Widerspruch für den Anfang November im Magdeburger Amtsgericht gefundenen Kompromiss. Wow, nach fast zweieinhalb Jahren ist der ganze juristische Kleinkrieg des Bödecker-Kreises gegen mich also endlich zu Ende. Ich werde wohl einmal drüber schlafen müssen, um das wirklich glauben zu können.

2021: Mittags in die Sekundarschule Schkopau. Lehrerrinnen hatte mich mehrmals nett gebeten, in der Jury ihres Vorlesewettbewerbs der 6. Klassen mitzuwirken. Solche Wettbewerbe hatte ich einst landesweit installiert und geleitet. Ich kann also schlecht Nein sagen (zumal mir die Damen versicherten, dass ihre Schüler nun täglich auf Corona getestet würden - wie gestern ich vor meinem kleinen chirurgischen Eingriff). Hoffentlich ist es kein Fehler.

2022: Als die deutsche Nationalmannschaft letztmals frühzeitig bei einer Fußballweltmeisterschaft ausschied, war ich auf der Rückfahrt von Darmstadt, wo ich mit dem Oberbürgermeister über ein neues Domizil für den PEN verhandelt hatte, nach Hause. Was ich nicht wusste: zur selben Zeit hockten in Magdeburg konspirativ missgünstige Bödecker-Leute zusammen und beschlossen, mir zu kündigen. Heute sitze ich Zuhause und verfolge das peinliche Spiel und hoffe, dass sich da nicht wieder parallel irgendwelche Intriganten und Neider verschwören. Vergessen kann man sowas offenbar nie…

 

Fabel

für

Alvin Ailey / James Baldwin / Hans Beimler / David Ben-Gurion / Blind Blake / Jeremiah Clark / Aleister Crowley / Virginie Déjazet / Joseph Engelberger / Natalie von Eschstruth / George Everest / Christan Garve / Stéphane Grapelli / Barbara Hanrahan / Claude Jade / Margit Kaffka / Martin Heinrich Klaproth / Justin Heinrich Knecht /Kyokutei Bakin / Sergei Mironowitsch Kirow / Philippe Leudon d’Humbersin / Giaime Pintor / Alfred Rethel / José Eustasio Rivera Salas / Ernst Rowohlt / Thietmar von Merseburg / Joachim Vadian / Christa Wolf

 

Das empfanden wir gewiss nicht fabelhaft:

1145. Papst Eugen III. beginnt für einen zweiten Kreuzzug zu werben / 1503: Beginn des Landshuter Erbfolgekrieges / Bergamo, 1923: Talsperrenbruchbruch im Valle di Scalve, bis zu 600 Tote / Sowjetunion, 1934: Beginn der „Stalinschen Säuberungen“, der wohl bis zu 20 Millionen Menschrn zum Opfer fallen / Ajaccio, 1981: beim Landeanflug prallt eine MD-80 gegen einen Berg, alle 178 Insassen sterben / Wuhan, 2019: der erste bestätigte Fall von Covid-19 tritt auf / Philippinen, 2006 ein Taifun löst am Vulkan Mayon mehrere Schlammfluten aus, bis zu 1.000 Menschen kommen ums Leben.

 


2. DEZEMBER

 

Forschung

mit

Dschalāl Āl-e Ahmad / Johann Christoph von Aretin / Isaak Bacharach / Gary Becker / Joseph Bell / Matwei Petrowitsch Bronstein / Maria Callas / Jonas Cohn / Nicolaus Samuelis Cruquius / Otto Dix / Marion Gräfin Dönhoff / Fred Düren / Joseph White Farnham / Peter Carl Goldmark / Adolph Green / Einar Heimisson / Reinhard Höppner / Wynton Kelly / Eberhard Kieser / Anna Komnena / Wifredo Lam / Fate Marable / Johannes Petrus Minckeleers / Andy Palacio / Emilie Mediz-Pelikan / Annelise Modrze / Franklin Leonard Pope / Osvaldo Pugliese / Nico Max Richter / Ibrahim Rugowa / Ghasisa Achmetqysy Schubanowa / Georges Seurat / John Leigh Testrake/ Gianni Versace

 

 

Da würden wir jederzeit weiter forschen:

Leipzig, 1409: offizielle Eröffnung der Universität / Washington D.C., 1946: Gründung der Internationalen Walfangkommission / 1949: Verabschiedung der UN-Konvention zur Unterbindung des Menschhandels / 1971: Gründung der Vereinigten Arabischen Emirate / 1975 Ausrufung der Demokratischen Volksrepublik Laos / Salt Lake City, 1982: erste erfolgreiche Einpflanzung eines Kunstherzens / 1999 erhält Nordirland seine Autonomie zurück.

 

 

Ich notierte:

1908: Am Nachmittag setzt dichter Schneefall ein. Ich bin mit dem Auto unterwegs nach Ha-Neu zu Harald Korall. Er hatte mir eine Karte geschrieben, will mit mir über meine Texte reden. Aber irgendwie kommt dabei nur eine Rutschpartie heraus, komme ich nicht an.

1981: Edith Bergner gab mir heute den Rat: Ein guter Organisator ist der, der weiß, wer mit wem – und: wer mit wem nicht – und warum!

2000: Bad Bibra: Nach dem Frühstück weiter mit dem Workshop, Berichte von Projektdörfern, Konrad stellt die „Zeitzeugen-Reihe“ vor, Lesung schreibender Senioren. Nach dem Mittagessen zur „Ankunft der Bibraer Glocken“: ein gebürtiger Bibraer, nunmehr Millionär in Kalifornien hat der Stadt ein neues Geläut spendiert, wird entsprechend gefeiert, Umzug, Tamtam und so. Die Glocken werden auf Pferdewagen vorgefahren und die Namen der Glocken erläutert: Frieden, Freiheit, Familie. Nun ja, kein Wunder, dass da aus der Gruppe der teilnehmenden Autoren eine andere Namenskette kommt: Friede, Freiheit. Eierkuchen... In der „Bibermühle“ weiter mit dem Workshop, übergehend am Abend in eine öffentliche Lesung.

2010: Häutungsversuch: Software updaten, Mails löschen, Stromversorger wechseln, Smartphone bestellen, Badeurlaub buchen: eingeschneit.

2013: Nachdenkend über Kulturpolitik gebe ich in mein Navi „Bitterfelder Weg“ ein, wäre so allerdings nicht in die DDR, sondern nach Frankfurt am Main (Zeilsheim), Berlin (Rudow) oder Mannheim gelangt. Schau an.

2021: Die Regierung beschließt neue Regeln gegen die Corona-Pandemie. Mein Tageablauf sieht in diesen Zeiten ewig gleich aus: steht auf, schreibt, fährt Rad, säuft, schläft, schreibt, liest, hört Musik, säuft, sieht fern, schläft.

 

 

 

Furor

für

Johann Friedrich Agricola / Albert Ammons / José María Arguedes Altamirano / Desi Arnaz / Heinrich Band / John Brown / Charlie Byrd / Aaron Copland / Kevin Coyne / Robert Cummings / Robertson Davies / Marquis de Sade / Gregorio del Pilar / Justin Elie / Marty Feldman / Romain Gary / Johan Nordahl Brun Grieg / Ludwig Jacobowski / Bobby Keys / Philip Larkin / Luis Federico Leloir / Dinu Lipatti / Jenny Marx / Gisela May / Johann Simon Mayr / Gerhard Mercator / Rolf Müller-Landau / Junior Murvin / Odetta / Franz Osten / Jan Potocki / Luciano „Chano“ Pozo y Gonzales / Rudolf Prack / Edmond Eugène Alexis Rostand / Philipp Otto Runge / Jan van Ruusbroec / Sabu / Joost Schmidt / Joe „Fox” Smith / Leopold Stein / John Baxter Taylor / Wilhelm Tkaczyk / Mehmet Emin Toprak / Manuel Ugarte / Mariska Veres / Mal Waldron / Jürgen Wittdorf / Eric Woolfson / Yip Man

 

An diesem Tage wurden wir wütend:

Frankreich, 1851: Ende der Zweiten Republik / 1879: Untergang des britischen Passagierschiffs „Borussia“, 169 Menschen kommen ums Leben / 1959: Einsturz der Staumauer Malpasset in Südfrankreich, 423 Todesopfer / Philippinen, Taifun: 1.000 Menschen sterben.

 


3. DEZEMBER

 

Vervielfältigung

mit

Cleveland Abbe / John W. Backus / Bernhard Bästlein / Connee Boswell / Wilhelm Brasse / Cory Brokken / Kevin Alexander Clark / Joseph Conrad / Samuel Crompton / Franz Josef Degenhardt / Anna Freud / Michael Glawogger / Jean-Luc Godard / Ove Joensen / Mathilde Kralik / Esward Lasker / Bernhard Lichtenberg / Elfriede Lose-Wächtler / Wolfgang Neuss / Sven Nykvist / Richard Pearse / France Prešeren / Scheich Bedruddin / Gregorius Skoworoda / Fritz Steuben / Gilbert Stuart / John Wallis / Anton Webern / Manfred Wekwerth / Mario Wirz /

 

Das hätten wir gern vervielfältigt:

Hamburg, 1960: Neueröffnung des Thalia-Theaters / Kapstadt, 1967: erste Herztransplantation bei einem Menschen / 1973 erreicht die Raumsonde „Pioneer 10“ den Jupiter / Großbritannien, 1992: erstes Versendung einer SMS.

 

Ich notierte:

1982: Mal wieder eine Identitätskrise: bin ich der, den ich da im Spiegel sehe? Flucht in den Schlaf, doch jämmerliches Erwachen. Doch ich weiß, wenn ich mir misstraue, misstraue ich natürlich meinen Worten. Wie soll man da schreiben? Naivitäten sind längst weg, Eitelkeiten lächerlich, Ignoranz nicht mehr möglich.

1999: In Halle Besichtigung neuer Räume für den Projekte Verlag, denn aus dem Künstlerhaus wollen wir nun ganz raus. Dann einmal mehr Schreibseminare mit den Schülern in der Wittekindschule sowie in der Klosterstraße. Am Abend im Merseburger Rathaus Premiere der „Merseburger Notizen“, zu der ich als Mitautor mit eingeladen bin. Wichtiger jedoch: zuvor berede ich mit Dr. Pleßke, welche Vorschläge wir als hiesige Walter-Bauer-Preisträger den Bürgermeistern der Städte Merseburg und Leuna unterbreiten werden, um die weitere Vergabe zu sichern und attraktiv zu halten. Unser personeller Vorschlag für den nächsten Preis: Wilhelm Bartsch. Und im Jahre 2004, anlässlich Walter Bauers 100. Geburtstag sollte im Umfeld der Preisvergabe ein Symposium stattfinden. Und sollte es Günter Hess bis dahin noch immer nicht geschafft haben, die Walter Bauer Biografie vorzulegen, sollte ich dem rechtzeitig entgegenwirken, will sagen: eine Biografie aus meiner Sicht, vielleicht als Herausgeber erarbeiten.

2001: Molmerswende. Ein hermetisch-harmonisches Wochenende lang saßen wir im Gottfried-August-Bürger-Museum beisammen und nichts schien wahrer als die Lügengeschichten, die wir uns auftischten. Schon bei der Heimfahrt aber drangen übers Radio wieder die Realitäten dieser Welt in uns ein und nichts war unglaublicher als all diese Nachrichten...

2022: Am Nachmittag nach Merseburg. Mit Paul Bartsch gestalte ich einen Buch- & CD-Basar in der Sitte-Galerie. Selbstredend singen und spielen wir auch zusammen und ich lese. Vorwiegend Laufpublikum, da im Schlosshof der Weihnachtsmarkt lockt.

 

Vereisung

für

Juan José Arreola Zúñiga / Dev Anand / Philipp Barry / Giovanni Battista Belzoni / Andrei Georgijewitsch Bitow / Vladimír Clementis / Johann Peter Eckermann / Andrea Fay Friedman / Wilfried Gaul / Hermann Goetz / David Gray / Hanno Günther / David Hemmings / Edward Hincks / María Izquierdo / Siegfried Jacobsohn / Attila József / Annette Kolb / Jutta Lampe / Lothar III. / Klaus Löwitsch / Ian McLagan/ Siegfried Adolf Meißner/ Sergei Gennadijewitsch Netschajew / Mirco Nontschew / Antonia Pozzi / Christian Daniel Rauch / Pierre-Auguste Renoir / Scatman John / Robert Louis Balfour Stevenson / Peter Stromer / Scott Richard Weiland / Logan Whitehurst / Carl Zeiss

 

Da wurde es uns eisig kalt:

1810: Mauritius wird britisch nach der Niederlage der französischen Besatzung / Ballarat, Australien, 1854, Niederschlagung der „Eureka Stockade“, 28 Tote / Teneriffa, 1972: Absturz eines Charterflufzeuges beim Start, alle 155 Insassen sterben / Bhopal, Indien, 1984: Giftgasunfall, 8.000 Menschen kommen sofort ums Leben, an Folgekrankheiten in den nächsten Jahren 20.000 Menschen / 2023: beim Ausbruch des indonesischen Vulkans Merapi sterben mindestens 22Wanderer.

 

 

4. DEZEMBER

 

Wettkampf

mit

At-Tāhir al-Hāddad / Joseph Aub / Nikolos Barataschwili / THorst Buchholz / Thomas Carlyle / Edith Louisa Cavell / Jean Chapelain / Hebe de Bonafini / Fat Pat / Carlos Franqui / Henri Grégoire / Hannes Hafstein / Jim Hall / Josef Hoop / Friedo Lampe / Elfriede Lohse-Wächtler / Wayne Lotter / Elvira Madigan / Persius / Gérard Philipe / Rainer Maria Rilke / Gary Rossington / Enver Şimşek / Caroline Weldon / Dennis Carl Wilson / Erwin von Witzleben

 

Das hielten wir für wettkampfbeständig:

London, 1791: „The „Observer“, die erste Sonntagszeitung erscheint / Spanien, 1808: Napoleon hebt die Inquisition auf / Indien, 1829: der britische Generalgouverneur verbietet die Witwenverbrennung / 1897: Ende des Griechisch-Osmanischen Krieges / Leipzig, 1915: Inbetriebnahme des Kopfbahnhofs / Dessau, 1926: Einweihung des neuerbauten Bauhauses / Berlin, 1924: Eröffnung der ersten deutschen Funkausstellung / 1959 schießt die NASA den Rhesusaffen Sam ins All / Saint-Malo, 1967: das Gezeitenkraftwerk geht ans Netz.

 

Ich notierte:

1982: Cathis Lehrerin hatte mich gebeten, in die Schule zu kommen. „Im Interesse ihres Kindes…“ Und in der Schule erwartet mich ein Tribunal: Direktor, Elternaktivvorsitzender, Praktikantin, Lehrerin. Und ich glaube ich höre nichts recht: das Elternhaus Jankofsky zerstöre die Bemühungen der Schule einen funktionierenden Staatsbürger zu erziehen (so die Quintessenz ihrer langen Reden)! Was hat Cathi denen erzählt? Ich erwäge, den Spieß umzudrehen, die Lehrerin anzugreifen (mit dem, was mir Cathi so über sie erzählte), doch sinnlos wohl gegen vier Verschworene und so würde ich Cathi die Chancen nehmen. Ich signalisiere also Gesprächsbereitschaft zur Wahrheitsfindung. Denn offenbar wir hier über zwei verschiedene Kinder gesprochen. Und immer wieder vier gegen einen, ein Greifen wie in Watte. Und dann zitiert der Direktor sogar aus dem Gesetzbuch! Wie gesagt, ich werde mich um die Wahrheitsfindung bemühen, denn einer hier muss lügen! Oder? Nein, ich muss Cathi zu schützen versuchen, sonst machen die ihr noch alle Phantasie kaputt (falls es nicht schon zu spät ist…) Dieser Feldwebel von Lehrerin, meingott.

1985: Vierzehn Tage ist es nun her, dass ich im Mitteldeutschen Verlag abgekanzelt wurde, na ja, diese „Annäherungsversuche“ da, Herr Neutsch meint zwar, aber bring’se mal besser bald dreißig neue Seiten vorbei… Und am letzten Wochenende wurde ich am Rande der Verbandstagung – so ganz beiläufig – als Kandidat aufgenommen… Heute nun sagt Sylvia, meine Chefin, sie habe auf der Geburtstagsfeier des Bezirksbibliothekars mit Herrn Günther, dem Chef des Mitteldeutschen Verlages reden können, und der habe ihr versprochen, „Annäherungsversuche“ selbst zu lesen… Verrückt – Ablehnung des Manuskripts durch ihn hieße dann also für mich, endlos weiter in der Leitung des Literaturzentrums arbeiten zu müssen, Annahme: den Sprung ins freischaffende Dasein wagen zu können? Nachtigall ick hör dir trapsen…

1988: Wetterextreme mal wieder: Nieselregen bei Minusgraden. Blitzeis. Eigentlich wollten wir nach Berlin. Martin wird 40. Doch nichts geht mehr. Alle Straßen sind Spiegel, vereiste Bäume klirren, splittern, selbst Fernsehen ist nicht mehr möglich, da die Antennen eisgepanzert sind.

1998: Jičín. In welchem Wirtshaus (frage ich mich) mag General Clam Gallas, achtzehnsechsundsechzig, ganz im Gegensatz zur Masse seiner Habsburger Mannschaft wohl den Angriff der Preußen überlebt haben, entdecke aber mitten auf dem Markt, arkadenumstanden, jene Säule samt Marien-Statue, deren Heiligenschein Jaroslaw Seifert Kritik eintrug: vierzehn Sterne hatte ein Leser darin gezählt, der Dichter hingegen nur dreizehn beschrieben. Und ich zähle (mehrmals, wirklich!) nur deren zwölf. Na, denn Clam Gallas, ich komme!

1999: In der Nacht fegte ein Orkan übers Land, am Morgen aber wieder Beruhigung. Ich treffe mich mit Schülern, die sich am Schreibaufruf „10 Jahre danach“ beteiligten im Merseburger Museum, wo derzeit eine Ausstellung zur Wende in Merseburg hängt. Ganz gute Textdiskussion.

2000: Am Nachmittag nach Halle: ins Thalia Theater, zu Susanne und Wilhelm, dann ins Marktschlösschen, Rundfunk-Interview über „Dorf liest“ und Tagung des Förderkreises. Am Abend ein Fax meines „Novembertau“-Verlegers: die erste Auflage ist vergriffen, er wird nachdrucken. Na, solch ein Signal hatte ich ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr...

 

Weihe

für

Hannah Arendt / H. C. Artmann / Fritz Löhner-Beda / Tommy Bolin / Benjamin Britten / Omar Chayyāam / Guarino da Verona / Adrien de Gerlache de Gomery / Charles Henry Dow / Petja Stojkowa Dubarowa / Pericle Fazzini / Petronio Franceschini / Luigi Galvani / John Gay / Stefan George / Heinrich Göbel / Manuel Göttsching / Hadžem Hajdarevic / Fred Hampton / Johann David Hartmann / Thomas Hobbes / Jakob Friedrich Kammerer / Shashi Kapoor / Adolph Kolping / Wilhelm Maria Hubertus Leibl /Jakob Locher / Francisco Manuel Lumbrales de Sá Carneiro / Gustav Meyrink / Carlo Mierendoff / Manfred Simon Noa / Thomas Hunt Morgan/ Manfred Simon Noa / Sonia Pierre / Charles Richet / William Sturgeon / Hubert Sumlin / John Tyndall / Dieter Waldmann / Marie Wiegmann / Werner Wolff/ Frank Vincent Zappa / Gerard Zerbold

 

An diesem Tage sahen wir üble Entweihungen:

1944: bei einem Luftangriff kommen 6.500 Menschen ums Leben / 1978 stürzt eine DC-8 über Colombo ab,  alle 191 Insassen sterben / 1977 explodiert eine entführte Boeing 737 über Joho Bahrein, Malysia, alle 100 Menschen an Bord kommen ums Leben / Perm, 2009: Brandkatastrophe in einem Nachtklub, 155 Todesopfer.

 

 

5. DEZEMBER

 

Lehrstück

mit

Fayza Ahmed / Horst Bastian / Louise Bryant / J. J. Cale / Clyde Cessna / Esaias Compenius d.Ä. / Paul Crutzen / Aracy de Carvalho / Camarón de la Isla / Joan Didion / Walt Disney / Herbert Dreilich / Ubbo Emmius / Francesco Geminiani / Johannes Heesters / Werner Heisenberg / Tim Hetherington / Tom Jütz / Fritz Lang / Lin Biao / Little Richard / E. Marlitt / Benjamin Bolanti „Gwigwi” Mrwebi / Oscar Niemeyer / Willibald Pirckheimer / Otto Preminger / Ales Rasanau / Clarisse Ratsifandrihamanana / Little Richard / Christina Rossetti / Kim Simmonds / Arnold Sommerfeld / Władyslaw Szpilman / Wladimir Fjodorowitsch Tendrjakow

 

Das hielten wir für lehrreich:

Frankreich, 1360: Einführung des Francs / London, 1766: erste Versteigerung im Auktionshaus Christie’s / München, 1858: Erste Vorstellung im Marionettentheater / Berlin, 1894: Schlusssteinlegung für den Reichstag.

 

Ich notierte:

1981: Am Nachmittag lese ich in Muschwitz für Kinder meine Katzengeschichte. Die Lehrerin fragt mich hinterher: haben sie das schon oft gemacht? Wollte wohl meinen „unpädagogischen Ansatz“ versteckt kritisieren. Aber genau das ist es – ich brauche Routine, Lese-Routine, muss mir Programme einfallen lassen, die kindlichen Erwartungen und Möglichkeiten entsprechen! Runter von toten Pferden! Danach auf der Suche nach einem passenden Geschenk für Konrads zweite Hochzeit. Was schenkt man da? Eine freundliche Verkäuferin sieht, dass ich ratlos vor Regalen stehe. Sie empfiehlt 3 Töpfe für 66 Mark 20. Na ja, sage ich und suche weiter, finde schließlich eine Passiermaschine. Was für ein Ulk, totaler Ulk, passend also. Die freundliche Verkäuferin starrt mich an: Ein Hochzeitsgeschenk für 6 Mark 95? Ja, ein Hochzeitsgeschenk für 6,95, meingott! Als ob es der Preis mache… Am Abend schneit es, Sturm und plötzlich Blitz und Donner – im Dezember? Ich denke, doch nicht wieder das Werk verdammt! Doch tatsächlich Gewitter, schnödes Gewitter. Scheiß Angst, die da auf einmal wieder hochkam. Mein Leben -alles nur Retusche. Aber weiß ich was Besseres?

2000: Gegen sechs auf in den Spreewald: Lesungen in Burg bei Vetschau. Da das Wetter nach wie vor ungewöhnlich mild ist, komme ich gut und rechtzeitig an. Die Lesungen selbst kommen sehr gut an, dankbares Publikum. Zur Kaffeezeit wieder zu Hause, ein bisschen Büro, ein bisschen Lesen und dann mal wieder mit Mine spielen. Klar, der Vorabend des Nikolaustages ist eine gute Zeit für Geschichten...

 

Letzter Aufzug

für

Mushtaq Ahmed / Robert Aldrich / Kirstie Alley / Rudolf Bahro / Robert „Bob” Berg / Reiner Bredemeyer / Dave Brubeck / Eugen Cicero / McKinley Howard „Kenny“ Dorham / Claude Dornier / Alexandre Dumas d. Ä./ Richard Eilenberg / Joseph Erlanger / Johann Friedrich Fasch / Ernst Richard Ferdinand Feldtkeller / Heinz Fülfe / Aurobindo Ghose / Ferhat Hached / Johnny Hallyday / Bill Hardman / Karl Amadeus Hartmann / Alfred Hrdlicka / J. Jayalalithaa / Stefan Jelovac / Kalki / Rahsaan Roland Kirk / Denny Laine / Nicholas Vachel Lindsay / Robert Lowry / Nelson Mandela / John Miles / Claude Monet / Wolfgang Amadeus Mozart / Oscar Niemeyer / August von Platen / Władysław St. Reymont / Jack Rose / Sabas / Gustav Sack / Albrecht Schaeffer / Wiktor Borissowitsch Schklowski / Walentin Alexandrowitsch Serow / Amrita Sher-Gil / Hermann Stenner / Nicolaus Steno / Karlheinz Stockhausen / Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg / Seki Takakazu / Charles Carroll Taylor / Violetta Villas/ Phillis Wheatley / Colin Wilson

 

Da, glaubten wir, könne nichts mehr kommen:

1557 sieht man in Merseburg „drey sonnen“ / Lyon, 1831: Niederschlagung des ersten Aufstands der Leinenweber, 600 Todesopfer, 10.000 Personen werden aus der Stadt verwiesen / 1848: Ausbruch des „kalifornischen Goldrauschs“ / 1865: Beginn des Spanisch-Südamerikanischen Krieges / Moskau, 1931: Zerstörung der Christ-Erlöser-Kathedrale / London, 1952: Beginn des „Great Smog“, dem in den folgenden drei Monaten 12.000 Menschen zum Opfer fallen / Tudun Biri, Nigeria, 2023: versehentlicher Raktenangriff der Armee auf ein muslimisches Dorf, 85 Zivilisten sterben..

 

 

6. DEZEMBER

 

Erkenntnis

mit

Frédéric Bazille / Henriëtte Bosmans / Dave Brubeck / Marcel Callo / Henri H. Catargi / Pierre-Henri de Valenciennes / Alfred Eisenstaedt / Rudolph Fittig / Joseph Louis Gay-Lussac / Ira Gershwin / Henryk Mikołaj Górecki / Thaddäus Haenke / Charles Martin Hall / Nikolaus Harnoncourt / Rolf Hoppe / Nicolas Isouard / Ernst Keil / Gideon Klein / Sophie von La Roche / Gunnar Myrdal / Nils Otto Gustaf Nordenskjöld / Marce1 Pauker / Charlotte E. Pauly / Klaus-Jürgen Ratty / Randall William „Randy“ Rhoads / Albrecht Schaeffer / Mike Smith / Birger Sjöberg / Marie Takvam / Alain Tanner / Ryan Wayne White / Rafał Wojaczek / Petko Wojwoda / Dmitri Antonowitsch Wolkogonow / Alexander Iwanowitsch Wwedenski / Heinrich Robert Zimmer

 

Das brachte uns reichlich Erkenntnis:

Merseburg, 1427: ist es hier so warm, „daß man blaue Kornblumen in felde u. andere Blümelein in garten gefunden, an etlichen orthen haben die pfersich Bäume geblühet, u. ist den ganzen Winter über kein frost gewesen, daß dergleichen winter niemand gedenckcn kann“ / 1534 wird die alte Inka-Hauptstadt Quito neu gegründet / Helsinki, 1768 erscheint der erste Band der „Encyclopædia Britannica“ / Tell el-Amarna, 1912: Entdeckung der Nofretete / 1917: Finnland erklärt seine Unabhängigkeit von Russland / -Büste / 1921: Ende des Irischen Unabhängigkeitskrieges / 1922: Gründung des Irischen Freistaats.

Ich notierte:

1981: Bei Konrads Hochzeit erzählt mir Kowalski, dass in Berlin Leute wie Kolbe oder Papenfuß neuerdings Lyrik-Lesungen mit Punk-Musik verbinden, um Publikum anzulocken. Was soll das? Die haben doch keine Ahnung von Musik, beherrschen kein Instrument. Sollte ich mich so getäuscht haben, als ich die derzeitige Musik als unbrauchbar für die Kommunikation ablehnte, als ich ausstieg? Verdammt, man kann doch keine Musik einsetzen, noch dabei Genregrenzen überschreiten, wenn man deren primitivsten Gesetze nicht kennt. Irgendwie deprimierte mich diese Nachricht. Einfach zum Kotzen so was!

1982: Ich komme mir vor wie einer, der die Hände vor die Augen schlägt und meint, nun sähe man ihn nicht mehr. Gestern hatte ich den ganzen Tag mit meinem Schwiegervater und Freund Schorsch gesprochen, der eigentlich nur zum Essen kommen wollte, dann aber bis zum späten Abend blieb. Ich versuchte ihm alle meine Haltungen, Motivationen darzulegen, suchte Rat. Und ich hörte, dass er – immerhin hoher GST-Funktionär – kaum minder sorgenvoll in die Zukunft blickte. Er sprach von einem Sumpf, der uns zwar noch trage, aus dem ab und an aber schon mal stinkige Blasen aufstiegen… In der Nacht danach träume ich von einem schrecklichen Verkehrsunfall, sehe Cathi schreiend davonrennen… Am morgen, als ich noch im Bett liege, höre ich sie dann aber die Treppe aus ihrem Kinderzimmer herabhopsen, höre sie jauchzen, als sie die wohl gefüllten Nikolausstiefel findet…

1999: Mine geistert schon vor sechs durchs Haus und bejuchzt ihre gefüllten Nikolausschuhe. Ich muss so früh los nach Haldensleben zu Veranstaltungen. Dabei fahre ich erstmals über ein neues Stück Autobahn nördlich von Halle. Wenn im nächsten Jahr die ganze Autobahn zwischen Halle und Magdeburg fertig sein wird, wäre das eine große Erleichterung, keine Frage. Die Lesungen sind in der Lernbehindertenschule, zuerst für Viertklässler, das geht halbwegs, dann für Achtklässler, da ist kaum noch was rüberzubringen. Aber immerhin, die meisten scheinen zuzuhören. Jeanny war unterdessen mit einer Mitarbeiterin der Sanierungsgesellschaft beim Arbeitsamt. Unsere Hoffnungen, dass ihr nochmals eine Fördermaßnahme zugewiesen werden könnte, zerstieben allerdings. Vielleicht kann ab April nochmals das Pelikan-Büro aktiviert werden, vielleicht. Aber ohne Sachkosten. Das sind düster schwere Wolken und nur ein diffus fahler Lichtstreif. Na ja, erst mal überschlafen, das ganze...

2000: Am Vormittag nach Halle, Schreibwerkstatt in der Saalkreis-Bücherei mit Martin Meißner. Die Kinder sind anfangs etwas „überdreht“, aber dann wird’s noch ganz gut. Am Nachmittag Büroarbeiten, dann zur Jahresversammlung des Vereins Sachzeugen der Chemischen Industrie (dessen Gründungsmitglied ich ja bin) nach Buna, anschließend noch zu einer Stippvisite zum Leunaer Grafikmarkt.

2000: Die zweite Corona-Welle scheint nicht zu bremsen: allein in Deutschland jeden Tag etwa 23.000 Neu-Infektionen, fast 500 Tote, der Teil-Lockdown – geschlossen Restaurants und Kultureinrichtungen vor allem - verlängert bis zum 10. Januar.

2022: Ich entschließe mich „Seins Fiktionen“ in „Jankopedia“ umzubenennen, da dieser Titel dem, was da täglich (und nun im Zusammenspiel mit dem „Kalendaricon“) weiter wächst, besser entspricht – und mir die Möglichkeit schmackhaft macht, daran solange weiterzuarbeiten, wie ich dazu Lust habe, also einen Sinn darin sehe…

E-Mail

für

Muhammed an-Nafs az-Zakīya / Ralph Baer / Stella Benson / Philip Berrigan / Joseph Black / Josef Bláha / Louis Blanc / J. Edward Bromberg / Max Burkhart / Ed Cassidy / Jean Siméon Chardin / Kitty Clive / Nicolas-Jacques Conté / Charles Edward „Charlie“ Dixon / Gottlieb Elster / Frantz Fanon / Konstanty Ildefons Gałczyński / Meredith Hunter / Hanns Dieter Hüsch / Ibn al-Dschazarī / Rudolf Lavant / Leadbelly / Ludwig Adolf Wilhelm Freiherr zu Lützow / Oskar Messter / Aziz Mian / Janet Munro / Nikolaus von Myra / Roy Kelton Orbison / Malik Oussekine / Giovanni Pacini / Christine Poniatowska / Anton Praetorius / Gustav Pretzien / Karl Rodbertus / Werner von Siemens / Wilhelm Taurit / Gian Maria Volnté

 

An diesem Tage war uns nicht mal nach einer E-Mail zumute:

1240 erobern Mongolen der Goldenen Horde Kiew und massakrieren die meisten Einwohner / Monongah, West Virginia, Kohlestaubexplosion, 362 Bergleute kommen ums Leben / Halifax, 1917: der französische Sprengstofffrachter „Mont Blanc“ explodiert im Hafen, bis zu 2.000 Menschen sterben / 1920 marschiert die Rote Armee in Armenien ein / Montreal, 1989, Amoklauf an der Polytechnischen Hochschule, 15 Tote / Dschidda, 2004: Anschlag auf das US-Konsulat, 12 Todesopfer.

 

7. DEZEMBER

 

Ankündigung

mit

Tatatamkhulu Afrika / Abd ar-Rahman as-Sufi / Boyd Bennett / Gian Lorenzo Bernini / Aaron Charles Carter / Anders Celsius / Harry Forster Chapin / Vito von Eichborn / Hermann Goetz / Joseph Hyrtl / Dani Karavan / Gerard Peter Kuiper / Chuck Loeb / Miriam Magall / Gabriel Marcel / Perez Markisch / Pietro Mascagni / Johann Nestroy / Jean Eugène Robert-Houdin / Carlo Poma / Louis Prima / Edmundo Ros / / Klara Stoffels / Eli Walach / Nikola Wapzarow / Jan Wornar / Yu Dafu

 

An diesem Tage schien sich Gutes anzukündigen:

Berlin, 1742: Einweihung der Staatsoper Unter den Linden / 1787 wird Delaware erster Bundesstaat der USA / 1835: Inbetriebnahme der ersten  deutschen Eisenbahnstrecke zwischen Nürnberg und Fürth / 1888: Patent-Anmeldung für den Luftreifen /  Chicago, 1944: Unterzeichnung des Abkommens über die internationale Zivilluftfahrt / 1970: Unterzeichnung des Warschauer Vertrages zwischen der BRD und Polen.

 

Ich notierte:

1980: Vielleicht kommt einmal der Tag, an dem ich mit dem moralischen Verfall ringsum, der natürlich auch mein Absterben ist, leben kann. Vielleicht – aber noch schreibe ich…

1999: Trotz leichter Depression einigermaßen gut geschlafen. Am Morgen zumindest wieder eine vage Entschlossenheit, alles, was sich da wieder verwirrt hatte, zu versuchen entwirren zu wollen. Aber erst mal nach Halle, Lesung in der Bücherei Göttinger Bogen. Dann ins Künstlerhaus, Vorbereitungen für den Umzug des Verlages, Jahresendabrechnung etc. Dann zur nächsten Lesung, diesmal auf der Silberhöhe. Und auch diese verläuft sehr erfolgreich. Zu Hause Vorbereitungen auf das, was diese Woche noch so ansteht. Darüber wird’s Nacht.

2000: Mal wieder viel zu früh munter (passiert mir das jetzt neuerdings öfter?), also ein bisschen im Büro arbeiten, Mails mit der tollen Uhrzeit 6.00 Uhr verschicken (eindrucksvoll nicht???). Dann los nach Bernburg, erstmals über die neue Magdeburger Autobahn – Bernburg, die Verkehrschaosstadt der vergangenen Jahr ist plötzlich leeres Kaff – dafür findet man keinen Parkplatz und es gibt eine absolut neue Stadtbibliothek (wo ich zu lesen habe). Sehr schöne Veranstaltungen in einem sehr schönen Haus (da schaukelt sich in angenehmer Atmosphäre einfach etwas gut auf...). Dann weiter nach Niegripp, – nur eine gute halbe Stunde brauche ich dafür dank neuer Autobahn, irre. Dann nach Magdeburg, ins Konservatorium – Verleihung des Jugendkulturpreises. Veranstalter: LKJ (also sitze ich als Vorstand da mit drin, ist aber auch recht angenehm interessant.) Zurück in Rekordzeit (aus bekannten Gründen...) Büro, ein bisschen Fernsehen – Jeanny hat heute im Heim Nachtdienst, ich bin also Strohwitwer.

2002: Erklärungsversuch des allgegenwärtigen Jugendwahns: Heranwachsende, die erkennbar in einen gesellschaftlichen Mittelpunkt gestellt, die von Werbung hofiert werden: Motto: Alles was ihr wollt, könnt ihr haben…, denen letztlich in den Arsch gekrochen wird (um möglichst gut an deren Knete zu kommen), scheren sich selbstredend einen Dreck um notwendige Veränderungen des Systems. Clever einfädelt also. Oder: Was für Hampelmänner (und –frauen)!

2003: Mitte der sechziger Jahre, als ich zwölf, dreizehn war und mich ernstlich für die Welt zu interessieren begann, war ein Land tagtäglich in den Nachrichten, im Fernsehen: Vietnam. Die Bilder, die einem da aus Fernost ins Haus flimmerten, hätte ich jedoch nie sehen wollen, Bilder von Verwüstung, Leid und Tod, Bilder vom Krieg. Vietnam, das hieß B-52-Flächenbombardements, Napalm, Agent Orange... Ende der siebziger Jahre, einige Zeit nach der Niederlage der Amis, bekam mein Weltbild, das eines in der DDR Sozialisierten also, einen spürbaren Riss: Wie konnte es sein, dass zwei sozialistische Staaten (China und Vietnam) Krieg gegeneinander führten? Gerüchte gingen, dass man Freiwillige gegen die chinesischen Aggressoren rekrutieren wolle. Und in einer Mischung aus Verunsicherung und Sentimentalität hatte ich wohl mit dem Gedanken gespielt... Absurd. Nun, weitere 25 Jahre später, begebe ich mich tatsächlich auf den Weg in dieses so ferne asiatische Land. Organisiert vom Deutsch-Vietnamesischen Freundschaftsverein und der Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung fliegt eine kleine Delegation aus Sachsen-Anhalt nach Hanoi: „Fachkräfteprogramm Jugendarbeit und Migration“ heißt das offiziell, Gespräche über Austauschmöglichkeiten sollen geführt, Absichtserklärungen unterzeichnet werden. Mal sehen, was sich sonst noch eröffnet. Ob des straffen Arbeitspensums und nicht zuletzt ob der Bücher und Artikel, die ich zur Vorbreitung las (Michael Chossudovsky überschrieb das Kapitel über Vietnam in seinem Buch „Global brutal“ immerhin mit „Die Zerstörung Vietnams nach dem Krieg“) habe ich keine Illusionen über das, was mich erwartet. Andererseits faszinierten mich beim Versuch, mich auf Land und Leute einzustimmen, Gedichte von Ho Chi Minh wie Romane der großen oppositionellen Schriftstellerin Duong Thu Huong, Schriften des Laudse, des Konfuzius und buddhistische Texte sowie vietnamesi­sche Märchen und Legenden. Und Touristenführer verheißen auch so manches. Na ja, wie gesagt, mal sehen...

2022: Mir wird zunehmend bewusst, dass ich mir mit „Jankopedia“/“Kalendaricon JJ“ ein System zu erschaffen versuche, eine Welt, in der ich mich noch zurechtfinde, in der ich was zu verändern, was zu bewegen vermag, in der ich mich noch gebraucht und wohl fühle, eine Welt, in der ich noch eine Weile (literarisch) überleben könnte.

 

 

Annonce

für

Richard Altmann / Reinaldo Arenas Fuentes / At-Tāhir al-Hāddad / Hermann Freiherr von Barth-Harmating / Horst Bienek / Werner Borchardt / Nicolas Born / Francisco Borja da Costa / Jan Brandts-Buys / Marcus Tullius Cicero / Darby Crash / Ferdinand de Lesseps / José Donoso / Christoph Carl Fernberger / Kirsten Flagstad / Peter Carl Goldmark / Antonio Maceo Grajales / Robert Graves / Fred Alfred Haltiner / Meindert Hobbema / Hans von Hoffensthal / Félix Houphouët-Boigny / Whitcomb Judson / Robert Ket / Greg Lake / Anton Langer / Edeltraud Lautsch-Eisold / Édouard Molinaro / Vera Molnár / Sunny Murray / Thomas Nast / Juan Luna y Novicio / Ján Palárik / Carlo Poma / Amadeo Ruggeri / Johann Blasius Santini-Aichl / Wilhelm Schmied / Ludwig Schuncke / Enrico Tazzoli / Sam Theard / Thornton Wilder / Adrian Willaert / Wolfgang Winkler / Anna Christina Witmond-Berkhout / Chuck Yeager / Benjamin Zephaniah

 

Das verstanden wir als Todesanzeige:

1941: Angriff Japans auf Pearl Harbor, 2.403 US-Soldaten kommen ums Leben / 1942 versenkt ein deutsche U-Boot das britische Passagierschiff „Ceramic“ westlich der Azoren, 655 Todesopfer / Tononkai, Japan, 1944: Erdbeben, 1.000 Menschen sterben / 1975 okkupiert die indonesische Armee Osttimor / Spitak, Armenien, 1988: Erdbeben: 25.000 Tote.

 

 

8. DEZEMBER

 

Staffel

mit

Gregg Allman / Aaron Allston / Anna Bilińska-Bohdanowicz / Bjørnsterne Bjørnson / David Carradine / Camille Claudel / Sammy Davis Jr. / Johann Maria Farina / Joachim Fest / Lucian Freud / Wayne Frost / Barry Harris / Horaz / Johannes Koekkoek / Adolph Kolping / Aristide Maillol / Bohuslav Martinů / Georges Méliès / Adolph von Menzel / Raimund Merker / Ernst Hermann Meyer / Jim Morrison / Sinéad O’Connor / Mario Savio / Maximilian Schell / Leopold Schwarzschild / Elzie Crisler Segar / Mendele Moicher Sforim / Ray Shulman / Jean Sibelius / Jimmy Smith / Jura Soyfer / Hans-Joachim Spremberg / Maria Stuart / James Thurber / Francisco Tomás y Valiente / Margot Werner / Eli Whitney

 

Diesen Staffelstab gaben wir zukunftsorientiert weiter:

1427: Ende des Mainzisch-Hessischen Krieges / Mailand, 1609: die Biblioteca Ambrosiana öffnet ihren Lesesaal für das allgemeine Publikum / 1861: Proklamation der Bildung des Staates Rumänien aus den Fürstentümern Moldau und Walachei / 1869: Eröffnung des Ersten Vatikanischen Konzils / Israel, 1987: Beginn der ersten Intifada / Washington D.C., 1987: Unterzeichnung des INF-Vertrages zum Abbau aller nuklearen Mittelstreckenwaffen / Cuzco, 2004: Gründung der Südamerikanischen Staatengemeinschaft.

 

Ich notierte:

1980: Heute Nachmittag nehme ich Cathi mit zum Zirkel schreibender Schüler nach Hohenmölsen. Strenger Frost, vereiste Straßen. Abends lese ich im Buch von Fritz Döppe, des AJA-Chefs. Ja, so kann man schreiben!

1999: Im Traum sehe ich eine Wasserleiche, bekomme einen Krampf im Bein und springe schmerzverzerrt aus dem Bett. Auch ein Tagesanfang. Immerhin strahlender Sonnenschein und ich habe mal wieder eine Lesung für Kinder. Also auf nach Halle in die Stadtbibliothek. Nach üblichen Parkplatzproblemen komme ich einige Minuten zu spät, treffe aber auf aufgeschlossene, erwartungsfrohe Kinder. Eine schöne Veranstaltung. Danach kurzer Besuch beim Förderverein im Marktschlösschen, dann auf nach Berlin. Gegen halb drei komme ich in Dahlem, im Institut für Museumskunde an. Kurzes Gespräch mit dem Chef, Dr. Graf, doch schon kommt Rüdiger und gemeinsam mit Dr. Künzel gehen wir Mittagessen. Gegen vier! Konstruktive und humorvolle Verständigung über den Ausstellungskatalog. Weniger zu Lachen gibt’s dann allerdings als Prof. Schäfer, der Chef des Hauses der Deutschen Geschichte erscheint und Ausstellungsteile zur Diskussion gestellt werden. Das Einführungsvideo ist nur mit extremen Kürzungen zu retten. Der Multimediapart bringt mich in Rage (da die Medienleute die recht eigenwillige Präsentation mit mir nicht abstimmten, ich aber de facto dafür verantwortlich bin). Diskussionen über die Texte der Ausstellung sind langatmig und nervend, da Schäfer alles Historische politisch trimmen will. System: vor der Wende war alles Scheiße, nun haben alle Ossis dankbar zu sein... So wird es halb elf bis ich endlich die Heimfahrt antreten kann. Gegen halb eins reichlich groggy zu Hause.

2021: Seit einiger Zeit ackere ich mich durch Walter Bauers handschriftliche Tagebücher, da ich eine Auswahl im Rahmen meiner Walter-Bauer-Reihe anlässlich seines 50. Todestages herausgeben will. Da er und ich nicht wahl-, sondern „über drei Ecken“ tatsächlich verwandt sind, erstaunt es mich nicht allzu sehr, dass ich nun herausfinde, dass der Mann, der seine zweite Ehefrau beschlief und somit letztlich Walter ins kanadische Exil brachte, sowie die Frau, die durch am Ende haltlose Behauptungen meine Karriere ruinierte, den gleichen Familiennamen haben: Eggert. Wow.

2022: Mittags gen Dresden. Zum dritten Mal nehmen wir Anlauf ein Konzert von Uriah Heep im Kulturpalast zu erleben. Zweimal wurde das coronabedingt verschoben, nun soll’s gelingen. Doch erstmal auf den Weihnachtsmarkt, Glühwein natürlich. Und als wir uns im Hotel dann für den Abend umziehen, sind plötzlich die Eintrittskarten verschwunden. Unglaublich. Am Vormittag hatte ich die noch in den Umschlag mit den anderen Reiseunterlagen gesteckt. Unfassbar. Wir wühlen Taschen und Koffer durch, ihre suchen im Auto. Nichts. Schon stimmen wir uns langsam darauf ein, den Abend weiter allein mit Glühwein zu verbringen, da finde ich zumindest noch eine Mail des Veranstalters von vor gut einem Jahr, in dem mitgeteilt wurde, dass diese Konzert heute stattfinden solle. Ich versuche also unser Glück an der Abendkasse. Und am Ende haben wir tatsächlich Glück, finden verständnisvolle Leute, die uns zwei Freikarten ausstellen… Uff. Und wenn ich mich recht entsinne, sind diese Plätze sogar besser, als die, welche ich einst gebucht hatte… Das Konzert selbst ist dem 50-jährigen Bandjubiläum gewidmet (das vor 2 Jahren war) - entsprechend das Publikum, entsprechend die Titel (die einst fast alle selbst spielte…). Ende gut…

 

2023: Das Merseburger Geschichtsnetzwerk kommt mal wieder zusammen. Wir treffen uns in der Hochschulbibliothek, stimmen Aktion fürs nächste Jahr ab, nicht zuletzt auf meiner Chronik basierende Jubiläen.

 

Stabat mater

für

Ljudmila Michailowna Alexejewa / Jimmie Angel / Fritz Anneke / Saul Ascher / Jonas Biliūnas / Rosa Bonaparte Soares / George Boole / Claude Cahun / Carl Friedrich Cramer / Thomas De Quincey / Dimebag Darrell / Luis „Terror“ Díaz / Ding Shan-de / Kristina Ðukić / Roger East / August Fresenius / Friedrich Charles Glauser / John Glenn / Rubén Gonzáles Fontanills / Ivan Gundulić / Hans Hartung / Abū l-Walīd ibn Ruschd / Max Jacob / August Jäger / Karl Jatho / Camille Jenatzy / Antônio Carlos Jobim / Johan Philip Lansberg / John Winston Lennon / Anatoli Tichonowitsch Martschenko / Golda Meir / Ryan O'Neil / Martin Rinckart / Mohsen Schekari / Xaver Scharwenka / Mendele Moicher Sforim / Roger Shattuck / Herbert Spencer / Gerard ter Borch / Gary Thain / Konrad von Waldhausen / Julian Alden Weir/ Yamamura Bochō

 

An diesem Tage vernahmen wir Verse der Trauer:

Santiago de Chile, 1863: Brandkatastrophe, 2.000 Tote / Wien, 1881: Brand im Ringtheater, mehrere hundert Menschen sterben / 1889. prallt das deutsche Passagierschiff „Salier“ vor dem nordspanischern Cabo Corrubedo auf ein Riff und sinkt, alle 279 Menschen an Bord kommen ums Leben / 1941 beginnt im Vernichtungslager Kulmhof die Vernichtung der europäischen Juden, die „Endlösung“ / 1966 sinkt die Autofähre „Iraklion“ auf der Fahrt von Kreta nach Piräus, 241 Tote / Paramaribo, 1982: Erschießung von 15 Oppositionellen / 1991: Offizielles Ende der Sowjetunion, Gründung der GUS / Bagdad, 2009: Anschlagserie, 127 Todesopfer.

 

9. DEZEMBER

 

Staffel

mit

Maksim Bahdanowitsch / Donald Byrd / John Cassavetes / Kirk Douglas / Douglas Fairbanks jr. / Gemma Rainer Frisius / Mark Gertler / Morten Grunwald / 1594: Gustav II. Adolf / Fritz Haber / Wolgang Harich / Wolfgang Hildesheimer / Grace Hopper / Ödön von Horváth / Ernst Hottenroth / Neil Innes / Pjotr Alexejewitsch Kropotkin / Felicia Langer / Hans Naumilkat / Johann Andreas Oswald / Rokeya Sakhawat Hussain / Edoardo Sanguinetti / Elisabeth Schwarzkopf / Jack Sonni / Émile Waldteufel / Gustav Weidanz / Grete Wiesenthal / Johann Joachim Winckelmann / Gregorius Xenopoulos / Atıf Yılmaz Batibeki

 

Diesen Staffelstab gaben wir zukunftsorientiert weiter:

Löwen, 1425: Gründung der Universität / 1917: Beginn der Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk / Nürnberg, 1946. Beginn des Prozesses gegen NS-Ärzte / 1961 wird Tanganjika unabhängig von Großbritannien / 2007: Beginn des regulären Zugverkehres durch den Lötschberg-Basistunnel.

 

Ich notierte:

1982: Endlich der ersehnte Brief vom Kinderbuchverlag: „… wie freuen uns… aber noch die eine oder andere kleine Änderung… bitten sie am soundsovielten zur Unterschrift…“ Ich entkrampfe schlagartig, schaffe es endlich sogar, meine Antrittsrede für den Bezirkszirkel zu schreiben. Am Nachmittag die erste Lesung in Merseburg, der Stadt, aus der ich komme…

1999: Allerlei Bürokram am Vormittag. Dann am Nachmittag nach Merseburg in die Goethe-Schule. Übergabe der Projektergebnisse an die Schule. Klaus hat mit seiner Gruppe eine Bücherplastik aus Messing gestaltet, ich überreiche Texte. Die Schüler sind stolz, die Lehrer freuen sich, und sogar ein Pressevertreter ist erschienen. So wird’s also sogar eine gewisse Öffentlichkeit für dieses interessante Projekt geben. Doch schon muss ich weiter nach Genthin. Morgen wird das Bödecker-Kolloquium „Unser Dorf liest“ beginnen. Heute schon reisen Henning Pawel und Karlhans Frank an. Da wird’s selbstredend spät...

2003: 00.05 Uhr Abflug in Berlin-Schönefeld, gegen 05.00 Uhr (Ortszeit) in Moskau, 08.30 Uhr Weiterflug, kurz nach 21.00 Uhr (Ortszeit) Landung in Ha Noi. Sehr freundlicher Empfang (Spruchband, Blumen, Blitzlicht), gegen 23.30 Uhr im Hotel. Je näher unser Bus der Innenstadt kommt, sind die Straßen immer heilloser verstopft: Scharen Fahnen schwenkender Vietnamesen, zu zweit, zu dritt, zu viert auf Mo­peds, chaotisch durcheinander kurvend, hupend, johlend, singend (nein, nicht uns zu Ehren selbstredend – die vietnamesische Fußballnationalmannschaft gewann soeben das Halbfinalspiel der derzeit in Ha Noi stattfindenden Südostasienspiele gegen Malaysia). Mir geht durch den Sinn nicht, nur eine verdammt lange Flugreise hinter mich gebracht, sondern vielleicht sogar eine Zeitreise unternommen zu haben: plötzlich in die Jubelfeiern nach Ende des Vietnamkrieges geraten zu sein...Rechnet man die (realen) Zeitverschiebungen raus, war ich von Haus zu Haus, von Leuna bis ins Zentrum von Ha Noi knapp 24 Stunden unterwegs. Geschafft.

2021: Gegen Mittag beginnt es zu schneien, erstmals in diesem Winter. Am Abend hatten wir eigentlich mit Rosches über den Leipziger Weihnachtsmarkt bummeln wollen, das hätte also gepasst. Aber aufgrund der Corona-Entwicklungen ist der abgesagt.

 

 

Verhärtung

für

al-Bīrūnī  / Karl Blossfeldt / Ralph Bunche / Samuel Laird Cregar / Bob Curtis / Hans Dominik / Juan de la Cierva y Codorníu / Ubbo Emmius / Johann Reinhold Forster / Marie Fredriksson / Almeida Garrett / Jens Gerlach / Ricardo Giacconi / Nicolaus Hieronymus Grundling / Kurt Held / Joseph Kittinger / Arthur Koetz / Mary Leaky / Clarice Lispector / Josef Mánes / Artjom Iwanowitsch Mikojan / John Milton / James Moody / Otto Müller / Mermon Parwin / Nikolaj Pipatschuk / Rokeya Sakhawat Hussain / Alexander Sadebeck / Helmut Sakowski / Cees See / Edith Sitwell / Sōseki Natsume / Soshana / Tecuichpoch / Fritz Usinger / Anton van Dyck / Lina Wertmüller

 

An diesem Tage verhärteten wir:

1714: Kriegserklärung des Osmanischen Reiches gegenüber der Republik Venedig / Neuseeland, 2019: Ausbruch des Vulkans Whakaari auf White Island, 22 Todesopfer.

 

 

10. DEZEMBER

 

Fanfare

mit

Isaac Beeckman / Giacomo Maria Brignole / Emily Elizabeth Dickinson / César Franck / Karl Fruchtmann / Marek Grechuta / Aaron Samuel Gumperz / Jascha Heifetz / Guy Hocquenghem / Thomas Höhle / Carl Gustav Jacob Jacobi / Eddie „Guitar Slim” Jones / Kanō Jigorō / Ludwig Klages / Gertrud Kolmar / Dorothy Lamour / Clarice Lispector / Adolf Loos / Pierre Louÿs / Ada Lovelace / George MacDonald / Olivier Messiaen / Nikolai Alexejewitsch Nekrassow / Otto Neurath / Ernst-Ludwig Petrowsky / Sakamoto Kyū / Nelly Sachs / Peter Sarstedt / Jorge Semprún / George Shaw / Karl Ferdinand Sohn / August Vincent Theodor Spies / Johannes Stöffler / Eugène Sue / Tipu Sultan / Francesco Lana Terzi / George Andrew Tucker

 

Da hörten wir freudig Fanfaren:

1799: Frankreich führt als erste Land weltweit das metrische System ein / Jönköping, 1809: Ende des Dänisch-Schwedischen Krieges / 1845: Patenterteilung  auf den Vollgummireifen / London, 1868: Inbetriebnahme der ersten Ampel der Welt / Paris, 1898: Friedensschluss im Spanisch-Amerikanischen Krieg / Stockholm und Oslo, 1901: erste Verleihung der Nobelpreise / 1948: Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen / 1963 wird Sansibar und Pemba unabhängig von Großbritannien / 1991 erklärt sich Bergkarabach für unabhängig /

 

Ich notierte:

1981: Am Abend habe ich endlich fertig, was ich schon gestern fertig haben wollte, die Überarbeitung meiner Katzengeschichte, die nun „Turnhöschen“ heißt. Ich lese sie Cathi vor. Die fragt dann „Und warum jault Turnhöschen am Schluss?“ Wunderbar, sie hat also verstanden, was ich sagen wollte. Die Geschichte scheint nun zu funktionieren.

1983: Ist das System, das man sich geschaffen hat – angelesen, andiskutiert, anerfahren, angehofft – zu starr, zu unflexibel? Ist es erweiterbar, schafft man das?

1999: Am Morgen Veranstaltungen in Gommern. Jan de Piere am Gymnasium, ich in der Grundschule. Mittags zurück nach Genthin. Hier sind mittlerweile fast alle anderen Kolloquiums-Teilnehmer eingetrudelt. Also Mittagessen und los geht’s mit den Diskussionen. Gute Diskussionsangebote, gute Diskussionen, da fällt mir die Moderation nicht schwer. Am Abend Lesung in der Commerzbank Genthin. Und danach wieder die üblichen Kollegen-Biertisch-Diskussionen bis spät in die Nacht.

2003: Ha Noi „Good Morning, Vietnam!“ – Der Radau der Fußballfans ging nahtlos in den innerstädtischen Berufsverkehr über, dazu verkündete eine monotone Singsangstimme ab 6.00 Uhr über offenkundig gewaltige Lautsprecher Parolen, Nachrichten oder wasweißich, also die zweite Nacht so gut wie nicht geschlafen. (Auch ’ne Methode zur Vermeidung von Jet-Lag...) Nach dem Frühstück sofort Beginn des offiziellen Besuchs- und Gesprächsprogramms: Kommunistischer Jugendverband, Institut für Jugend, Vereinigung der Jugend etc. pp. Grauer Himmel, feuchtkühles Wetter, dazu der Smog von Millionen von Mopeds, nicht ganz einfach, sich zu akklimatisieren. Die Dachorganisation, wo das große gegenseitige Vorstellen, Palavern und beidhändige Visitenkartenüberreichen beginnt, heißt VUFO (The Vietnam Union Of Friendship Organisation). Nun gut. Erstaunlicherweise gibt sich der Chef der ersten Gesprächsrunde am Ende als ehemaliges Mitglied der Kommission zu erkennen, die 1975 in Paris das Friedensabkommen mit den Amis aushandelte. Nach Jahren im Außenministerium sitzt er hier nun offenbar auf seinem verdienstvollen Altenteil. Schade, dass wir schon weiter müssen, ihn hätte ich gern einiges gefragt. Dem 1. Sekretär des Jugendverbandes stelle ich am Nachmittag (in der vierten Gesprächsrunde wohl) dann aber doch endlich eine Frage. Ich möchte wissen, wie der Kommunistische Jugendverband seinen Mitgliedern erklärt, dass der einstige Feind nun zum Hauptinvestor und Kreditgeber wird und Huckepack somit auch seine bekannterweise gerade für Jugendliche verführerische Ideologie ins Land bringt. Wohin soll das führen? Interessante Reaktion: Freundliche, weitschweifige Ausführungen über die allgemeinen Aufgaben der Erziehung. (Eigentlich hätte ich mir die Frage schenken können als ich sah, dass sein Stellvertreter modisch eine Navy-Jacke trug. Bleibt nur zu hoffen, dass sich wenigstens die Spitzenfunktionäre des Problems bewusst sind und nicht blindlings einen Weg wählen, der sie im spagatgleichen Versuch der Machterhaltung einerseits und ihrem armen, gebeutelten Volk notwendigerweise die Lebensumstände zu verbessern andererseits, nicht zerreißt.) Nach dem Geldwechsel schließlich etwas Greifbares: Ich werde Millionär! Für 100 € erhalte ich 1,9 Millionen Dong. Na denn, schönen Tag noch. Schon gestern bei der Ankunft fiel mit trotz Übermüdung etwas auf, was sich mir nun bei einem kleinen Abendbummel durch die pittoreske Altstadt bestätigt: allenthalben eine für südliche Länder wie geleckte Sauberkeit, nirgends Müll, überall wird stets gekehrt und gewischt. Überhaupt scheint es schwer, einen Vietnamesen beim Müßiggang zu beobachten. Offenbar hat ein jeder stets irgendetwas zu tun. Bestenfalls hockt man jederzeit aufsprungbereit am Straßenrand. Zu schaffen macht aber der chaotische Verkehr, Mopeds, Fahrräder, einige Autos fahren ständig kreuz und quer und es wird gehupt, gehupt, gehupt... Irgendwann wird mir das Tempo unserer Frauen, die an jedem Kleider-, jedem Schmuckladen stehen bleiben (und davon gibt es hier en masse) zu langsam. Ich laufe geradeaus weiter bis zum Schwertsee, entdecke die berühmte, rot beleuchtete Brücke. Doch plötzlich weiß ich nicht mehr, aus welcher der schier gleich aussehenden Straßen ich kam. Was nun? Ein wenig kopflos umherirren, dann aber zücke ich mein Hotelkärtchen, zeige es einem Fahrradtaxi-, einem Cyclofahrer, und schwuppdiwupp (wenn auch durch merkwürdig finstere Seitenstraßen) bin ich wieder im Hotel. Zwei Dollar, bitte. Geschenkt.

2021: Im Ständehaus Gespräch mit dem neuen Merseburger Kulturamtsleiter. Gute Verständigung über die nächste Walter-Bauer-Preisvergabe wie über Möglichkeiten, die Zaubersprüche noch besser identitätsstiftend zu nutzen.

 

Fürbitte

für

Ludwig Anzengruber / Averroes / Karl Barth / Giulio Caccini / Rick Danko / Karl von Drais / William Gilbert / Ralph Giordano / Cheíto Gonzáles / Jim Hall / Carl Herleßsohn / Ernst Lissauer / Charles Rennie Mackintosh / Na Hye-sok / Michael Nesmith / Alfred Nobel / Karoline von Perin / Luigi Pirandello / Richard Pryor / Red Cloud / Otis Redding / Franz Rosenzweig / Arthur Gundaccar Joseph von Suttner / Tian Han / Paolo Uccello / Gary Webb / Heinrich von Zütphen

 

Da war uns nach fürbitten zumute:

Windhoek, 1959: südafrikanische Polizisten erschießen 11 Aufständische / El Mozote, El Salvador, 1981: Beginn eines zweitägigen Massakers während des Bürgekrieges, 900 Zivilisten werden ermordet / Port Harcourt, Nigeria, 2005: ein Flugzeug verfehlt die Landebahn und geht in Flamem auf, 108 Menschen kommen ums Leben.

 

 

11. DEZEMBER

 

Sprint

mit

Francesco Graf von Algoretti / Hector Berlioz / Subramaniya Bharati / Max Born / Alphonse Bourquin / David Brewster / Christiana Büsching/ Annie Jump Cannon / Alfred de Musset / Adam Elsheimer / Hermann Frieb / Carlos Gardel / Christian Dietrich Grabbe / Edwin Hoernle / Ellen Key / Robert Koch / Paul Kornfeld / Maurice Leblanc / Nagib Mahfuz / Eduarda Mansilla / Jean Marais / Bruno Möhring / Fritz Mühlenweg / Felix Nussbaum / Heinz Florian Oertel / Fulvio Orsini/ Grace Paley / Georgi Walentinowitsch Plechanow / Carlo Ponti / Pérez Prado / Olof Rudbeck d. Ä. / Max von Schenkendorf / Helmut Simon / Alexander Issajewitsch Solschenizyn / Axel Thormälen / Jean-Louis Trintignant / Big Mama Thornton / McCoy Tyner / Paul Wegener / Carl Friedrich Zelter

 

Da schienen wir rasant in Bewegung zu kommen:

China, 220: Beginn der „Zeit der drei Reiche“ / Deulino, 1618: Beginn eines vierzehnjährigen Waffenstillstands zwischen Moskowien und Polen-Litauen / Valançay, 1813: Friedensschluss zwischen Frankreich und Spanien / 1868: 20 Staaten unterzeichnen die Petersburger Vereinbarung zum Verbot kleiner Sprenggranaten / Wien, 1877: erster Opernball / 1946: Gründung von UNICEF / 1997: Unterzeichnung des Kyoto-Protokolls zur Verringerung von Treibhausgasen weltweit.

 

Ich notierte:

1973: Ein Tag wie jeder andere, und doch beginne ich heute Tagebuch zu schrieben – war er also etwas Besonderes. So viel Optimismus hatte ich schon seit Wochen, ja, vielleicht sogar Monaten nicht mehr. Stattdessen Melancholie und Brüterei. Eigentlich wollte ich am Jahresanfang beginnen zu schreiben. Aber warum solcher Schematismus, den haben wir doch überall. Also beginnt mein Ausbruch in die Welt der Gefühle schon heute, mein neues Jahr beginnt.

Viel, vielleicht zu viel war in meinem Leben geschehen. Und auch wenn es gewollt war, konnte ich wohl nicht alles verkraften.

Aus der heilen Welt des Lernens brach ich aus. Nach dem Abitur schematischer Studienbeginn. Ein Semester und noch ein halbes. Dann der Bruch. Es war gewiss nicht die Chemie, die mich so abschreckte, sondern wahrscheinlich die Menschen, mit denen ich dort zu tun hatte. Und ich wollte nicht genauso werden… Tja, das war Ende Mai. Die bislang lose Beziehung zu Jeanny begann sich zu festigen. Wir hatten jetzt ja auch viel Zeit füreinander. Sie ging nicht arbeiten, ich hing in der Luft, nährte mich materiell und emotional von der Musik. Das Geschäft lief gut. Drei, vier Auftritte pro Woche, mehrere Konzerte, viel unterwegs. Aber die Musik war beschissen, doch der Sommer heiß. Auch in Prag, dort mit Jeanny, aber nur eine Woche, Geld alle. Die Rückreise, Abgeführt aus dem Zug in Bad Schandau, Anklage wegen Zollvergehens: für drei Wochen Kronen getauscht, nach einer Woche schon alles ausgegeben… Und eine Woche später die Gewissheit, dass Jeanny schwanger ist. Alles begann sich immer schneller zu drehen. Das Erste fiel auseinander: die Band in der ich spielte, die Gruppe Leuna II. Es war wohl das Beste, was passieren konnte, um diesem musikalischen Raubbau ein Ende zu setzen. Doch hätte ich vorher gewusst, was auf uns zukommt…

Wochen hektischen Aufbaus einen neuen Gruppe. Proben, Organisieren, Texten, Verändern. Eckhard und ich legten Namen der neuen Gruppe fest: Zakk-Set. Und endlich waren dann auch alle Leute beisammen: Eckhard, Wim, Othello, Emil, Kalle und ich. Wir probten wie geistesgestört, nein, fanatisch, wussten wir doch, dass es in dieser Formation wirklich zu schaffen wäre.

Und dann das Spielverbot für Eckhard. Niedergeschlagenheit, Resignation – jeder bewältigte das anders. Kalle stieg aus, brauchte er das Geld als Profi doch, um seine Familie ernähren zu können. Wochen des Nichts dann. Ich bin immer öfters bei Jeanny. Sie bei mir. Und dann die Arbeit. Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen: Anfang September nahm ich nach mehreren vergeblichen Anläufen (23 Vorstellungsgespräche! – um der Arbeitspflicht zu genügen) eine Stelle an. Aber darauf brauche ich hier nicht weiter einzugehen, da ich nur meinen Körper arbeiten schicke. Und so also sieht nun meine Woche aus: Arbeiten, Proben, Jeanny, Saufen, Texten, Hören, Hoffen… Kann man sagen, ich habe mich wieder gefangen? Vielleicht doch. Doppeldeutig, immerhin war heute dieser besondere Tag nach Tagen voller Ausweglosigkeit. Er leuchtet mir ins Dunkel der Vergangenheit wie der Zukunft. Ich fasse Mut und stecke mir neue Ziele, bin fröhlich und schaffe mit neuem Elan. Zwei Wege: der eine führt ins Land des Erfolges mit Zuversicht und Gewissheiten, der andere aber ins Land des dumpfen Brütens und trostlosem Verfalls. Meist nehmen uns Fehler die Wahl des Weges ab und bringen uns plötzlich auf einen dieser Pfade. Gäbe es nur einen Weg, gäbe es diese Zeilen nicht.

1977: Sonntag. Vor vier Jahren fasste ich den Entschluss, Tagebuch zu führen. Vielleicht war ich damals in ähnlicher Schreibstimmung: es geht mir um die Ehrlichkeit mit Worten das anzufassen, was ich täglich erlebe, erfahre, was ich denke, was ich will. Eine Art Selbstprüfung also. Ich hoffe, ich kann sie bestehen. Damals schrieb ich wohl ungefähr ein Jahr lang, und ließ es sein, da ich zu faul wurde, nein, da es zur Routine geworden war. Vielleicht empfand ich es auch als Belastung, die es ja eigentlich auch sein soll: im Sinne des sich zum Schreiben Zwingens, um mit dem Schreiben voranzukommen. Aber ich glaube, damals war mir letztlich Relation zwischen Zwang und Wollen zu sehr verrutscht. Als ich damals aufhörte, war ich faktisch Hilfsarbeiter in Leuna mit einem drei Jahre zurückliegenden Abitur, einem zwei Jahre zurückliegenden Chemiestudium-Abbruch, war in Ausbildung als Bassgitarrist am Konservatorium Halle und fanatischer Laientanzmusiker (so die offizielle Bezeichnung – wie ich dieses Wort hasse!) mit eigener Band. An diesem Zustand hat sich mittlerweile einiges verschoben, und ich sage bewusst verschoben und nicht verändert – da verdammt viele Zufälle in die weitere Entwicklung eingriffen. Im Sommer 1976 schaffte ich nach endlosem Hin und Her die Berufsmusiker-Prüfung, erhielt endlich die Pappe, den Berufsausweis. Bis Ende Oktober die „grüne Karte“, der Einberufsbefehl ins Haus flatterte, arbeitete ich als Berufsmusiker in Berlin, bei Peter Baptist. Eine wichtige, wenn auch nicht schöne Zeit – und dann ab November also die Armee. Nicht ganz unerwartet, muss ich gestehen, obwohl ich mir das damals wie den anderen Bandmitgliedern oft leugnete. Schon im Mai sollte ich eingezogen werden, konnte das aber aufgrund meiner nachweisbaren Ausbildung am Konservatorium, deren Abschluss kurz bevorstand, um ein halbes Jahr zurückstellen lassen. Und nun kommt schon einer der Zufälle ins Spiel (obwohl ich dem, dank eines guten Bekannten im Wehkreiskommando etwas nachgeholfen hatte): ich wurde nicht nach Eggesin in die Sandwüste eingezogen, sondern nach Leipzig und sogar zu einer Einheit, die das ehrenamtlichen Ensemble der Nationalen Volksarmee stellte. Hier bin ich nun noch immer und sogar (und wiederum nicht so ganz zufällig) in leitender Stellung. Im April 1977 (nach der Entlassung des vorherigen Leiters, eines halleschen Trommlers, den ich ganz gut kannte) wurde ich zum Leiter des Alfred-Frank-Ensembles befördert und baute die Aufgaben und Auftritte nach meinen Fähigkeiten und Möglichkeiten immer weiter aus. Im Oktober wurde mir dann aber Karl, ein Zivilangestellter vor die Nase gesetzt, der mich wohl bis zu meiner Entlassung – Ende April 1978 – nerven wird.

Jetzt sitze ich kurz vor Mitternacht zu Hause. Jeanny schläft schon. Wie so oft konnte ich mich auch diesen Sonntag – dank meines Postens – selbst beurlauben. Gestern hatten wir noch einen Auftritt mit anschließendem Tanz. Und es war wie zumeist wieder reichlich Alkohol geflossen. In den frühen Morgenstunden waren wir wieder in der Kaserne, und da man zu dieser Zeit nicht von Leipzig nach Leuna kommen kann, hatte ich mich noch ein wenig aufs Ohr gelegt. Der Diensthabende sollte mich halb vier wecken, damit ich den ersten Zug bekäme. Er tat das wohl auch, kann ich mich dunkel erinnern. Aber ich war wohl noch nicht fähig aufzustehen. Halb sieben wachte ich auf, schlüpfte noch halb benebelt in die Unform und hastete zum Bahnhof Möckern, wo ich auf den letzten Pfiff noch in einen Zug springen konnte. Doch der hatte dann Motorschaden, blieb auf halber Strecke stehen. Halb neun erst kam ich zu Hause an – achteinhalb Stunden Urlaub also vergeudet! Allerdings waren mir in diesen dreizehn abgedienten Monaten nach ähnlichen Anlässen schon andere Sachen passiert: Einmal wachte ich erst nach drei Stunden Fahrt im Zug auf, musste irgendwie im Kreis gefahren sein und entdeckte zu Hause, dass ich zwei lange Unterhosen anhatte – eine als Unterhemd… Keine Ahnung, wieso. Ein anderes Mal wachte ich zum Glück in Naumburg auf, bevor der Zug nach Eisenach weiterfuhr… Eigentlich bringt diese nächtliche Fahrerei nichts und doch mache ich’s immer wieder, einfach um dort raus und möglichst oft und lange zu Hause zu sein. Nachdem ich mich heute früh noch mal hingelegt hatte, stand ich dann gegen Mittag auf, spielte mit Cathi, die mittlerweile fast vier Jahre alt ist! Nach dem Mittagessen schmiss ich in einem Ordnungsausbruch alte Briefe aus meiner Zakk-Set, meiner Zeit als Laientanzmusiker, weg. Warum so was weiter aufheben? Dorthin komme ich eh nie mehr zurück. Am Nachmittag fuhren Jeanny und ich mit Cathi nach Merseburg zum Weihnachtsmarkt. Sie hatte sich schon aufs Karussellfahren gefreut! Als sie dann aber zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Riesenrad saß, schien sie dem Weinen näher als dem Lachen. Zu Hause besuchten uns dann Jeannys Brüder, Emil, der mittlerweile meinen Job als Bassist bei Baptist hat, und Martin, der frisch geschieden wieder zur See fährt. Das übliche Geflachse, Routinen im Umgangston, da unser Verhältnis irgendwie ein recht oberflächliches ist. Wir tranken eine Flasche Wein, schwatzten, sahen fern und schon entflogen sie wieder in ihr Junggesellennest. Wie gesagt, Jeanny schläft schon nebenan. Durch diese scheiß dreizehn Monate ist in unserer Ehe einiges anders geworden, es gab einiges Hin und Her, auch Dinge, die weh taten. Der große Bruch scheint jedoch vermieden, wir werden wieder zueinander finden.

1978: Ich sitze auf Tournee in Rathenow fest, Glatteis. Mit „Fakt“, der „Haase-Band“, hat sich allerdings einiges geklärt. Sie konnten keinen passenden Nachfolger finden, ich (noch) keine neue Band. Gut, geht das Jobben hier eben erstmal weiter. Ohne Moos nix los.

1999: Genthin: Weiter mit dem Workshop, Diskussionen über Leselandschaften und Leseverhalten. Ich merke an, dass Fronten wohl nicht zwischen dem Lesen schlechthin und dem Fernsehen oder neueren Medien verlaufen, sondern vielmehr zwischen Möglichkeiten an Informationen zu kommen und diese verarbeiten und nutzen zu können. Selbstredend ist das Lesenkönnen Voraussetzung für jeden Zugang, muss diese Technik erst einmal beherrscht werden. Doch was hätte es im Mittelalter beispielsweise genutzt, Lesen zu können, wenn man nicht an Bibliotheken (Geheimbibliotheken vielleicht sogar) herangekommen wäre. Was hätte man dann gewusst über die Welt und ihre Veränderbarkeit? Was nutzt einem heute das Internet, wenn man nur an die chaotisch, sinnlosen Informationen herankommt, nicht aber an die eigentlichen über den Zustand dieser Welt? Und wer legt Geheimbibliotheken an! Wissen ist Macht und eröffnet Manipulationsmöglichkeiten. Welche Informationen sind heute nicht manipuliert? Wie kann man das erkennen, wie kann man dem entgegenwirken? Oder ist man aller Manipulation hilf- und wehrlos ausgesetzt? Am Nachmittag kommen Jeanny, Cathi und Jens und präsentieren einiges von dem, was sie in Spergau mit der Tanzgruppe erreicht haben. Ich stelle einige der Dorf- und Lichtmessgeschichten vor. Am Abend eine weitere Lesung und danach wieder Biertisch bis spät in die Nacht.

2000: Zeitig munter, ein bisschen Büroarbeit, dann auf nach Coswig, wo ich um 9.00 Uhr eine Lesung in der Lernbehinderten Schule habe, von da weiter nach Möser zu einer Lesung in den „Leseratten-Club“. Beides völlig anders, doch gut. Zwischendurch Abstimmungen zum Jahresendabschluss in Niegripp. Dann nach Merseburg in die Kreissparkasse – während der Fahrt erreichte mich die Nachricht, dass die Sparkassen-Chronik soeben ausgeliefert wurde. Gut, denn heute Abend soll ja Buchpremiere sein. Mit dem Produkt scheinen die Auftraggeber zufrieden, ich bin’s allemal. Also schnell ein Exemplar gegriffen, um mir die Vorstellung genau zu überlegen, dazu schnell nach Hause, dort schnell umziehen, ein Kaffee und wieder in die Kreissparkasse. Dort läuft dann alles bestens. Wie gesagt: gut so.

2003: Hanoi. Recht gut geschlafen. Zum Frühstück einen Pott Nudelsuppe. Dann auf zur deutschen Botschaft. Zwischenstopp am Ho-Chi-Minh-Mausoleum. Am Eingang zu diesem weitläufigen Gelände winkt mich ein Armeeposten heran. Na, denke ich, was wird das? Doch er lächelt verschmitzt und raunt: „O-sa-ma-bin-la-den?“ Aha, Sicherheitscheck. Der Botschafter, zum vietnamesisch-amerikanischen Verhältnis, zum Spagat zwischen Ideologie und Money befragt, antwortet mit einem Deng Xiao-Zitat: Egal, ob eine Katze ein weißes oder ein schwarzes Fell hat, wenn sie nur Mäuse fängt. Zeitgenössisches Yin-Yang. Weiter berichtet er, dass sich Deutschland nicht zuletzt bei der Kampfmittelbeseitigung engagiere. Jährlich sterben in Vietnam, 28 Jahre nach Kriegsende, noch ca. 6.000 Menschen durch Minen, Blindgänger und dergleichen! Am Nachmittag in einem Friedensdorf, das eigentlich ein Heim für körperlich und geistig behinderte Kinder und Jugendliche ist, genauer: für Kinder und Jugendliche, die unter den Spätfolgen des Agent-Orange-Einsatzes leiden. Und während Tú, unser Guide, in der DDR diplomierter Biochemiker, der sich durch Reiseleitungen halt ein bisserl dazu verdient, wie es offenkundig alle Vietnamesen müssen, während Tú die Erläuterungen der leitenden Ärztin übersetzt, kann er plötzlich nicht mehr an sich halten, wendet sich ab, schluchzt, fängt sich jedoch schnell und erklärt uns mit erstickter Stimme, dass sein Bruder durch Agent-Orange fiel und dessen beide Kinder ebenso geschädigt und hilflos wie diese Heiminsassen sind... Tiefe Betroffenheit. Nichts mehr von ostasiatischer Maske. Jäh wird mir klar, was hier wirklich läuft, wie manche schon zuvor von Tú gehörte Zynismen zu verstehen sind, wie einen Menschen wie Tú förmlich zerreißt, der seine Lieben durch die Amis verlor und sieht, wie deren Kapital und Ideologie ins Land kommen und die Ideale, für die man kämpfte offenbar der Vergangenheit angehören und eine Zukunft irgendwo im McDonalds-Himmel liegt... Kurz bevor wir in den Bus steigen kommt Tú zu mir, drückt mir den Arm und flüstert, er habe gesehen, wie aufgeregt ich gestern beim Treffen mit dem 1. Sekretär des Jugendverbandes war, wie mich jetzt die Begegnung mit diesen todkranken Kindern beschäftigt. Unglaublich, dieser Mann sah hinter seinen Tränen, wie nah mir das alles geht, versucht mich zu ermutigen! Ich sage ihm nur, wir müssen reden miteinander, in Ruhe, vergesse jedwede Höflichkeitsfloskeln, ziehe ihn an mich, drücke seine Schultern, freundschaftlich. Ein jeder aus unserer Gruppe hat mit sich zu kämpfen, dies umso mehr, da wir an einer Wand einen Wimpel der Rotarier aus Seattle entdecken und die Ärztin uns sagt, die hätten nur ein paar Bonbons da gelassen. Wir geben am Ende für Freundschaftsbänder und Tücher, die die Heiminsassen in ihren Werkstätten herstellen, große Scheine. Der Druck auf unsere Mägen und Hirne bleibt aber noch lange spürbar. Gut, dass wir in ziemlichen Terminverzug gerieten, den programmgemäßen Besuch im Goethe-Institut verschieben müssen, stattdessen heute nur noch die Alte Universität, den Literaturtempel besichtigen, in dessen tausendjährigen von konfuzianistischem Geist getränktem Gemäuer wir unseren Gedanken und Gefühlen nachhängen können.

2020: Die Zahlen in Deutschland explodieren weiter, nun schon täglich um die 30.000 Neu-Infizierte. In Baden-Württemberg wird aus dem Teil- schon heute ein Voll-Lockdown, in Sachsen ab Montag. Nicht zuletzt das uneinheitliche Reagieren verunsichert die Leute, täglich wird eine andere Sau durchs Dorf getrieben…

2022: Am Nachmittag Lesung in einer Kunstausstellung am Naumburger Markt. Natürlich lese ich angesichts des Weihnachtsmarkttreibens auch eine Kindergeschichte aus „Stille Nacht“. Danach sagt mir eine ältere Dame, eine der ausstellenden Künstlerinnen offenbar: „Schade, dass meine Enkel schon groß sind.“

 

Stillleben

für

Sadiq al-Azm / Jaan Anvelt / Andre Braugher / Ivan Cankar / Samuel „Sam“ Cooke / Adam Elsheimer / Wolf Erlbruch / Gotthilf Fischer / Charles Godefroy / Beryl Goldwyn / Marquise-Thérèse de Gorle / Xavier Grall / Hans Heinz Holz / Irma Hünerfauth / Karl XII. / Ewald Georg von Kleist / Jochen Klepper / Ahmadou Kourouma / Llywelyn ap Gruyffydd / John Gillespie Magee jr. / Alma Mahler-Werfel / Sofija Oleksandriwna Nalepynska-Bojtschuk / Adile Naşit / Theodor von Neuhoff / Nikephorus II. Phokas / Bettie Page / Pinturicchio / Gaston Salvatore / Max von Schenkendorf / Afra Schick / Olive Schrenier / Ravi Shankar / Martin Stade / Moritz Graf von Strachwitz / Daniel Stylites / Awet Terterjan / Margarete Traube / Alfons Walde / Sidonia Hedwig Zäunemann

 

An diesem Tage wurde es still um uns:

1659 erobern die Holländer die kurländische Kolonie Tobago / Bremerhaven, 1875: Bombenanschlag auf das Auswandererschiff „Mosel“, 83 Menschen sterben / 1937 tritt Italien aus dem Völkerbund aus / 1941 erklären Deutschland und Italien der USA den Krieg / Saragossa, 1987: Anschlag der ETA auf eine Kaserne, elf Tote / Tennessee, 1990: Verkehrsunfall auf der Route 75 bei Nebel, 12 Tote, 65 Verletzte/ 1994: Beginn des ersten Tschetschenienkrieges / Surat Thani, Thailand, 1998: Absturz eines Airbus A310 beim Landeanflug, 101 Menschen kommen ums Leben / Teheran, 2006: Beginn einer Holocaustleugnungskonferenz / Michoácan, Mexiko, 2006: Beginn des Drogenkrieges.

 

 

12. DEZEMBER

 

Session

mit

Tschingis Aitmatow / Mulk Raj Anand / Dickey Betts / Bruno Cassirer / Erasmus Darwin / Ernesto de Fiori / Manu Dibango / Ewald Dülberg / Gustave Flaubert / William Lloyd Garrison / Heinz Gartmann / Gerald Griffin / Wassili Semjonowitsch Grossmann / Dore Hoyer / Liesl Karlstadt / Johann Kresnik / Joseph Kutter / Fritz Muliar / Edvard Munch / Theodor Neubauer / Robert Noyce / John Osborne / Ozu Yasujirō / Elvio Romero / Rose Renée Roth / Frank Sinatra / Manès Sperber / Brandon Teena / Heinrich Vogeler / Otto Warmbier / Grover Washington Jr. / Hans-Günther Wauer / Tony Williams / Alexander Ypsilantis / Hermynia Zur Mühlen

 

 

So kamen wir zu einer Session zusammen:

Ninive, 627: Ende des letzten Römisch-Persischen Krieges / 1830 erkennt das Osmanische Reich die Selbständigkeit Serbiens an / Iran, 1905: Beginn der Konstitutionellen Revolution / 1911 wird die Hauptstadt Britsch-Indiens von Kalkutta nach Delhi verlegt / 1955: Patentanmeldung für das erste Luftkissenfahrzeug / 1963 wird Kenia unabhängig von Großbritannien / Algier, 2000: Unterzeichnung des Friedensvertrages zwischen Äthiopien und Eritrea.

 

 

Ich notierte:

1973: Heute sah ich sie wieder jagen: nach irgendwelchen materiellen Dingen, um besser leben zu können, sich über andere zu stellen und so glücklich zu werden. Wie kleinkrämerisch, spießig, rechthaberisch sind och Leute, die diesen Weg verfolgen. Durch Geld, Erfolg, Sicherheiten zum Glück. Seltsam, umso älter diese Leute, desto unzufriedener sind sie. Denn die glücklos zurückgelegte Strecke wird immer größer und das Nichterreichte immer ferner. Verbraucht sind erträumte Ideale dann, die Welt wird immer enger. Ich glaube, dass es unmöglich ist, durch Anhäufungsgier glücklich zu werden. Glück ist nun einmal das höchste Gefühl und Emotionen lassen sich nicht stapeln. Sie müssen immer aus dem Inneren kommen, sind bestenfalls von außen beeinflussbar, aber niemals läuft das umgekehrt.

Gerade wenn man zwischen den Dingen lebt, wie jetzt gerade ich, kann man sehr leicht in Depressionen verfallen. Sind doch Depressionen nicht anderes, als ein Sich-zurückgesetzt-Fühlen, eine Konfrontation und ein Vergleich mit anderen Menschen, die „schon etwas erreicht haben“. Obwohl ich doch immer wieder spüre, wie unglücklich doch gerade diese Menschen sind, hat doch diese verfluchte Welt ringsum die Kraft, mich wie ein Rohr im Wind schwanken zu lassen. In solchen Augenblicken gibt mir Musik sehr viel. Denn Musik ist Gefühl, und ich versuche diese dann zu übertragen… Seltsam, warum ich das gerade jetzt schreibe, mein erstes brauchbares Gedicht befasste sich auch mit dieser Thematik und das habe ich schon vor nunmehr drei Jahren geschrieben. „Mit samtenen Flügeln von den Zinnen sich schwingen, / die den meisten Idol, nur Unglück bedingen…“ Sollte ich (Gott sei dank) noch nicht weiter gekommen zu sein? Der Arbeitstag war mal wieder 8 ¾ Stunden lang. Trotzdem finde ich eine Episode erwähnenswert: 4 Tonnen, gleich 80 Säcke, Zement habe ich heute von einem Auto mit abgeladen. Das ging nicht ohne Fluchen und natürlich waren wir alle arg eingestaubt. So saßen wir danach nach Luft schnappend und Blessuren reibend auf alten Kisten und Putzwolle herum. Plötzlich stand Pläcke, unser Brigadier, auf, nahm einen Besen und begann Jule, dem ewig Unterdrückten, abzukehren. Jule guckte verdaddert und wollte schon protestieren, doch Pläcke kehrte so inbrünstig, wie eine Affenmutter ihr Junges laust, und er ließ es sich gefallen- im wahrsten Wortsinn. Und nach Jule kamen dann auch wir anderen an die Reihe, denn Pläcke musste ja seine Pflicht als Brigadier allen gleich tun, gewissenhaft… Unterhakte dich mit Arbeitern, so wirst du bald feststellen, dass die einen von nichts wissen, „sich keinen Kopp machen“ und deshalb die große Schnauze haben. Andere buckeln und entschuldigen sich bei jedem bei jeder möglichen Gelegenheit, da sie einiges gelesen, aber nichts verstanden haben und so in jeder Großschnauze einen „großen Mann“ vermuten.

Nach Feierabend ging ich einkaufen. Weihnachten ohne Geschenke ist wohl nicht denkbar. Leider schenkt man ja so gern. Und dann lief mir Ute, meine Verflossene, übern Weg. Wir gingen was trinken. Sie erzählte mir Sachen über Jeanny, die mich zum Grinsen brachten. War es doch zu offenkundig, was sie damit bezweckte. Und ich staunte über mich, über meine Erhabenheit gegenüber solchem Tratsch. Anschließend zur TH, Konzert mit Elektra im großen Hörsaal. Die spielten nicht schlecht, meist Jethro Tull. Als sie sich dann allerdings an Colosseum, an Lost Angeles versuchten, ließ ich mich zu Buh-Rufen hinreißen, das hatten die nicht geschnallt, einfach nicht drauf. Keine Frage, das konnten wir besser.

1977: Montag. Am Morgen routinemäßig aufstehen, obwohl ich fast wieder verschlafen hätte. Die Uniform liegt parat, in fünf Minuten bin ich aus dem Haus. Die Straßenbahn kommt zum Glück pünktlich, der Zug, der Bus – alles noch im Dunkeln. Und ohne dies so recht zu begreifen, bin ich schon wieder in derb Kaserne. Die Routinearbeit beginnt. Verschiedene Schreiben sind aufzusetzen, Anrufe zu tätigen. Das läuft alles gut, gegen Mittag bin ich fertig und gehe mit Karl in die Stadt, da ich dort noch einiges zu erledigen habe. Gegen eins plagt mich der Hunger, wir finden eine kleine südamerikanische Speisebar. Ich bin überrascht von der Ausstattung wie den Speisen. Für eine Stunde bin ich dem Alltag fern. Doch schon geht’s weiter, diverse Absprachen, am Abend Sitzung des Ensemblerates, die fast zum Debakel geworden wäre, da wir mal wieder Weihnachten (oder was auch immer) feierten und natürlich mit reichlich von mir eingeschmuggeltem Schnaps. Plötzlich ging die Tür zu unserem Ensemblekeller auf – zum Glück hatten wir die Kerzen gerade ausgeblasen und das Neonlicht angemacht, waren beim Aufräumen – und der Abteilungskommandeur erschien und es stand noch eine Schnapsflasche auf dem Tisch! Olaf reagierte blitzschnell, stellte sich davor, ließ die Flasche dann irgendwie in einem Stiefel verschwinden. Der Abteiler nuschelte herum, schnüffelte und tat dann so, als hätte er im verqualmten Keller nicht gesehen, was uns Strafen hätte einbringen können.

1979: Soeben kommen wir aus dem Kino. Jeanny und ich habe uns Bergmanns „Herbstsonate“ angesehen. Beeinduckender Film. Und die Thematik ging mich an: Sinn der Kunst, der Kunstbetrieb, Überwindung des Dilettantismus durch Selbstaufgabe, Egozentrismus, die Unfähigkeit zu lieben… Vorausgesetzt, ich wäre fähig den Weg, Kunst zu „fabrizieren“ einzuschlagen, wüsste ich jedoch nicht, wo ich den Anfang dafür ohne meine Familie, ohne Freunde, finden sollte. Ja, ich bin heillos zersplittert (und das ist auch der Grund, warum ich wieder und obwohl ich’s partout nicht wollte, Tagebuch führe) und versuche irgendwie durch diese „klebrige“ Übergangsphase zu kommen (vielleicht um sie später anhand meiner Notizen aufarbeiten zu können…). Ich bin jemand, der seinen Beruf Musiker wohl nur noch um der Bequemlichkeiten ausübt, den ansonsten (und nicht zuletzt ob der vielen für Geldverdienen notwendigen Kratzfüßen) verachtet, und sein Dasein als Schriftsteller (dass er trotz all der unbequemen Wahrheiten deren er sich sicher ist, sie aussprechen zu müssen) ob aller vorhersehbaren Unannehmlichkeiten scheut. Seltsam, dabei geht es mir absolut nicht um Äußeres – wenn ich beispielsweise nach Deuben unterwegs bin, bringe ich es ohne Probleme fertig, einen ganzen Tag nichts zu essen, um mein Arbeitspensum zu schaffen. Es geht auch nicht um billige Befriedigungen, sondern darum, dass ich mein Leben in Frage stelle, erstmals ernsthaft. Alles, was da bislang war, erscheint mir nun mittlerweile banal, wenn nicht lächerlich. Ich zweifle – und ich bin froh darüber. Daraus resultierende Konsequenzen scheue ich nicht. Entweder schaffe ich es in absehbarer Zeit über den Berg all meines Ballastes zu kommen, mich wirklich selbst zu verwirklichen – oder ich drohe wohl dem Alkohol anheim zu fallen. Dabei bin ich mir nicht einmal sicher, ob diese Selbstfindung damit endet (Ende - schon dieses Wort macht mir Angst…), dass ich Schriftsteller sein werde, der seinen musikalischen Ballast abgeworfen hat, oder ob ich Musiker nach meinen Überzeugungen und Interessen sein kann, der all finanziellen Zwängen fliehen konnte, und schreibt… Schreiben als Beruf und Musik als Hobby – das wär’s!

1999: Genthin. Am Mittag Abschluss des Seminars. Zufriedenheit über den Verlauf bei den Teilnehmern offenbar, Zufriedenheit also auch bei mir. Schließlich war dies meine erste Veranstaltungsleitung als designierter Geschäftsführer des Bödecker-Kreises. Heimfahrt bei scheußlichem Wetter, Sturm, Regen. Zuhause ist aber bereits der Kaffeetisch gedeckt, Weihnachtsplätzchen, der Adventskranz, und Mine will mit dem Opa Tierdomino spielen... Mine erscheint mir in der letzten Zeit gereift, nicht mehr so kleinkindhaft, verständiger. Oder kommt mir das nur so vor, da ich in letzter Zeit kaum Zeit hatte, mich mit ihr zu beschäftigen?

2003: Von Ha Noi nach Ha Long. Aus dem Busfenster blickend frage ich mich, ob ich nicht daheim am Fernseher sitze und einen Dokumentarfilm über Vietnam sehe: Reisfelder über Reisfelder, mal noch mit Stroh, mal schon gepflügt, mal schon bewässert und im zarten Grün der Setzlinge, Bauern mit ihren typischen Reisstrohhüten, Wasserbüffel. Virtuell? Nein, real! Bananenhaine, malerische Seen, buddhistische Friedhöfe, Flüsse voller hausbootartiger Lastkähne, Steinkohletagebaue, dann die ersten spitzkegligen Kalksteinfelsen. Schließlich die Bootsfahrt durch die Ha Long-Bucht, UNESCO-Weltkulturerbe, Bilderbuchlandschaft, tausende dieser Kalksteingipfel ragen hier inselgleich aus dem Wasser. Der Eindruck des Virtuellen wird übermächtig. Dann erzählt Tú aber, dass die Amis diese traumhaft schöne Bucht vermint hatten, um die Zufahrt zum Hafen von Haiphong zu verhindern. Und da das im Pariser Friedensabkommen unterschriebene Versprechen, die Bucht zu säubern, von ihnen nie erfüllt wurde, wussten sich die Vietnamesen nicht anders zu helfen, als Wasserbüffel zum Minenräumen einzusetzen... Im Übrigen ist hier gottseidank ein anderes Klima als in Ha Noi, statt dieser unangenehm kühlen Feuchte nun hier am Meer trockene Frühlingslüfte. Am Abend in einem Hotel mit berühmten Namen: Bach Dang. Am hier mündenden Bach Dang schlugen die Vietnamesen Chinesen und Mongolen, indem sie deren Flotten bei Flut anlockten und zuvor in den Flussboden gerammte Spitzpfähle dann bei Ebbe ein unüberwindbares Hindernis darstellten, die Invasoren in der Falle saßen. Nach dem Abendessen gucken wir mit den Kellnern und einigen einheimischen Gästen das Fußballendspiel der SEAGames: Vietnam gegen Thailand. Doch oh Schreck, Vietnam verliert durch Golden Goal! Was für Gefühlsausbrüche.

2022: Absurd: nach einer Serie milder Winter herrscht nun angesichts Gas- und Ölknappheit und explodierender Energiekosten infolge des Ukrainekrieges seit Tagen z.T. strenger Frost. Und heute schneit’s schon mal wieder…

 

2023: Am Nachmittag Gespräch mit zwei angehenden Germanisten aus Halle die Interesse zeigten, mir bei der Übertragung von Tagebüchern Walter Bauers von der handschriftlichen zur Druckvorlage (für den zwölften Band meiner Walter-Bauer-Reihe im Mitteldeutschen Verlag) zu helfen. Das wäre insofern ein Dammbruch, da es mir bislang nicht gelang, die (hallesche) Germanistik zu einer Beschäftigung mit WB anzuregen. Gutes Gespräch (mit Henriette und Moritz), ein gutes Gefühl also, dass es vorangehen kann.

 

 

Sympathie

für

Alfred Peter Abel / Tschabua Amiredschibi / Abebe Aragai / Mildred Bailey / Dee Brwon / Robert Browning / Jack Cassidy / Hermann Conring / Herbert Dreilich / Douglas Fairbanks sen. / Renée Jeanne Falconetti / Denis Iwanowitsch Fonwisin / Theodor Heinrich Friedrich / Wilhelm Genazino / Johann Christoph Gottsched / Joseph Heller / Eugen von Kahler / Kakuban / John le Carré / Henrietta Swan Leavitt / José Martiniano de Alencar / Menelik II./ Alykul Osmonow / Ozu Yasujirō / Alexander Parvus / Raymond Radiguet / Anita Clara Rée / Robert Rex / Jean Richard / Hudā Scha’rāwī / Alan Shugart / Jack Steinberger / Ian „Stu“ Stewart / Ike Turner / Helen Twelvetrees / Carola Williams / Wu Jingzi

 

Dem vermochten wir keinerlei Sympathie entgegenzubringen:

Maarat an-Numan, Antiochia, 1098: Kreuzfahrer erobern die Stadt und massakrieren die männlichen Einwohner / Merseburg, 1568 „frühe hat mann 3 Sonen am Himmel gesehen, über der rechten Sonnen hat mann sich ein Regenbogen zusammen geschlossen. Sie haben den gantzen tag gestanden, u. nach ihren untergange seynd auf 3 Monden erschienen, worüber auch ein regenbochicht farbichter Blacken gekrümmet gestanden“ / 1677 erobern die französische Truppen Tobago / Barnsley, Yorkshire, 1866: Bergwerksunfall, 361 Tote / Saint-Michel-de-Maurienne, 1917: Zugunglück, 700 Todesopfer / Gander, Kanada, eine DC-8 stürzt nach dem Start ab, alle 256 Insassen sterben / 1986 Absturz einer Tu-134 beim Anflug auf Berlin-Schönefeld, 72 Todesopfer / Flores, Indonesien, 1992: Erdbeben, 2.500 Menschen kommen ums Leben.

 

 

13. DEZEMBER

 

Reportage

mit

Waleri Jakowlewitsch Brjussow / Emily Carr / Hector-Neri Castañeda / Mehrangiz Dolatshahi / Frank-Volker Eichhorn / Robert Gernhardt / James Hargreaves / Christian Johann Heinrich Heine / Heinrich IV. / Hide / Ludvig Holberg / Curd Jürgens / Julius Kaspar / Jutta Lampe / Yangve Larsson / Franz von Lenbach / Ross Macdonald / Jutta Müller / Hilaree Nelson / Talcott Parsons / Kenneth Patchen / Jewgeni Petrow / Christopher Plummer / Diego Riveira / Werner von Siemens / Supalayat / Karel Teige / Jón þorlákson / Pat Torpey / Laurens van der Post / Tom Verlaine / Jitzhak Zuckerman

 

Darüber berichteten wir gern:

Stettin, 1570: Friedensschluss im Dreikronenkrieg / Deutschland, 1919: Gründung der Arbeiterwohlfahrt / 1960: Gründung von Eurocontrol zur Flugsicherung / 1967 startet die Raumsonde „Pioneer 8“ zur Sonne / 1974 wird Malta Republik / 1991 schließen Nord- und Südkorea einen Nichtangriffspakt.

 

Ich notierte:

1973: Nach der Arbeit wollte ich heute nach Leuna, zu Jeanny. Doch Fans kamen mit einer Captain Beyond LP, auf die ich schon lange gewartet hatte. Also überspielen und dann etliche Dankeschön-Bierchen mit den Fans.

1977: Leipzig. Dienstag. Gegen vier Alarm. Zum Glück nur für Funker, Fernsprecher, Aufklärer, den Führungszug. Obwohl ich in ihrem Zimmer schlafe, gehöre ich nicht zu ihnen. Als werde ich, ebenso wenig wie Olaf, ehemaliger Kruzianer und mein jetziger Singegruppenleiter, dufter Freund und Kalfaktor (oder wie es hier jetzt: BA-Bulle), der auch mit im Führungszugzimmer schläft, in Ruhe gelassen. Das ist schon ein seltsames Gefühl, wenn man im Bett liegt und halbwach, trotz allen Krachs, vor sich hinduselt, und sich ringsum in der Dunkelheit (Licht muss bei Alarm aus bleiben!) hektisch angezogen wird. Und da ist eine Menge anzuziehen. Dann waren sie weg, kamen jedoch – das alles nur ein Test war – bald wieder, zogen sich noch lärmender und bei Licht wieder aus…

Der Vormittag verlief recht gewöhnlich, allzu viel war nicht zu tun. Da bei mir aber Dienststelle (in der Militärbezirksverwaltung) und Schlafstelle getrennt sind, lief ich gegen Mittag zurück in die Kaserne, in die Einheit. Eigentlich wollte ich gemütlich Mittag essen und dann vielleicht ein Stündchen lesen, doch dazu kam es nicht. Der Probekeller war voller Leute. Sie sagten, dass Probe wäre – wovon ich als Ensembleleiter, aber nichts wusste. Das kam mir seltsam vor, also fragte ich Siggi, unseren Spieß, und schon war die Sache klar: Vormittag stand Ausbildung auf dem Dienstplan, danach waren alle kaputt, am Nachmittag sollte ein Teil der Leute auf Wache ziehen und die Ensemblemitglieder hatten einen Auftritt. So war ein Zeitloch entstanden, das normalerweise mit „Beschäftigungstheorie“ gefüllt wurde: Fenster- oder Klo- oder Waffenputzen etc. – unser Alter hatte aber offenbar einen guten Tag und so „Ensembleprobe“ befohlen. Das wiederum hätte er eigentlich mit mir abstimmen müssen, ja, so verrückt das klingt, doch so geht eben Armee-Logik: der Alte, unser Batteriechef, hatte den Dienstgrad Hauptmann, ich als der Ensemblechef war Gefreiter, doch hatte den Dienstrang Major (da normalerweise ein Major Ensembleleiter sein musste, nur gab es offenbar in der ganzen Nationalen Volksarmee keinen Major, der ein solches Ensemble leiten konnte – was dem Gefreiten Jankofsky selbstredend recht war… Nicht von ungefähr wohl hatte mich Konrad Potthoff beim letzten Zirkel schreibender Soldaten mit dem Ex-Gfreiten Wintergreen aus Joseph Hellers „IKS-Haken“ verglichen.). Natürlich sagte ich nichts gegen den Befehl des Alten, ließ die Leute im Keller weiter vor sich hindösen.

Gegen 15.00 Uhr fuhren wir dann also zum Auftritt, wir, das waren heute die Konzertgruppe und die Combo, neun Mann von insgesamt fast 60 im Ensemble. Für uns neun Hanseln fuhren ein großer W50 und ein Ikarus-Bus vor. Der Bus hätte mehr als gereicht, doch der W50-Fahrer wollte unbedingt mit, war mit uns schon ein paar Mal unterwegs gewesen. Keine Frage, dass ich den Mann nicht zurückschickte. Wir fuhren nach Ermlitz ins Kinderheim. Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, in einem Kinderheim aufzutreten. Ich glaube, ich war heute zum fünften oder sechsten Mal dort, und ich kann mich noch gut erinnern, wie es beim ersten Mal war. Damals waren gerade die Schulzens, ein mit uns befreundetes Ehepaar, in den Knast gesteckt worden. Ausreiseantrag gestellt, Arbeit verweigert und einiges Undurchsichtiges wohl. Das hatten mir andere Freunde erzählt. Und auch, dass die drei Schulzen-Kinder in ein Heim gebracht worden seien. Und da Ermlitz im Kreis Merseburg liegt hatte ich geglaubt, die Schulzen-Kinder (die älteste war bestenfalls zehn) dort sein mussten. Sie waren es nicht, Gott sei dank. Ich glaube, ich hätte nicht recht gewusst, wie ich mich hätte verhalten sollen, denn bestimmt hätten sie mich trotz Uniform und ohne Haare und Bart erkannt. Mittlerweile herrscht ein wirklich gutes Klima zwischen den Ermlitzer Kindern und mir. Sie freuen sich ebenso auf unsere Auftritte wie ich. Und auch heute war es wieder ein Erlebnis. Zuerst brachten wir ein paar leichte Schumann- und Schubert-Stücke. Später spielten wir zum Kindertanz. Zwischendurch pflückten sich zumindest die Kleinen (es sind etwa 60 Kinder zwischen 4 und 17 Jahren dort), die Abzeichen von unseren Uniformen. Wie immer hatten wir uns vorher entsprechend aufgeputzt, damit die Kinder auch was zu pflücken hatten… Gegen Mitternacht waren wir zurück und tranken im engsten Kreis, bei Kerzenschein und in Lauerstellung (da in den Kasernen ja strengstes Alkoholverbot herrscht) noch ein, zwei Fläschchen im Probe-Keller.

1979: Heute war in der Post die Antwort des Wehrkreiskommandos auf meinen Antrag zur Zurückstellung vom Reservistendienst. Als ich den Einberufsüberprüfungs-Bescheid Anfang November erhielt, konnte ich es nicht glauben. Nach anderthalb Jahren schon wieder dienen? Kaum den allergrößten finanziellen Schwierigkeiten entkommen… Oh nein! Kein Wunder, dass ich mir kaum traute, das Schreiben zu öffnen. Aber – mein Antrag wurde positiv entschieden. Das Damoklesschwert jedoch bleibt. Ich soll in den nächsten Tagen vorbeikommen, um mir eine Zurückstellung bis 31. August 1981 in den Wehrdienstausweis eintragen zu lassen… Bis dahin werde ich hoffentlich zumindest das Literaturstudium beendet haben und meine Zukunft etwas klarer sehen. Nun pinselte ich ein bestelltes Arrangement für einen der Sänger runter, mit denen wir gelegentlich tingeln. Gutes und schnelles Geld. Dann widme ich mich wieder meinem Deubener Auftragswerk. Der Text ist ja nun durch. Ich kann also an Komponieren und Arrangieren gehen. Ich habe eine Menge Ideen skizziert, bringe die aber noch nicht so recht zusammen. Da ist mal wieder etwas, was nur in meinem Kopf existiert, das ich ganz allein zu einem Kokon bringen muss aus dem dann irgendwann ein fertiges Stück schlüpft und in die Welt hinausflattert.

1980: Heute wieder im Literaturzentrum. Korall wollte mir etwas über meine Miniaturen sagen, sagte dann aber nur, dass er die noch nicht gelesen hätte. Dafür bat mich Jendryschik, ihm doch mal was zu schicken.

1987: Inmitten nerviger Lehrgangs-, Jahresabschluss- und „alltäglicher“ Diensttätigkeit scheint mir ein Artikel, der soeben in der „Einheit“ erschien und in dem kein Geringerer als Gerhard Holtz-Baumert mein Talent lobt, zu helfen. Anträge scheinen erhört zu werden, Schreibzeit mir im neuen Jahr womöglich zugestanden zu werden!

1999: Eine goldige Wintermorgensonne scheint mir ins Arbeitszimmer. Doch ich muss nach Halle. Umzug des Verlages vom Künstlerhaus ins „Bäumchen“. Dann noch einige Jahresend-Aktivitäten, Abrechnungen etc. Schließlich nach Schafstädt zu meinem Autohändler, da ich mit Übernahme der Bödecker-Geschäftsführung auch als Gesellschafter des Verlages ausscheiden möchte. Keine Mauscheleien. Insofern brauche ich einen Rat wie der geleaste Firmenwagen auf eine anderen Nutzer übertragen werden kann. Und ich bekomme nicht nur diesen Rat, sondern auch ein interessante Angebot für einen neuen Privatwagen (den ich dann eh bräuchte). Zuhause setzen sich die Jahresend-Aktivitäten fort, Abrechnungen etc... In den Nachrichten Berichte über eine aktuelle UNESCO-Studie, wonach 600.000 Kinder dieser Welt in absoluter Armut leben. Gestern lief ein Bericht im Fernsehen über Superreiche, die sich vor lautem Übermut schon Weihnachtsbäume mit Brillianten-Schmuck in die Villa stellen...

2000: Nach wie vor ungewöhnlich mildes Wetter. Wer weiß, ob ich alle Termine der letzten Wochen hätte halten können, wenn normales Wetter gewesen wäre. Aber was ist schon noch normal...? Am Morgen zu einer Lesung nach Jeber-Bergfrieden. Die letzte offizielle in diesem Jahr, nächste Woche soll es wohl nur noch eine vom Verein „Miteinander“ zu „Novembertau“ geben, wozu aber noch kein Vertrag vorliegt. Mal sehen also. Von Jeber-Bergfrieden weiter in meine Nord-Büros, leichte Aufregung, da sich einige Schwierigkeiten bei der Projektabrechung auftaten, dann nach Magdeburg, Hotel beziehen und ins Literaturbüro, Abstimmung mit Erich-Günter Sasse, bevor ich am Abend in der Stadtbibliothek die Wahlversammlung des Literaturbüros zu leiten habe. Läuft alles glatt, der „erwünschte“ neue Vorstand ist am Ende gewählt...

2002: Mal wieder eine Wetter-Abnormalität in diesem verrückten Jahr: mit Temperaturen um -15°C nachts die kälteste, früheste Frostperiode seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.

2003: Ha Long. Die Nacht war kurz, dazu passt das heutige „leichte Programm“: Besuch in einem Gymnasium, wo selbst heute am Sonnabend quirliges Treiben herrscht (hier kann man spüren, dass mehr als die Hälfte der vietnamesischen Bevölkerung jünger als 20 Jahre ist – jedes Jahr 1 Million Schulabgänger!), dann an der Strand, frische Kokosnussmilch schlürfen, Liegen im Strandkorb, Beine im Wasser. Nach dem Mittagessen zur Insel Tuan Chou, dem Mallorca Vietnams (wie Tú sagt), allerdings ist alles noch im Bau, die Delfine im protzigen Delphinarium sind jedoch schon gestorben, keine Verführung logischerweise, und die Krokodilshow beginnt erst nach unserem Abfahrttermin, schauen wir also ein wenig zu, wie der leere, breite Kunststrand gekehrt wird. Zurück nach Ha Noi. Unterwegs kurze Rast in Hai Duong, wo wir eigentlich die Fabrik zur Herstellung von Sojabohnenkuchen besichtigen sollten. Doch wie gesagt, es ist Sonnabend und hier wird tatsächlich nicht gearbeitet, es gibt somit auch nichts zu besichtigen, im werkseigenen Laden aber immerhin was zu kosten. Nach dem Abendessen kleiner Einkaufsbummel durch die wochenendwimmlige Altstadt Ha Nois. Aber wieso eigentlich Abendbrot? Die endlosen Speisenfolgen bieten alle erdenklichen Köstlichkeiten von Suppen über Frühlingsrollen, Tofu, Shrimps, Tinten- und sonstige Fische, Schwein- und Rind- und Enten- und Hühnerfleisch, gedünsteten Spinat und Chinakohl, dazu stets Chili-Schoten und die Fischsoße Nuoc Mam – Reis jedoch, wird stets erst ganz am Ende, sozusagen als Sättigungsbeilage gereicht, gewöhnungsbedürftig. Und gleich noch eine gewöhnungsbedürftige Besonderheit: Vietnamesen schmatzen beim Essen genüsslich.

2020: Nun ein neuer Regierungsbeschluß: ab Mittwoch, den 16.12., gilt wieder ein „harter Lockdown“ deutschlandweit, auch Geschäfte (bis auf Supermärkte, Apotheken etc.) müssen schließen, Schulen, Kindergärten, höchstens 5 Personen aus 2 Haushalten dürfen noch zusammenkommen… leichte Lockerungen vom 24.-26.12. (10 Leute…), zu Silvester Versammlungsverbot und es darf keine Pyrotechnik verkauft werden… Möge es nützen.

2023: Mal wieder nach Dresden. Weihnachtsmärkte, Riesenrad beim Goldenen Reiter und Konzert in der Frauenkirche: "Weihnachtliche Barockmusik von Corelli, Manfredini, Vivaldi u.a." 

 

 

Robinsonade

für

Innokenti Fjodorowitsch Annenski / Christian Heinrich Aschenbrenner / Oğuz Atay / Engelbert Brinker / Cornelius Cardew / Eduard Claudius / Anthony Collins / Ambrose Mandvulo Dlamini / Donatello / Friedrich II. /  Erich Garske / Christian Fürchtegott Gellert / Conrad Gessner / Hannes Hafstein / Christian Friedrich Hebbel / Samuel Johnson / Wassily Kandinsky / Heinz Kruschel / Claus Küchenmeister / Robert Long / Johann Friedrich Löwen / Gildardo Magaña / Maimonides / Marianna von Martines / Enrique Morente / Grandma Moses / Enrico Rastelli / Nicholas Roerich / Ghasisa Achmetqysy Schubanowa / Chuck Schuldiner / Alexander Selkirk / Kim Simmonds / Nichita Hristea Stănescu / Wassyl Andrijowytsch Symonenko / Horst Tappert / Niccolò Tartaglia / Johannes Trithemius / Lupe Vélez / Nancy Wilson / Otto Wittke / Woolly Wolstenholme / Zalman „Zal“ Yanovsky

 

Da begannen wir zu vereinsamen:

Antiochia, 115: Erdbeben, tausende Todesopfer / 1250: Beginn des Interregnums im Heiligen Römischen Reich / Punjab, 1845: Beginn des Ersten Sikh-Krieges / 1864: Paraguay erklärt Brasilien den Krieg, der Tripel-Allianz-Krieg beginnt / Nanjing, 1937: japanische Truppen erobern die Stadt und massakrieren in den folgenden Tagen 100.000 Menschen / 1939 sinkt der Zerstörer „Duchess“ nach der Kollision mit dem Schlachtschiff „Barham“ wetslich von Schottland, 129 Seeleute sterben / Huaraz, Peru, 1941: Schlammlawine, 6.000 Menschen kommen ums Leben / Polen, 1981: Verhängung des Kriegsrechts / Arabien, 1982: Erdbeben, 2.800 Tote / Neu-Delhi, 2001: Anschlag auf das Parlament, 14 Todesopfer

 

 

14. DEZEMBER

 

Grundsteinlegung

mit

Upendranath Ashk / Leslie Conway „Lester” Bangs / Nikolai Gennadowitsch Bassow / Luciano Bianciardi / Jane Birkin / Tycho Brahe / Nikolaj Isak Jørgen Brønlund / Mykola Chwylowyj / Thomas Cochrane / Leonore Tamara Danz / Tove Ditlevsen / Paul Éluard / Lore Feininger / Marianne Fritz / Sanjay Gandhi / Jean Gerson / B.K.S. Iyengar / Esther John / Linda Jones / Spike Jones / Joseph Jongen / Errico Malatesta / Justus Möser / Phineas Newborn Jr. / Nostradamus / Hans Joachim Pabst von Ohain / Erich Ponto / Lucas Rem / Gerard Reve / Herbert Roth / Åke Senning / Maria Szymanowska / Clark Terry / Christoph August Tiedge / Klaus-Peter Thiele/ Peter Thorup / Ueshiba Morihei

 

Da schien uns ein tragfähiger Grundstein gelegt:

Monaco, 1856: die Spielbank Monte Carlo nimmt ihren Betrieb auf / Glasgow, 1896: Eröffnung der Subway / 1911 erreicht Roald Amundsen den Südpol / 1930: Manfred von Ardenne gelingt die erste vollektronische Fernsehübertragung /1946 wird New York Sitz der UNO / Paris, 1960: Gründung der OECD / Johannesburg, 1962 passiert die US-Raumsonde „Mariner 2“ die Venus / 1990: erster Kongress des ANC / 1993: Unterzeichung eines neuen Welthandelsabkommens / 1995: Unterzeichnung des Dayton-Vertrages zur Beendigung des Krieges in Bosnien-Herzegowina / 2013 landet die erste chinesische Raumsonde "Chang'e 3" auf dem Mond..

 

Ich notierte:

1973: Den ganzen langen Arbeitslang hatte ich mich auf Jeanny gefreut. Und als ich dann im Amselweg ankam, war sie gar nicht zu Hause. Ich hörte mit Emil Musik, ihrem Bruder, unserem Klampfer, (natürlich die Captain Beyond Scheibe) und dann war sie schon da. Wir hatten uns fast eine Woche nicht gesehen und verschwanden bald in ihrem Zimmer. Die blieb einmal mehr stehen, doch verflog viel zu schnell. Ich erzählte von Ute. Jeanny war empört, weinte wohl sogar ein bisschen. Und doch glaube ich, dass es richtig war, alles zu erzählen. Schweigen bringt nichts. Reden verbindet – oder trennt. Aber man weiß dann wenigstens meist, woran man ist. Wir sollten überhaupt alle vielmehr miteinander reden, und nicht nur über Nichtigkeiten. Vorurteile könnten abgebaut werden, Brücken geschlagen. Schweigen entfremdet nur weiter in den hektischen Alltagen.

1979: Den Tag über gelang es mir, das Kernstück des Deubener Auftragswerks runterzuschreiben, gleich als Partitur und Klavierauszug. Allerdings fällt mir spätabends auf, dass ich gestern und heute nicht einen Schritt aus der Wohnung getan habe. Nun gut, morgen werde ich seit langem mal wieder zur AJA nach Halle fahren, suche noch einige Manuskripte zusammen.

1984: Kunst (und insbesondere Literatur) steht zunehmend unter Zeitdruck. Das Weltgeschehen überholt jegliches Abbild peinlicher, intelligenter, rührseliger, ach, überhaupt, als das je der Fall war. Dieser Welt ist mit den tradierten künstlerischen Methoden nicht mehr beizukommen. Neue (mehr wohl künstlerische, sehr wohl literarische, nach ästhetischen Modi konfigurierte – und nur so noch auf Ästhetik, Ethik, ja, auf den ganzen Unterbau einer Gesellschaft zurückwirkenden) Methoden müssen her! Will Kunst, will Literatur im Malstrom Massenkommunikation nicht untergehen, muss ein Besinnen nicht nur auf heute Mögliches, sondern auf heute Erforderliches her, und im Besinnen ein Bekämpfen jedweder Flickschusterei. Das Mittel? – Erkennen eines Ganzen! Auf-den-Weg-zur-Erkenntnis-bringen zumindest. Heutige Welt ist weder peinlich noch rührselig noch intelligent – sie ist gnadenlos selbstzerstörerisch. Doch wir haben sie zu leben! Als Ganzes! Vielleicht (und gerade und immer mehr) mittels Literatur – falls sie zumindest nicht mehr flickschustert.

1999: Halb sieben los nach Rochlitz. Lesung in der Stadtbibliothek, Schüler einer lernbehinderten Schule, engagiertes, begeisterungsfähiges Publikum, schöne Veranstaltung. Von Rochlitz weiter nach Ústí, Vertragsverhandlungen für den Projekte Verlag. Erfolgreich. Einzige Schwierigkeit: in Zinnwald schneit es gehörig. Aber wir (Jeanny fuhr mit) kommen gut hin und gut zurück.

2000: Magdeburg, Regierungspräsidium. Anhörung in Sachen „Schloss in der Börde“, des ersten Films, den ich als Pilot-Projekt der LKJ vor 5 Jahren mit Rolf Losansky realisierte. Da sind nun Unstimmigkeiten in der Abrechung aufgetaucht und ein bisschen unsicher und unruhig bin ich schon, denn was geschähe, wenn tatsächlich die Gesamtfinanzierung von 170.000 DM in Frage gestellt würde, kann ich mir eigentlich nicht so recht vorstellen. Dieter Bähtz und Axel Schneider kommen zum Gespräch hinzu. Und am Ende ist Gott sei Dank eine gütliche Einigung getroffen. Da sind noch einige schriftliche Erklärungen abzugeben, die dann selbstredend nochmals geprüft würden, aber vielleicht sind da noch Rückforderungen in dreistelliger Höhe anhängig... da fährt es sich natürlich leichter nach Leuna zurück.

2003: Ha Noi. Fahrt über den Deich des Roten Flusse (abenteuerliche Piste, doch sogar von Schwerlastern frequentiert, in den Reisfeldern zwischen den kleinen Ortschaften immer wieder noch deutlich sichtbar Bombentrichter) Fahrt nach Bat Trang, einem Dorf wo seit Jahrhunderten getöpfert, in Familienmanufakturen feine Keramik entsteht. Selbstredend kauft man dann nach Besichtigung auch das eine oder andere Stück. Und als es Mühe macht, mir auf 10 $ rauszugeben, die Verkäuferin wegen Wechselgeldes ins Nachbarhaus huscht, bitte mich das Familienoberhaupt an der Kasse Platz zu nehmen, bringt grünen Tee, gießt ein... Mittagessen in einem traditionellen Restaurant in Ha Noi, Sonntagsessen sozusagen, und mal wieder neue Köstlichkeiten: in Limonenblättern gebackenes Schweinefleisch mit grünem Papayasalat, Ananasscheiben in Reisschnaps flambiert... Danach das geplante Evaluationsgespräch unserer Reisegruppe, Auswertung und Vorausschau. Am späten Nachmittag Besuch des gut ausstaffierten und eingerichteten Ethnologischen Museums, weitläufige Außenanlagen u. a. mit den verschiedenen Häusertypen der hiesigen Minderheiten. Weiter in die Altstadt, in die Seidenstraße vor allem (das Kaufhausprinzip, wonach es überall alles gibt, wurde hier auf Garantie nicht erfunden, in Ha Noi gibt es in einer Straße jeweils nur ein Produkt: in der Straße, wo unsere Hotel steht Klebreis, woanders Schuhe, hier eben Seide aller Couleur). Bummeln, Schauen, und immer wieder Verwunderung über dieses unglaubliche Verkehrsgewimmel, doch langsam gewöhnt man sich: Wenn man von einer zur anderen Straßenseite wechseln möchte, darf man nicht ängstlich sein, dies eigentlich für unmöglich halten, sondern muss nur einfach losgehen und der unaufhörliche Strom der Mopeds und Fahrräder teilt sich wie einst das Rote Meer... Nach dem Mittagessen zurück in die Altstadt, da einige unserer Frauen noch dies und jenes kaufen wollen, um Begleitung baten (sie sprechen jedoch auch über das Gefühl, dass die Ha Noi sicherer sei als so manche europäische Millionenmetropole, man sich als Frau getrost auch in der Nacht allein durch die Innenstadt bewegen können). Sei’s drum. Und natürlich hat man dann selbst auch wieder den einen und anderen Einkaufsbeutel in der Hand... Beim abschließenden Biertrinken in einem Altstadtlokal entdecken die Männer der Gruppe große Glasbehälter mit eingelegten Schlangen oder Gewürm. Aha. Na, da trinken wir doch endlich auch mal ein Gläschen hausgemachten Schlangenschnaps. Wohl bekomm’s!

 

 

Gelübde

für

Aldfrith / Vicente Aleixandre / Carl Philipp Emanuel Bach / Wassyl Ellan-Blakytnyi / Francisco Canaro / Friedrich Reinhold Dürrenmatt / Mongezi Feza / Friedrich Norbert Theodor von Hellingrath / Anna Karina / John Frederick Kensett / Wulf Kirsten / Hermine Körner / Conradin Kreutzer / Josef Ladda / Myrna Loy / Marie Marvingt / Peter O’Toole / Silvina Ocampo / John Oldcastle / Andrei Dmitrijewitsch Sacharow / Igor Andrejewitsch Sawtschenko / Richard Schirrmann / Winfried Georg „W. G.“ Sebald / Andrew Thorndike / Dinah Washington / George Washington / Stanley Graumann Weinbaum

 

An diesem Tage gelobten wir Besserung:

1287: Sturmflut an der Nordseeküste, bis zu 50.000 Menschen sterben / Melk, 1805: Brand im Kloster, bis zu 300 hier internierte russische Kriegsgefangene kommen ums Leben / Kiel, 1906: Indienststellung des ersten deutschen U-Boots / 1907 kentert und sinkt der Schoner „Thomas W. Lawson“ vor den Scully-Inseln in einem Sturm, 16 Todesopfer / 1981 annektiert Israel den syrischen Golan / 1999 im Zweiten Tschetschenienkrieg dringen russische Truppen bis Grosny vor / Newtown, Connecticut, 2012: Amoklauf, 28 Tote / Kinshasa, 2022: Überflutungen nach schweren Regenfällen, mehr als 120 Todesopfer.

 

 

15. DEZEMBER

 

Blütentraum

mit

Christiane Luise Amalie Becker-Neumann / Antoine Henri Becquerel / Esther Bejarono / Jesse Lorenzo Belvin / Hans Carossa / Gustave Eiffel / Freeman J. Dyson / Alan Fried / Franz Geueke / Fred Alfred Haltiner / Ferdinand Hardekopf / Carl Gustaf Hellqvist / Friedensreich Hundertwasser / Emilio Jacinto / Inge Keller / Stan Kenton / Evelyn Künneke / Rudolf von Laban / Carl Gotthard Langhans / Zenta Mauriņa / Albert Memmi / Chico Mendes / Oscar Niemeyer / Nikolai Wassiljewitsch Nikitin / Charles Daniel „Dannie” Richmond / Klaus Rifbjerg / Muriel Rukeyser / Otto Schmirgal / Eugeniusz Zak / Ludwik Lejzer Zamenhof

 

Das hielten wir für einen Blütentraum:

Florenz, 1654: Beginn der regelmäßigen Messung und Aufzeichnung der Lufttemperatur / Seafords, Delaware, 1939: erste Produktion von Nylonfäden / Jerusalem, 1961: Adolf Eichmann wird zum Tode verurteilt / 1984: Start der sowjetischen Raumsonde „Venera 7“ zum Kometen Halley / Stockholm, 1972: Gründung des Umweltprogramms der UNO / Timişoara, 1989: Beginn der Rumänischen Revolution / 1990: erklärt Kirgistan seinen Saustritt aus der Sowjetunion / Tschernbobyl, 2000: Stilllegung des letzten Reaktorblocks des Atomkraftwerks.

 

Ich notierte:

1973: Arbeitsfreier Sonnabend – herrlich, mal richtig faul sein zu dürfen. Bis Mittag lag ich im Bett. Jeanny hätte eigentlich arbeiten müssen, doch kam bald zurück. Nach dem Mittagessen ein bisschen gelernt, aber eben doch faul – und so lagen wir alsbald wieder im Bett. Am Abend gingen Emil und ich ins Jugendklubhaus. Wir hatten vor, zu proben, aber da lief irgendeine fiese Veranstaltung und wir zogen nach zwei Bieren von dannen. Ich zurück zu Jeanny, Emil und die anderen wer weiß zu wem. So verlief denn auch der Abend faul. Wir stöberten in alten Briefen Jeannys herum, schwatzten, liebten uns und schliefen ein.

1977: Leipzig. Mittwoch. Zuerst hielt ich es für einen Scherz, doch es war Ernst. Gegen vier gab es schon wieder Alarm. Und heute flogen alle raus! Ein Glück, dass Olaf Diensthabender war. So blieb ich einfach liegen und kümmerte mich nicht um die Hektik ringsum. Später versuchte mich der Spieß zur Rede zu stellen. Doch er weiß, was ich alles über ihn weiß… – und zudem sagte Olaf ihm, dass ich doch an der Alarmübung teilgenommen hätte. Basta. Der Spieß zog ab. Und vor’m Morgenappell erinnerte ich den Alten dann auch gleich, dass er offenbar vergessen hatte, längst fällige und versprochene Belobigungen für Ensemblemitglieder auszusprechen. Er behauptete, den entsprechenden Zettel mit den Namen der zu belobigenden verlegt zu haben. Ich schrieb ihm sogleich einen neuen und siehe da – es wurde beim Morgenappell belobigt. Sonderurlaub! Na bitte. Am Abend Auftritt in Grimma, Patenschule. Um sechs treffen wir ein, Abendbrot, Auftritt vorbereiten, Auftritt über die Bühne bringen, großer Erfolg einmal mehr, reichlich Applaus, alles schnell zusammenpacken und im Bus verstauen und zurück – doch natürlich noch nicht in die Kaserne, sondern in die Kneipe. Hoffentlich gibt’s in der Nacht nicht schon wieder Alarm.

1980: Jeanny ist auf Nachtschicht und ich sehe im Fernsehen sehe ich Bilder von einer Gedenkkundgebung für John Lennon. Zehntausende in tiefer Trauer… Mit seiner Ermordung düfte diese Ära, die auch meine Jugend einschließt, endgültig abgeschlossen. Welcher Fatalismus: Erschossen von einem „wahrscheinlich“ Geisteskranken…

1982: Am Montag, vorgestern also, war ich nun also beim Kinderbuchverlag. Wohlwollen. Die ersten 50 Seiten würden fast stehen, bis 30.4. soll ich alles fertig abliefern. Heute meinte Edith Bergner, dass ich mit diesen Verlagszusagen nun auch für den Verband kandidieren solle. Heinz Sachs meint, er habe dergleichen schon in Berlin avisiert, wolle nun nochmals mit Frau Bisky, der Nachwuchsverantwortlichen reden. Und mein Manuskript solle ich denen auf jeden Fall schon mal schicken.

1989: Eschwege.

Erste,

meine erste

Lesung im Westen.

Und mindestens ebenso

unglaublich erscheint mir

der städtische Christbaum hier:

Geschmückt all der in Scharen zum Staunen

und ersten Einkauf kommenden Brüdern und Schwestern

aus der Zone und somit also auch mir zu Ehren wohl,

geschmückt statt mit Lichtern und Kugeln mit

Bananen.

2000: Seit langem mal wieder ein Nachricht, die mir für dieses Tagebuch symbolträchtig genug, also notierenswert erscheint: Heute wurde in der Ukraine endlich das Katastrophen-Atomkraftwerk Tschernobyl vom Netz genommen. Möge es nützen.

2003. Ha Noi: Auf der Fahrt zu Offenen Universität kurzer Stopp am Westsee, Besichtigung der auf einer Halbinsel stehenden ältesten Pagode der Stadt, wohl aus dem 6. Jahrhundert stammend, nunmehr der Landesverteidigung geweiht: Chua Tran Quoc. Als unser Bus durch ein altes Arbeiterviertel kurvt, rutscht Herr Thu an meine Seite und erzählt aufgeregt, dass er von hier stammt, gleich, ja gleich, das Haus in dem er geboren wurde, zu sehen sein wird. Herr Thu und Frau Ha hatten von Magdeburg aus diese Reise mitorganisiert, engagieren sich dort in der Deutsch-Vietnamesischen Gesellschaft, mühen sich u.a. um Integration der zahlreichen in Sachsen-Anhalt lebenden vietnamesischen Migranten. Beide sind stets aufmerksame und freundliche Mitglieder unserer Delegation, unverzichtbarer Helfer beim Dolmetschen und Sich-Zurechtfinden. Herr Thu erzählt mir in groben Zügen auch gleich noch seinen Lebenslauf: Am Ende des Vietnamkrieges in eine Armeedruckerei eingezogen, dann 1976 zur Ausbildung als Offsetdrucker in die DDR delegiert, nach drei Jahren und bestandenen Prüfungen zurück war sein Land mittlerweile in einen blutigen Krieg gegen Kambodscha verwickelt, er hatte als nunmehrige Fachkraft jedoch Glück, musste nicht an die Front. „Sonst ich wäre tot“, sagt Herr Thu leise. Nachdem die DDR und Vietnam ein Abkommen geschlossen hatten, um Vietnamesen von Rostock bis Suhl, von Leuna bis Schwedt arbeiten lassen zu können, kehrte Herr Thu in die DDR zurück, da die Lebensumstände im Vietnam der achtziger Jahre einfach zu kompliziert waren, sogar Hungersnöte herrschten. Anfang der neunziger ging er jedoch in seine Heimat zurück, heiratete, wurde Vater, schlug sich dann, um Geld zu verdienen wieder nach Deutschland und in verschiedenen Jobs sowie mittels Dolmetschen durch, holte vor einem Jahr schließlich Frau und Tochter nach. Herr Thu ist ungefähr so alt wie ich, Jahrgang 1956. Was für unterschiedliche Lebenswege aber, und was für Hirngespinste hatte unsereins da einst im Kopfe wie freiwillig nach Vietnam melden und so... In der Offenen Hochschule herzlicher Empfang, Kulturprogramm, Erläuterungen des Direktors. Nach einigen Nachfragen wird uns aber schnell klar, was hier nun wieder läuft: Diese private Universität ist Lizenznehmer von australischen Instituten. Die Hälfte ihres (vor allem über Studiengebühren – 500 $ pro Semester – das ist fast doppelt so viel wie das durchschnittliche Prokopf-Jahreseinkommen - finanzierten) Haushalts muss für die Lizenzgebühren ausgegeben werden. Ohne all dem gäbe es für die, sich für den Globalen Markt fit machen wollenden jungen Leute jedoch nach zwei Jahren keine Zertifikate. Ohne Zertifikate kein Zugang zu Jobs oder weiterführende Studien... Wenn man sich beispielsweise um eine Anstellung bei einer ausländischen (australischen?) Firma in Vietnam bemüht und überhaupt eine Chance haben will, muss man dann aber erst noch eine Spezialausbildung im Ausland (in Australien?) absolvieren. Da verkaufen die lieben Australier also für teures Geld Blechmarken. Sauerei, zumal wenn man den Eifer, die hoffnungsvoll blitzenden Augen der Studenten sieht.

Am Nachmittag Konservatorium, danach Schwertsee (Hoan Kiem) mit Brücke der aufgehenden Sonne (The Hoc) und Jadeberg-Insel (Ngoc Son), am Eingang ragt das Denkmal für die Literaten auf (klar dass ich hier für ein Foto posiere), das Denkmal hat die Form eines stilisierten Tuschpinsels, ein daneben platziertes Tintenfäss­chen trägt die Aufschrift „Ta Thanh Thien“: In den blauen Himmel geschrieben... Ich lese den interessierten Leuten unserer Gruppe aus meinem Büchlein mit alten Volkserzählungen aus Vietnam die hier spielende „Legende vom zurückgegeben Schwert“ vor. Am Abend Besuch des Wasserpuppentheaters. Einzigartig weltweit, uralt und doch hochmodern (empfinde ich): links neben der Bassinbühne hocken die Musiker mit ihren traditionellen Instrumenten, leiten ein, begleiten, erzählen und kommentieren die Handlungen. Und was sich da im Bassin geheimnisvoll von langen Unterwasserstangen gesteuert bewegt, ist einfach eine Weltsensation.

2005. Lesung aus meinem Weihnachtsbuch in der Grundschule Laucha. Mehr als 100 Kinder in der Turnhalle, aber gute Stimmung, große Aufmerksamkeit. Danach berichtet mir die Direktorin, dass ein Junge, während ich den Kindern erzählte, diese Weihnachtsgeschichten im Hochsommer geschrieben zu haben, im Sommer, während sie vielleicht im Urlaub oder im See baden waren, da ich anders einfach keine freie Zeit fürs Schreiben fand, jedenfalls habe der Zehnjährige an dieser Stelle bemerkt: „Na, da hat er wenigstens nicht geschwitzt.“

2021: Heute sollte eigentlich mein „Hutzelmann“ Buchpremiere haben, aber leider… Nicht mal ein Ersatztermin konnte aufgrund der Pandemielage vereinbart werden. Gestern erklärte der Landtag sogar, dass in Sachsen-Anhalt nunmehr eine „Epidemologische Notlage“ herrsche. Da werden also auch bald wieder die Museen, die Sportstätten, Gaststätten zu sein. Mein Gott.

 

Bewahrung

für

Willie Bobo / Bob Brookmeyer / Kost Stepanowytsch Burewij / George Caylay / Peter O. Chotjewitz / Mano Dayak / Karl Wilhelm Diefenbach / Walt Disney / Enrique de Villena / Blake Edwards / Joan Fontaine / Walter Giller / André Greiner-Pol / Georg Friedrich Grotefend / Marie Hankel / Barry Harris / Jewhen Pawlowytsch Hrebinka / Samuel „Sam“ Jones / Hryhorij Mychajlowytsch Kossynka / Joseph Martin Kraus / Charles Laughton / Carlo Maratta / Simon Marmion / Alton Glenn Miller / Helena Patursson / Wolfgang Ernst Pauli / Kazimierz Piechowski / Jewdokija Petrowna Rostoptschina / Karl Stanka / Max Steenbeck / Francisco Tárrega / Tatanka Yotanka / Rufus Thomas / Waleri Pawlowitsch Tschkalow / Jan Vermeer / Thomas Wright „Fats“ Waller / Wanda Young

 

Das wollten wir keinesfalls bewahren:

533: Ende des Vandalenreiches / 1387 erklärt der Schwäbische Städtebund Bayern den Krieg / El Habra, Algerien: Bruch einer Staumauer, 250 Tote / Niterói, Brasilien, 1961: Brand in einem Zirkus, 323 Menschen sterben, 500 werden verletzt / Point Pleasant, West Virginia, 1967: Einsturz einer Brücke, 46 Todesopfer / 1970: Untergang der Fähre „Namyong Ho“ in der Koreastraße, 45 Menschen kommen ums Leben / Venezuela, 1999: Erdrutsche infolge lang anhaltender Regenfälle, bis zu 50.000 Tote.

 

 

16. DEZEMBER

 

Peilung

mit

John Abercrombie / Rafael Alberti / Simon Yussuf Assaf / Jane Austen / Edward Barnard / Andrée Blouin / Johann Michael Bossard / Rolf Bossert / Noël Coward / Ralph Adams Cram / Philip K. Dick / Gianbattista Donati / Henri Auguste Doucet / Hanuš Fantl / Monir Shahroudy Farmanfarmaian / Joe Farrell / Zoltán Kodály / Max Linder / Ernst Lissauer / August Lütgens / Justin Michael Mentell / Sam Most / N!xau / Menahem Pressler / Johann Wilhelm Ritter / George Santayana / Arthur Schloßmann / Diego Silang y Andaya / Ludwig van Beethoven / Remedios Varo / Ted Wilde

 

Das peilten wir immer wieder an:

1772: „Boston Tea Party“ / 1880. erklärt die Südafrikanische Republik ihre Unabhängigkeit von Großbritannien / 1971: Ende des Bangladesh-Krieges / 1971 beschließt die UNO die Konvention zum Verbot von Biowaffen / 1991 erklärt Kasachstan seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion.

 

Ich notierte:

1973: Leuna. Sonntagmorgen halb elf. Wir lagen noch im Bett, als ein Auto vorfuhr. Jeanny äugte aus dem Fenster. Polizei. Sie wollten Emil sprechen, wollten seinen Jugendklubhausschlüssel, den für unseren Probenraum, aber Emil war noch nicht da. So zogen sie mit der Mahnung wieder ab, den Schlüssel bei der Werkskripo abzugeben. Meine Gedanken beginnen zu kreisen, ich werde unruhig, Drohendes ahnend renne ich los, weiß aber eigentlich nicht wohin, entschließe mich dann mit der Straßenbahn zu Eckhard zu fahren. Er sitzt in seinem Keller, alle Band-Plakate von der Wand gerissen, alles in furchtbarer Unordnung. Die Polizei war schon gestern Abend bei ihm, forderte auch den Schlüssel. Doch er hat ja keinen, den hat ja nur Emil. Eckhard riss weiter Plakate von den Wänden, ich renne wieder zur Straßenbahn, sehe nur noch Polizeiautos. In Leuna entdecke ich Willis Auto vorm Jugendklubhaus stehen. Nicht wie rein, die Treppe hoch. Einer in Zivil beschlagnahmt unsere sämtlichen Plakate, Fotos, Verträge, verschließt unsere Anlage. Willi, der Klubhausleiter und zugleich unser Manager, ist suspendiert. Der Grund dafür kommt mir so unbegreiflich vor wie die vierte Dimension: Willis eifersüchtige Frau, hat mal wieder was ausgelöst. Er hätte für uns angeblich Verträge abgeschlossen und Plakate drucken lassen, obwohl wir derzeit als Band verboten seien und keine Einstufung hätten. Vor zwei Monaten war Eckhard verboten worden, ja, doch wir anderen waren alle im Besitz einer gültigen Spielerlaubnis. Uns war zugesichert worden, dass wir nächste Woche wieder auftreten dürften – nur eben ohne Seni, ohne Eckhard. Und nun das. Ich kann’s einfach nicht fassen… Willi muss mit mir das Haus verlassen, fährt mich nach Hause zu Jeanny. Ich würge mein Essen herunter, apathisch wie in tiefem Schlaf, erwache erst nach drei Stunden, als Emil kommt. Wir reden, resigniert. Mich hält’s nicht mehr, ich fahre wieder zu Seni. Willi war schon bei ihm, hat alles soweit er weiß was ist, gebeichtet. Hoffentlich kommen wir da einigermaßen wieder raus

1977: Leipzig. Freitag. Obwohl es gestern mal wieder spät geworden war, fühlte ich mich morgens sogleich munter. Das eklige Pfeifsignal ertönte (ohne Alarm) wie gewöhnlich punkt sechs. Anschließend die Schreie der Unteroffiziere und das Türengeklapper, das Klatschen nackter Füße auf Holzfußboden, das hektische Anziehen zum Frühsport. Ein Glück, dass ich davon befreit bin. Also greife ich geruhsam mein Waschzeug und schlurfe in den Waschraum. Und kommen die anderen nach zehn Minuten vom Frühsport zurück, bin ich gerade fertig mit Waschen und Rasieren. Ich ziehe mich fertig an, baue mein Bett, entgehe auch weiteren morgendlichen Hektiken, lege mich nochmals aufs Ohr. Gegen halb acht erscheint der Alte, ich kläre mit ihm anliegende organisatorische Fragen, ziehe meinen Mantel und gehe zu meinem Büro, das einige Häuserblocks weiter, außerhalb dieser Kaserne, aber natürlich auch in einem militärischen Komplex liegt. Karl kommt heute erst gegen Mittag. Klar, als Zivilangestellter musste er ja die Überstunden abfeiern, die durch unseren gestrigen Auftritt angefallen waren (einschließlich Kneipenbesuchs) abfeiern. So nehme ich vor, ein paar Weihnachtseinkäufe zu machen. Zufällig fährt gerade ein Dienstwagen ins Zentrum, ich fahre also gleich mit. Und los geht die Suche nach Schenkbarem. Für Cathi ein paar Märchenschallplatten und „Peter und der Wolf“, für meinen Vater in Buch, für Emil ein Buch und für Jeanny stehe ich mindestens eine halbe Stunde vor verschiedenen Negligees herum bis ich mich entscheide. Auf der Suche nach besonderen kulinarischen Genüssen werde ich neben einem Schinken, den ich Schaschlyk kauend auf dem Weihnachtsmarkt erstehe, nicht fündig. Am späten Nachmittag eine Programmbesprechung, danach haste ich in die Einheit, da um fünf Verkehresteilnehmerschulung zur neuen Straßenverkehrsordnung ist. Und als ich die Zeit der unverständlichen Erläuterungen abgesessen habe und auf meine Fahrerlaubniszusatzkarte den Stempel bekomme, der mir die Teilnahme an dieser Schule für etwaige Verkehrskontrollen nachweist und bei etwaigen Fehlverhalten das Strafmaß reduzieren könnte, muss ich feststellen, dass es diese Stempel nicht mehr gibt. Prima. Durch die ganze Rumrennerei bin mich hungrig geworden und gehe Abendbrot essen – draußen natürlich und nicht in der Scheißkantine. Eigentlich hocke ich nicht gern allein in der Kneipe, zum Glück kommen später ein paar junge Ensemblemitglieder hinzu, die im Weihnachtskonzert waren. Doch eine rechte Unterhaltung will nicht aufkommen. Gegen Mitternacht sind wir wieder in der Kaserne. Dieter, mein „Doppelgänger“, guter Freund und wohl einer der besten Trommler des Landes, kommt gerade aus dem Ausgang als wir auch durchs Tor wollen. Wir beide gehen noch „auf eine Zigarette“ zu Peter, dem Schreiber, der eigentlich Konzertpianist ist, ins Hauptfeldwebelzimmer, in die Spießhütte, die natürlich noch auf ist – für uns.

1979: Die gestrige Abendmugge lag so ungünstig, dass ich mich danach in Halle in der Mitropa herumdrücken musste, um endlich mit der ersten Straßenbahn nach Leuna fahren zu können. Heute morgen dreiviertel sechs war ich zu Hause… Wenn also der Morgen zu Abend wurde wird automatisch der Mittag zum Morgen bis dann am Abend alles halbwegs aufgeholt ist… Verliere ich so immer einen Tag meines Lebens? Unbehagen, Unwohlsein.

Gestern bei der AJA waren nur wenige anwesend, mit Döppe sechs Leutchen. Einmal mehr das Gefühl, dass dies eigentlich ein Innercircle ist, der neue und von außen kommende nicht richtig reinlässt, und zum anderen, dass das, was ich zu schreiben und zu sagen versuchen meist codiert ist, auf jeden Fall introvertiert. Und Kritik richtet sich dann nicht an Texten aus, sondern daran, wie der jeweilige Bekritteler sich selbst mit seiner Kritik hervortun will. Da geht’s nicht um Hilfen. Da sind irgendwie zwei in sich geschlossene Systeme: die haben ihr’s, ich bin meins, Verständigung offenbar nicht möglich. Mein Fazit: vorläufig werde ich hier nicht mehr lesen, das ist mir einfach zu blöd und meine Zeit mir zu kostbar.

1983: Wichtige Sätze scheine ich immer den falschen Leuten zu sagen. Gestern Abend sitze ich bei Evi und Falk und höre dabei wieder was von „Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule“ und ich sage, langsam verstünde ich, was damit gemeint sei: Schule paukt Wissen ein und Elternhaus soll die (humanistische) Erziehung dazu liefern. Das sei wohl der Grund, warum das Experiment unserer Volksbildung als gescheitert angesehen werden müsse. Arbeitsteilige Erziehung- was für ein Unsinn! Und wie hilflos, wie nutzlos ist doch diese pure Wissensvermittlung bei einem sich etwa aller fünf Jahre umschlagenden Weltwissen! Wie sollen da noch Fachleute „herangebildet“ werden können, das werden doch Fachidioten – wenn sie nicht mindestens einen Hauch von Zivilcourage vermittelt bekommen, um zumindest alten Bildungsmüll als Ballast erkennen zu können… Aber das hätte ich wohl besser in der FDJ-Bezirksleitung sagen sollen, wo ich heute über die Fortführung der Poetenseminare verhandelte.

1999: Heute schneit’s auch hier im Flachland. Sieht aber nicht so aus, als ob der Schnee liegen bleiben würde. Am Vormittag allerlei Computerarbeit und Weihnachtskarten schreiben. Am Nachmittag ein Termin bei der Elf Aquitaine, Abstimmungsgespräch mit dem Chef der Öffentlichkeitsarbeit. Ich brauche noch Material für die Bosch-Ausstellung, er möchte, dass ich für die Elf-Zeitung schreibe. Und natürlich kommen wir auch auf den Korruptionsskandal zu sprechen, der die CDU, der Ex-Kanzler Kohl erschüttert. Ist Schmiergeld geflossen, damit die Mider-Raffinerie gebaut wurde? Kein Thema in der Mider-Raffinerie. Hier kann gearbeitet werden, weitergearbeitet werden, da gebaut wurde. Das zählt.

2003: Vietnam. Fahrt ins Landesinnere, ins Minderheitengebiet der Schwarzen Thai. Aus dem Großstadtgewimmel wird bald ländliche Idylle, Reisfelder, Weiler, Bäche, dann wird’s hügelig, die Felder sind terrassiert und irgendjemand im Bus sagt: ich glaube, erst jetzt sind wir richtig in Vietnam... Hinter der Bezirkshauptstadt Hoa Binh ist die Straße irgendwann zu Ende, wir steigen wir in ein lastkahnähnliches Schiff um und schippern über einen mäandernden riesigen Stausee weiter. Malerische Gegenden, Inselkegel, Gebirgsketten, exotischer Bewuchs - man möchte gar nicht aufhören zu fotografieren. Müßig jedoch der versuch, alles auf diesem Wege konservieren zu wollen. Nicht zuletzt, da in diesem abenteuerlichen Land eh alle zehn Minuten alles ganz anders wird, als man vermutet hätte: Landschaften wie Situationen. Ich komme während der Schiffsfahrt endlich dazu, Tús Lebenslauf zu hinterfragen: Sein Vater war Generalleutnant, wurde 1975 von Amis in seinem Kommandohubschrauber abgeschossen, seine Leiche blieb unauffindbar. Auch Tús Mutter starb in diesem Krieg, den sie hier den amerikanischen nennen. Tú wurde eingezogen, musste aber nur die Grundausbildung absolvieren, dann vom Kriegsdienst befreit, da er der letzte Überlebende seiner Familie war. So wurde er 1977 zum Studium in die DDR, nach Freiberg geschickt. Heute unterrichtet er, verdient sein Geld jedoch hauptsächlich als Reiseleiter und –organisator. Seine Frau arbeitet als Verkäuferin, sie haben eine zehnjährige Tochter. Eine typische vietnamesische Biografie, ein typisches Familienschicksal, Durchschnitt? Meingott. Nach gut zwei Stunden Schiffsfahrt kommen wir an einem in die Hänge „geklatschten“ Hüttendorf an, müssen einen steilen Pfad hinaufkraxeln (wohl dem, wer seinen Schrankkoffer dabei hat – wie einiger unserer Frauen), steigen in Kleinbusse um, die uns über eine zum Teil unbefestigte, halsbrecherische Piste hinauf ins Dorf Ban Lac bringen. Tatsächlich beziehen wir hier wie angekündigt ein auf Pfählen stehendes Langhaus, und nach einem Dorfrundgang (wobei wir auch herzlich in andere Häuser eingeladen werden, Frauen beim traditionellen Weben beobachten und deutlich sehen können, woher dieses Minderheitenvolk seinen Namen hat: die Frauen färben sich die Zähne schwarz) spielt sich alles weitere für unsere gesamte Gruppe im einen Gästeraum des Langhauses ab: Tee trinken, essen, Folkloreprogramm erleben, Reiswein aus Tonkrügen mittels Bambushalmen schlürfen – und zu guter Letzt werden Matten und Decken auf den Bambusboden ausgelegt für jeden kammerartig ein Moskitonetz darüber gespannt und nun sollen wir hier also auch schlafen. Na denn, gute Nacht.

2020: Nun also erneut Corona-Starre. Allein in Sachsen-Anhalt wurden mittlerweile fast 20.000 Infektionen registriert, in Deutschland fast 1,5 Millionen (mit fast 1.000 Toten nun täglich), weltweit fast 75 Millionen, in den USA schon 200.000 Neu-Infektionen pro Tag…

2022: Am Vormittag mal wieder eine Veranstaltung für Kinder. Die Stadt Leuna hat einen Klassensatz meines „Hutzelmannes“ erworben. Den schenken Dr. Stein und ich heute der Grundschule. Schöne Stunde, und mir wird mal wieder bewusst, wie sehr es mir fehlt, mit Kindern arbeiten zu können…Weiter klirrer Tagesfrost.

 

 

Pietät

für

’Alī al-Qūschdschī / Bernhard Adelmann zu Adelmannsfelden / Willibald Alexis / American Horse II / Eliezer Ben-Jehuda / Léon Bollée / Erika Crisek / Alphonse Daudet / Antoine Françoise de Fourcroy / Dan Fogelberg / William Gaddis / Wilhelm Carl Grimm / Karl Gutzkow / Hans Peter Hallwachs / Johann Peter Hasenclever / Stefan Heym / Anthony J. Ingrassia / Wassily Kandinsky / Friedrich August Kanne / Georg Christian Kessler / Amadeu António Kiowa / Leo Kufelnizky / Yangve Larsson / Albert Lieven / Georg Simon Löhlein / William Somerset Maugham / Selma Meerbaum-Eisinger / Harry Miller / Taqif Mustafazadə / Gabriel Narutowicz / Ontonio Negri / William Petty / Camille Saint-Saëns / János Székely / Tizian Tabidse / Heinrich Tischler / Thelma Alice Todd /  Thien Tran / Pier Vittorio Tondelli / Laurens van der Post / Christian Felix Weiße / Wu Zetian

 

An diesem Tage trauerten wir:

Neapel. 1631: Ausbruch des Vesuv, 4.000 Tote / 1740: Beginn der Schlesischen Kriege / 1796: Untergang des Lineneschiffes „Sédeuissant“ vor Brest, 680 Todesopfer / Basilikata, Italien, 1857: Erdbeben: 11.000 Menschen sterben / Turkestan, 1902: Erdbeben, 4.500 Tote / Haiyuan, 1920, China, Erdbeben, mehr als 200.000 Menschen kommen ums Leben / 1946, die 2 Monate zuvor gegründete Republik Kurdistan wird von der iranischen Aremme erobert / New York, 1960: Beim Landeanflug kollidieren eine DC-8 und eine Lockheed Super Constellation, 126 Tote / Südkorea, 1966: das Fährschiff „Namjung-Ho“ kentert, 270 Menschen kommen ums Leben / 1991. läuft das ägyptische Fährschiff „Salem Express“ bei Safaga auf ein Riff und sinkt, 700 Todesopfer / Peshawar, 2014: Tailban töten 132 Kinder und neune weitere Personen/ Batang Kali, Malaysia, 2022: Erdrutsch auf einen Campingplatz, 16 Todesopfer / Suwara, Libyen, 2023 Bootsunglück vor der Küste, mindestens 61 Flüchtlinge ertrinken..

 

 

17. DEZEMBER

 

Trip

mit

Hope Bridges Adams Lehmann / Carlton Lloyd „Carlie” Barrett / Konrad Bayer / James Booker / Paul Butterfield / Erskine Caldwell / Domenico Cimarosa / Humphry Davy / Dave Dee / Anne Golon / Jules Alfred Huot de Goncourt / Bartolomeu de Gusmão / Émilie du Châtelet / Ford Madox Ford / Anne Golon / Joseph Henry / Eberhard Friedrich Hübner / Hans Henny Jahnn / Edward James „Eddie” Kendricks / Josef Lada / Ludger Lütkehaus / Vaslav Nijinsky / Erwin Piscator / Jürgen Ponto / Martin Smith / Stella Tennant /John Kenndy Toole / Yu Dafu

 

 

An diesem Tage setzten wir uns zielgerichtet in Bewegung:

Japan, 1637: Beginn des Shimabara-Aufstandes / Angostura, 1819: Simón Bolívar erklärt die Unabhängigkeit Kolumbiens von Spanien / 1903: erster gesteuerter Motorflug durch die Brüder Wright / 1938 entdeckt Otto Hahn die Kernspaltung / Flensburg, 1962: Eröffnung des ersten Sexshops weltweit / 1971 wird Bangladesh unabhängig von Pakistan / 2004 verbietet Bhutan als erstes Land der Welt den Verkauf von Tabakwaren / Tunesien, 2010: Beginn des Arabischen Frühlings.

 

 

Ich notierte:

1973: Heute gab’s schon wieder bad news – aber dieses Mal nur für mich. Mein Arbeitsvertrag mit dieser Merseburger Firma, wo ich Hilfsarbeiter rummache, war bis 31. Dezember befristet und – wird nicht verlängert! Dabei hatte ich mich darauf verlassen, dass es hier weitergeht, sonst hätte ich mich doch längst um einem annehmbareren Job gekümmert. Und jetzt ich also mal wieder in der Luft. Wir damals im August, als ich wochenlang abgewiesen wurde, wegen meines Aussehens wahrscheinlich, diese langen Haare, diese Klamotten… Ich nahm mir für den Nachmittag frei und fuhr mit dem Fahrrad nach Leuna. Zuerst zu Emil, in seine Stadtschlosserei. Er riet mir aber, beim Rat der Stadt nach einem Job nachzufragen. Dennoch fuhr ich zur Kaderabteilung, war aber niemand da. Weiter zu Jeanny, nur mal kurz sehen, dann weiter nach Merseburg, zu Seni. Der erzählt, dass heute die Polizei bei ihm war und seine Orgel samt Anlage fotografiert hätte. Warum nun das? Das ist alles so undurchsichtig. Und diese ganze Ungewissheit macht mich kaputt. Weiter zur TH, zu einem Typ, der sagte, er fände meine Texte und Gedichte gut. Doch da war schon Feierabend. Also nach Hause, nach Meuschau, Musikhören, Bewerbungen und Lebenslauf schreiben. Wie lächerlich wäre mir das noch vor kurzem vorgekommen, als ich meinte, „es schaffen zu können“! Und jetzt steckt man bis kurz vorm Kinn im Schlamassel…

1977: Leipzig. Sonnabend. Ein Morgen wie viele. Ich ging nicht ins Büro, da ich in der Kaserne, im Regiment, noch einige zu klären hatte. Gegen elf fuhren wir dann mit Bus und W50 nach Geithain zum Auftritt, trafen dort gegen halb eins ein, bauten auf und aßen Mittag. Um zwei sollte das Forum mit Berufsoffiziersbewerbern beginnen. Doch wurde es später, da die eingeladenen Freunde, die Musiker aus der sowjetischen Patengarnison, nicht kamen, unser Blasorchester also wieder abbauen musste, da keine Nationalhymnen mehr zu spielen waren. Die Beteiligung der jungen Bewerber ließ auch zu wünschen übrig, es gab mehr Ensembleleute im Saal als Gastgeber und Gäste. Nach diversen Reden brachten wir dann gegen 15 Uhr endlich unser Singegruppen-Programm über die Bühne. Danach ging es für die Combo in Minibesetzung (Dieter, Matthias und ich) schon wieder weiter: zuerst mit dem W50 zurück in die Kaserne, alles was wir brauchten in einen Barkas eingeladen und auf nach Bad Düben zu einer Generals-Mugge. Obwohl wir mit Höchstgeschwindigkeit fuhren, kam der General in seinem Wolga kurz vor uns an, schüttelte uns die Hand und wir gingen ans Aufbauen. Nach etlichen Problemen mit der Anlage – die Mikrofone fiepten und wir fanden ewig den Fehler nicht – konnte es dann losgehen, der General begrüßte seine Gäste. Die Leute tranken ihren Sekt und wurden in einem Nebenraum zum Essen geschickt. Während der Generalität in mehreren Gängen aufgetafelt wurde, setzte man uns eine magere kalte Platte vor. Im Saal floss der Sekt, Wein, Wodka ins Strömen, dazu Export-Bier, wir bekamen eine Flasche Helles. Immerhin – denn wir hatten schon solche Muggen mit einer Brause durchstehen müssen. Der General begann dann beim Tanzen zu lächeln und wir spielten und brüllten was die Stimmbänder hergaben, da wir ja keine Mikrofone hatten. Aber genau das schien zu gefallen. Zum Schluss rief uns der General an die Festtafel, stieß mit uns an und belobigte uns offiziell – dazu übergab er mir einen Briefumschlag in dem es knisterte. Die bare Freude! Schon war`s halb vier. Abbauen, zurückfahren, hinhauen.

1979: Neuer Ansatz fürs Tagebuch: - nicht Ereignisse auflisten, Stimmungen nachvollziehen, sondern resümieren, mit mir über mich ins Gespräch kommen?

1981: Straffer Frost, Minus 15°C. Ich versuche mich seit Sonntag schon an einem großen Stoff, schreibe über mich und Leuna und Tod und Leben. „Nebel“ hatte ich das erste Kapitel genannt. Ich habe Freude am Fabulieren, am Aufschließen einer bis dahin nur mir sichtbaren Welt für andere. Das will aber sorgfältig gearbeitet, will gut gewogen sein. In Polen erstmals 7 Tote, zahlreiche Verletzte. In Berlin ging am Montag der Schriftstellerkongress zum Thema Frieden zu Ende. Das alles muss mit rein in meinen Stoff, ja, das ist mein Stoff.

1989: Schwierigkeiten nach meiner ersten Westreise (Lesungen und Diskussionen in Eschwege) und einer dabei zugezogenen Erkältung wieder einen klaren Kopf zu bekommen…

1999: Zum Zahnarzt, dann nach Halle, Verlag, Künstlerhaus, Wittekindschule. Letzte Mugge in diesem Jahrtausend. Gott sei Dank wird es eine sehr schöne Veranstaltung, denn ein bisschen abergläubisch wäre ich durchaus gewesen...

2003: Vietnam. Kalt war’s in der Langhausnacht, saukalt. Gegen sechs bin ich endgültig munter, schleiche mich aus dem gemeinsamen Schlafraum, laufe durchs Dorf: Neblig ist es, doch die ersten Hausläden werden schon eingeräumt und so erstehe ich denn in dieser Herrgottsfrühe eine bunte Trachtenmütze mit Bommeln dran. Wahrscheinlich eine Kopfbedeckung für Frauen, aber was macht das schon, ich friere. Nach dem Frühstück Fahrt zu einer Grundschule, ausführliches Gespräch mit der freundlichen Direktorin, die auf meine Frage, ob denn die Thai-Kinder hier auch Thai lernen, jedoch erstaunt antwortet: Nein. Aha. Weiter in ein anderes Bergdorf, wo wir sogar in eine Hochzeit geraten. Der Schamane hockt vor einem Schweinekopf und soll bis zum Nachmittag, bis zum Eintreffen des Brautpaares, alle bösen Geister aus dem Hause vertrieben haben, die Männer saugen an einer verdächtig großen Pfeife und wir müssen Reisschnaps trinken und vom sehr gewöhnungsbedürftigen Hochzeitsessen (eine Art fette Blutwurst, Schweineschwarte und dergleichen) kosten, denn das bringe dem jungen Paar Glück. Also sei’s drum. Rückfahrt zum Schiff, dabei längerer Aufenthalt an einer Bergstraßenbaustelle, es muss erst noch planiert werden... Auf dem Stausee entdecke ich heute, dass die Leute hier nicht mit den Händen, sondern mit den Füßen rudern! Übernachtung in Hoa Binh, ordentliches Hotel, über den Betten ausklappbares Moskitonetze. Auf den nächtlichen Straßen kurven allenthalben Brotverkäuferinnen umher, an ihren Fährrädern Lautsprecher aus denen Katzenjammern ähnliche Laute kommen. Vor einem Laden an der Hauptstraße auf der ständig Schwerlasttransporter vorbeidonnern auf ein Bier, dazu gibt es einen kürbisgroßen Reiskeks, und der Ladenbesitzer versucht offenkundig uns auch noch eine (seine?) Frau zu verkaufen. Nein danke! Oder war das ein Missverständnis? Schlummertrunk auf dem schmalen Hotel­zimmerbalkon ist unverfänglich, zumal wenn auf dem gegenüberliegenden Berghang ein monumentales Ho-Chi-Minh-Denkmal angeleuchtet wird. Pünktlich 23.00 Uhr gehen in der Provinz aber die Scheinwerfer aus. Gut so. Ich bin hundemüde.

2023: Erste Ideeb für eine Walter-Bauer-Novelle, Handlungsrahmen: sein letztes Jahr, Arbeitstitel: "Verstummen".

 

 

Trendwende

für

Abdallah ibn al-Mu’tazz / Günther Anders / Francis Beaufort / Carl Heinrich Bertelsmann / Simón Bolívar / Captain Beefheart / Elisabeth von Doberschütz / Donald Johnson „Don“ Ellis / Cesária Évora / Fritz Rudolf Fries / Otto Gotsche / Kaspar Hauser / Dick Heckstall-Smith / Victor Franz Hess / Max Hodann / Ibn an-Nafis / Otar Iosseliani / Eglantyne Doey Jebb / Galt MacDermot / Jeanne Mandello / Thomas Mitchell / Robert Bowyer Malise Nichols / Nzinga / Harold Rhodes / Gisela Richter-Rostalski / Rumi / Dorothy L. Sayers / Dietrich Schwanitz / Heinz Steffens / William Thomson / Henry Theodore Tuckerman / Klaus Wagenbach / Peter Warlock / Grover Washington Jr. / Alfred Wellm / Ted Wilde / Marguerite Yourcenar

 

Da sahen wir eine böse Wende:

1718 erklärt Großbritannien Spanien den Krieg / Malmedy, 1944: SS-Soldaten massakrieren 80 amerikanische Kriegsgefangene / Bahia Blanca, Argentinien, 2023: bei einem Unwetter stürzt das Dach einer Sporthalle ein, mindestens 13 Tote. 

 


18. DEZEMBER

 

Spaziergang

mit

Felicitas Abt / Ingálvur av Ryni / Stephen Bantu Biko / Stephan Born / Willy Brandt / Randy Castillo / Bryan „Chas” Chandler / Willi Fährmann / Betty Grable / James Fletcher jr. „Smack“ Henderson / David Alexander Johnston / Bobby Keys / Paul Klee / Hermann Albin Köbis / Mykola Hurowytsch Kulisch / Deke Leonard / Galt MacDermot / Ray Liotta / William Moon / Robert Moses / Hector Hugh Munro / Max Pallenberg / Johann Philipp Palm / Klaus Schwarzkopf / Eral Simmons „DMX“/ George Stevens / Thomas Strittmatter / Joseph John Thomson / Otto Wittke

 

 

So spazierten wir gern weiter:

1865 tritt in den USA das Verbot der Sklaverei bundesweit in Kraft / Goa, 1961: Ende der portugiesischen Kolonialherrschaft / Vallon-Pont-d’Arc, Ardèche, 1994: Entdeckung der Chauvet-Höhle.

 

 

Ich notierte:

1973: Für den Vormittag habe ich mir frei genommen. Irgendwo wird doch eine Stelle frei sein, werde ich was finden, um nicht unter die “Assi-Gesetze“ zu fallen. Also radele ich mal wieder zur TH. Nach einigem Hin und her bietet man mir einen Posten als Hausmeister an. Na ja, das wäre nicht schlecht. Nachmittag soll ich nochmals anrufen. Schon blitzt wieder ein Fünkchen Hoffnung auf, ein rosiger Sonnenaufgang nach schwarzen Tagen. Auf der Rückfahrt kurz einen Abstecher ins Säurelager, wo Seni und Othello jobben. Wir quatschen, dann finde ich den Typen, Klaus, den ich schon gestern finden wollte, und lasse ihn ein paar meiner Texte da. Mittag wieder auf Arbeit. Und mein Anruf in der TH ergibt dann: morgen, acht Uhr, nochmaliges Vorsprechen. Hoffentlich klappt’s. Abends sitzen wie alle ins Senis Keller, reden uns die Köpfe heiß, vernuten, wägen ab, stellen klar. Aber es bleibt die Ungewissheit, was nun wird. Verbot oder kein Verbot? Anlagenpfändung oder nicht? Auf Vermutungen lässt sich nichts aufbauen und offiziell wissen wie noch immer nichts. Nichts. Da ist scher zu entscheiden. Abwarten also, das scheint das einzig Machbare. Ein Grundgesetz der Kybernetik besagt, dass eine Steuerung nur dann sinnvoll möglich ist, wenn genügend Informationen über das zu steuernde Objekt vorliegen. Die Steuerung hat immer den Sinn irgendetwas zu ordnen (Entropieverminderung). Irgendwann versucht wohl jeder, sein Leben selbst zu steuern. Er fängt an zu suchen, eine Stellung in der Gesellschaft zu erhaschen, mehr Informationen zu sammeln, aus allen verfügbaren, erreichbaren Quellen. Sammelt er dabei jedoch Informationen, die falsch sind (verfälschte, manipulierte, durch Massenmedien z.B.) wird das zu steuernde Objekt zum Chaos streben. (Zweiter Hauptsatz der Wärmelehre.)

1977: Leipzig. Sonntag. Um sieben schon wieder aufstehen, zum nächsten Auftritt. So einfach fiel mir das nicht, denn obwohl das Bier gestern reichlich dünn war, floss es am Ende doch reichlich. Heute stand, laut Chronik, der 1000. Auftritt des Alfred-Frank-Ensembles seit seiner Gründung an, in den sechziger Jahren wohl. Wir fuhren entsprechend zum festlichen Frühstück ins „International“, dann ins Museum für Bildende Künste, gaben ein Galeriekonzert. Vor allem Olaf und Udo, unser neuer Thomaner, kamen sehr gut an. Danach die Festrede vom großen Polit-Offizier und Blumen für mich. Und schon ging’s im Eiltempo zurück ins „International“ wo ich für uns auch zum Mittagessen reserviert hatte. Auch wenn wir von den 1000 Ensembleveranstaltungen selbst wohl nur etwa 100 gemacht hatten, stand uns das wohl zu. Ich blieb aber nur bis gegen zwei, da ich nach Hause wollte. Ich hatte versprochen, an ihrer Weihnachtsfeier in der Schwimmhalle, wo sie ja nun arbeitete, teilzunehmen. Als ich zu Hause ankam, war Jeanny schon fort, doch meine Sachen lagen parat. In der Schwimmhalle kam ich dann erst an, als die feiernde Gesellschaft schon durch die Vorhalle tanzte, die Stimmung auf dem Höhepunkt war. Jeanny freute sich, dass ich es noch geschafft hatte, und ich ließ mich sogar zum Mittanzen verleiten. Gegen acht holten wir Cathi von Schorsch ab. Martin war mit seiner neuen Freundin Ute da. Wir hielten uns aber nicht auf, wollten nach Hause.

1978: Gut, dass ich in Deuben stets auch in die Bibliothek gehen kann, und wenn ich dort nicht fündig werde, rufen die Damen sogleich in der Kreisbibliothek Hohenmölsen an (die ja im Gaststättenblock beherbergt ist, also quasi auf dem Wege zu den Schülern liegt), damit ich all die Bücher, die ich fürs Studium lesen muss, auch bekomme. Und auf den endlosen Bus- und Bahnfahrten läßt es sich gut lesen. So schaffe ich halbwegs mein Pensum.

2003: Rückfahrt nach Ha Noi. Duschen, Umziehen, dann attacka Goethe-Institut, Ebert-Stiftung, Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit und feierliche Unterzeichnung einer Absichterklärung über weiterführende Zusammenarbeit mit dem Jugendverband. Die Fahrt dorthin wird zu einem Abenteuer, da der Bus mal wieder wegen der Rushhour-Sperrzeit nicht in der Innenstadt fahren darf, wir Taxis besorgen müssen. Im letzten sitzen Tú und ich, und in halsbrecherischem Tempo kurvt das Vehikel durch die Ströme der wie üblich kreuz und quer fahrenden Mopeds und Fahrräder. Augen zu. Nach Unterzeichnung der Absichtserklärung, die auf unser Drängen hin recht konkrete Vorhaben benennt, so sollen im nächsten Sommer bereits vietnamesische Kinder an einem Feriencamp im Harz teilnehmen, laden uns die Herren Funktionäre zum Essen in ein piekfeines Restaurant ein. Einem Foto nach zu urteilen, speiste hier auch schon Hillary Clinton... Danach letzte Einkäufe in der Altstadt, ein letztes Mal in unsere „Stammkneipe“ (heute wage ich mich sogar an den ekligen Würmer-Schnaps heran) und zum krönenden Abschluss, weit nach Mitternacht, eine Partie Billard in einer großen Halle unweit unseres Hotels.

2009: Bis gestern seit September ständig kreuz und quer in Deutschland unterwegs – der übliche Jahresendstress. Heute nun der erste richtige „Vorweihnachtstag“ – und wie durch ein Wunder hat’s über Nacht (da ich sicher daheim bin) geschneit…

 

Sühne

für

John William Alcock / Alain Barrière / Gilbert Bécaud / Scheich Bedruddin / Robert Bresson / Jean-Baptiste de Lamarck / Ernst Engelberg / Chris Farley / Philip Morin Freneau / Zsa Zsa Gabor / Terry Hall / Václav Havel / Johann Gottfried Herder / Hilderbert von Lavardin / Jonghyun / Kirsty MacColl / Virna Lisi / Max Lohde / Richard Owen / Rudolf Platte / Natalija Iljinitschna Saz / Veit Ludwig von Seckendorff /Antonio Stradivari / Jacques Charles François Sturm / Alexander Trifonowitsch Twardowski / Konrad Zuse

 

An diesem Tage ahnten wir Folgen von Sühne:

Dardanellen, 1878: der französische Passagierdampfer „Byzantin“ kollidiert mit dem britischen Dampfschiff „Rinaldo“, 150 Tote / 1914 wird Ägypten britisches Protektorat / 1944 sinken vor Luzon drei US-Zerstörer in einem Taifun, 790 Seeleute sterben / Kano, Nigeria, 1980: Beginn des islamistischen Maitatsine-Aufstandes, bei dem 8.600 Menschen ums Leben kommen / Jamba, Angola, 1995: Absturz einer Lockheed Electra nach dem Start, 141 Todesopfer.

 


19. DEZEMBER

 

Mobilisierung

mit

Abdulwahab Al-Bayyati / Jimmy Bain / Bob Brookmeyer / Rudi Carrell / Paul Dessau / Tankred Dorst / Jürgen Fuchs / Josef Goldstein / Guido Gozzano / Gustav II. Adolph / Theo Harych / Rudolf Hell / Walter Höllerer / Richard Leakey / Alvin Lee / José Lezama Lima / Mileva Marić / Dimitar Nenow / Elisabeth Noelle-Neumann / Phil Ochs / Carl Albert Oppel / William Edward Parry / Édith Piaf / Professor Longhair / Enrico Rastelli / Franz Sacher / Tana Schanzera / Carl Wilhelm Scheele / Italo Svevo / Miloslav Stingl / Robert Henry „Bobby“ Timmons / Michel Tournier / Maurice White / Zalman „Zal“ Yanovsky

 

Das mobilisierte uns:

Delft, 1705: Beginn der regelmäßigen Wetteraufzeichnungen in den Niederlanden / Cape Caneveral, 1974: der erste europäische Nachrichtensatellit „Symphonie 1“ wird in eine Erdumlaufbahn geschossen / Färöer, 2020: Inbetriebnahme des Eysturoyartunnillin, des nach dem Eurotunnel derzeit zweitlängsten Unterseetunnels der Welt.

 

Ich notierte:

1973: Mit schwerem Kopf bin ich pünktlich um acht im Kaderbüro der Merseburger THC. Man schickt mich zum Bereichsleiter. Ich sitze ewig herum, man lässt auf sich warten. Endlich das Gespräch, aber Vernünftiges kommt dabei nicht heraus. Jedenfalls keine Entscheidung, ob ich diesen Job nun erhalte oder nicht. Man will mich anrufen… So bin ich schon alsbald wieder zu Hause. Aber vormittags noch auf Arbeit? Quatsch. Morgen ist soundso mein letzte Tag in diesem Betrieb. Nachmittag kommt Arkadi vorbei, Ich hatte vollkommen vergessen, dass wir beide heute Abend noch Disco machen wollen. Lust habe ich zwar keine, gebe ihm aber meine Platten mit. Nach Feierabend holt er mich dann ins Betonkombinat, wo er arbeitet. Wir ziehen die Disco so recht und schlecht über die Runden. Anschließend noch ein kleiner Umtrunk mit Arkadis Abteilungsleiter. Ein Glück, dass ich dann nach Hause gefahren werde, meine Augen sind verdächtig schwer.

1977: Montag. Um sechs klingelte der Wecker. Raus aus den Federn, obwohl ich natürlich viel lieber bei Jeanny im Bett geblieben wäre. Waschen, Rasieren, anziehen, die Tasche packen, ein Küßchen uns los. Die letzten Meter mal wieder im Laufschritt, da die Straßenbahn schon den Berg hinunterpolterte. Zug, Bus, Kaserne. Schließlich ins Büro. Für elf war ich mit einem Redakteur der Zeitschrift „Volksarmee“ verabredet. Treffpunkt vorm „Astoria“. Und obwohl ich den Mann nicht kannte, erkannte ich ihn sofort. Ich wusste, er war Oberstleutnant und das sah man auch, obwohl er Zivil trug. Doch wir kamen gut ins Gespräch. Er lud mich ins „Kiew“ zum Mittagessen ein, und ich erzählte ihm einiges übers Ensemble und meine Schreiberei. Er versprach am Ende, einen unserer Auftritte zu besuchen und zwei meiner Erzählungen zu drucken. Nun ja, warten wir’s ab. Im Büro war Karl soeben dabei, mal wieder die Fliege zu machen, klar, es war ja bereits 15 Uhr und seine reguläre Arbeitszeit endete ja schon um 17 Uhr. Das dürfte lustig werden, wenn ich dann entlassen sein werde und er die volle Verantwortung fürs Ensemble übernehmen muss. Am Abend hatte ich keine Lust in den Ausgang zu gehen, spielte lieber mit Dieter und Matthias und Hansi (einem neuen Saxophonisten) Doppelkopf – und gewann.

1979: Heute bringe ich das obligate Weihnachts-Kaffee-Päckchen in die Buchhandlung. Was wäre ich ohne die Möglichkeit, Neuerscheinungen entsprechend der Neuerscheiungsankündigungen bestellen zu können. Alles „Bückware“… Und heute wird mir gleich ein Riesenstapel auf den Ladentisch gestellt, alles, was sich seit meinem letzten Besuch angesammelt hat. Ich lasse zusammenrechnen: Bücher für 165 Mark – das geht ans Limit. Zu Hause mahne ich mit einem Brief gleich Gerd Christian, dem ich etliche neue Titel arrangiert, der aber noch immer nichts überwiesen hatte. Zu Hause war die Bude kalt, die Mieter über uns hatten ihren Ofen abgerissen ohne Bescheid zu sagen, und Jeanny war mit Cathi in der Musikschule. Da sind sie also wieder, die Freuden des Alltags, die einen nicht zum vernünftigen Arbeiten kommen lassen.

1987: Nach eisigen Tagen, Nachtfrösten bis minus fünfzehn Grad, üblen Nebels, Rauhreifbäumen ringsum, nu wieder mildes, fast schon zu warmes Wetter. Meine Freistellungsanträge sind aber noch immer nicht unterschrieben, nach diversen Absprachen und entsprechenden Arbeitsvorbereitungen und –übertragungen mache ich mir große Hoffnungen.

1999: Wie üblich zum Jahresende versuche ich alles Mögliche aufzuräumen. Heute entschließe ich mich, meinen alten (aber noch sehr brauchbaren) Computer den Kindern zu geben und den Computer, den ich ihnen vor Jahren gab, ins Pelikan-Büro umzusetzen, damit dort im neuen Jahrtausend wenigstens noch etwas läuft (der dort stehenden uralt Computer versagte mir gestern jegliche Jahrtausendfitmachung). Dann Essen mit meinen Eltern. Sie haben uns nach Merseburg zum Griechen eingeladen. Angenehm entspannte Stunden. Zu Hause räume ich weiter meine Arbeitszimmer, Bücherregale, Ablagen etc. auf...

2000: Bürokram, dann ins Domgymnasium, wo heute anlässlich des 425jährigen Jubiläums ein „Tag der offenen Tür“ angeboten wird. Klar, dass hier auch das Walter-Bauer-Projekt präsentiert wird und die Pelikane einen Büchertisch anbieten. Doch viel Zeit zum verweilen habe ich nicht, muss weiter nach Dessau zu einer „Novembertau“-Diskussion, 8.Klasse, einige scheinen tatsächlich gelesen zu haben, die Lehrerin ist etwas steif, aber na ja, sie hat mich ja eingeladen und ihre Schüler lesen lassen, also stehe ich alles tapfer durch oder vielleicht bin ich nach all den Lesungen des Jahresendes nur etwas erschöpft... aber zwei Stunden verfliegen im Frage-und-Antwort-Spiel , vielleicht ist es einfach nicht die Herausforderung, die ich erhofft hatte, sondern eben nur mal wieder das übliche Frage-und-Antwort-Spiel: „Was sind ihre Vorbilder?/ Was verdiene sie? etc. pp... Weiter nach Halle, nach einiger Zeit mal wieder im Künstlerhaus, alles sauber, warm, ordentlich, aber leer, verdammt leise und leer, Meingott, was war zu meiner Zeit hier nur immer für’n Trubel. Gut aber, dass kein Trubel ist, da ich mit Dieter Bähtz das förmliche Antwortschreiben fürs Regierungspräsidium Magdeburg zur (hoffentlich) endgültigen Niederschlagung der Nachzahlungsforderung des Uralt-Filmprojektes zu formulieren. Da sollte man sich schon konzentrieren können. Weiter nach Hause, schnell Umziehen und in den Dom: Jubiläums-Festgottesdienst. Das hätte ich mir wohl beim besten Willen nicht träume lassen, mal neben Konrad einem Gottesdienst beizuwohnen... Dann der ganze Festakt im Schlossgartensalon. Nun gut. Im Radio eine schier unglaubliche Nachricht: Heute wurde der vermutliche Merseburger Bombenleger auf freien Fuß gesetzt, da man ihm die Schuld am Bombenattentat wegen schlampiger polizeilicher Ermittlungen nicht nachweisen konnte. Und die nachweisbaren Rauschgift- und Waffendelikte wurden auf die ach so lange Untersuchungshaft angerechnet... Unglaublich, diese deutsche Justiz! So können wir uns in Merseburg wohl mal wieder auf fröhliches Hauen und Stechen und Bomben einrichten.

2003: Auf dem Weg zum Flughafen sollte noch das Ho-Chi-Minh-Mausoleum und –Museum sowie die Einbeinige Pagode besichtigt werden. Doch plötzlich sind freitags die Ho-Chi-Minh-Gedenkstätten geschlossen und der Komplex um die berühmte Pagode ist ob eines hohen Besuchers weitläufig von Soldaten in weißer Paradeuniform abgesperrt. Auf dem Flughafen schließlich noch richtigen Ärger: Plötzlich müssen wir jeder selbst zwei seltsame Flughafengebühren bezahlen, einmal á 10 $ und einmal á 14 $, und dann stellt man fest, dass unser Gruppengepäck Übergewicht habe und wir dafür satte 700 $ abdrücken müssen... Doch wir regen uns nicht auf, bringt ja eh nichts, fliegen müssen wir, und der Gesamteindruck dieses so grandiosen, gastfreundlichen Landes soll bleiben.

 

 

Mythos

für

al-Ghazālī / Alois Alzheimer / Carl Bantzer / Vitus Bering / Jack Bilbo / Paul Bodmer / Matteo Maria Boiardo / Roman Anton Boos / Emily Jane Brontë / Michail Wassiljewitsch Butaschewitsch-Petraschewski / Michael Clarke / Cornell Dupree / Fania Fénelon / Rudolph Fittig / Paul Christiaan Flu / Herb Geller / Elisabeth Graul / Amir Sjarifuddin Harahap / Blind Lemon Jefferson / Shlomo Lewin / Óndra Łysohorsky / Marcello Mastroianni / Kurt Masur / Mekere Morauta / Michèle Morgan / Nakazama Keiji / Laurence Kim Peek / Frida Poeschke / Qian Zhongshu / Tana Schanzera / Veit Ludwig von Seckendorff /William Turner / Ehm Welk

 

Das würde für keinen Mythos taugen:

Ha Noi, 1946: Beginn des Indochinakrieges / Mitholz, Schweiz, 1947: Explosion in einem Munitionslager, neun Tote / 1980 trennt Großbritannien Anguilla von St. Kitts und Nevis ab / Tacoa, Venezuela, 1982: Tanklagerbrand, 150 Menschen sterben / Sumatra, 1997: Absturz einer Boeing 737, alle 104 Insassen kommen ums Leben / Berlin, 2016: Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche, 12 Menschen sterben / 2023: Erdbeben im Nordwesten Chinas, mindestens 126 Tote.

 

 

20. DEZEMBER

 

Dirigat

mit

Fatima Ahmed Ibrahim / Ramazan Avcı / Siegfried Berger / Pieter de Hooch / Walter Eichenberg / Elenhans / Mehmet Âkif Ersoy / Joseph ha-Kohen / William Heffelfinger / Wau Holland / Fatima Ahmed Ibrahim / Bongi Makeba / Friederike Mayröcker / Avelino Muñoz Barrios / Aziz Nesin / Paul Ritter / Veit Ludwig von Seckendorff / Onno Tunç / Larry Willis / Stevie Wright

 

Das sahen wir wunderbar dirigiert:

London, 1830: die europäischen Großmächte erkennen die Souveränität Belgiens an / 1907: Bildung des ersten internationalen Gerichts der Welt, des Zentralamerikanischen Gerichtshofes / 1910 erbringt Ernest Rutherford den experimentellen Nachweis von Atomkernen / Arco, Idaho, 1951: erste nukleare Stromerzeugung / 1971 Gründung der Vereinigung „Médicins Sans Frontières“ / 1990 tagt der gesamtdeutsche Bundestag erstmals in Berlin / 1999: gibt Portugal seine Kolonie Macau an China zurück.

 

Ich notierte:

1973: Letzter Arbeitstag in diesem Jahr und bei dieser Merseburger Drecksfirma. Gott sei dank. Nach Feierabend fährt mich Vater nach Leuna. Ich gehe mit Jeanny einkaufen, Weihnachten steht an, schließlich landen wir im Jugendklub, trinken etwas, hören uns um. Willi, der Chef,  wirkt unnahbar, schielt nur hinter seiner dunklen Brille hervor. Das Jugendklubhaus Leuna scheint uns nicht mehr kennen zu wollen. Auch offiziell werden die Beziehungen abgebrochen, hören wir. Da hat unsere Band also keinen Trägerbetrieb mehr. Wenn das alles kein von langer Hand geplanter Schachzug ist, auch der Verlust meines Jobs… Mist! Aber das wird kein Schachmatt – davon bin ich überzeugt!

1977: Leipzig. Dienstag. Vormittags im Büro, kaum was zu tun. Mittag in die Stadt. Ich suchte noch was für Weihnachten. Am Abend ein kleiner Auftritt im Regiment. Danach ging ich zur Terminabstimmung zum Regimentspolit, und ich glaubte meinen Ohren nicht trauen zu können: beiläufig sagte der, er wolle meine Kommandierung zurückziehen, wolle mich nur noch für zwei Tage vielleicht als Ensembleleiter freistellen. Das hieße also: zurück in den militärischen Alltag – von dem ich keine Ahnung mehr habe… Karl würde sofort die Leitung übernehmen. Oh Gott, dieses Arschloch! Und ich werde mich auf meine letzten Tage hier nochmals in die Scheiße begeben müssen. Da dürfte es auch vorbei sein mit den Wochenenden zu Hause und dem Pendeln zwischen den Vorgesetzten hier im Objekt und im Militärbezirk – was ich, denke ich, bislang recht geschickt auszunutzen wusste. Aber besser: abwarten! Bei der Armee ist es in bestimmten Situationen immer vernünftiger, erst einmal alles auf sich zukommen zu lassen. Trotzdem kotzt mich das an. Ich ging mit unseren heutigen Ausgängern in die „Rille“. Prost!

1979: Jeanny überredet mich zu gemeinsamen Weihnachtseinkäufen. Aber dann springt das Moped nicht an, ich schiebe wohl fünf Kilometer an, nichts zu machen, doch ich bin erledigt, kotze das Frühstück zur Hälfte wieder aus, immerhin scheint die verbliebene Hälfte ein tragfähiges Fundament, für eine Melodie, die mir seit gestern Abend durch den Kopf weht und die ich nun endlich notiere. Am Abend muss ich muggen, fahre mit der Straßenbahn nach Halle – jemand bietet mir einen Sitzplatz an – sehe ich so elend aus? In Halle versuche ein bisschen was für Weihnachten einzukaufen, doch überall Schlangen, Schlangen, Schlangen… Welcher Biss ist tödlich? Und dann die Mugge: Tanzstundenabschlussball – was für ein Wort, und was für ’ne Mugge erst, mein Gott…

1980. Literaturinstitut. Am Nachmittag wieder ein Gespräch mit Rothbauer. Allerdings zeigt er mir nicht wie angekündigt Spreu und Weizen, sondern meint, ich solle mir insgesamt mehr Zeit lassen beim Schreiben, solle mich nicht selbst so unter Druck setzen, solle auch mehr noch das Leben einfließen lassen und nicht nur Minuten, sondern Stunden beschreiben, Tage, Wochen, Monate – genau!

1981: Irgendwie bleibe ich unzufrieden mit dem Grad meiner Selbstverwirklichung bei der Selbstverwirklichung, möchte die Unmöglichkeit überwinden, sich umgehend, am besten sofort „frei zu schreiben“. Doch ohne solche Selbstnörgelei geht wohl gleich gar nichts voran…

1999: Alle möglichen Wege: Post, Bank, Buchladen. Dann nach Halle, nochmals Verlag und Künstlerhaus, schließlich in die Klosterstraße, kleine Weihnachtsfeier mit den Kreativ-Büro Damen, Pressegespräch zum Abschluss des Projektes „10 Jahre danach“. Am Abend beginne ich mit der Arbeit am neuen Bödecker-Buch „Schüler schreiben für Schüler“, Auflistungen, Erfassen erster Texte.

2000: Presse: „Genf/AP. Im Jahr 2000 ist es auf der Erde überdurchschnittlich warm gewesen. Das berichtet die Weltorganisation der Meteorologen. Es wird als das fünftwärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen vor 140 Jahren in die Geschichte eingehen: Die durchschnittliche Oberflächentemperatur liegt 0,32 Grad Celsius über dem Langzeitdurchschnitt von 15 Grad. Die wärmsten Jahre waren 1998, 1997, 1995 und 1990.“ Na, da muss man wohl ein Schelm sein, wenn man an Böses denkt, an Klimakollaps oder dergleichen. Nicht wahr! - Am Abend höre ich Musik, und bei Pat Metheny grandiosem „Roots of coincidence“ geht mir plötzlich durch den Kopf: das sollte auf meiner Beerdigung gespielt werden. (sic!)

2021: Beim Verfolgen einer Netflix-Serie über „British Castles“ kommt mir in den Sinn: Schier ewig offenbar verprassten Herrscherdynastien Möglichkeiten menschlicher Gemeinschaften. Nun allerdings scheint die Gier des neuen Geldadels alles Menschliche in Frage zu stellen.

2022: Gestern hätte ich einen Gesprächstermin bei einem Merseburger Landtagsabgeordneten gehabt, heute bei neuen Merseburger OB – wegen eines besseren Umgangs mit den Zaubersprüchen – aber alles abgesagt. Nach der Corona-Stagnation rollt nun eine Grippewelle… Immerhin taut’s auch seit gestern.

2023: Am Nachmittag Gdenken am Grab Siegfried Bergers anlässlich seines 122. Geburtstages.

 

Drift

für

Hana Androníková / Anita Augspurg / Carl Gottlob Beck / Katharina von Bora / Max Brod / Bobby Darin / René del Risco Bermúdez / Günter Eich / Johann Friedrich Ferdinand Fleck / Boris Michailowitsch Hessen / James Hilton / Caesar von Hofacker / Johannes Lupi / Eduarda Mansilla / Jimmy McCracklin / Stanley Milgram / Gertraud Möhwald / Gustaw Morcinek / Michéle Morgan / Hart Moss / Brittany Murphy / Barbara Noack / Walter Sylvester Page / Ambroise Paré / Julius Richard Petri / Upendrakishore Raychaudhuri / Artur Rubinstein / Sacajawea / Carl Sagan / Léopold Sédar Senghor / C. Aubrey Smith / John Steinbeck / Otakar Theer / Juri Nikolajewitsch Tynjanow / Thomas Leopold Willson / Alexander Iwanowitsch Wwedenski

 

An diesem Tage schienen wir weit abzudriften:

1860 fällt South Carolina von den USA ab, Beginn der Bildung der Konföderierten Staaten / Erbaa, Türkei, Erdbeben, 3.000 Todesopfer / Tonankai, Japan, 1946: Erdbeben, 1.300 Tote / 1987: Untergang der Fähre „Doña Paz“ nach der Kollision mit einem Tanker vor Mindano, 4.386 Menschen kommen ums Leben / 1989: marschieren US-Truppen in Panama ein / Cali, Kolumbien, 1995: beim Landeanflug prallt eine Boeing 767 gegen einen Berg, 160 Menschen sterben.

 


21. DEZEMBER

 

Poetik

mit

U. R. Ananthamurthy / John G. Avildsen / Thomas Beckett / Aloys Blumauer / Heinrich Böll / Paco de Lucía / Benjamin Disraeli / Jean-Henri Fabre / Dante Andrea Franzetti / Philipp Galen / Maud Gonne / Thomas Graham / Florence Griffith-Joyner / Ludwig Christoph Heinrich Hölty / Masacchio / Augusto Monterroso / Anthony Powell / Mary Raftery / Leopold von Ranke / Willi Resetarits / Thomas Sankara / Ludwig Schuncke / Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld / Thomas Schweicker / Alexander Solomonica / Ove Sprogøe / Delphine Zanga Tsogo / Carl Dean Wilson / Frank Vincent Zappa /

 

 

Das bot uns Ideen für eine Poetik:

1892: Gründung der Deutschen Friedensgesellschaft / Frankreich, 1903: erste Vergabe des Prix Goncourt / 1913 erscheint in der „New York World“ das erste Kreuzworträtsel der Welt / 1965: Verabschiedung des UN-Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung / Bottrop, 2018: die letzte deutsche Steinkohlezeche wir geschlossen /

 

 

Ich notierte:

1973: Meuschau. Der Schlaf tat mir gut, aber nicht allein der Schlaf. Seit langem hatte ich mal wieder plastisch und lange geträumt. Meist von Jeanny und unserem kommenden Kind, und von mir in allen möglichen Variationen und Situationen. Mal war ich Alexander der Große, mal ein vertrottelter Dichter… Nur eines blieb gleich: nach der Geburt unseres Kindes wurde mir meine Geliebte untreu und die Liebe zerbrach mir. Angenommen, Träume sind Reflexionen unseres Denkens, müsste ich mich damit ja beschäftigt haben. Oder wurde ich damit beschäftigt? Als ich aufstand, kam Jeanny gerade mal auf einen Husch vorbei. Sie war noch viel schöner als im Traum und ich erzählte ihr auch gleich davon. Sie küsste mich und ich wusste, dass ich nicht meine Gedanken geträumt hatte. Ich fuhr zur TH, um endlich zu erfahren, was hier los ist. Und das allerdings war’s wohl, was ich diese Nacht alptraumartig beschäftigt hatte: ich wurde abgelehnt. Man wünschte mir immerhin Frohe Weihnachten und entließ mich lächelnd. Da stand ich nun mit furchtbarer Wut im Bauch, doch ohne Job. Ich lief zum Säurelager, zu Seni. Was sollen wir nun machen? Wollen die mich, da ich nach Senis Verbot de facto Bandleader war, etwa einknasten? Ich fahre nach Leuna, zum Rathaus. Niemand da. Resigniert trotte ich heim, Morgen ist Sonnabend, dann Sonntag, dann Heiligabend, 1. und 2. Feiertag, bleiben also noch zwei Tage im alten Jahr, in denen ich einfach Arbeit finden muss. Sonst dürfte wohl eine Kettenreaktion ausgelöst werden, deren Ende ich nicht absehen kann. Am Abend mit Emil zu Seni. Wir improvisieren eine Art Weihnachtsfeier, wärmen uns gegenseitig alte Geschichtchen auf. Vielleicht müsste man diese Mugger-Geschichten mal aufschreiben?

1977: Leipzig. Mittwoch. Ein böses – oder besser: erst mal gar kein Erwachen. Trotzdem Aufstehen, Waschen, Rasieren. Dann legte ich mich nochmals hin – auch so ein Privileg, das mir nun abhandenkommen dürfte. Als ich wieder erwachte war das Zimmer leer, alle anderen waren zur Ausbildung. Um acht. Ich schlurfte ins Büro, war gegen Mittag zurück, ging zum Polit, versuchte einige Dinge zu klären, und seihe da, er hatte heute einen ganz anderen Ton drauf, wünschte dann sogar meiner Frau „unbekannterweise“ – da ich Weihnachten ja wohl sicher in den Urlaub fahren würde – ein Frohes Fest… Hm. Am Nachmittag ein Auftritt in der Regimentsbibliothek, Singegruppe, Minimalbesetzung. Danach versuche ich beim Abteilungschef ein gutes Wort für einen neueingezogenen Tenorhornisten einzulegen, der gestern Nacht besoffen randalierte, nun aus dem Ensemble ausgeschlossen, strafversetzt werden soll. Immerhin erreiche ich, dass es erst Mal nur ein vorübergehender Ausschluss für vier Wochen sein wird, dann will man sehen… Am Abend endlich in den Weihnachtsurlaub, ab nach Hause also.

1979: Erst am Nachmittag konnte ich wieder arbeiten. Wie lang doch so ’ne Scheißmugge nachwirkt… In meinem Hirn flüstert jemand: Sauf nicht zu viel beim Muggen, dann bis du am nächsten Tag auch eher einsatzfähig! Ich flüstere zurück: Aber dann wären solche Muggen unerträglich! Gut, so verdiene ich eben mein Geld. Da müssen andere Leute wohl ganz andere Opfer bringen.

1999: Arbeit am Schülerbuch, dann treffe ich mich in Merseburg mit meinem Bosch-Freund“ Rüdiger, der seinen Freund Dieter Kleinbauer besucht. Wir gehen zusammen essen, zum Chinesen. Rüdiger kolportiert, dass infolge der aktuelle Schmiergeldaffäre, die Altkanzler Kohl im Zusammenhang mit dem Bau der Leuna-Raffinerie belastet, bereits einige Ausstellungsmacher der Bosch Stiftung kalte Füße bekämen – ob Leuna als Ort deutscher Geschichte wohl noch tragbar sei...

Presse: „Hamburg/dpa. Die Zahl der Kriege ist in diesem Jahr weiter angestiegen. Weltweit wurden 35 Kriege geführt, drei mehr als noch vor einem Jahr, wie die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung an der Universität Hamburg mitteilte. Die Forscher zählten in Afrika 14 und in Asien 12 bewaffnete Konflikte. Damit konzentrieren sich rund 75 Prozent der Kriege allein auf diesen beiden Kontinenten.“

2000: Winteranfang. Und erstmals richtig kalt, sechs, sieben Grad Minus noch am Morgen. Kurzer Besuch bei Karin Gittel, dem einstigem Merseburger Ratsmitglied für Kultur, die mich schon mehrmals telefonisch gebeten hatte, mal vorbeizukommen. Sie möchte mir einen Kunstkalender schenken. In Spergau schließlich die Präsentation des Projektes. Volles, sogar Presse erscheint, läuft alles gut. Zu Hause ein Anruf, der mich gleichermaßen erstaunt wie erfreut: Olaf, Herr Kammersänger Bär, mein alter Armee-Kumpel ruft an und bedankt sich sehr für den „Novembertau“, den ich ihm jüngst schickte. Würde mich sehr freuen, wenn unsere fast schon verloren geglaubte Freundschaft eine neue Chance bekäme.

2012: Laut Maya-Prophezeiung soll ja heute die Welt untergehen: Erscheinen Bolon Yoktes - Ende des 13. Langzeitkalender-Zyklus. So schmökere ich denn bis Mitternacht (MEZ) im zielsicher erschienenen Büchlein Les Fins du Monde – Weltuntergänge, gesammelt von Kerstin Schimandl. Amüsant, ausgesprochen amüsant. Immerhin scheine ich demnach seit meiner Geburt bis dato fast zweihundert veritable Weltuntergangs-Prophezeiungen überlebt zu haben (von diversen allgemeinen wie höchst persönlichen Apokalypsen schlicht zu schweigen).

2020: In Großbritannien mutiert das Covid-19-Virus, es soll angeblich 70% ansteckender sein als das weltweit grassierende. Rasch wird verfügt, dass keine Flugzeuge aus Großbritannien mehr in Deutschland landen dürfen. Hier steigen die Zahlen auch so schon unaufhaltsam weiter. Am Nachmittag dann aber die Nachricht, dass die zuständige EU-Kommision den ersten Impfstoff für Europa zugelassen habe. Es kann also geimpft werden, Experten schätzen jedoch, dass es länger als ein Jahr dauern könnte, bis alle Impfwilligen geimpft sind.

2021: Wintersonnenwende, endlich! Diese endlose Dunkelheit und Trübnis, gepaart mit den finsteren Pandemie-Entwicklungen braucht dringend die Hoffnung auf hellere Zeiten…

2022: Die schier endlose Dunkelheit nervt wie noch nie. Gut, dass man sich nun wenigstens einreden kann, dass es Tag für Tag heller wird.

 

 

Plot

für

Stella Adler / Armandinho / Raphael Armattoe / Louise Franziska Aston / Franz Boas / Giovanni Boccaccio / Eric Borchard / Amelie Hedwig „Melli“ Boutard-Beese / Giacomo Maria Brignone / Reinhold Burger / Sigrid Damm-Rüger / Harald Döring / Lee Dorman / Renée Jeanne Falconetti / Lion Feuchtwanger / Francis Scott Key Fitzgerald / Ludwig Karl Gutbier / Kurt Herdemerten / Udo Jürgens / Frank Billings Kellogg / Albert King / Arthur Korn / Ramon Martí i Alsina / Raimund Merker / Nathan Milstein / Pinckney Benton Stewart Pinchback / Knud Johann Victor Rasmussen / Charles-Louis Philipe / Agnes zu Salm-Salm / Kurt Tucholsky / Wilhelm Wackernagel / Louis Washkansky

 

So entwickelte sich uns kein Plot:

1270 zerstören die Mongolen unter Batu Khan Rjasan / 1471 nimmt Portugal São Tomé in Besitz / Merseburg, 1740 „entstund eine entsetzliche Waßer-Fluth und mußten die Meuschauer stürmen, kunte ihnen aber niemand zu Hülffe kommen, weil es über alle Dämme ging. Solch Waßer stund gantzer 9 Wochen“ / Iquique, 1907: chilenisches Militär massakriert bis zu 3.600 streikende Arbeiter / Westhoughton, England, 1910: Grubenunglück, 344 Bergleute sterben / Bogdanowa, Transnistrien, 1941: rumänische Besatzer beginnen 54.000 inhaftierte Juden zu ermorden / Catavi, Bolivien, 1941: hunderte Streikende werden erschossen / Lockerbie, 1988: Absturz einer Boeing 747 nach einem Terroranschlag, 270 Menschen kommen ums Leben / Prag, 2023: Amoklauf an der Karls-Universität, 15 Tote. 

 

22. DEZEMBER

 

Brainstorming

mit

Carl Friedrich Abel / Robert Anasch / Johann Jakob Bachofen / Jean-Michel Basquiat / Georg Joseph Beer / Ulrich Bräker / Otto Buchholz / Teresa Carreño / Charles Deas / Richard James „Richey“ Edwards / Constantin Fahlberg / Maurice Ernest Gibb / Robin Gibb / Gustaf Gründgens / Ha Ryun / Heidemarie Härtl / Frank Billings Kellogg / Lee Eun-ju / Thomas Mofolo / Joseph Maria Olbrich / Käthe Paulus / Hans Prozell / Giacomo Puccini / Jean Baptiste Racine / Srinivasa Ramanujan / Christian Rohlfs / Franz Schmidt / Arthur Schwickert / Gobind Singh / Alexei Alexandrowitsch Stenin / Edgar Varèse / Walter Womacka

 

Das würden wir jederzeit in ein Brainstorming einbringen:

Königs Wusterhausen, 1920: Beginn regelmäßiger Rundfunksendungen in Deutschland / Chabarowsk, 1929: Waffenstillstand im Sowjetisch-chinesischen Grenzkrieg / 1979: Ende des zehnjährigen Bürgerkrieges im Baskenland / Berlin, 1989: Wiedereröffnung des Brandenburger Tors.

 

Ich notierte:

1973: Vormittag: Einkaufen und andere Alltäglichkeiten. Nachmittag: ich versuche unsere Anlage, unsere Instrumente aus dem Jugendklub zu holen. Es klappt aber nicht. Kein passender Schlüssel zu finden angeblich. Aber raus muss das alles, irgendwie, morgen vielleicht. Ich fahre mal nach Hause, nehme einige Kleinigkeiten mit, denn morgen soll ja Verlobung sein. Hoffentlich ohne viel Tra-ra. Das ist ja eh alles nur eine Formalität, Elternberuhigung oder so. Und dies alles fühlt sich so völlig anders an als das, was man darüber so hört, sieht, liest… Zum Abendessen bin ich wieder in Leuna. Plötzlich hupt es. Martin! Endlich von großer Fahrt zurück. Seit September schipperte Jeannys großer Bruder mal wieder über die Meere. Er packt Geschichten und Geschenke aus, hat auch an unsere Verlobungsringe gedacht, im Libanon. Ab morgen tragen wir die dann also links. Gewöhnungsbedürftig. Martin fährt gleich weiter nach Prag, zu seiner Marianna. Und mit ihm entschwindet der Wirbel und Trubel. Ruhe zieht wieder ein. Ich versuche noch ein wenig zu schreiben, es bleibt bei Skizzen.

1977: Leuna. Donnerstag. Urlaub. Ein herrlicher Morgen. Der Wecker zeigte halb elf als ich aufstand. Ein herrliches Gefühl, dem Zwang entronnen zu sein, auszuschlafen und sich dann nochmals zu rekeln – um dann eigentlich nichts zu tun. Ich fuhr in den Buchladen. Dort herrschte eine Weihnachtskaufgier-Atmosphäre. Ich holte alles, was ich bestellt und was man mir tatsächlich zurückgelegt hatte, ab, bestellte Neues. Zu Hause kochte ich mir eine Tütensuppe, las Zeitung, dann Malraux „So lebt der Mensch“. Dann zu Emil, Platten hören. Am Abend dann fernsehen mit Frau und Tochter.

1980: Es ist eigenartig: obwohl ich schreiben, schreiben, schreibe müsste, tue ich eigentlich den lieben langen Tag nichts, nichts, nichts. Ich will mir so etwas wie ein Fest leisten, will versuchen mich unter Hochdruck zu setzen, mir ein schlechtes Gewissen zu machen – um endlich zügig voranzukommen. Allerdings lese ich den ganzen Tag, lese, lese, vor allem theoretisches Zeugs heute, um mein Unwissens zu verringern, um in allem wissender, bewusster agieren zu können.

1982: Vielleicht sollte ich nicht versuchen, den Erfolg um jeden Preis zu suchen? Derzeit spüre ich ein großes Bedürfnis nach Bildung: lesen, lesen, lesen – das Wissen, die Sprache verbessern, ein fotografische Gedächtnis entwickeln… überall liegen meine Notizen herum, beschriebene Zettelchen, Weiterführungen, Neuanfänge… Fehlt mir der Erfolg? Die Bühne?

 

Back up

für

Friedrich Aduatz / Giovanni Francesco Barbieri / Samuel Beckett / Gustavo Adolfo Béquer / Claude Brasseur / John Robert „Joe“ Cocker /  Hans Coppi / George Eliot / Gustav Fröhlich / Fujiwara no Toshinari / Julien Gracq / Elisabetha Hevelius / Arvid Harnack / William Godvin „Beaver“ Harris / Carl Hinkel / Albert Hößler / Hans Koller / Richard von Krafft-Ebing / Harry Langdon / Rudolf Moroder Lenért / James Edward Meade / Chico Mendes / Marie Nathusius / Otto Neurath / Carl Albert Oppel / Nikolai Alexejewitsch Ostrowski / Willibald Pirckheimer / Jean-Victor Poncelet / Beatrice Potter / Hans Prozell / Gertrude „Ma“ Rainey / Etienne Pierre Théodore Rousseau / Herbert Schoner / Heinz Harro Max Wilhelm Georg Schulze-Boysen / Libertas Schulze-Boysen / Elisabeth Schumacher / Kurt Schumacher / Ingrid Steeger / Josef von Sternberg / Joe Strummer / Stella Tennant / Wallace Henry Thurmann / Thomas Valentin / Guy Warren / Gerhard Wartenberg / Nathanael West

 

Davon wollten wir gewiss kein Back up:

Genthin, 1939: Kollision zweier D-Züge, 186 Tote / 1939: Eisenbahnunglück zwischen Markdorf und Kluftern am Bodensee, 101 Todesopfer / 1963: Brand des britischen Passagierschiffs „Lakonia“ vor Madeira, 128 Menschen sterben / Tripolis, 1992: Zusammenstoss einer Boeing 727 mit einer MIG-23 beim Landeanflug, 157 Menschen kommen ums Leben / USA, 2001: Geburt der ersten geklonten Katze / Indonesien, 2018: Ausbruch des Vulkans Anak Krakatau, mindestens 400 Todesopfer.

 

 

23. DEZEMBER

 

Bericht

mit

Nana Adu Ababio II. / Helmut Baierl / Chet Baker / Kamal Ahmed Bamadhaj / George N. Barnard / Wilhelm Bauer / Georg Joseph Beer / Hedwig Bleibtreu / Arnold Bode / Karl Pawlowitsch Brjullow / Ron Bushy / Ildefons Cerdà / Jean-François Champollion / John Cromwell / Albert Ehrenstein / Alexandru Flechtenmacher / Sara Gallardo / Mojsel Markowitsch Goldstein / Maruyama Gondazaemon / Corey Ian Haim / Tim Hardin / Buddy Harman / Henry von Heiseler / Yousuf Karsh / Otto Kersten / Alice Elizabeth Kober / Giuseppe Tomasi di Lampedusa / Karl Richard Lepsius / Norman Maclean / Zindzi Mandela / Ejnar „Miki” Mikkelsen / Harriett Monroe / Martin Opitz / Franz Osten / Esther Mae Philipps / Adolf Reinach / Dino Risi / Malte Rühmann / Friedrich Schenker/ Helmut Schmidt / Joeph Smith jr. / Christa „Kate“ Winsloe“ / Friedrich Wolf

 

Darüber würden wir immer wieder gern berichten:

1900. erste drahtlose Sprachübertragung durch Reginald Fessenden / / Davos, 1934: Inbetriebnahme des ersten Bügelskilifts weltweit / Boston, 1954. erste erfolgreiche Nierentransplantation / Zermatt, 1979:  die höchste Seilbahn Europas nimmt ihrem Betrieb auf.

 

Ich notierte:

1973: Verlobungssonntag. Ruhe bis zum Nachmittag. Dann holen Jeanny und ich meine Eltern von der Straßenbahn ab. Gehobenes Schlendern in den Kaffeetisch hinein bei Jeannys Eltern. Floskeln, Kochrezeptaustausch, Reminiszenzen, dann die Ringe. Ich komme mir vor wie ein frischberingter Vogel. Mein Gesicht muss wohl Bände gesprochen haben, man ärgert sich über mich. Ich solle mich doch freuen! Na gut, dann kann ich’s auch. Alkohol löst langsam die Zungen, es wird diskutiert, gut, so lernt man sich kennen. Wahrheiten verdrängen mehr und mehr Oberflächlichkeiten, Impressionen verblassen vor Bildern. Trotzdem, ich Strudel der Meinungen fühle ich mich halbwegs wohl, sehe ich doch plötzlich einen Weg, wenn auch einen weiten, vor mir, meine Ideen durchzusetzen. Noch sind die einfach noch zu flach, nicht überzeugend offenbar, Ich werde mich bemühen!

1977: Freitag. Gegen halb zehn stand ich auf und fuhr nach Merseburg. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, ein Radio zu kaufen. Doch Fehlanzeige in Merseburg. Immerhin treffe ich unterwegs Herrn Grimm, den Trommler, mit dem ich zuletzt bei Zakk und dann auch in Berlin bei Baptist gespielt hatte. Da kaum ein Hauch des Profilebens zurück… Weiter nach Bad Dürrenberg. Und siehe da, nach einigem Suchen und Beschwatzen brachte eine Verkäuferin ein Radio ohne Boxen - so wie ich eins suchte – unterm Ladentisch hervor. Der Preis war zwar an der Obergrenze des mir Möglichen, doch ich wollte nun mal ein Radio haben. Also schnell einpacken lassen und bezahlen. Zu Hause merkte ich, dass ich noch eine UKW-Antenne brauchte. Also mit dem Fahrrad nochmals los, Cathi auf dem Kindersitz. Und sie erzählte und erzählte mir Kindergartengeschichten, dass Anne in die Hosen gekackt und Sven seine Suppe nicht essen wollte. Gut dass, sie mich ablenkte, denn auch die Suche nach einer Antenne erwies sich alles andere als einfach. Rundfunkladen in Leuna – nichts. Wieder nach Merseburg – und bei einem Krauter hatte ich dann in einem kleinen Privatladen Glück. Die wohl zwei Meter lange Antenne unterm Arm zurück nach Leuna. Auf halbem Wege fiel mir ein, dass mir Jeanny aufgetragen hatte, Eier zu kaufen, was ich im Radiokaufrausch vergessen hatte. Also schnell Eier gekauft, wobei sich Cathi in die Hosen machte… Am Abend funktionierte dann alles, endlich ein Stereo-Radio. Doch kaum gefreut, war’s schon wieder vorbei mit der Herrlichkeit. Radio aus. Ich war schon kurz vorm Resignieren, doch Jeanny überredete mich zu Schorsch zu fahren. Der hatte zwar gerade mal wieder ein Kolik, doch fuhr das Auto aus der Garage und wir brachten die verdammte Kiste zurück. Im Laden war gerade ein Monteur anwesend, der brummelte irgendwas vor sich hin, wechselte die Sicherung – und alles war in Ordnung. Mein Gott…

1979: Am Vormittag heute mit Cathi in Bad Dürrenberg. Im Plattenladen schob mir eine Verkäuferin einen Beutel über’n Ladentisch und wünschte Frohes Fest. Schau an – eine Bob Dylan- und eine Elton John-Single. Was wäre man ohne Beziehungen. Eine Bekannte im Plattenladen, eine in der Buchhandlung, eine beim Fleischer, eine… Am Nachmittag ein Brief aus Deuben, in dem wie von mir angefordert, endlich die Besetzung des Blasorchesters aufgeführt war, das mein Auftragswerk spielen soll. Mein Gott – keine Saxophone, nur eine Posaune, dafür zwei Trompeten – ich werde in der Partitur vieles ändern müssen. Hoffentlich kann ich den Angabetermin halten. Der Druck wächst.

1981: Der Überdruck ist raus, die ersten 15 Seiten des Leuna-Stoffes sind geschrieben. Eine große innere Spannung löst sich – gut, ein Tag vor Weihnachten.

1982: Das Gefühl, mit Frau und Tochter nur scheinbar in einer Wohnung zu leben. Da sind meine beiden Mansarden, in die ich mich zum Arbeiten zurückziehe, darunter die Wohnräume, und da sind die gänzlich verschiedenen Tagesabläufe: Wenn ich noch schlafe, sind die beiden schon emsig am werkeln, putzen, trällern. Und wenn sie schon schlafen, lese, schreibe, sinniere ich noch immer…

1987: Freier Tag. Und immerhin gelingt es mir schon mal, mich von „Äußerem“ auf „ Inneres“ umzuschalten.

1999: heute komme ich endlich dazu, mich der Halde meiner seit einiger Zeit gekauften, doch ungelesenen, abgelegten Bücher zu widmen. Für den letzten Grass entscheide ich mich als erstes, klar, das letzte Buch des letzten Nobelpreisträgers, noch dazu eines deutschen. Und obendrein passt es mir in die Perspektive: „Mein Jahrhundert“. Erster Leseeindruck jedoch recht fad, einschichtig, geradlinig daherkommende Texte, nichts mehr vom Grass der „Blechtrommel“ oder des „Butt“ zu entdecken. Immerhin gebe ich nicht wie beim „Weiten Feld“ (das eigentlich alle, mit denen ich darüber zu sprechen versuchte, als unlesbar kennzeichneten...) vorzeitig auf. So interessant ist Grass’ „Jahrhundert“ allemal. In der Weihnachtspost auch der alljährliche Rundbrief Dr. Pleßkes. Darin der mich nachdenklich machende Satz: „...mit dem Weihnachtsfest 1999 verabschiedet sich in immer schneller werdenden Schritten ‚unser’ Jahrhundert von uns. In dem neuen wird die ältere Generation nur noch eine kurze Wegstrecke Gast auf Erden sein – möge dann die jüngere die Traditionen der Familien erhalten und das neue Jahrtausend vor dem weiteren Verfall der inneren Werte bewahren.“

2000: Ich schreibe einen zweiten Teil meines uralten Leseratten-Liedes.

2021: Geboostert!

 

Beherbergung

für

Tatatamkhulu Afrika / Aram Andonian / Angela Maria Autsch / Walter Bauer / George Catlin / Dagobert II. / Joan Didion / Heimito von Doderer / Michael Drayton / John „Ecstasy“ Fletcher / Anton Herman Gerard „Anthony“ Fokker / Karl Friedrich Fries / Peggy Guggenheim / Gustav Hartmann / Eddie „Smeero“ Hazel / Jules Janssens / Maxi Jazz / Noor Jehan / Peter Kafka / Niclas Kaus / Mogens Klitgaard / Bruno Krauskopf / H. Leivick / Yusef Leteef / Joan Lindsay / Tjede Peckes / Oscar Peterson / Anatoli Naumowitsch Rybakow / Enrique Santos Discépolo / Benno Schmidt / Ronnie Scott / Sebastian Shaw / Friedrich von Thiersch / Andrei Nikolajewitsch Tupolew / R. Gordon Wasson / Leslie West

 

Da fühlten wir uns jäh unbehaust:

1847 erklärt Frankreich Algerien zur Kolonie / Frankreich, 1934. Zugunglück auf der Strecke Lagny-Pomponne, 120 Tote / 1954: Orkanserie in Westeuropa, mindestens 70 Menschen kommen ums Leben / Nicaragua, 1972. Erdbeben, 5.000 Todesopfer / Marokko, 1973. Absturz einer Caravelle, 106 Tote / Palermo, 1978. eine DC-9 stürzt beim Landeanflug ins Meer, 108 Menschen sterben / 2005 erklärt der Tschad, dass er sich wegen des Darfur-Konflikts mit dem Sudan im Kriegszustand befinde.

 

 

24. DEZEMBER

 

Triumph

mit

Johann Rudolph Ahle / Dave Bartholomew / Fernán Caballero / Ruth Chatterton / Peter Carl August Cornelius / Elizabeth von Österreich-Ungarn, „Sissi“ / Tevfik Fikret / Samuel Fischer / Ava Gardner / Hermann Haller / Ludwig Ferdinand Huber / Howard Hughes Juan Ramón Jiménez / James Prescott Joule / Louis Jouvet / Mauricio Kagel / Lemmy Kilminster / Franz Alexander von Kleist / Lydia Koidula / Volker Kriegel / Frank Jürgen Krüger / Francesco La Vega / Pedro Vicente Maldonado Sotomayor / Hans von Marées / Adam Bernard Mickiewicz / Alexander Sergejewitsch Newerow / Jean-Louis Pons / Ad Reinhardt / Eugène Scribe / Woody Shaw / Pedro Vicente Maldonado Sotomayor / Pierre Soulages

 

 

Das sahen wir als Triumph:

1726: Gründung von Montevideo / Gent, 1814: Friedensschluss im Britisch-Amerikanischen Krieg / Brant Rocks, Massachusetts, 1906: Ausstrahlung der ersten Rundfunksendung aus einer Funkstation / 1951 wird Libyen unabhängig von Italien / 1954 wird Laos für unabhängig erklärt / Kourou, 1979: erfolgreicher Start der ersten europäischen Trägerrakete.

 

 

Ich notierte:

1973: Meuschau. Heiligabend. Vorbote oder Höhepunkt des Weihnachtsfestes, jeder fasst das wohl anders auf, sieht in der Bescherung oder dem Gänsebraten oder dem Karpfenessen oder der Ruhe, den Weihnachtsliedern, dem Weihnachtstanz oder dem Alkohol oder einfach der Freude den Sinn des Ganzen. Trotzdem scheint mir, dass dieses fest früher anders gefeiert wurde, mehr aus dem Alltag herausragte. Mir fällt es heute schwer zu begreifen, geschweige denn zu fühlen, dass ein besonderer Tag ist.

Nach dem Frühstück in Leuna fahre ich nach Hause, schreibe in bisschen, spiele Weihnachtslieder, um meine Stimmung irgendwie anzuheben. Am Nachmittag packe ich Geschenke ein für Vater, Mutter, Oma, Opa und Jeanny. Sie kommt zwar erst morgen nach Meuschau, aber was fertig ist, ist fertig. Zum Kaffee schneit die Dürrenberger Verwandtschaft  herein, fährt aber bald wieder. Ich sitze mit Eltern und Großeltern um den Weihnachtsbaum herum, ohne Ruhe, nur eben so. Das Radio dudelt, bekannte Lieder werden mitgebrabbelt. Nach dem Heringssalat beginnt die Bescherung. In meinem Zimmer läuft eine Weihnachtsplatte bei Kerzenlicht. Ich teile Geschenke aus, empfange meine. Schön ja – und da – gucke mal! Wir gehen wieder nach oben ins elterliche Wohnzimmer, um uns Festlichkeit in Form von Leckereien und Alkohol vor allem einzufüllen. Oma und Opa verschwinden gegen zehn. Ich fülle bei meinen Eltern weiter, bis der Heilige Abend vorbei ist.

1977: Sonnabend. Als mich meine beiden Frauen am Morgen gegen halb zehn wachknufften, dachte ich nicht an Heiligabend, sondern an Schlafen, schlafen, schlafen… doch ich fügte mich, stand munter auf, trank Tee und spielte mit Cathi. Jeanny rotierte in Weihnachtsvorbreitungen. Gegen elf klingelten meine Eltern. Erste Bescherung. Cathi bekam eine Sprechpuppe, die allerdings zwei Tage später, als meine Eltern sich verabschiedeten, schon kaputt war. Nach dem Essen legte ich mich zum Mittagsschläfchen hin und gegen vier weckten mich die beiden erneut. Ich hörte mit Cathi „Peter und der Wolf“. Als die Platte zu Ende war und ich sagte, das Schluss sei, fragte Cathi verwundert: „Peter ist ausgewolft?“ Ich ging mit ihr spazieren, und Jeanny bereitete die Geschenke vor. Als wir zurückkamen stürzte sich Cathi sofort auf ihre so sehr gewünschte Spielzeugwaschmaschine. Für sie gab es nun nichts anderes mehr. Gegen sechs kamen Schorsch und Emil. Zweite Bescherung. Wir tranken Sekt mit Ananas, hörten Bach und Chopin, aßen schließlich Abendbrot. Vater bekam vom Kartoffelsalat Gallenschmerzen. Cathi war nur mit Protestgeschrei ins Bett zu bringen. Wir sahen fern bis die Männer gingen.

1979: Heiligabend beginnt mit einem unheiligen Morgen: ich muß in aller Herrgottsfrühe zum Bäcker, das bestellte Weißbrot abholen, und da steht schon eine riesige Schlange an… Zu Mittag gibt es das übliche Heiligabandmittagsgericht: Entenklein mit Nudeln. Und schon setzt das Warten auf die Bescherung ein – zumindest für Cathi, die schon seit gestern zapplig ist. Jeanny schmückt den Baum, ich klimpere ein paar Weihnachtslieder auf der Gitarre. Dann kommen meine Eltern mit Oma. Mutter geht mit Cathi einmal „ums Dorf“, wir bauen unterdessen die Geschenke für Cathi auf: Puppenhaus, Rollschuhe und und und. Irgendwie bin ich seit Jahren mal wieder in einer gewissen Weihnachtsstimmung. Großes Geschenkeaustauschen, Anstoßen: Nuß, Kümmel, Apfel. Dann fahren die Meuschauer wieder. Wir drei ziehen uns an und laufen durch die stockfinstere Nacht zu Schorsch. Als Energiesparmaßnahme wurde die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet und das Lichtermeer des Werkes gleißt wie die Verlockungen der Sünde… Nochmals Bescherung. Schließlich kommt Schorsch mit zu uns, Abendbrot: Kartoffelsalat und Weißwürste. Cathi hat von Schorsch eine Laterna magica erhalten, da gibt’s nun also eine Filmvorführung in der Küche. Schließlich tauche ich mit Schorsch immer tiefer ins Gespräch – über Kunst, Verantwortung, Ehrlichkeit, ja – Leben und Tod. Mit ihm kann man sich einfach über alles unterhalten. Die Ehrlichkeit, mit der er als Genosse über Korruptionserscheinungen diskutiert, beeindruckt mich. Natürlich kommt der alte U-Bootfahrer aus dem „Boot“ in dem er nun sitzt, nicht mehr raus, er würde ertrinken. Aber Schorsch hat seine Ideale, Gerechtigkeit, Frieden, von diesem Standpunkt weicht er nicht ab. Und er macht mir Mut, indem er sagt, dass man sich auf der Suche nach dem richtigen Lebensweg immer quälen müsse. Ach, wenn es doch nur mehr Kommunisten vom Schlage Schorschs gäbe, ehrliche, bewusste Menschen und nicht immer wieder diese Schleimscheißer, Arschkriecher, Marionetten, die nur bis in ihre Gehaltstüte blicken und das als Aufbau des Sozialismus verkaufen. Ja, Schorsch hat recht: unsere Gesellschaft verspießert, verbürgerlicht sich. Allerdings hält er den Staat für gut. Gut. Ich werde wohl das auch irgendwie glauben müssen, wenn ich hier überhaupt weitermachen will. Und ich will. Ich muss können.

1981: Mildes Wetter taut mich weiter auf. Ich weiß, dass ich nichts ins Schwatzen verfallen darf, es zählt letztlich das geschriebene Wort – die mir gemäße Ausdrucksweise!

1982: In der (heiligen) Nacht ein langes Gespräch mit Schorsch, über das Hier und Heute, über das Dort und Gestern. Und dann vertraute er mir die Geschichte seines Lebens an, ausführlich: Sein Vater war Seemann, ließ sich so gut wie nie sehen, seine Mutter war Brasiliendeutsche und erhängte sich, als er ein Jahr alt war. Er wuchs bei Zieheltern auf in der halleschen Schwetschkestraße, der Ziehvater, Kriegsinvalide, prügelte ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Eine Jugend an der Saale. Dann der Krieg. U-Boot, zweimal abgesoffen, habe dabei noch blöd das Deutschlandlied gesungen. Noch heute erschienen ihm im Traum die Gesichter all der Ersoffenen, Erfrorenen, Erschossenen. Und noch heute frage er sich, weshalb gerade er da wieder rauskam? Amerikanische Kriegsgefangenschaft, mit Resten der deutschen Kriegsflotte durch den Panama-Kanal nach San Francisco gebracht. Auch hier wieder Glück, die Hälfte der Mannschaft wurde dann zum Bikini-Atoll verschifft, er per Zug quer durch die Staaten zurück nach Deutschland. Sowjetische Besatzungszone. Da er aus den USA kam – Zwangsarbeit in der Wismut – damit auch die Sowjetunion ihre Atombombe bekomme! Und beim großen Grubenunglück in Aue sei er einmal mehr davongekommen. Dann die Lungenklinik bei Schneeberg, da war er wieder mit Totgeweihten zusammen, doch kam wieder heil raus. Was habe Schicksal mit ihm vor? 1956 sei er zwar gesund aber arbeitslos gewesen, seine Frau habe ihn losgeschickt, er habe seine vier Kinder zu ernähren, solle erst wiederkommen, wenn er wieder Arbeit habe. 1956 gelangte er so mit 800 anderen im Güterzug nach Schönwalde, keiner wusste was da auf sie zukäme, Lehrgang mit sowjetischen Offizieren, die GST wurde aufgebaut. Wem’s nicht passte, der konnte gehen. Schorsch blieb, und er sagt: „So kam ich zu meiner lebenslänglichen Stellung.“

1987: Ich ging vier Jahre in den Kindergarten, zwölf Jahre zur Schule, studierte ein Jahr Chemie und drei Jahre Literatur. Fast zwei Jahre lang war ich Soldat, arbeitete drei Jahre im Leunawerk, spielte fünfzehn Jahre Bass, bin seit dreizehn Jahren verheiratet und versuche seit sechs Jahren ernsthaft zu schreiben. Ich besuchte, sagen wir, drei Jahre lang Lehrgänge, bin seit gut fünf Jahren Mitarbeiter für Kultur, warte seit sechs Jahren auf ein neues Auto, und erhoffe noch einiges mehr vom Leben - oder war’s das etwa schon? Denn summa summarum müsste ich dreiundsiebzig sein.

1999: Bescherung, heute erstmals mit meinen Eltern und Helga gemeinsam bei uns im Haus. Klar, wir haben den Kindern gemeinsam eine Reise geschenkt. Und für Mine kommt Eichi als Weihnachtsmann... Ein schöner Abend. Nur als ich dann gegen Mitternacht noch ein bisschen Fernsehen will, ist da nichts als Mord und Totschlag zu sehen, was für ein Programm selbst an solch einem Abend! So beobachte ich denn am Ende, wie der greise Woytila die Heilige Pforte öffnet. Die unerträglichen Kommentare dazu, die fast wie Kommentare früherer Maidemonstrationen klingen, treiben mich jedoch ins Bett. Auch gut.

2000: Sonntag und Heiligabend, dennoch muss Jeanny arbeiten. So schreibe ich noch einige Geschäftsbriefe, packe Geschenke ein, lösche nicht mehr gebrauchte Dateien vom Computer, resümiere schlechthin: Ja, 2000 war wohl ein wichtiges Jahr für mich, für uns. Da sind einige Brücken entstanden, die uns zumindest ein paar Jahre weiterbringen dürften, auf jeden Fall einige finanzielle Drücke von uns nehmen. Und von der Aufgabenseite her betrachtet, haben sich doch einige neue Partnerschaften entstanden, die hoffen lassen, dass immer mal wieder der eine oder andere Auftrag ins Haus schneit, dass mein Name mit erfolgreich zu Ende geführten Projekten in Verbindung steht. Dabei musste ich mich nicht verbiegen oder verleugnen, im Gegenteil, manches war eine echte Herausforderung, hat bei allem Stress sogar Spaß gemacht. Warnschüsse waren jedoch auch nicht zu überhören: all die unerwarteten Todesfälle im Bekannten- und Freundeskreis, unser Fast-Absturz in Italien...

2015: In Somalia sei Weihnachten nunmehr verboten, lese ich. Doch kam nicht einer der drei Weisen aus dem Morgenland einst daher, der mit der Myrrhe oder mit dem Golde gar? Zu lang scheint’s her.

2021: Ich träumte, mein Freund Imre sei erschossen worden, von Orban, in einer Kirche, neben mir…

 

 

 

Trance

für

Ferhat Abbas / Richard Adams / Louis Aragon / Johann Christoph von Aretin / Antoine Augerau / Ramazan Avcı / Alban Berg / Michael Curtiz / Vasco da Gama / John Dunstable / Alfred Willi Rudi Dutschke / Carl Wilhelm Eysenhardt / Alexandra Griepenberg Johannes Heesters / Jack Klugmann / Freschta Kohistani / Ernst Kreuder / Gerard Peter Kuiper / Friedrich Luft / Nick Massi / John Muir / Alexander Sergejewitsch Newerow / Gideon „Mgibe“ Nxumalo / John Osborne / Rick Parfitt / Peyo / Harold Pinter / Pushmataha / Kennth Sivertsen / Bruno Taut / William Makepeace Thackeray / Sergei Stepanowitsch Tschachotin / Theophilus Van Kannel  Birgit Vanderbeke / Dolores Viesèr

 

An diesem Tage fielen wir in Trance:

Merseburg, 1167 „hat man allhier u. anders wo in der Christnacht 2 feurige Stern an dem Himmel gesehen“ / 1806 erklärt das Osmanische Riech Russland den Krieg / Pulaski, Tennessee, 1865; Gründung des Klu-Klux-Klans / Dover, 1914. Abwurf der ersten deutschen Fliegerbombe auf britischen Boden / 1914 etwa 100.000 deutsche Soldaten legen an den Fronten die Waffen für die Weihnachtstage nieder / 1717: Sturmflut an der Nordsee, 11.500 Menschen sterben / Thorsminde, 1811 sinken vor der dänischen Küste die die „HMS Defence“ und die „HMS St. George“ in einem Orkan, 1.300 Seeleute kommen ums Leben / Hokkaido, 1912: Bergwerksunglück, 245 Tote / Lagny, Frankreich, 1933. Zugunfall, 200 Todesopfer / Neuseeland, 1953: Zusammenbruch einer Eisenbahnbrücke, 151 Menschen sterben / Südindien und Ceylon, 1964: Springflut mehrere tausende Todesopfer / Binh Tahi, Südvietnam, 1966: Absturz einer CL-44, 129 Tote / Peru, 1971 Absturz einer Lockheed Electra über dem Regenwald, 91 Todesopfer / Darwin, Australien, 1974: Zyklon, 71 Menschen kommen ums Leben.

 

 

25. DEZEMBER

 

Premiere

mit

Dimi Mint Abba / Don Alias / Anwar as-Sadat / William Philip Anderson / Muhammad Salim Balfas / Clara Barton / Achmed Ben Bella / Georges Besse / Albert Betz / Humphrey DeForest Bogart / J. Edward Bromberg / Pete Brown / Louise Bourgois / Cab Calloway / Carlos Castaneda / Claude Chappe / Isabella Valancy Crawford / Moktar Ould Daddah / Jacques Davila / Aleš Debeljak / René Girard / Waladenia Gutscher / Malak Hifnī Nāsif / Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau / Gerhard Holtz-Baumert / Milada Horáková / Christian Hülsmeyer / Johann Ernst IV. / Alfred Kerr / H. Leivick / Shane MacGowan / Tony Martin / Enrique Morente / Isaac Newton / Kid Ory / Don Pullen / Noel Redding / Jürgen Roland / Franz Rosenzweig / Ernst Ruska / Agnes zu Salm-Salm / Angelus Silesius / Charlotte von Stein / Helen Twelvetrees / Henry „The Sunflower” Vestine / Erik Wallenberg / Adolf Windaus

 

An diesem Tage erlebten wir eine zukunftsweisende Premiere:

274: die Römer begehen erstmals den Geburtstag des Sonnengottes Sol Invictus / 336 wird im Abendland erstmals die Geburt Jesu Christi gefeiert / Greccio, 1223: Franz von Assisi stellt mit Menschen und lebenden Tieren erstmals das Weihnachtsgeschehen nach / Metz, 1356: Verkündigung der „Goldenen Bulle“ / 1643 gibt Williams Myers der Weihnachtsinsel ihren Namen / Dresden, 1745: Ende des Zweiten Schlesischen Krieges / 1758 erscheint der Haileysche Komet wie von Edmomd Hailey vorhergesagt / 1990 kommuniziert ein Webbrowser erstmals mit einem Webserver / Kourou, Guyana, 2021: das James-Webb-Weltraumteleskop wird ins All gestartet.

 

Ich notierte:

1973: Verschlafen, also  rein in die Klamotten, ein Tässchen Kaffee und auf in die Garage um die Ecke, zum Trabi. Vater möchte seine zukünftige Schwiegertochter abholen. Na ja, warum nicht. Weit kommen wir nicht. Ich treffe Herbert, unseren alten Orgelmann. Er braucht dringend eine Lautsprecherbox von mir. Gut, ich fahre mit ihm zu Seni. Vater soll nachkommen. Ich gebe Herbert die Box aus dem Keller, dann stehe ich im Nebel vor Senis Haus, warte, warte. Endlich kommt der blaue Trabi. Mein Vater flucht, die Karre sprang mal wieder nicht an. Unter frohen Festwünschen laden wir in Leuna Jeanny ein, fahren nach Bad Dürrenberg zur Verwandtschaft. Guten Tag – Frohes Fest. Und zurück nach Meuschau. Es ist noch Zeit bis zum Essen. Mutter und Oma rotieren in der Küche. Vater, Opa und ich skaten. Ein zünftiger Drei-Generationen-Weihnachtsskat… Nach dem Essen fallen allen bald die Augen zu. Jeanny und ich ziehen uns zurück, um endlich Weihnachten zu feiern. Es ist schon dunkel, als wir wieder auftauchen. Abendessen, schwatzen, trinken, fernsehen. Der erste Feiertag ist vorbei.

1977: Sonntag. Cathi weckt mich gegen zehn. Zu Mittag Ente, doch irgendwie gerieten Jeanny und ich in Streit. So fahre ich dann nicht mit nach Ha-Neu zu Evy, sondern gehe zu Emil, Platten hören, Zypernwein (den Martin mitbrachte) trinken. Als ich zurückkomme, versuchen Jeanny und ich uns auszusprechen, „Fahnenfrust“ loszuwerden.

1979: Weihnachten ist wohl auch, sich etwas leisten, was man sich sonst nicht leisten könnte: Entenbraten, eine Flasche Wein, Vor- und Nachspeise, und Ruhe, viel Ruhe. Nach dem Essen lese ich in dem Buch, das mir Jeanny schenkte: Lothar Lang „Der Grafiksammler“. Ja, ich trage mich mit dem Gedanken, Grafik zu sammeln, will so versuchen, mir das gänzlich unbekannte Gebiet der Bildenden Kunst zu erschließen. Die Idee kam mir, als ich neulich meinen alten Kumpel Bolle, der sich als Malern und Grafiker versucht, traf. Jeanny und Cathi fahren am Nachmittag mit Schorsch und Emil zu Evi nach Ha-Neu. Ein Glück, daß ich muggen muß, zuvor höre ich noch Mahlers 5. – genial! Aber auf dem Saal verfliegt die Weihnachtsstimmung augenblicklich: ein Tätowierter brüllt uns an - haben sich etwa alle Amnestierten hier in Zeitz versammelt?

1981: Zeit zum Lesen. Und mir dämmert, dass man sich beim Prosaschreiben nicht der Mittel der Vergangenheit, sondern die der Zukunft zu bedienen hat! Nichts sehnsüchtig Verkleistern, Romantisieren, nein, authentische Klarheit, Namen, Dokumente, Fakten – nach ästhetischen Gesichtpunkten geordnet. Rigoros: Tatsachen soweit, wie sie zum Verstehen notwendig sind, Fiktives soweit, wie es verbindet, zum Erkennen notwendig wird. Ich denke, als Prosaschreiber muss man heute aus allen bisherigen Spielregeln zu seiner Spielregel, zum authentischen Erfassen der Wirklichkeit kommen – um Welt gestalten zu können.

1999: Nichts von weißer Weihnacht: ausgerechnet das Tief Jürgen brachte graues Schmuddelwetter, Regen, laue Lüfte. Dafür zieht ein verführerischer Gänsebratenduft durchs Haus. Nach dem Mittagessen gehen wir trotz launischem Wetters wie üblich zum Fest spazieren. Mine schiebt stolz ihren neuen Puppenwagen. Und nach einem Mittagsschläfchen wird bis zum Abend weitergespielt, erst mit Mine, dann spielen die Erwachsenen das „Quiz des 20. Jahrhunderts“. Auch ’ne Art von Rekapitulation.

2000: Unglaublich aber wahr: über Nacht hat es geschneit, schneit immer noch. Weiße Weihnacht also! Das dürfte allen Verneinern einer Klimaveränderung Schnee auf die Lawinen sein... Was soll’s, es ist einfach schön, die tief verschneite Landschaft zu sehen. Überlegung: Es gibt wohl nur zwei Künste, die ich als Mensch ohne jedwede Hilfsmittel auf mich selbst zurück- und somit jederzeit und jeden Orts ausführen kann: Singen, Klatschen (Musik) und Erzählen (Literatur). Zu allem anderen bedarf es Hilfsmittel, vom Kohlestift bis hin zum Computer (der aber – übersteigerte Hilflosigkeit – ohne Energiequelle schlichtweg sinnlos wäre). Umso abhängiger ich mich also von Hilfsmitteln meiner (zumindest künstlerischen) Existenz mache, desto weiter entferne ich mich folglich von meiner Natürlichkeit, von meinem Menschsein. Und was treibe ich dann eigentlich?

2022: Institutionalisiertes Feiern erscheint uns mehr und mehr sinnlos. An der weihnachtlichen Geschenkorgie beteiligen wir uns schon seit langem nicht mehr, und in diesem Jahr haben wir erstmals auch keinen Christbaum mehr. Immerhin genießen wir heute noch einen Gänsebraten.

2023: Zu unserer Nicht-Weihnachtsstimmung passt: Sturmböen rütteln am Haus, alles grau in grau, Frühlingstemperaturen...

 

Prophezeiung

für

Alberta Adams / Ağaxan Abdullayev / Petras Aleksandravičius / Derek Bailey / Curt Bois / James Brown / Rudolf Buchheim / Anatoli Nikolajewitsch Bukrejew / Karel Čapek / Charlie Chaplin / Hester Chapone / Vic Chesnutt / Iacopone da Todi / W. C. Fields / Theodor Fischer / Michael George / Knut Haugland / Wilhelmine von Hillern / Eartha Kitt / Otto Loewi / Emmanuel Levinas / Dean Martin / Joan Miró / Alphonse Mouzon / Birgit Nilsson / Phra Chenduriyan / Georges Raymond / Constantin Rodenbach / Nancy Roman / Vera Rubin / Victor Schœlcher / Peter Schreier / Jean-Marc Vallée / Willard Van Orman Quine / Joachim Seyppel / Xavier Villaurrutia / Vojislav Vučković / Robert Walser

 

Das sollte uns besser nie prophezeit werden:

La Victoria de Acentejo, Teneriffa, 1495 unterliegen die Guanchen und die Kanaren geraten vollständig unter spanische Kontrolle / Mark Brandenburg, 1674: Beginn des Schwedisch-Brandenburgischen Krieges / Sendling, 1705: österreichische Besatzungstruppen metzeln mehr als 1.000 bayrische Aufständische nieder / Andalusien, 1880: Erdbeben, 900 Todesopfer / Gansu, China, 1932: Erdbeben: 70.000 Menschen sterben / Darwin, 1974: Zyklon, 71 Todesopfer / 1978 marschieren vietnamesische Truppen ins Kambodscha ein, um Pol Pot zu stürzen /1979  beginnt der sowjetische Einmarsch in Afghanistan / Nigeria, 2023: islamistische Terrorüberfälle auf mehrere Dörfer, mindestens 160 Tote.

 

 

26. DEZEMBER

 

Jubeln

mit

Absalon / Murlidhar Davidas Amte / Norman Angell / Ernst Moritz Arndt / Richard Artschwager / Charles Babbage / Julien Benda / Hermann Blumenau / Ernest-Lucien Boucher / Alejo Carpentier / Eli Cohen / Johnny Friedlaender / Friedrich II. / Alice Esther Glen / Stephen Gray / Laura Gonzenbach / Eberhard Gwinner / James Kottak / Mao Tse-tung / Henry Miller / Ntsu Mokhehle / Ferdinand Oechsle / Franz Daniel Pastorius / Jewhen Pawlowytsch Pluschnyk / Justine Siegemund / Mary Somerville / Frank Victor Swift / Uli Stein / Maurice Utrillo / Richard Widmark / Emil Wiechert / Clemens Winkler / Charles Adolphe Wurtz / Yi I

 

An diesem Tage jubelten wir:

Sankt Petersburg, 1825: Beginn des Aufstands der Dekabristen / 1957 wird das erste Antidepressivum entdeckt.

 

Ich notierte:

1973: Wir verliebt-Verlobten fahren früh nach Leuna. So kommen wir in den Genuss eines zweiten Gänsebratens. Nanu, fremde Stiefel im Flur? Marianna und Martin sind aus Prag gekommen. Das kleine Haus im Amselweg ist voll von Gesprächen. Schorsch, Mutter, Emil, Martin, Marianna, Jeanny und ich und dann sogar noch Evi, Falk und die Kinder. Man kann kaum noch treten. Schorsch flüchtet in den Keller. Jeanny und ich ins Bett. Bald ist der Spuk vorbei, die Hektik bleibt. Wir Jungen lassen schließlich die Alten allein, gehen zu Böhms, in die Dorfkneipe. Sekt is nich, also fließt der Schaumwein. General Bumm, das Trink-Spiel, das Martin einführte, füllt uns die Gläser und putzt unsere Augen so lange, bis sie glänzen.

1977: Leuna. Halb elf erscheint mein Vater, um uns zum obligaten Weihnachtsbesuch in Meuschau abzuholen. Oma steckte mir gleich Geld zu, gefiel mir aber nicht so recht. Seit Opas Tod hat sie sich nicht irgendwie mehr erholt. Aber Cathi nahm sie gleich in Besitz, spielt sehr gern mit ihrer Uroma. Wir tranken bis zum Mittagessen etwas, unterhielten uns zähflüssig. Irgendwie fehlt mir seit langem der richtige Kontakt zu meinen Eltern, ist das vieles mehr als oberflächlich. Nach dem Essen zogen sich Jeanny und ich zurück in mein ehemaliges Jugendzimmer, das Gästezimmer jetzt. Halb vier weckte uns unser Kind. Mein Vater hatte eine Bowle angesetzt und wir sahen farbig fern – die neueste Errungenschaft meines Vaters. Doch bis zum Abendbrot wollten wir nicht bleiben, spazierten zur Straßenbahn, fuhren nach Hause.

1980: Nun steckt man wieder in diesem Festtrubel drin. Der Alkoholspiegel, ist je nach Tagzeit, mal höher, mal tiefer. Es wird mir immer unmöglicher Weihnachten besonnen zu sein, eine Feststimmung zu entwickeln – dennoch versuche ich, Kinderhoffnungen nicht zu enttäuschen.

1999: Letzte Vorbereitungen für den Oldie-Abend, Animals, Bee Gees, Chambers Brothers, Rare Earth. Dann den neuen Grass ausgelesen. Na ja. Und schließlich bei richtigem Sauwetter auf in die Ölgrube. Reichlich volle Bude, gute Stimmung. Bei „Time“, unserem einstigen Superhit, kreischen die 50jährigen vor Begeisterung... Und natürlich spielen wir auch „People get ready“, in memoriam Curtis Mayfield, der heute starb.

2000: Es schneit nach wie vor. Als lebte man plötzlich in einer ganz anderen Umgebung. Ich puzzle ein bisschen am Schülerbuch, doch ziehe dann mit Mine wieder los Schlitten fahren. So schmeckt denn Mittag der Gänsebraten gleich doppelt so gut und man kommt auch nicht in den feiertäglichen Stress des Nichtstuns hinein. Ich leiste mir später sogar ein bisschen Nostalgie, höre Lift-Platten und sehe am Abend „Meuterei auf der Bounty“. Bei der Musik kommen alte Sehnsüchte wieder hoch („Nach Süden“!) und der Film kommt mir (bis auf das moralisierend doofe Ende) wie ein Monument von Filmkunst, das nicht von Äußerlichkeiten, von Effekten etc., sondern vom Menschen, von Schauspielkunst somit kommt, vor. Interessant wäre allerdings auch die Geschichte gewesen, mit welchem Aufwand die britische Admiralität die Meuterei suchte, um Hierarchien nicht auf Dauer ankratzen zu lassen...

Justierung

für

Cahit Arf / Babur / Fontella Bass / Maxi Böhm / Dionysius / Fard el Atrache / Ivor Bertie Gurney / John Hampson / Howard Hawks / Claude Adrien Helvétius / Les Humphries / Sixt Ernst Kapff / Sue Lyon / Teena Marie / Curtis Lee Mayfield / Shane McConkey / Sam Rivers / James Rizzi / Heinrich Schliemann / Aki Sirkesalo / Annelie Thorndike / Desmond Tutu / Michael Wagmüller

 

Das hätten wir gern zum Besseren justiert:

838: Sturmflut an der Nordseeküste, 2.500 Tote / Richmond, Virginia, 1811: Theaterbrand, 72 Todesopfer / 1836 erklärt Chile der Peruanisch-Bolivianischen Konföderation den Krieg / Mankato, Minnesota, 1862: öffentliche Hinrichtung von 38 Dakota-Kriegern / 1943 wird das deutsche Schlachtschiff „Scharnhorst“ im Nordmeer versenkt, 1.932 Seeleute sterben / 1999: Orkan über west- und Nordeuropa, mehr als 100 Menschen kommen ums Leben / Bam, Iran, Erdbeben: bis zu 60.000 Tote / 2004: Erdbeben mit Tsunami im Indischen Ozean, 231.000 Menschen kommen ums Leben / Peraliya, Sri Lanka, bis dahin schwerster Eisenbahnunfall der Geschichte, bis zu 1.700 Tote / Nigeria, 2006: Explosion einer Öl-Pipeline, mehr als 100 Todesopfer.

 

 

27. DEZEMBER

 

Ansprache

mit

Nadia Anjuman / Carl Bertuch / George Caylay / Rupert John Cornford / Marlene Dietrich / Kaibara Ekiken / Juan Gerardi / Erwin Geschonnek / António Joaquim Granjo / Georg Groscurth / Marie Hassenpflug / Karel Hiršl / Jan Jessenius / Bunk Johnson / Johannes Kepler / Igor Fjodorowitsch Kostin / Christa Krug / Gustav Kühne / Alexander Gordon Laing / Theodor Litt / Mina Loy / Adam Lux / William Howell Masters / Josef Mayr-Nusser / Scotty Moore / Gerardus Johannes Mulder / Charles Olson / Louis Pasteur / Rabe Perplexum / Michel Piccoli / Lasgush Poradeci / Manuela Sáenz / Bessie Schönberg / Ludwig Friedrich Wilhelm August Seebeck / Maria Renata Singer von Mossau / Carl Zuckmayer

 

Das sprach uns an:

Byzanz, 537: Einweihung der Hagia Sophia / 1918: Beginn des Posener Aufstands zur Eingliederung der Region in die Zweite Polnische Republik / / 1949 wird Indonesien unabhängig von den Niederlanden.

 

Ich notierte:

1973: Nach einer zugig, kalten Nacht – zu zweit im schmalen Bett – fühle ich mich am Morgen wie zerschlagen. Jeanny muss früh auf Arbeit, ich bleibe liegen, schlafe weiter, rekele mich schließlich hoch, frühstücke, nehme meine Tasche und ziehe los auf Arbeitssuche. Ich gehe nun zum Nächstliegenden – ins Leunawerk, sitze, warte ewig auf knallharten Bänken in stickiger Luft. Endlich werde ich vorgelassen und von einer verblühten Schönheit ausgehorcht. Im Gespräch scheint’s mir, als röche ich Verwesungsdünste. Es geht Hin und Her, sie telefoniert, schreibt mir schließlich einen Passierschein aus. Ich besuche einen Kaderleiter im Werk, erzähle erneut alles noch einmal. Er forscht in meinen Eingeweiden herum, schreibt in ein dickes, schwarzes Buch, entlässt mich schließlich freundlich. Ich könne hoffen. Also wünsche ich ihm einen „Guten Rutsch“, und schon hocke ich wieder auf den harten Anwärterbänken in stickiger Neonluft und warte und warte. Noch ein kurzes Gespräch und man mir übergibt mir irgendwas zum Abstempeln an die Merseburger Firma, die mich nicht weiter beschäftigen wollte mit, an „Druckluftpumpen & Apparatebau“. Ich fahre sofort dorthin, obwohl es mir eigentlich speiübel ist, doch dort ist niemand, alles zu – Betriebsferien bis nächstes Jahr. Hoffentlich geht mir dadurch mein Leuna-Job nicht wieder flöten. Gegen fünf nehme ich mein Fahrrad und fahre zur Probe. Natürlich muss auch die Verlobung begossen werden. Gut, ich pumpe mir 20 Mark, wir gehen in die „Blutige Axt“, gleich um die Ecke, reden über Heyerdahl, die Tempel von Baalbek, Einstein und John McLauglin, über Gott und die Welt also. Prost!

1977: Dienstag. Ich hatte Jeanny versprochen Cathi in den Kindergarten zu bringen. Also beizeiten raus aus den Federn. Kein Mensch auf den Straßen, ich fühlte mich wohl, mit Cathi auf dem Kindersitz durch die Morgendämmerung zu fahren. Zu Hause las ich weiter Malraux, danach nach Merseburg, zu Fahrer Schulz, der versprach, sich um ein neues Tonbandgerät zu kümmern. Zu Hause hatte Jeanny schon das Abendbrot vorbereitet und Cathi empfing mich mit der Frage, ob ich ihr, wie versprochen, Batterien für ihre Waschmaschine mitgebracht hätte. Natürlich hatte ich. Sie freute sich  und sang über Batterien bis in den Schlaf hinein. Auch Jeanny hatte gewaschen und die ganze Wohnung hing voller Wäsche, einen anderen Trockenraum hatten wir im Winter nicht. Dank dieser Wohnraumkostümierung konnte man sich in den eigenen vier Wänden nur gebückt bewegen. Ich überspielte noch Vanilla Fudge Platten.

1979: Spielen mit Cathi, ein paar Besorgungen, Spazieren. Nach Muggen wie der gestern Abend bin ich irgendwie hohl, ausgebrannt, kann nur Essen und Trinken und Alltägliches vollbringen, kann nicht arbeiten. Fürs Studium muss ich „Professor Shutarewski“ lesen, was für ein grässliches Buch! Warum sind nicht Bulgakow, Pasternak, Block, Babel Plichtlektüre?

1980: Ich beschließe, auf Spontaneität keinesfalls zu verzichten – obwohl die mir beim Zu-Ende-Schreiben von Geschichten oft in die Quere kam, sondern meine Spontaneität zu organisieren, strikte Tagesplanung, dabei meinen Alkoholkonsum möglichst herunterzufahren. Das Rauchen aufzugeben hatte ich ja schließlich auch geschafft, auf Tournee irgendwo im Mecklenburgischen, eingeschneit zu letzten Silvester in jenem schrecklichen Eissturm. Und immerhin war ich am Ende bei mindestens zwei Schachteln Karo oder Ligeros pro Tag angelangt…

1981: Soeben ist Emil mit meiner Fender precision aus der Wohnung. Er will sie in Berlin verkaufen, das ist mir alles andere als gleichgültig, mein Instrument! Mehr als drei Jahre habe ich damit gespielt, da wird ein Instrument zum Partner. Jeanny war mit Cathi schon zum Schlittenfahren vorausgegangen. Doch der Nebel wird so dicht, dass ich die beiden nicht finde. Kalte Leere, dabei versuchte ich doch über die Feiertage nichts als ein guter Familienvater zu sein.

1988: Leuna. Weißer Rum aus Nicaragua, Wodka aus der Mongolei, Whisky aus Schottland, Cognac aus Albanien, Mastika aus Bulgarien, Calvados aus Frankreich, Palinka aus Ungarn, Enzian aus Österreich, Karlsbader Becher aus der Tschechoslowakei, Vino Tinto aus Argentinien und Kirschwein aus unserem Garten – es war mal wieder ein weltoffenes Fest.

1999: Noch immer dieses Sauwetter. Zum Glück habe ich reichlich Hausarbeit: Weiter mit dem Schülerbuch. „Time“ wählt Einstein zum „Mann des Jahrhunderts“, „Life“ Gutenberg zum „Mann des Jahrtausends“.

2020: Ab heute wird in Deutschland gegen das Corona-Virus geimpft. Das Impfzentrum des Saalekreises in Merseburg wird aber wohl erst im neuen Jahr in Betrieb gehen können, da noch kein geeigneter Kühlschrank angeschafft werden konnte.

2021: Endlich ist mir ein ins Deutsche übersetztes Buch des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah geliefert worden: „Das Verlorene Paradies“. Ich beginne sogleich neugierig zu lesen. Gutes Buch, endlich mal wieder ein würdiger Nobelpreisträger.

2022: Nach anhaltenden Protesten lockerte China vor Wochen seine rigiden Corona-Bestimmungen. Seitdem soll sich dort, wo vor drei Jahren die Pandemie begann, ein Fünftel der Bevölkerung infiziert haben. Da beruhigt es doch zu hören, dass ein Gesundheitsexperte der Bundesregierung das Ende der Corona-Welle für das Ende des Winters prophezeite.

 

Ave

für

Birt Acres / Amy Beach / Léon Bakst / Max Beckmann / Benazir Bhutto / Delaney Bramlett / Hoagy Carmichael / Gustave Eiffel / dgar Ende / Mehmet Âkif Ersoy / Eugenio Espejo / Carrie Fisher / Dian Fossey / Charles Martin Hall / Johannes Honsell / Janko Jesenský / Meliton Kantaria / Anna Kuliscioff / James Fintan Lalor / Lee Sun-kyun / Ernst Theodor Amandus Litfaß / Ossip Emiljewitsch Mandelstam / Petro Marko / William George Morgan / Iskandar Muda / Jesko von Puttkamer / Pierre de Ronsard / Heikki Suolahti / Julian Tuwim / Sidonie Werner / Johannes Winkler / Stevie Wright

 

Da sprachen wir ein Lebewohl:

Erzincan, Türkei, Erdrutsch, 33.000 Tote / Chasnala, Indien, 1975: Grubenunglück, 372 Bergleute kommen ums Leben / 1985: Terroranschläge auf die Flughäfen Wien und Rom, 18 Todesopfer.

 

 

28. DEZEMBER

 

Seminar

mit

Mortimer Adler / Lew Ayres / Ludolf Bakhuizen / Birendra / Gabriel Bucelius / Alex Chilton / Guy Debord / Arthur Stanley Eddington / Gösta Ekman / Lili Elbe / Dariush Forouhar / Peter Göring / Egbert Hayessen / Earl Hines / Otto Hübener / Hildegard Knef / Erich Köhler / Stan Lee / Liu Xiaobo / Kary Banks Mullis / Friedrich Wilhelm Murnau / John von Neumann / Johnny Otis / Michel Petrucciani / Ludwig Philippson / Manuel Puig / Harold Rhodes / Walter Ruttmann / Roger Sessions / Juhan Sütiste / Ed Thigpen / Sergei Alexandrowitsch Tokarew / Lara Victoria van Ruijven / Steven Vinaver / Mary Weiss / Woodrow Wilson / Alfred Wolfenstein

 

Das hielten wir für guten Seminar-Stoff:

Hildesheim, 1260 entsteht die weltweit erste Knappschaft / Paris, 1895: erste Kino-Vorführung / 1924: Inbetriebnahme der Fichtelberg-Seilbahn / USA; 1981, Elizabeth Carr, das erste Retortenbaby, kommt auf die Welt.

 

Ich notierte:

1973: Halb eins erst erhebe ich mich aus den Federn. So ist dieser erzwungene Kurzurlaub wenigstens zu was nütze. Gemächlich lese ich Zeitung, esse Mittag, bekomme dann bei Druckluftpumpen & Apparatebau doch meine Beurteilung, übe schließlich ein bisschen und schreibe. Schon ist es dunkel draußen. Ich fahre wieder zur Probe. Heute haben wir endlich mal ein paar eigene Kompositionen angefasst, haben uns auch über meine Texte unterhalten, haben mal nichts nachgeäfft. Schön, dass wir einmal wieder fruchtbaren Boden betreten haben. Alles Neue reizt, da es den Ausblick erhöht und erweitert. Wir proben bis zur Grenze der Auffassungsgabe. Othello und Seni gehen schließlich schlafen, wir anderen wieder ins Café Geiseltal, in die „Blutige Axt“, unser Sauspiel, „General Bumm“ ist angesagt…

1977: Nach dem Aufstehen brachte ich die Wohnung in Ordnung, machte die Betten, nahm die Wäsche ab, räumte die Tische ab, kratzte die Asche aus dem Ofen, holte Kohlen aus dem Keller, machte Feuer und – setzte mich und arrangierte endlich neue Titel, die ich schon längst arrangieren haben wollte. Vor allem für „Jenny“ fiel mir etliches ein. Als Jeanny halb drei von Arbeit kam, war ich erstaunt, dass es schon so spät war. Ich hatte nicht bemerkt, wie die Zeit verging, hatte sogar zu essen vergessen. So ging es den ganzen Tag weiter, nur dass ich dann vom Schlafzimmer (wo das Klavier) steht in die Küche umzog (da dort meine Schreibmaschine aufgebaut werden kann). Vorm Schlafengehen schaue ich in den Spiegel und entdecke ein schon lange nicht mehr gesehenes Bild: Seit einer Woche habe ich mich nicht mehr rasiert… Tja, morgen wird aber schon der letzte Tag Urlaub von der Fahne sein.

1979: Heute schaffe ich tatsächlich das, was ich mir vorgenommen hatte. Ich werde meinen Zeitplan für „Sergej“ einhalten können. Am Nachmittag beschwere ich mich bei der Post, da mir die abonnierte Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur“ noch immer nicht zugestellt wurde.

1982: Zettel, Zettel, Zettel…

1986, letzter Tag des auch mir -  zum Reservewehrdienst eingezogenen Mittdreißiger - dank ministeriellen Befehls zum Fest des Friedens und der Familie gewährten Verlängerten Kurzurlaubs (VKU) : Erwacht mit dem üblichen Bild des Abschieds: Frau und Tochter winkend auf Bahnsteig, wächst Unwohlsein langsam zu Ungehorsam aus: Zu was, gottverdammich, braucht man mich eigentlich dort - Zum Uniformenflicken, Flureputzen, Toilettenweißen, Kübelleeren, Exerzierplatzkehren, Offizieregrüßen oder was? Bliebe ich nicht besser da, wo man mich wirklich braucht? Am Abend aber wird das Alptraumbild natürlich wahr: Frau und Tochter bringen mich zum Zug.

1988: Seit gut einer Woche, also auch die Feiertage über, frühlingshaftes Wetter. Außerordentliche Erschwernis in eine weihnachtliche Stimmung zu kommen. Aber ich hatte eh zu arbeiten, habe die erwünschte Überarbeitung des neuen Kinderbuches fertig, mal sehen, was nun wird. Eine schöne Überraschung war, dass Weihnachten ein Paket mit 25 Beleg-Exemplaren meines „Montag im Oktober“ kamen – die neue Nachauflage ist da! Ermutigend auch, dass mehrmals Spergauer bei mir waren, um mich für die heutige erste Sitzung der Lichtmeßgesellschaft einzuladen. Im Leuna-Buch scheinen meine Lichtmeßpassagen den Berlinern aber Schwierigkeiten zu machen, offenbar können sie mir Brauchtum nichts anfangen. Aber ehrlich gesagt, hatte ich mit diesen Kapiteln auch noch einige Bauchschmerzen. Gut. Auf jeden Fall wird der Fördervertrag mit dem Verlag verlängert, der alsbald in einen Werkvertrag münden soll, damit das Buch im Oktober 1989 in die Druckerei kann.

1989: Markt Tettau. Gerüchten zufolge sollte in Bayern Extra-Begrüßungsgeld ausgezahlt werden. Nicht nur die üblichen hundert, sondern noch vierzig oder fünfundvierzig Mark, D-Mark!, pro Nase für Brüder und Schwestern aus dem Osten mehr! Willkommen in der Freiheit des großen Geldes! Um vier Uhr in der Früh’ also mit Frau und Tochter los. Schon vor Naumburg aber Lichtmaschinenschaden. Warten, Frieren, Abschleppdienst, Sofortreparatur, summa summarum: sechshundert Mark (Ost). Weiter also. Zwischen Rudolstadt und Saalfeld gerinnt alles zu einem Stau. Schier endloser Stillstand. Ungewissheit überhaupt je anzukommen. Umleitungen über Feldwege schließlich und hastig asphaltierte Provisorien zwischen einstigen Minenfeldern und Stacheldrahtzäunen. Und am Nachmittag dann tatsächlich Einreihen in die Schlangen aus tausenden Menschen vorm kleinen Gemeindeamt. Und am Ende ein bayerischer Beamter, der ohne zu prüfen Stempel in DDR-Ausweise knallt und gleichmütig Scheine vorzählt. „Noch was, nein? - Der nächste bitte!“ Auf so viel jäher Kaufkraft scheint man im Ort jedoch nicht eingestellt. Wir raffen eiligst zusammen, was man eben noch so im Angebot hat, Mamba und Löwenbräu, Ketchup und dergleichen, denn mittlerweile fiel am Trabi auch noch das Stopplicht aus, so dass wir uns sputen müssen heil heim zu kommen, bevor es finster, allzu finster wird.

1999: Am Nachmittag ruft Dr. Eberlein an und verkündet, dass es um mein neues Kinderbuch „Novembertau“, das er verlegen wird, ganz gut stünde. Er habe der Thematik Rechtsradikalismus wegen beim Innenminister um Unterstützung nachgefragt, habe aber auch schon eine Offerte einer Magdeburger Zeitung, die das Buch ganz gern als Vorabdruck bringen möchte. Er werde es also auf jeden Fall fürs Jahr 2000 fürs Verzeichnis lieferbarer Bücher melden. Nun denn.

2020: Über Weihnachten hatte ich „Nordsiche Mythen und Sagen“ von Neil Gaiman gelesen. Gutes Buch, Ähnliches hätte ich auch schreiben wollen. Ja, nachdem 1984 mein erstes Buch „Ein Montag im Oktober“ erschienen war, wollte ich in Abstimmung mit dem Kin­derbuchverlag die Edda für jugendliche Leser erzählen. Ich hatte mir sogar eine komplette Thule-Ausgabe antiquarisch besorgt, las alles zum Thema Verfügbare, legte mir einen großen Zettelkasten an, um eine Übersicht über all die mir bis dahin so gut wie unbekannten Figuren zu erhalten, begann mit ersten Skizzen… Aber dann kam die Wende, und es waren hierzulande plötzlich tumbe Neonazis auf den Straßen, die mir jeden Gedanken an Germanisches fürs erste austrieben…

2022: Am Abend kommen Alma und Ilona auf ein „Jahresendschwätzchen“vorbei. Selbstredend ist Almas Schlaganfall Thema. Doch im Laufe de Gesprächs erfahren wir auch, dass und wie unsere Familie gegen uns konspiriert. So besuchte Jeannys Bruder Detlef Alma ganz zufällig vor einigen Wochen und hetzte gegen uns. Zu Alma gebracht worden war er vom Sohn Jeannys Schwester, hören wir, die dann zu einer Familienfeier weiterfuhren. Und als ich da nachhakte (da Anfang Dezember eigentlich nichts Feierwürdiges anstand) kam nach und nach ans Licht, dass wir seit dem 22. November Urgroßeltern sind. Ja, unsere Enkelin Yasmin hat einen Sohn zur Welt gebracht: Niklas Jankofsky. Und das wurde – wie so vieles anderes – mal wieder versucht, uns zu verschweigen. Warum, warum nur? Warum führt unsere Tochter seit nunmehr zwanzig Jahren Krieg gegen uns, bringt immer wieder neue Verbündete in Stellung? (Verstand es sogar ihre Tochter Yasmin, die sie kurz vor dem Abi aus dem Haus geschmissen hatte und die wir dann damals auffingen, umzupolen?) Wir sind ratlos.

2023: Presse: Dieses Jahr war das wärmste seit Beginn der Wetteraufzechnungen.

 

Schlussverkauf

für

Demetrio Aguilera Malta / Pierre Bayle / Black Stalin / Luise Büchner / Rupert John Cornford / Joseph Pitton de Tournefort / Theodore Dreiser / Hermann Finck / Reginald Foresythe / Ralph Winston Fox / Elizabeth Freeman / Pablo Gargallo / George Robert Gissing / James Fletcher jr. „Smack“ Henderson / Paul Hindemith / Sergej Alexandrowitsch Jessenin / Guru Josh / Knut Kiesewetter / Walther Killy / Lemmy Kilminster / Freddie King / Therese Krones / Carl Liebermann / François Maynard / Robert Roy MacGregor / Ian Murdock / Hermann Oberth / Amos Oz / Ian Parry / Louis Pasteur / Sam Peckinpah / Jean Lowry Rankin / Maurice Ravel / Debbie Reynolds / Norbert Schulz / Susan Sonntag / James Owen „Jimmy” Sullivan / Karl Völker / Dennis Carl Wilson

 

An diesem Tage schien uns alles verhökert zu werden:

Merseburg, 1560: „hat man frühe morgens zwischen 5 und 6 ein sehr erschrecklich Feuerzeychen am Himmel gesehen, zwischen Morgen u. Miternacht. Es ist ein solcher greulicher Anblick gewesen, daß man sehr darüber erschrocken, als ob er gantz brände, u. unter dem feuer etliche Bluthflüße“ / Schottland, 1879: Zusammenbruch der die Firth-of-Tay-Brücke, 75 Todesopfer / Messina und Reegio Calabria, 1908: Erdbeben: mehr als 100.000 Menschen kommen ums Leben / Pakistan, 1974: Erdbeben: 5.300 Todesopfer.

 

 

29. DEZEMBER

 

Digitalisierung

mit

Annie Montague Alexander / Cheikh Anta Diop / Pablo Casals / Jimmy Copley / Rick Danko / Forugh Farrochzād / Elizabeth Adela Forbes / William Gaddis / Charles Nelson Goodyear / Georg Hoprich / Ibn al-Banna al-Marrākuschī / Kimura Kenkadō / Wolfgang „Wolle” Kriwanek / Brigitte Kronauer / Monika Lätzsch / Alexander Parkes / Jo Pestum / Jeanne-Antoinette Poisson / Cozy Powell / Magdalena Sibylla Rieger / David Alfaro Siqueiros / Sri Ananda Acharya / Ray Thomas / Jean Vuillermoz / Josef „Bebo” Wager / Ulrich Zieger

 

Das erschien uns sinnvoll zu digitalisieren:

1226: Fertigstellung des Braunschweiger Doms / 1911 erklärt der Bogd Khan die Äußere Mongolei für unabhängig / 1928 erklären die Kuomintang die chinesische Wiedervereinigung für vollendet / Elmsford, New York: Präsentation des ersten transistorgesteuerten Hörgeräts / , 1952: 1978: Ende des Franquismus in Spanien / Guatemala, 1996: Ende des 36-jährigen Bürgerkrieges.

 

Ich notierte:

1973: Meuschau: Vorm Aufstehen klingelts an der Tür. Ich erhebe mich unwillig. Klempner-Emil sucht Boxen für seine Band. Da trifft sich ja, schon sitze ich in seinem Auto und gelange nach Leuna. Emil und ich schwatzen ihm drei alte Boxen auf, die er freudestrahlend nimmt. Ich lasse mich dann beim Bau 1700 absetzen, um meine Beurteilung pünktlich abzugeben. Im Amselweg ist Jeanny schon da. Baden, Fernsehen, Lesen, Schlafen.

1977: Leuna. Donnerstag. Gegen zehn stand ich auf, räumte ich wieder auf, machte Feuer und versuchte den Arbeitsfaden von gestern wieder aufzunehmen. Dann in den Buchladen, auf ein Schwätzchen mit der Buchhändlerin (ohne gute Beziehungen kriegst du nie was du möchtest), dann besuchte ich Jeanny in der Schwimmhalle, schwamm natürlich auch selbst. Am Abend kam Martin, wir gingen zu Böhms, was trinken, von hier rief ich Herrn Grimm an, doch der ließ sich verleugnen und seine Frau sagte, daß er das Geld, das er mir schuldete, heute eh nicht bezahlen könne. Zu Hause holte ich die Uniform aus dem Schrank, Jeanny bügelte mir die Hose, und ich nahm mir im Bad den so schönen Urlaubsbart ab.

1985: Anders geworden in diesem Jahr ist: dass Dinge, die mir dämmerten, nun Realität wurden, dass mein Kinderbuch endlich da ist, dass ich Kandidat des Verbandes bin und dass ich einiges, was ich längst schreiben wollte, geschrieben habe – und; dass ich zunehmend auf Widerstände und Unverständnis stoße. Was also ist wirklich anders geworden?

1989: Täglich mühe ich mich, wieder zum Schreiben zu kommen. Zwecklos. Alle Phantasie brauchen ich, um etwas zu finden, was mir den Lebensunterhalt sichert. Und nun erfuhr ich soeben, beabsichtigt Leuna mir (aus ökonomischen Gründen!) den Freundschaftsvertrag zu kündigen. Damit wäre dann beim Einkommen von 0 Mark monatlich angekommen. Wie lange kann ich das durchhalten?

1999: Obwohl ich wieder etliche Stunden am Schülerbuch arbeite, erscheinen mir die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr wie üblich ereignislos, bleiern, muffig. Auf der einen Seite sehnte man sich nach dieser Ruhe, auf der anderen ist es schon seltsam, dass kein Telefon klingelt, kein Mail kommt, Briefe freundlich nichtssagend sind... Irgendwie ist das keine Suche nach Ruhe, sondern ein Warten, typisches Warten. Vom Bücherstapel angle ich mir heute ein Buch, mit dem ich hoffe ganz gut ins nächste Jahrtausend zu kommen: David Denby „Grosse Bücher – Meine Abenteuer mit Meisterwerken aus drei Jahrtausenden“.

2000: Am Vormittag erarbeite ich ein Thesenpapier für die geplante Book-on-demand-Reihe. Am Nachmittag versenke ich mich wieder in die Harry-Potter-Welt, komme dabei sogar auf den Gedanken, im nächsten Jahr ein Diskussion zu diesem Buch zu organisieren, Titel etwa: „Harry Potter – Zauber oder Fluch?“

2007: Schreiben: sich eigene, kleine, überschaubare Welten schaffen, ordnen, verstehen. Und zumindest in statu nascendi ein Gefühl von Sicherheit und Glück.

 

Diagnose

für

Dionisio Aguado / Simon Yussuf Assaf / Julius Axelrod / Thomas Beckett / Willy Birgel / Pierre Cardin / Sebastian Castellio / Johann Friedrich Cotta / Michael Aidan Courtney / John Davis / Arthur Epperlein / Florian Fricke / Charles Godefroy / Tim Hardin / Freddie Hubbard / Neil Innes / Maria Margaretha Kirch / Miroslav Krleža / Alexi „Wildchild” Laiho / Nadeschda Jakowlewna Mandelstam / Pelé / Ludwig Philippson / Rainer Maria Rilke / Christina Rossetti / Jörg Schlick / Erich Schmitt / Si Tanka / Carl Spitteler / Andrej Arsenjewitsch Tarkowski / Jakob Wald / Johann Herman Wessel / Vivien Westwood / Wizlaw II. / Yamada Kōsaku / Adele Zay

 

Das lähmte uns auch ohne Diagnose:

Merseburg, 1259 „war ein schrecklicher großer Wind, welcher viel gebäude eingeworffen, u. Bäume mit den wurtzeln aus der erden gerißen“ / Ashtabula, Ohio, 1876: Eisenbahnunfall, 92 Todesopfer / Wounded Knee, South Dakota, 1890: US-Soldiers massakrieren mehr als 350 Lakota / Miami, 1972: Absturz einer Lockheed TriStar beim Landeanflug, 101 Menschen sterben / Lima, 2001: Brandkatastrophe nach Vorführung von Feuerwerkskörpern, 282 Tote.

 

 

30. DEZEMBER

 

Zeitung

mit

John N. Bahcall / Omar Bongo / Wladimir Konstantinowitsch Bukowski / Daniiel Charms / Richard Christ / Philippe Pierre Cousteau / Wolfgang Dauner / Maria de Lourdes / Bo Diddley / Renaud Ecalle / Theodor Fontane / Osman Hamdi Bey / Heinrich Hart / Helge Ingstad / Janko Jesenský / Davy Jones / Raschid Karami / Rudyard Kipling / Otto von Kotzebue / Shane McConkey / Michael Nesmith / Betty Paoli / Felix Pappalardi / Ramana Maharshi / Carol Reed / Jacques Rigaut / Victor Serge / Del Shannon / Austin Osman Spare / Titus / Stevan Tontić / Désirée von Trotha / Johann Christian Trothe / Marianne Wünscher / Boubé Zoumé

 

Das hätten uns in jeder Zeitung erfreut:

1922: Gründung der Sowjetunion / Johanngeorgenstadt, 1924: Einweihung der Skisprungschanze / Tokio, 1927: Inbetriebnahme der U-Bahn.

 

Ich notierte:

1973: Nach dem Mittagessen bringe ich meine Schwiegereltern in spe Sie feiern Silvester in Berlin. Und da mein Schwager in spe Emil zu einer Fete will, haben Jeanny und ich das Amselweg- Häuschen für uns allein. Wir machen’s uns bei Bowle gemütlich, lassen uns vom Fernsehprogramm berieseln, streiten ein bisschen, versöhnen und wieder, trinken weiter Bowle, lesen, gehen ins Bett.

1977: Leipzig. Die Nacht über hatte ich schlecht geschlafen, furchtbar schlecht. Der Wind fauchte wie symbolisch ums Haus, rüttelte an den Fensterläden, stieß die Fenster auf. Als der Wecker klingelte, glaube ich, überhaupt nicht geschlafen zu haben. Halb acht war ich wieder in der Kaserne, kam mir allerdings vor als hätte ich ein Faschingskostüm an und wäre hier im Urlaub. Doch das Grinsen verging mir bald. Ab Januar soll ich tatsächlich nur noch zwei Tage pro Woche kommandiert werden. Den ganzen Tag über bemühte ich mich, Klarheit in diese Sache zu bringen, konnte aber nichts Eindeutiges erfahren, verstand nicht so recht, wie das alles gehen sollte. Am Abend Ensembleratssitzung. Auch die anderen, Dieter und Olaf vor allem, waren entsetzt, befürchteten das Schlimmste, wenn nun Karl das Ensemble leiten sollte.

1979: Die gestrige Mugge im halleschen „Volkspark“ ging bis um zwei, danach einräumen, zum Bahnhof nach Halle, von dort Taxi nach Ammendorf und von dort mit der ersten Straßenbahn nach Hause. Halb fünf kam ich an. Da ist der Tag versaut. Eigentlich wollte ich die letzten Takte des Auftragswerks schreiben, doch es ging einfach nicht. Immerhin schaffe ich es am Nachmittag einen Text abzuschreiben und die noch ausstehenden Rechnungen für Arrangements zu stellen, das sollte noch im alten Jahr erledigt sein. Danach spielen wir mit Cathi „Mensch ärgere dich nicht“. Nüsseknacken beim Fernsehen und ins Bett. Eigentlich sollte die letzte Nacht eines Jahrzehnts doch unruhig sein, schlaflos machen, aber ich schlafe gut… Nun denn.

1980: Ich arrangiere einen neuen Titel für einen unserer „Gesangskünstler“. Eigentlich wollte ich das ja nicht mehr machen, aber nach wie vor empfinde ich Freude bei dieser Arbeit – und: es ist schnelles Geld, und: diese Freude bei der Arbeit bringt auch Konzentration für anderes.

1981: Gestern Nachmittag bei Edith Bergner. Sie berichtet, dass mir Mitte Januar vom Kinderbuchverlag ein Lektor zugeteilt werden soll, und auch das: Schriftsteller dürfe man sich ab nächstem Jahr nur nennen, wenn man Mitglied oder Kandidat des Schriftstellerverbandes, wenn man eine Betriebs- oder besser noch eine Verlagsverbindung habe und ein jährliches Mindesteinkommen von 7200 Mark nachweisen könne. Meingott, geht das schon wieder los – wie lange hatte gebraucht, was musste ich alles durchmachen, bis ich Berufsmusiker sein durfte…

1999: Heute gelingt es mir aus meiner „Warte-Unlust“ zu kommen, ganz einfach: ich handele, ich beginne eine Geschichte zu schreiben. Oder sollte meine Unzufriedenheit der letzten Tage daher rühren, dass sich die Geschichte bereits in mir zusammenbraute, ich sie jedoch noch nicht greifen konnte?

2019: Ich träumte mich an die Datumsgrenze, Kiribati oder so, doch wagte dann weder den Schritt in die Zukunft noch den in die Vergangenheit.

2020: Einmal mehr unsägliches Fernsehprogramm, irgendein mehr oder weniger geschichtsklitterndes Filmchen, und ich mir stößt auf, dass neuerdings in Massenmedien immer häufiger vom „Narrativ“ gesprochen wird, sich dieser Bergriff schon in Politiker- und sonstige Reden eingeschlichen hat, da angeblich eine „Erzählung“ den Sinn von Ereignissen, ja, einer Gesellschaft, erklären würde, also Begründungen liefere. Da werden dann in Filmchen beispielsweise eben Welt erklären sollende Szenen und Dialoge recht und schlecht zusammengestrickt. Seitdem ich schreibe habe ich mich immer wieder gefragt, wozu dieser Welt noch irgendetwas hinzuerfunden werden? Um zu beschönigen? Um abzulenken von dem, was eigentlich erzählt werden müsste? Ist das das Narrativ unserer Zeit?

2022: Seit gestern wird in Deutschland offiziell wieder Silvesterknallzeug verkauft. Seit Wochen jedoch schon böllern Idioten in Leuna Nacht für Nacht (besonders schlimm wars an Heiligabend). Und niemand scheints zu stören, niemand will oder kann gegen diese Gesetzesverstöße vorgehen. Wobei in dieser Welt zusehends deutlich wird, dass bestehende Gesetze dem sich rasant ausbreitenden Chaos nicht beikommen können – und wenn Gesetze entsprechend der Weltsituation geändert würden, wäre wohl wiederum niemand imstande, diese auch fühlbar umzusetzen. Ja, das dürfte lustig werden, morgen, und überhaupt.

 

 

Zeremonie

für

Gerhard Altenbourg / Lew Ayres / Torsun Burghardt /Josephine Butler / Hans Gerhard Creutzfeldt / Adelardo López de Ayala / Francisco de Enzinas / Christina Drechsler / Emmanuel Chukwudi Eze / Bobby Farrell / Jan Fedder / Gjergj Fishta / Jakob Fugger / Edgar Hilsenrath / Holger Jackisch / Helmut Just / Josepha Kodis / Gottfried Michael Koenig / Harry Kupfer / Siegfried Lipiner / El Lissitzky / Sonny Liston / Arthur Oncken Lovejoy / Anita Mui / Heiner Müller / Noguchi Isamu / Grigori Jefimowitsch Rasputin / Josè Rizal / Anna Roleffes / Romain Rolland / Mrinal Sen / Artie Shaw / Patrick Houston Shaw-Stewart / Volker von Törne / Maurice Denton Welch / Alfred North Whitehead / Walter Kurt Wiemken / Tom Wilkinson

 

An diesem Tage sahen wir Abschieds-Zeremonien:

Granada, 1066: erstes Pogrom in Europa, 4.000 jüdische Einwohner werden ermordet / Merseburg, 1639 „ist ein weißer regenbogen am Himmel gegen abend umb 6 uhr gesehen worden“ / 1880 wird Tahiti französische Kolonie / Chicago, 1903: Theaterbrand, 602 Todesopfer / Cromathy Firth, 1915: nach Explosionen in der Munitionskammer sinkt der britische Panzerkreuzer „Natal“, 405 Seeleute kommen ums Leben / 1915 versenkt ein deutsches U-Boot südlich von Kreta den Passagierdampfer „Persia“, 343 Menschen sterben / 1917 torpediert ein deutsches U-Boot vor Alexandria den britischen Truppentransporter „Aragon“ und den Zerstörer „Attack“, 610 Todesopfer / 1997: Massaker in der algerischen Provinz Relizane, mehr als 500 Menschen werden getötet / Buenos Aires, 2004: Brand in einer Diskothek, 194 Tote, 700 Verletzte / 2006 sinkt in der Javasee die Fähre „Senopati Nusantara“, mehr als 400 Todesopfer.

 

 

31. DEZEMBER

 

Addition

mit

Hans am Ende / Karl Artelt / Hermann Blumenthal / Paul Boldt / Nicolas Born / Gottfried August Bürger / Jacques Cartier / Enriqueta Compte i Riqué / Aimé-Jules Dalou / Paula Dehmel / Helena Demuth / Daniel Díaz Torres / Charles Edward „Charlie” Dixon / Viktor Dyk / Johann Carl Fuhlrott / Fumiko Hayashi /Beryl Goldwyn / Mbah Gotho / Adolf Grimme / Wilbur Harden / Rolf Haufs / José María Heredia / Irma Hünerfauth / John Kirby / Irina Korschunow / Rita Lee / Henri Matisse / Ibrāhīm Nağī / Dieter Noll / Michael „Fitz-James” O’Brien / Odetta / Pete Quaife / Max Pechstein / René Schneider / Mychajlo Wassylowytsch Semenko / Donna Summer / Andreas Vesalius / Ilarie Voronca / Peter Wells / Simon Wiesenthal

 

Das addierten wir gern allem Zukunftsträchtigen hinzu:

Brest, 1435: Friedensschluss zwischen dem Deutschen Orden und Polen-Litauen / 1799: Auflösung der Niederländischen Ostindien-Kompanie / 1857 bestimmt Queen Victoria Ottawa zur Hauptstadt Kanadas / Menlo Park, New Jersey, 1879: erste Vorführung einer elektrischen Straßenbeleuchtung / Manaus, 1896: Eröffnung des Teatro Amazonas / New York, 1909: Inbetriebnahme der Manhattan Bridge / 1999 übergeben die USA die Panamakanalzone an Panama/ Taipeh, 2009: „Tapieh 101“, das zu dieser Zeit höchste Bürogebäude der Welt wird eröffnet / 2009: Stilllegung des litauischen Atomkraftwerks Ignalina.

 

Ich notierte:

1973: Nachmittag halb zwei wachen wir glücklich auf, und es dauert bis halb vier bis wir am Wohnungstisch sitzen und frühstücken. Dann erscheinen meine Eltern, die aber nicht lange bleiben, sondern nach Dürrenberg weiterfahren zum Feiern. Im Laufe des Abends setzen wir uns gegenseitig dann sogar Pappmützen auf, obwohl, ob das die „richtige“ Silvesterstimmung war, wage ich zu bezweifeln. Wir freuten uns einfach zusammen zu sein. Gegen halb zwölf nahm ich meine Gitarre und zog singend durch Haus und Garten. Zwölf Uhr – alles prostet sich zu, küsst sich, knallt herum m- wir gucken aus dem Fenster, sehen wie dem ABV, der gegenüber knallt, ein Böller in der Hand explodiert. Autsch. Wir grinsen, hören noch ein wenig Musik, blödeln herum. Jeanny beginnt, alles steril sauber zu machen. Ich trinke die Reste aus. Ein neues Jahr hat begonnen – und wieder scheint mal alles so, wie es immer schon war. Das Schlechte werden wir vergessen (hoffentlich) um uns das Gute zu bewahren (hoffentlich).

1977: Leipzig. Sonnabend. Gleich nach dem Aufstehen ging ich zum Regimentspolit um mir Klarheit über meine Kommandierung zu verschaffen. Er war sehr freundlich und schenkte mir ein Bierglas mit Regimentswappen – so was verschenkt er eigentlich nur ausscheidenden Ensemblemitgliedern am Tag der Entlassung, dann aber meist Wandteller. Und er sagte, dass sich an meinem Status nichts ändern soll, auch wenn ich nun drei Tage in seiner Polit-Arbeitsgruppe mitarbeite. Sinn und Zweck sei eine bessere Koordination des Ganzen. Wie das? Aber was blieb mir weiter, als mich dann überraschen zu lassen. Und irgendwie fühlte ich mich ein wenig erleichtert. Am Abend würde ich mit der Combo zur Regiments-Silvesterfeier spielen müssen, also ließ ich die anderen Comboleute freistellen, da wir angeblich schon den Saal einräumen müssten. Dort konnte ich mir dann das Lachen kaum verkneifen. Was für eine Dekoration! Vor der Bühne auf der wir spielen würden, stand ein Pappmaché-Panzerkreuzer-Aurora, schwarzgrau und riesig, flankiert von roten Fahnen und geschmückt mit der Losung: „Glückkurs ´78“ – wobei das „G“ immer wieder abfiel und neu angezwickt werden musste… Ich nutzte dann aber die Chance, in einem leeren Saal spielen zu können, improvisierte mit Dieter herzlich drauflos. Gegen vier trafen die Künstler fürs Abendprogramm ein, Singezähne vor allem, die wir zu begleiten hatten. Und dann rauschte als Stargast auch noch Frau Schneidenbach herein (mit großer weißer Pelzmütze), erwies sich aber als recht nett. Und der Regimentskommandeur spendierte uns eine halbe Flasche Weinbrand! Und im Laufe des Abends hatten dann plötzlich etliche Offiziere das Bedürfnis, uns einen auszugeben. Na, da kann  man auch schon mal für Stimmung sorgen! Und um Mitternacht stießen einige sogar auf unsere letzten Tage hier mit einem Glas Sekt an. Unglaublich. Gegen drei war endlich Schluss. Ich brachte Dieter, der mal wieder einen Sentimentalitätsanfall hatte, ins Bett und hastete zum Zug. Gegen fünf war ich glücklich zu Hause.

1982: Silvester durch einen Kanonenschlag zu erwachen, ist sicher nichts Außergewöhnliches. Da gibt’s ja stets welche, die’s nicht erwarten können… Aber in Leuna, nur wenige Meter von der Werksmauer weg, ist das ein ängstliches Erwachen, noch dazu am Letzten Tag eines Jahres voller Nachrüstungsdiskussionen und –drohungen…

1987: Auch der letzte Tag dieses verkorksten, mühseligen Jahres entspricht dem Jahresverlauf. Nach wie frühlingshafte Temperaturen – obwohl man Winter eingestellt ist… Das neue Jahr muss besser als das alte werden, also denn: Äußerlichkeiten überwinden, Selbstzweifel, Trägheit! Ja, Selbstvertrauen ist wohl das Wichtigste! – Immerhin: heute vor einem Jahr hockte ich noch in Uniform herum…

1989: Schwer zu sagen, ob die 70er – meine Musikantenjahre – oder die 80er – meine Schriftstellerlehrjahre – erfolgreicher waren. Es käme auf die Bewertungskriterien an. Und vielleicht ist „erfolgreich“ dabei auch nicht die richtige Zielsetzung, „sinnvoll“ wäre wohl treffender. Und so gesehen, brachten mir die 80er sicher eine Profilierung, die aber auch zur Isolierung führte. Ich brauche auf der einen Seite mehr Ruhe, auf der anderen neue Austauschmöglichkeiten. Und das bei Sicherung der finanziellen Lage: ein wahrhaft frommer Wunsch für die 90er. Oder?

1999: Ich versuche den „Übergang“ ins neue Jahrtausend so alltäglich wie nur möglich zu gestalten, will sagen: Weiterschreiben der Geschichte, Arbeit am Schülerbuch, Lesen über Ayschilos und Euripides. Ab Mittag beobachte ich im Fernsehen, wie auf Kiribati (wo eigens eine vorgelagerte Insel auf Millennium Island getauft wurde, um auch ja die ersten zu sein, wo das Jahr 2000 beginnt...), Tonga, Neuseeland, Sydney usw. (also einen halben Tag voraus) der Jahreswechsel gefeiert wird (und selbstredend: was dabei so passiert... – nichts weltbewegendes offenbar?). Überraschende Nachricht dazwischen: Russland Präsident Jelzin ist zurückgetreten. Andere, letzte Nachrichten dieses Jahrtausends: Russische Truppen dringen in die tschetschenische Hauptstadt Grosny vor, Ölpest in der Bretagne und am Bosporus, Beatle George Harrison niedergestochen... Wir ziehen uns am späten Nachmittag in unseren Partykeller zurück und dann kommen auch schon unsere Partygäste. Na denn, wohlan!

2000: Trübes Wetter, um Null Grad, an diesem letzten Tag des Jahres 2000, dem letzten Tag in diesem Tagebuch auch. Es bleibt dabei, ich lege mir dieses Korsett ab, will versuchen, wieder zu mehr Spontaneität zu kommen (was allerdings nicht ausschließt, dass ich weiter Tagebuch schreibe, dann aber Außergewöhnliches festhalte, Alltägliches ausspare). Und was ist sonst so geplant fürs erste Jahr des neuen Jahrtausends (denn rein rechnerisch ist dies ja wohl tatsächlich erst das Jahr 2001 – welch blasser Übergang jedoch im Vergleich zu vergangenem Silvester, zu den Millenniumspartys und –ängsten...!), also geplant sind die Urlaubsreisen: Rügen im Januar, London im April und im Juni mit Mine nach Lanzarote, was ihre erste Flugreise sein wird (meingott, mein erster Flug ging nach Ufa, da war ich 30...). Ge­plant habe ich natürlich meine Arbeit, hoffe, das sich da vieles realisieren und somit meine Stellung festigen lässt, denn ein bisschen würde ich schon ganz gern noch Bödecker-Geschäftsführer bleiben wollen (und nicht nur aus finanziellen Sicherheiten heraus), Jeanny hofft für ihren Job ebenso. Dann plane ich auch das Erscheinen des gemeinsam mit Jan geschriebenen Buches „Grenz-Übergänge“, hoffe, dass sich daraus mal wieder neue Möglichkeiten ergeben. Und ansonsten wie gesagt, hoffe ich auf spontan Bewegendes, im Positiven selbstredend, ausschließlich im Positiven hoffentlich. Für die Welt hoffe ich, dass der Konflikt im Nahen Osten nicht eskaliert, habe dabei aber (nicht zuletzt durch die eigenen Israel-Erfahrungen) keine so guten Hoffnungen. Ansonsten wäre es höchste Zeit, dass Politik sich von Selbstbeweihräucherung und Geschätzt endlich ab- und den allenthalben eskalierenden Weltproblemen zuwendet, denn Selbstheilungen sind allein fürs Klima nicht mehr zu erwarten...

2001: Sonst hatte ich mich stets bemüht, laufende Arbeiten noch im alten Jahr zu einem Ende zu bringen. Nun lasse ich etwas mitten im Text liegen – vielleicht um im neuen Jahr gleich gut starten zu können? vielleicht, da überall vom großem Abschluss zu lesen und zu hören ist: Die D-Mark geht, der Euro kommt…?

2002: Während es an Heiligabend jämmerlich regnete, hat es nun über Nacht wunderbar geschneit. So recht kommt bei mir dennoch keine Ruhe auf, da ich beim Versuch, die Computerfestplatte aufzuräumen, unersetzliche Daten löschte. Und ich glaubte doch schon, alles bestens geordnet zu haben…

2003: Angenommen, nur mal angenommen, ich hätte einen Duschzwang oder müsse, bevor ich aus dem Haus ginge, bis zu zwanzig Mal kontrollieren, ob auch alle Elektrogeräte abgeschaltet seien, so sollte ich mir (einer Zeitungsmeldung zufolge) keine Sorgen mehr um mein Nervenheil machen, widmete doch eine veritable Gesellschaft diesen Problemen jüngst einen mehrtägigen Kongress. Was aber, wenn ich workoholic wäre und arbeitslos würde, wie therapierte mich unsere klinische Gesellschaft wohl dann? Auf Rezept, ich meine, Arbeit auf Rezept? Gut, dass es derzeit political correct so viele Anlässe zum Saufen gibt. Prost Neujahr!

2020: Die heutige Statistik listet auf: Corona-Fälle weltweit: 82.663.945 (444.437 mehr seit gestern), Todesfälle weltweit: 1.804.138 (9.035 mehr seit gestern), Corona-Fälle in Deutschland: 1.741.153 (49.044 mehr seit gestern), Todesfälle in Deutschland: 33.230 (963 mehr seit gestern).

2021: Die aktuellen Corona-Zahlen: weltweit 287 Millionen Fälle, 5,45 Millionen Tote; in Deutschland: 7,15 Millionen Infektionen, 112.000 Verstorbene. Dazu ein Zitat von Stanislaw Lem: „Ein Verzicht auf Prognosen ist unmöglich, die Prognosen aber zeichnen sich durch große Unsicherheit aus.“ In diesem Sinne: auf ein Neues!

2022: Die letzte „Spiegel“-Ausgabe des Jahres 2002 tituliert unter: „Hatte Marx doch recht? - Warum der Kapitalismus nicht mehr funktioniert – und wie er sich erneuern lässt“. Schau an. Und antworten darf beispielsweise der junge japanische Philosoph Kohei Saito, der meint: „Aufzuhalten sei der Kollaps des Planeten nur noch durch ein postkapitalistisches System, in dem es kein Wachstum mehr gebe, die gesellschaftliche Produktion verlangsamt und der Wohlstand gezielt umverteilt werde.“ Hört hört! Vor 30 Jahren hatte ich mal gesagt, ich könne mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich in meinem kleinen Leben nochmals eine Wende erleben werde. Sind das nun erste Anzeichen?

 

Summa summarum

für

Alice Augusta Ball / Cəfər Cabbarlɪ / Nathalie Cole / Gustave Courbet / Ion Creangă / Miguel de Unamuno / Fritz Eckerle / Fritz Eckhardt / Swiad Gamsachurdia / Urbie Green / Waladenia Gutscher / Maximilian Herrfurth / Dore Hoyer / Ignatius Kilage / Aleksis Kivi / Christian Adolph Klotz / Irina Korschurow / Aleksi Matschawariani / Marshall McLuhan / Carl Joseph Millöcker / Ricky Nelson / Hanni Ossott / Anita Pointer / Magdalena Sibylla Rieger / Wayne Rogers / Arwed Roßbach / Günter Rössler / Arnold Ruge/ Ferdinand Springer / Brandon Teena / Peter Trunk / Marcel Tyberg / Raoul Walsh / Betty White / Yva

 

Da blieb unterm Strich ja wohl nicht mehr allzu viel:

1703: Erdbeben und Tsunami in der japanischen Präfektur Kanagawa, mehr als 10.000 Menschen sterben / 1917 läuft der britische Truppentransporte „Osmanien“ vor Alexandria auf eine Mine und sinkt, 199 Seeleute sterben / 1930 verbietet Papst Pius XI. jegliche Form von Empfängnisverhütung / Hamburg, 1969: Schließung des „Star-Club“ / 1991: offizielle Auflösung der Sowjetunion / 1992: Auflösung der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik / Wuhan, 2019: chinesische Behörden bestätigen erstmals das Auftreten von COVID-19-Virus