JÜRGEN JANKOFSKY

 

 

 

 

 

 

Kalendaricon JJ

APRIL - JUNI

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ja, es stimmt, fast immer machen wirweiter, was wir auch getan haben, was auch geschehen ist, ohne unser Eingreifen. Nichts hört jemals gan uaf, wenn das Leben lang ist, und mit jedem hinzugefügten Tag wird es länger, aus schierer Trägheit, bis es der Ewigkeit gleicht.

Javier Marías

 

 

 

1. APRIL

 

Ulk

mit

Jakob Adlhart / Alexander Aitken / Albert Anker / Karl Barth / Otto Eduard Leopold von Bismark / Léon Bollée / Ferruccio Busoni / Lon Chaney sen. / Dan Flavin / Sophie Germain / Nikolai Wassiljewitsch Gogol / Yılmaz Güney / William Harvey / Rolf Hochhuth / Rudolph Isley / Alexander Sergejewitsch Jakowlew / Milan Kundera / Renatus Gotthelf Löbel / Wangari Muta Maathai / Jacques Mayol / Willi Meinck / Joseph Edward Murray / Jeff Porcaro / Antoine-François Prévost / Ferenc Puskás / Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow / Debbie Reynolds / Edmond Eugène Alexis Rostand / Gil Scott-Heron / William James Sidis / Ingrid Steeger / Carl Sternheim / Takeuchi Yūko / Richard Horatio Edgar Wallace / John Wilmot / Richard Zsigmondy

 

Das machte uns Spaß:

München, 1792: Öffnung des Englischen Gartens für Publikum / Berlin, 1811: Arbeitsbeginn der ersten deutschen Kriminalpolizei / London, 1814: beleuchten erstmals Gaslaternen Straßen / Berlin, 1881: das erste deutsche Telefonnetz geht in Betrieb / 1920: Gründung der Deutschen Reichsbahn / Leuna, 1927: weltweit erste großtechnische Erzeugung von synthetischen Kraftstoff / 1955 beginnt auf Zypern ein Aufstand gegen die britische Besetzung / 1976: Gründung der Computerfirma Apple / 1999 tritt in Kanada der Nunavut Act in Kraft, Inuit erhalten ein autonomes Territorium / Niederlande, 2001: erste Trauungen für gleichgeschlechtliche Paare weltweit / 2002: tritt in den Niederlande weltweit das erste Gesetz zur Erlaubnis von Sterbehilfe in Kraft / 2024: teilweise Legalisierung von Cannabis in Deutschland.

 

Ich notierte:

1981: Ins Literaturinstitut nach Leipzig. Rothbauer spricht über Nick Adams „Die Killer“, meint, die Jungen ließen sich von solchen Texten noch emotionalisieren, während die Alten wissen, dass sich auch dort nur Scheinwelten auftun.

1982: Die Tage der Kinder- und Jugendliteratur der DDR stehen kurz bevor. Doch seltsam, der großen Aufregung als ich ins Org. Büro einstieg, ist einer fast schon stoischen Ruhe gewichen. Es läuft eben alles – irgendwie. Nun ist man nur noch Rädchen, das Getriebe drehen andere…

1983: Zurück vom Lehrgang für Kulturfunktionäre, Mischung aus bestätigten Notwendigkeiten und durchaus neuen Orientierungen. Aber auch Unsicherheit, alle diesen neuen Anforderungen auch gewachsen zu sein. In keiner Diskussion sagte ich ein Wort. Nun gut, dies war vielleicht auch den Herren Professoren und sonstigen Selbstdarstellern geschuldet. Und ich war wohl mit Abstand der Jüngste hier. Irgendwie potenzierte sich die Furcht, was falsch zu machen mit dem Gefühl, ständig beobachtet zu werden – aber auch das Gefühl, sich vorwärts zu bewegen, endlich einen brauchbaren Platz in diesem Leben zu finden und zu beziehen. Und zu Hause liegt der Verlagsvertrag für mein Kinderbuch in der Post. Endlich! Seltsamerweise will aber keine rechte Freude aufkommen, vielleicht auch, da ich darauf schon zu lange gewartet habe, oder da ich nach diesen Tag erschöpft bin oder auch, da mir nun ohne Hintertürchen klar ist: jetzt wird’s ernst, jetzt kriege ich meine Hausnummer verpasst!

1991: Auch tagsüber schon schläft mir zuweilen die Schreibhand ein. Verkalkung, Vergreisung, Infarkt...? Oder Folge nur zunehmender Aussparung von Kolumnen und Kritik zugunsten Werbung und Klatsch?

1999: Gründonnerstag. Büroalltag, so sehr der mit dem Ausstieg im Hinterkopf eben alltäglich sein kann... Um handlungsfähig für ein Angebot der Bosch-Stiftung für Honorararbeiten sein zu können, sage ich Achim die Israel-Schreibwerkstatt ab. Und wenn ich die Nachrichten diese Tages so höre - Rakete versehentlich auf bulgarischem Gebiet eingeschlagen, amerikanische Soldaten von jugoslawischer Armee gekidnappt... - wird wohl auch meine neuerliche Delegierung nach Plovdiv mehr und mehr fragwürdig...

2000: Obwohl es auch gestern (bzw. heute) wieder reichlich spät war, wieder früh auf. Konrad übernimmt heute meinen Firmenwagen, wir müssen die Versicherungen ummelden, und ich will mein neues Auto abholen. Aber erst mal erscheint Konrad nicht wie verabredet, ruft vielmehr aus Halle an, dass er vergessen habe, dass wir uns bei mir treffen wollten. Also hole ich ihn in Halle ab, erledige alles Formale und sitze schließlich gegen Mittag doch in meinem neuen Auto. Gefühl fast wie damals in Kanada als ich den Pontiac-Van als Mietwagen fuhr, denn auch unser neues Auto ist ein Van, nicht so ein riesiger Van, aber immerhin. Erste kleine Spritztour am Nachmittag. Am Abend versuche ich mich langsam wieder in den Alltag einzuarbeiten, Post, Emails etc., denn ab heute bin ich nun auch Bödecker-Geschäftsführer.

2011. Rüdesheim. Sammlerglück in der Drosselgasse: Basecapes aus Ländern, die ich bereiste, bevor ich anfing Basecapes in Landesfarben zu sammeln, und Basecapes aus Ländern, in denen ich trotz hartnäckigem Suchens nichts Derartiges zu entdecken vermochte. Wirklich wahr – darauf einen Asbach, Asbach uralt bitte! Und im Fernseher überm Tresen sehe ich Jungs in Libyen (wo ich noch nicht war und wo unsereins derzeit auch kaum hinkäme [da ’s dort derzeit pressiert], wo ich aber auch keinerlei Basecapes zu finden gewagt hätte), sehe ich im Fernseher also libysche Jungs mit prächtigen Capes in den alten libyschen Nationalfarben rebellieren. Unglaublich! Ja, woher deren Kalaschnikows und Stinger kamen, kann ich mir gut vorstellen. Doch diese nagelneuen rot-schwarz-grünen Kappen, samt weißem Halbmond und Stern? Nein, wirklich nicht. Und als ich den fliegenden Kappenhändler fragen will, handelt der plötzlich mit Brandenburgertor-, Hofbräuhaus- und Neuschwansteinstickern (oder ist das sein Bruder?). Oh Mann, mir schwant, hier verarscht zu werden…

2014: Breslau. Eingeladen von ’nem polnischen Kollegen, der sich nun im Quartalssuff allerdings partout nicht erinnern kann, dich eingeladen zu haben. Tja, da stehste im Regen in Schlesien (Tatsache: es beginnt auch noch zu regnen!), im Land Deiner Ahnen also, suchst ergo Schutz im Brauhaus Spiz und Bierchen für Bierchen allein nach Erklärungen (weiterführenden) und Trost.

2019: Selbst wenn Trump heute seine Rücktritt getwittert hätte, heute!, wäre das kaum jemanden glaubwürdig erschienen. Nein, noch immer nicht.

2022: Kein Aprilscherz: obwohl die Zahl der täglichen Corona-Neuinfektionen so hoch ist wie noch nie, werden bundesweit alle beschränkenden Maßnahmen abgeschafft. Es stehe aber jedem frei, weiter Maske zu tragen… Kapitulation von dem Virus? Und: Kapitulation vor Putin? Kapitulation vor all den sich weltweit immer schneller, immer schlimmer

2023: Trump muss vor Gericht erscheinen. Als erster ehemaliger US-Präsident! Und nun stimmte er dem sogar zu. Kein Fake! Unglaublich.

 

Untergang

für

Andreas Achenbach / Agape / Johann Agricola / Erik Bruhn / Jaxon Buell / Narcís Casanoves i Bertran / Leslie Cheung / Driss Chraïbri / Francisco de Peñalosa / Dimitar Dimow / Charles Richard Drew / Max Ernst / John Forsythe / Marvin Gaye / Martha Graham / Enrique Grau / Martin Greif / Johannes Grob / Thekla von Gumpert / Lin Huiyin / Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko / Scott Joplin / Harald Juhnke / Rudolf Kassner / Kim Jong-gil / Thomas Kling / Carl Krayl / Philipp Mainländer / Juan Bautista Maíno / Anton Semjonowitsch Makarenko / Ferenc Molnár / Rüdiger Nehberg / Carl Borromäus Neuner / Flann O’Brian / Ondraszek / Jules Émile Planchon / Detlev Karsten Rohwedder / Cosme San Martín / Karel Švenk / Takarai Kikaku / Johann von Uslar / Johann Vierdanck / Clivia Vorrath / Frederic „Freddie” Webster / Rozz Williams

 

An diesem Tage sahen wir Untergänge:

Merseburg, 1745: gibt es ein Hagelunwetter, „das schmiß in vielen Häußern der Stadt die Fenster ein. Es waren manche Schloßen allhier an der Größe denen Tauben-Eyern gleich“ / 1873: Untergang des Passagierdampfers „Atlantic“ vor Nova Scotia, 545 Menschen sterben / 1944 bombardieren US-Flugzeuge wohl versehentlich Schaffhausen in der Schweiz, 37 Tote / Hilo, Hawaii: bei einem Tsunami kommen 159 Menschen ums Leben.

 

2. APRIL

 

Kommentar

mit

Bade Ghulan Ali Khan / Hans Christian Andersen / Roberto Godofredo Arlt / August Bohse / Giacomo Casanova / Klaus Ender / Max Ernst / Klaus Fischer / Serge Gainsbourg / Marvin Gaye / Nikolaus Dietrich Giseke / Johann Wilhelm Ludwig Gleim / Max Greger / Alec Guinness / Mike Hailwood / Edgar Hilsenrath / August Heinrich Hoffmann von Fallersleben / Karl der Große / Eleonore Koch / Györgi Konrád / Hans Leybold / Booker Little Jr. / Kurt Löwengard / Oleg Lundstrem / Catherine Macaulay / Maria Sybilla Merian / Wilhelmine Reichard / Iris von Roten / Leon Russell / Eugen Sandow / Jakiw Hryhorowytsch Sawtschenko / Werner Stötzer / Agnes Josephine Strab / Tizian Tabidse / Walerian Wróbel / Émile Zola

 

Das kommentierten wir gern:

568: Invasion der Langobarden in Norditalien, Ende der Völkerwanderungszeit / Leith, Schottland: erstes offizielles Golfturnier / 1792 wird der US-Dollar eingeführt / 1814 erklärt der französische Senat Napoleon für abgesetzt / 1842: Gründung des New Yorker Philharmonie Orchesters / Leipzig, 1843: Felix Mendelssohn Bartholdy gründet das „Conservatorium der Musik“ / 1889: US-Patenterteilung zur Gewinnung von reinem Aluminium / 1905 durchfährt erstmals ein Personenzug den Simplon-Tunnel, damals der längste Eisenbahntunnel der Welt / Sihanoukville, 1960: Inbetriebnahme des Hochseehafens / 1979 verbietet die EU Vogelfallen jeglicher Art.

 

Ich notierte:

1974: Nach der Arbeit zu den Schwiegereltern, ein bisschen schwatzen, dann mit der Straßenbahn weiter nach Merseburg ins Krankenhaus zu Jeanny. Freudige Botschaft: sie wird morgen entlassen! Kurz vor sieben kann ich sie abholen. Und dann bekomme ich endlich auch Cathrin zu sehen! Jeanny sagt, dass das Krankenhaus sie langsam zu nerven beginne. Ich verabschiede mich zum letzten Mal in diesen hallenden, sterilweißen Korridoren von ihr und fahre zur TH, zum Renft-Konzert. Die anderen sind schon alle da, aber die Band lässt auf sich warten. Und was die dann mit einer halben Stunde Verspätung ablässt, spottet jeder Beschreibung. Obwohl Renft prinzipiell nicht den besten Leumund hat, hätten wir solche einen brüllend lauten, verstimmten Lärm nicht erwatetet. Das ist ja grauenvoll! Ich muss mir schließlich die Ohren zuhalten. So ein Mist aber auch. Zudem waren die Kerle total besoffen. Furchtbar. Frechheit.

1979: Heute sitzt mir in Deuben Herr Z. gegenüber, nachdem ich immer und immer wieder gebeten hatte, dass ich für die Erarbeitung Auftragswerks meines Auftragswerks (Musik und Text!) für die Gedenkstätte Pirkau mit einem Zeitzeugen sprechen möchte, der mir etwas aus dem Alltag jenes Zwangsarbeiterlagers erzählen kann. Etliche Anläufe hatte es schon gegeben, dann hatte die Leute aber kurzfristig ab- oder erst gar nicht zugesagt, heute nun also ein erstes Gespräch. Doch alles gestaltet sich sehr zäh, Herr Z.: graue, strähnige Haare, eingefallenes, verrunzeltes Gesicht, müde Augen, die Unterlippe geschwollen, weicht ständig aus, wirkt äußerst misstrauisch. Auf meine Frage, ob ich den mitgeschleppten Recorder einschalten, unser Gespräch mitschneiden dürfe, brummte er etwas wie: „Frau will nicht… nee, keine Öffentlichkeit…“ Gut, ich akzeptiere, packe den Recorder wieder ein. Aber so richtig komme ich dennoch nicht voran. Nun beteuert er ewig, dass er stets gut zu den Russen gewesen sei. Das glaube ich ihm, denn sonst wäre mir wohl kaum als Gesprächspartner vermittelt worden. Und das, was er manchmal andeutet, sind bestenfalls kleine Puzzelteile, die ich mir irgendwie selbst zusammensetzen muss. Dann aber erzählt er doch noch etwas „ganz unter uns“: … manche Frauen aus dem Dorf – die kenne er heute noch! – brachten den Zwangsarbeitern zur Nachtschicht Brot…und dann…! Er schiebt den rechten Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger und lacht. Sein Gesichtgrau wird leicht rosa und ich sehe einen Goldzahn blinken. Mimikry?

1980: Gestern Nachmittag die letzen Mugge unserer ČSSR-Tournee: Nový Smokovec. Kleiner Saal, danach die offizielle Verabschiedung. Heute Morgen Abfahrt. Wir kommen gut voran, obwohl das Wetter schlecht ist. Regen und Sturm. Aber dann reißt der Keilriemen unseres Busses. Aus? Nein, wir stehen genau vor einer Tankstelle und man kann uns helfen, zumindest provisorisch. Nach Hause sollten wir kommen, der geplante Abstecher nach Prag muss aber ins Wasser fallen, zu riskant. Wir übernachten in Caslav.

1985 scheint für mich das Jahr der makabren, obskuren Situationen zu sein. Nachdem ich vorige Woche bei den Tagen der Kinder- und Jugendliteratur in Cottbus saß und ich ständig von allen möglichen Leuten hörte, ich bekam den diesjährigen Preis für Kinderliteratur, den Sally-Bleistift-Preis, bekam ich den dann doch nicht. Zum ersten Mal, seitdem es den gibt, wurde er in einem Jahr nicht verliehen! Wer arbeitet da gegen mich, verdammt! In Burgkemnitz beim üblichen Lehrgang erfahre ich nun heute, dass Klaus Schumann definitiv zum Rat des Bezirkes zurückgeht und – dass ich das Literaturzentrum leiten muss (zumindest bis zum Sommer, amtierend…). Gerade jetzt, da ich schreiben, schreiben, schreiben müsste, um mich zu profilieren, werde ich also zu organisieren haben, dass geschrieben, geschrieben, geschrieben werden kann. Was ist das nur für eine Nachwuchspolitik! Was will man von mir? Warum soll ich offenbar den Sprung zum Autor nicht schaffen?

1986: Neubrandenburg, Tage der Kinder- und Jugendliteratur. Mal sehen, inwieweit ich mittlerweile beim Kinderbuchverlag in Ungnade fiel…

1999: Zwischen Erwachen und Aufstehen die Idee, einen Text über einen Mann zu schreiben, der eines Morgens der Meinung ist, eigentlich kein Mensch, sondern ein Frosch zu sein. Und da Gesetzlichkeit und Medizin es mittlerweile erlauben, lässt er sich nach und nach in einen Frosch umwandeln, Maul, Haut, Flossen. Doch als er endlich äußerlich seinem Wunschbilde entsprach und so ins Wasser ging, musste er feststellen, dass er nie schwimmen gelernt hatte...

2001: Montag, herrlicher Sonnenschein, erstmals in diesem Jahr sitze ich mit Jeanny zum Kaffeetrinken im Garten. Unglaublich, dass ich noch genau vor einer Woche fast nicht zu Lesungen nach Oschersleben gekommen wäre, da hier nochmals der Winter eingebrochen war. Bis dahin hatte ich schon geargwöhnt, dass womöglich alles in letzter Zeit recht glatt lief – zu glatt? Nach einem Kälteeinbruch wirkt Sonnenschein jedoch mindestens doppelt belebend.

2021: Karfreitag. In der Nacht habe ich mal wieder einen Text geträumt – das Porträt eines zu früh Verstorbenen: das Porträt des jüdischen Jazzmusikers Sauerteig, der wie seine Schwester – die als Malerin für ihre Kreuzigungsgruppe berühmt war – im KZ umgebracht wurde, und über den nun der hiesige  Stadtrat anlässlich einer Straßenumbenennung endlos streitet, ob denn ihr „Teig“ aufgegangen sei…

2024: Mit träumte, ich sei eingeladen, um über Möglichkeiten der Transformation unserer Region mit künstlerisch-literarischen Mitteln zu diskutieren. Gestern hätte ich's vielleicht geglaubt.

 

Klagegedicht

für

Sabahattin Ali / Theodor Althaus / Taos Amrouche / Gato Barbieri / Maxim Sosontowitsch Beresowski / Siegfried Bernfeld / Nathan Birnbaum / Victor Blüthgen / Maryse Condé / Paul Fleming / Cecil Scott Forester / Recha Freier / Giovanni Battista Gaulli / Carl Göring / William Heffelfinger / Paul Heyse / Johann Heinrich Jung-Stilling / Liang Siyong / Niki List / Otto von Loeben / Winnie Madikizela-Mandela / Mirabeau / Samuel Finley Breese Morse / Clara Nunes / Buddy Rich / Hermann Rorschach / Bud Shank / John Sinclair / Carl Gottlieb Weisser / Urs Widmer

 

Da waren uns Klagen schmerzhaft präsent:

1943 torpediert ein deutsches U-Boot vor den Bermudas das Passagierschiff „Melbourne Star“, 114 Menschen ertrinken / Swerdlowsk, 1979: aus einer Fabrik für biologische Waffen entwichen Milzbrand-Sporen / 100 Tote / 1982 beginnt der Falkland-Krieg zwischen Argentinien und Großbritannien / 1991: Ausbruch des philippinischen Vulkans Pinatubo, mindestens 875 Todesopfer / Salomonen, 2007: Tsunami, 43 Menschen kommen ums Leben / 2024, Istanbul: Brand in einem Nachtclub, 29 Tote..

 

3. APRIL

 

Improvisation

mit

Vincent Adler / Mathilde Franziska Anneke / John Banim / Gerhard Behrendt / Marlon Brando / Doris Day / Jean-François Delacroix / Richard Fall / Eva Forest / Virgil Ivan „Gus” Grissom / George Herbert / Peter Huchel / Leslie Howard / Washington Irving / Helmut Kohl / Scott LaFaro / Richard Manuel / Jimmy McGriff / James „Bubber“ Miley / Criss Oliva / Hans Paasche / Joachim Ritter / Henry van de Velde / Otto Weininger / Franz Carl (F. C.) Weiskopf / Francesca Woodman

 

Da  improvisierten wir inspiriert weiter:

1865 erobern Truppen der US-Nordstaaten Richmond, Virginia, die Hauptstadt der aufständischen Südstaaten / 1885 erhält Gottlieb Daimler das Patent für seinen Standuhr-Motor mit dem das erste Motorrad mit Benzin-Motor angetrieben wird / 1897: Gründung der Wiener Sezession durch Gustav Klimt und anderen Künstlern / 1919 schafft Österreich den Adel ab / 1948 wird der Marshall-Plan zum Wiederaufbau Westeuropas unterzeichnet / Jejou, Südkorea. Ein Aufstand bricht los, bei dem bis Mai etwa 30.000 Menschen ums Leben kommen / 1966 umkreis die sowjetische Raumsonde Luna 10 den Mond / 1973 zückt ein Schiedsrichter in der Fußball-Bundesliga erstmal eine Rote Karte / 1973 kommt in New York erstmals ein Mobil-Telefon zum Einsatz / Paris, 1976: erste Verleihung des französischen Filmpreises „César“.

 

Ich notierte:

1974: Mit schwerem Kopf und leichten Füßen laufe ich zum Krankenhaus – die Treppen zur Wochenstation hoch und klopfen – schon kommt Jeanny heraus – ohne unsere Tochter. Wir warten. Endlich geht die Tür auf und eine Schwester bringt einen Riesenkissenbausch. – „Cathrin Klepzig?“ – Schon habe ich den Bausch im Arm – meine Tochter! Ohne sie auch nun einmal aus den Augen zu lassen trage ich sie zum Taxi. Und die ganze Fahrt über betrachte ich meine Tochter – Cathrin. Ja, ich weiß, sie sieht mich nicht, hält zudem die Augen schläfrig geschlossen. Doch wer weiß, vielleicht freute sie sich ja auch auf mich? Was würde sie sagen, wenn sie schon reden könnte? Und was wird sie sagen, wenn sie’s kann? In Leuna dreht sich dann natürlich alles um Cathrin. Ich schaue zu, wie sie gewindelt und gewaschen wird, wie sie trinkt und wie sie schreit. Meine Tochter.

Nachmittag legt sich Jeanny hin und ich fahre mit Cathrin spazieren, treffe diesen, treffe jenen, höre, dass ich reichlich stolz den Kinderwagen schöbe. Klar. Ein neuer Janko. Nur heute? Dann schiebe ich den Kinderwagen in den Garten. Mutter holt die Sonnenstühle und wir genießen die Sonne. Doch länge währt die Ruhe nicht. Der Besuchersturm setzt ein. Evi, meine Eltern. Doch irgendwie bin ich nicht so recht bereit zu teilen, bin froh, als alle wieder abziehen. Cathrin schreit nach der Brust, jetzt und auch in der Nacht. Es stört mich nicht, es war unser erster gemeinsamer Tag.

1987: Zurück von den Tagen der Kinder- und Jugendliteratur aus Schwerin, liegt ein Telegramm mit einer Einladung zu den Tagen der Kinder- und Jugendliteratur Bulgariens im Briefkasten. Nun wird’s interessant: wird mich Kuhbach, mein großer Vorgesetzter im Rat des Bezirkes, fahren lassen? Denn in punkto Vorbreitung der Tage der Gegenwartsliteratur, die ich im Bezirk Halle organisieren soll, gibt’s doch einige – vor allem durch Zeitverzug (durch meinen Reservedienst) bedingte – Schwierigkeiten (die man schon immer versuchte, mir zuzuschieben, System Sündenbock…), mal sehen also.

2000: Montag und somit erster richtiger Arbeitstag als Bödecker-Geschäftsführer. Das geht gleich ab 7.30 mit heftigem Telefonieren los, geht dann in einen Termin beim Arbeitsamt über, um eine Vereinsn-ABM voranzubringen (die eigentlich auch heute hätte losgehen sollen, nun aber ab 1.5. bewilligt werden soll), geht dann in diverse Termine, einem nochmaligen Besuch im Arbeitsamt (da alles auf neue Formulare geschrieben werden muss) und Vorbereitungen auf die morgige erste Dienstberatung mit den Mitarbeitern über. Dabei ist ein herrlicher Sonnentag, Temperaturen über 20°C. Am Abend dann noch zu einer Ausstellungseröffnung in die Merseburger Kreissparkasse. Und danach am Computer Entwerfen für Einladungen für nächste Bödecker-Aktivitäten...

2023: Monta.g In der Presse: Am 1.-April-Wochenende übernahm Russland turnusmäßig dem Vorsitz im UN-Sicherheitsrat. Kein Joke – was für ein Widersinn!

 

Ritardando

für

Richard Wilhelm Heinrich Abegg / René Altmann/ Johannes Brahms / Franz Berwald / Joseph Medicine Crow / Henriette Davidis / Melchior de Hondecoeter / Heinz Drache / Gustave Flourens / Wayne Frost / Anna von Gierke / Paul Gilson / Graham Greene / Ernő Grünbaum / Johann Anton von Güldenstädt / Lars Gustafson / Jakob Haringer / John Harrison / Martha Hoepffner / Karl Hofer / Omar Kingsley / Theodor Kramer / Lill-Babs / Otto von Loeben / Alexandre Mnouchkine / Bartolomé Esteban Murillo / Jizchok Leib Perez / Nadežda Petrović / Arno Philippsthal / Isaac Rosenberg / James Clark Ross / Calvin Russell / Samuel Scheidt / Carl Cowen Schirm / Erik Johan Stagnelius / Kasia von Szadurska / Edwin Starr / Frank Tovey / Vera Tschechova / Sarah Vaughan / Conrad Veidt / Wolf Vostell / Kurt Julian Weill

 

An diesem Tage wurde uns alles langsamer:

1661 erhält vom englischen König die englische Ostindien-Kompanie die Zivilgerichtsbarkeit und Militärgewalt in Indien / Halifax, 1884, beim Einfahrt in den Hafen sinkt das Passagierschiff „Daniel Steinmann“ im Sturm, 121 Tote / 1922 wird Stalin Generalsekretär des ZK der KPdSU / 1940 beginnt das Massaker von Katyn durch Truppen des NKWD, bei dem etwa 20.000 polnische Offiziere und Intellektuelle ums Leben kommen / Heesen, Westfalen, 1944: Schlagwetterexplosion in der Zeche „Sachsen“, 169 Tote / 1974 wüten in 13 US-Bundesstaaten 148 Tornados, 315 Todesopfer / 2022: beim Massaker im ukrainischen

Butscha sterben mindestens 400 Einwohner / Taiwan, 2024: Erdbeben, mindestens 10 Tote.

 

 

4. APRIL

 

Begeisterung

mit

Alexander Nikolajewitsch Afinogenow / Maya Angelou / Bettina von Arnim / Heinrich Band / Bruno Beye / Barthélemy Boganda / Junior Braithwaite / Caracalla / Mkrtitsch Chrimjan / Maurice de Vlaminck / Marguerite Duras / Grinling Gibbons / Leone Ginzburg / Werner Gutjahr / Bill Hardman / John Hughlings Jackson / Lautréamont / Heath Andrew Ledger / Albert Lindner / Hugh Masekela / Robert Helmer MacArthur / Mistinguett / Mazzino Montinari / Gary Moore / Rabbi Nachman / Berry Oakley / Abraham Ortelius / Anthony Perkins / Arturo Prat / Emil Alphons Rheinhardt / Jermo Ribbers / Marin Sanudo / Gaspar Sanz / Edith Irene Södergran / Christian Heinrich Spieß / Stephen John Seymour Storace / Andrej Arsenjewitsch Tarkowski / Georgios Trapezuntios / Peter Taufwalder / Muddy Waters / Stanley Grauman Weinbaum

 

An diesem Tage waren wir schlichtweg begeistert:

Merseburg, 1404: muss der verschwendungssüchtige Bischof Otto von Honstein dem Merseburger Domkapitel schwören, nicht auch noch das bischöfliche Tafelsilber zu verhökern / Basel, 1460: Gründung der ältesten Universität der Schweiz / 1860 bricht in Sizilien ein Volksaufstand los / Barcelona, 1867: Eröffnung des Gran Teatre de Liceu / 1884 schließen Bolivien und Chile einen Waffenstillstand im Salpeterkrieg / 1896 erscheint erstmals der „Simplicissimus“ / 1945 wird Nordhausen bei einem britischen Bombenangriff zu drei Vierteln zerstört, über 8.000 Einwohner sterben / 1945 Gründung der Dritten Tschechoslowakische Republik / London, 1958: Start des ersten Ostermarsches, des „Aldermaston Marches“ / New York, 1973: Einweihung des World Trade Centers / Albuquerque, 1975: Bill Gates gründet Microsoft / Oviedo, 1997: Unterzeichnung des Übereinkommens über Menschrechte und Biomedizin, der Bioethikkonvention / 2002: Ende des Bürgerkrieges in Angola / Haiti, 2003: Anerkennung von Voodoo als Religion.

 

Ich notierte:

1974: Die Nacht war kurz, doch stehe ich gutgelaunt auf. Die Arbeit kennt heute nur ein Ziel: den Feierabend, um wieder mit Frau und Tochter zusammensein zu können. Im Amselweg-Häuschen hält mir Jeannys Mutter einen Schlüsselbund entgegen (dank ihrer Rathausbeziehungen wohl, sie lächelt…): wir können uns eine Wohnung ansehen! Mit Cathrin ziehen wir, Mutter, Jeanny, Emil und ich, nach Daspig, sehen uns die Wohnung an und sind überrascht. Eine Bruchbude haben wir erwartet und finden eine recht passable Wohnung vor. Keine Frage, die nehmen wir, das wird unsere Wohnung! Mutter und Jeanny laufen mit Cathrin im Wagen zurück, Emil und ich fahren zur Probe. Doch so recht verspüre ich keine Lust, möchte lieber Einrichtungspläne mit Jeanny schmieden.

1983: Am Morgen zeigt mir Cathi so etwas wie ein Tagebuch, das sie geschrieben hat und mir wohl signalisieren soll, dass ich mich mehr um sie kümmern muss: „Leuna, 1.4.1983 – am 28. März hate ich meinen Geburtstag. Dettel und Sabine wollten kommen. Oma und Opa waren da auch der andere Opa. Wir haben 3 Torten 1 Montkuchen. Ich habe bekomen Schwimmbeken und Klorbrile.“

1985: Gründonnerstag: Auch das Wetter schlägt mal wieder unglaubliche Kapriolen. Vor einer Woche lag noch Schnee, heute zeigte das Thermometer mittags um die 30°C. Wie soll man damit zurechtkommen?

1997: „Sagenhaft!“ rief Jeanny. Ich musste allerdings erst meine Brille holen, um zu bemerken, dass da am Aprilhimmel etwas Besonderes war - und das Fernglas, um ihn tatsächlich als solchen zu erkennen, Hale Bopp, diesen Kometen. Der einer Sekte jüngst Anlass zu kollektiven Selbstmord war und den auch die Medien nun spektakulär nutzen. (Geschickt platziert beispielsweise  die Nachricht, dass man in Cleveland erstmals künstlich menschliche Erbanlagen erzeugte, und wir somit genetisch veränderbar werden, so oder so.) Für mich ist er schlicht der erste Komet, den ich sah in meinem Leben, dieser milchige Lichtklecks dort oben, in natura wirklich der allererste. So rechne ich schließlich nach, wann er zuletzt Menschen vor die Augen gekommen war: 383 v. Chr. – da begann Archimedes zu denken und die Gallier hatten soeben Rom zerstört. Und nächstens wird mein Freund im Jahre 4377 zwischen den Sternen schweifen. Ob dann allerdings noch Ferngläser oder Brillen helfen, und sich Scharfsichtige wie meine Frau wundern können? Wer weiß.

2000: Um 6 Uhr auf nach Möser, wo ich gegen 8 Uhr eintreffe, Übergabe der Bödecker-Geschäftsführung durch die alte Geschäftsfüherin, alles mehr verwirrend, denn klärend. Dann weiter nach Magdeburg ins Kultusministerium, wo ich der zuständigen Referentin den Antrittsbesuch abstatte und zugleich das durch Mittelkürzungen und nicht bewilligte Projektförderung am meisten gefährdete Projekt, die Interlese, zu retten versuche. Scheint aber recht aussichtslos. Da werde ich also gleich mit einem Krisenmanagement zu beginnen haben. Endlich gegen 18.00 Uhr wieder zu Hause. Die letzten angenehmen Sonnenstrahlen im Garten genießen, langsam entkrampfen, ein bisschen mit Mine spielen, auf andere Gedanken kommen. Denn nach diesem ersten „richtigen“ Arbeitstag habe ich doch wieder ein sehr ungutes Gefühl, irgendwie ein sinkendes Schiff als Kapitän übernommen zu haben. Aber vielleicht ist alles auch nur ein normales „Schwimmen“, da mir noch unendlich viele Detailinformationen fehlen, ich somit nicht mal schon reagieren, geschweige denn agieren kann.

2021: Ostersonntag. Ich entdecke eine Musik jenseits ausgehörter Muster: Georgi Mikadze „Georgian Mikrojazz“. Großartig!

2022: Durch mit „Seins Fiktionen“, fast 2.500 Seiten. Nun bis zur Drucklegung also nur noch aktuelle Ergänzungen.

2024: Heute erschien in der Mittelduetschen Zeitung eine neue Babelei, Spott über Treibgut, das sich seit Monaten an der Merseburger Neumarktbrücke staut, und worauf nun sogar schon Enten brüten. Mittag schickte mir jemand ein Foto von der Beseitigung des Abfalls. Nun sage einer, Literatur bewirke nichts (mehr) ...

 

 

Bitternis

für

Oleg Konstantinowitsch Antonow / Luis Eduardo Aute / Zulfikar Ali Bhutto / Carl Friedrich Benz / John Peale Bishop / Jan Böhm / Jean Burger / Christoph Cellarius / Max Frisch / David Hirschel Fraenkel / Izzat Ghazzawi / Oliver Goldsmith / Zénobe Gramme / Martin Luther King / Ludovic Lamothe / Karl Mauch / Francisco Marto / Constantin Meunier / Prentice Mulford / Anja Niedringhaus / Wilhelm Ostwald / Thomas Otway / George Pastell / Klaus Rifbjerg / Fernando José Salgueiro Maia / Maria Sebaldt / Alexander Nikolajewitsch Skrjabin / Kabir Stori / Gloria Swanson / Hans David Tobar / Jürgen Thorwald / Hildegard Wegscheider / Barry Eugene White /Robert V. Wynne

 

Da übermannte uns eine anhaltende Bitternis:

1905: Erdbeben im indischen Kangra, 19.000 Totesopfer / 1906 bricht der Vesus aus, über 100 Menschen kommen ums Leben / 1917 torpediert ein deutsches U-Boot bei Cap d’Antibes den Passagierdampfer „City of Paris“, 122 Tote / 1949: Gründung der NATO / Saigon, 1975 kommen beim Absturz einer Lockheed C-5A 172 Insassen, vietnamesische Kinder zumeist / 1998 sterben im Südwesten des Iran 120 Menschen durch einen Erdrutsch / 2021 sterben in Indonesien und Osttimor mehr als 200 Menschen bei Überschwemmungen infolge eines Zyklons.

 

 

5. APRIL

 

Ayurveda

mit

Curt Bois / Hugo Claus / Bette Davis / Franz Eckert / Ernst Engelberg / Jean-Honoré Fragonard / Anne Geelhaar / Chaim Grade / Vítěslav Hálek / Thomas Hobbes / Tobias Hübner / Herbert von Karajan / Jimmy Kinnon / Markus Kronthaler / Adrienne Lecouvreur / Stan Levey / Ernest Mandel / Mestre Pastinha / Philipp Müller / Nicolino / Gregory Peck / Franz Pforr / Judith Arlene „Judy“ Resnik / Matthias Jacob Schleiden / Ruth Smith-Nielsen / K. R. H. Sonderburg / Louis Spohr / Crispian St. Peters / Algernon Charles Swinburne / Spencer Tracy / Endres Tucher / Vincenzo Viviani / Booker T. Washington / Elihu Yale

 

Da fühlten wir uns wie zur Kur:

1242: Niederlage des Deutschen Ordens in der Schlacht auf dem Peipussee, Ende der deutschen Ostexpansion / 1722 entdeckt Jakob Roggeveen die Osterinsel / 1818: Niederlage der Spanier in der Schlacht von Maipú, Ende der spanischen Herrschaft in Chile.

 

Ich notierte:

1999: NATO verschärft Luftangriffe auf Jugoslawien - Flüchtlingsstrom aus dem Kosovo nimmt zu - Israelische Artillerie beschießt Dörfer im Südlibanon - USA bombardieren Irak - Blutige Unruhe in Indonesien... Dies nur eine kleine Auswahl der Nachrichten dieses Ostermontags... Und in den Nachrichten erfährt man ja längst nicht alles, was auf dieser Welt passiert...

2006: Als ich mit Jeanny über Urlaubsziele für 2006 sprach waren wir uns schnell einig, dass es mal wieder weit weg gehen sollte, wir mal wieder die Größe der Welt spüren wollten, mussten. Verdammt klein schienen unsere alltäglichen Möglichkeiten geworden zu sein. Die Tochter aus unerfindlichen Gründen im Streit ausgezogen, so wächst unsere Enkelin seitdem nicht mehr mit uns auf. Damit ist auch nach zwei Jahren nur schwer umzugehen, sehr schwer. Und keine Lösung in Sicht. Reisekataloge durchblätternd wurde uns jedoch klar, dass einige Ziele von vornherein ausschieden: zu teuer oder denkbare Termine kollidierten mit Angeboten und klimatischen Bedingungen, zudem erschien manches geopolitisch zu riskant. Dann las ich in einem Artikel einen Satz des chilenischen Autos Jorge Edwards: „Chile ist zu lang, zu schmal und viel zu weit weg.“ – viel zu weit weg – da hatten wir doch schon mal die Richtung. Zugegeben - vor Jahren hatte ich schon mal mit der Osterinsel geliebäugelt, das allerdings fallen lassen, da es viel zu kompliziert war, dorthin zu kommen und unerschwinglich obendrein. Umso erstaunter war ich nun, im Katalog eines neuen, kleinen Reiseveranstalters eine Kombination „Santiago de Chile – Osterinsel“ zu finden. Erstmal im Angebot und erstaunlich günstig und der erstmögliche Termin war – genau: über Ostern! Keine Frage, dass wir sofort buchten.

2014: Gut ein halbes Jahr nachdem ich mit meinem Freund Axel aus der Ukraine zurückkam, schrieb ich heute: Mittlerweile wurde auf dem Maidan (einmal mehr) Weltgeschichte geschrieben. Nachdem der ukrainische Präsident Janukowitsch Ende November ein Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnete (da er offenkundig von Putin unter Druck gesetzt worden war), verbarrikadierten sich auf dem Maidan bis in den Februar Tausende für die Westorientierung des Landes, gab es sogar Tote, bis Janukowitsch endlich aufgab und floh. Danach fiel die Ukraine zusehends ins Chaos, brach peu á peu auseinander, wurde selbst ein Klitschko als Präsident gehandelt, annektierte Russland die Krim, wird nun seit Wochen in der Ostukraine gekämpft, gab es vorgestern sogar in Odessa Tote. Glatt verläuft dort also gar nichts mehr, ein deutscher Oberst, Namensvetter meines Freundes Axel, war in einer ostukrainischen Stadt wie weitere OSZE-Beobachter bis gestern Geisel der Separatisten. Keine Ahnung, wohin das noch führt, Sensationsreporter faseln ja längst vom Dritten Weltkrieg. Doch warum hatten Axel und ich absolut nicht gespürt, dass sich in der Ukraine etwas zusammenbraut, noch dazu diesen Ausmaßes? Waren wir blind, taub, zu sehr mit uns selbst beschäftigt? Oder wurden zur Zeit unserer Reise erst die Drehbücher geschrieben, die Strippen gezogen? Außerhalb der Ukraine? Im Westen wie im Osten? Qui bono? Ich bin unsicher, reichlich unsicher, ahne, dass wir auf unserer Alte-Männer-Reise keineswegs nur museale Zeugnisse des Kalten Krieges zu sehen bekamen, dass wir tatsächlich an diversen Hotspots vorbeikamen, befürchte, dass alsbald Transnistrien in diese Szenerie gerät…

2015: Ob grausigen Wetters durchstöbere ich Schubladen und finde Manuskripte, uralte, eigene Texte, als hätte ich die mir einst selbst versteckt. Und da sich das Wetter nicht bessert und das Fernsehen nur Horror bietet, lese ich endlich sogar darin und entdecke zwischen Unausgebrütetem durchaus Wiederbelebbares. Das scanne ich und speichere es sorgfältig in einer neu installierten Computerschublade ab.

 

Nirvana

für

Elsa Asenijeff / Saul Bellow / Moïse Bercovici-Erco / Margaret Burbidge / Jean Cavaillès / Kurt Donald Cobain / Georges Jacques Danton / Jean-François Delacroix / Benoît Camille Desmoulins / Johann Bernhard Fischer von Erlach / Wsewolod Maichailowitsch Garschin / Allen Ginsberg / Georg Joachim Göschen / Marie-Jean Hérault de Séchelles / George Herbert / Charlton Heston / Richard W. Higgins / Howard Hughes / Allan Kaprow / Jan Matthys / Peter Matthiessen / Barney McKenna / Ramabai Donge Medhavi / Daniel Gottlieb Messerschmidt / Pierre Philippeaux / Gene Pitney / Cozy Powell / Karel Purkyně / Paul Ritter / Alma Rosé / Peter Sodann / Layne Thomas Staley / Emil Stumpp / Cecil Taylor / Ilarie Voronca / Johann Georg Wille / Edward Young

 

An diesem Tage meinten wir, alles Irdische zu verlassen:

1815: Beginn eines 14 Tage andauernden Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora, der etwa 100.000 Menschenleben fordert und in Europa zu einem „vulkanischen Winter“ führt / 1879: Beginn des Salpeterkrieges zwischen Bolivien, Chile und Peru / Glasgow, 1902: Zusammenbruch einer Tribüne bei einem Fußballspiel, 25 Tote / Berlin, 1986: lybischer Terroranschlag auf die Diskothek „LaBelle“, 3 Tote / 1992. Beginn der 1.425 Tage andauernden Belagerung Sarajevos durch die jugoslawische Volksarmee.

 

6. APRIL

 

Bebilderung

mit

Werner Willy Oskar Abel / Daniel „Dan“ Andersson / Aaron Bernstein / Leonora Carrington / Nicolas Chamfort / Helga Deen / Edisson Wassiljewitsch Denissow / Fritz Erpenbeck / Vince Flynn / Anton Herman Gerard „Anthony“ Fokker / Jiří Frejka / Günter Herburger /Jeanne Hébuterne / Alexander Iwanowitsch Herzen / Big Walter Horton / Ingo Insterburg / Maria Jankofsky / Wilhelm Junker / Voramai Kabilsingh / Tadeusz Kantor / Johann Kuhnau / James Mill / Erich Kurt Mühsam / Gerry Mulligan / Wano Muradeli / Nadar / Anita Pallenberg / Pasquale Paoli / André Previn / Raffael / Carlos Rasch / Charlie Rouse / Jean-Baptiste Rousseau / Levon Schant / Art Taylor / Kabir Stori / John William Waterhouse

 

An diesem Tage sahen wir manches hoffnungsvoll ins Bild gesetzt:

1320 erklärt Schottland seine Unabhängigkeit von England, die Declation of Arbroath gilt als erste formelle Unabhängigkeitserklärung der Weltgeschichte / Pompeji, 1748: Beginn der Ausgrabungen / Mannheim, 1865: Gründung der BASF / Athen: 1896: Eröffnung der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit / 1965 wird der in Luxemburg entwickelte, erste kommerzielle Nachrichtensatellit „Early Bird“ ins All geschossen / Mannheim, 1969: Dario Fontanella erfinder aus Versehen das Spagetti-Eis / 1980 wird in der BRD wie der DDR die Sommerzeit eingeführt / 2000 verkündet das Unternehmen Celera, den Code menschlicher Genome fast vollständig entschlüsselt zu haben

 

Ich notierte:

1980: Ostersonntag. Nach einer Mugge in Eisleben sehe ich im Bahnhof Halle, auf den Zug nach Merseburg wartend, die Zeiger der Normaluhr um zwei auf drei vorrücken. Verrückt (im wahrsten Wortsinn), alle zwei Sekunden um eine Minute, wenn das immer so ginge… Schorsch kommt zum Frühstück, lässt sich sogar überreden über Mittag zu bleiben. Wir hören Platten, trinken ein gutes Gläschen. Als er geht, sagt er, das sei ihm seit langem, seit Mutters Tod, mal wieder ein schönes Ostern gewesen. Nachmittag fahren Jeanny und ich mit Cathi auf den Rummel nach Merseburg. Welche Freude! Riesenrad und Kettenkarussell und Losbude und Lachkabinett und und und… Weiter nach Meuschau, wir bleiben bis gegen Acht. Zu Hause überfällt uns eine große Müdigkeit – Sommerzeit?

1981: Auf der Fahrt in den Tagebau, nach D1 zurAnleitung von Brigadetagebuchschreibern, lese ich auf Rothbauers Empfehlung hin „Eine Liebe in Deutschland“, beeindruckende Faktizität. Und irgendwie ahne ich, dass „Sprachlos“, mein Kinderbuch, faktischer werden muss, dass ich überarbeiten muss. Und irgendwie ist da auch eine Ahnung, dass sich in diesem Jahr so einiges verändern wird.

2000: Mal wieder etwas ruhiger geschlafen, am morgen dann erst Büroarbeiten, dann nach Halle in die Franckeschen Stiftungen, Absprache der nächsten gemeinsamen Aktivitäten. Läuft alles, einschließlich der Finanzierungen, gut. Zu Hause weiter mit diversen Bürokram, dabei ein Anruf von meiner Bödecker-Geschäftsführungs-Vorgängerin, da schon mal wieder eine fördernde Stelle rückwirkend ein Projekt in Frage gestellt und Rückzahlungen gefordert habe. Sie wolle sich aber selbst kümmern, da das ja noch aus ihrer Geschäftsführerzeit herrühre. Ich frage mich langsam, was ich da eigentlich übernommen (aber nicht ordentlich übergeben bekommen) habe, fühle mich fast an Kohls Parteispendenaffäre erinnert...

2020: Allein in Deutschland zählt man nun 100.000 Infizierte, 1.500 Corona-Tote. In Italien fast 16.000 Tote, in Spanien 13.000, in den USA 10.000, bei etwa 350.000 Infizierten… Keine Frage, da lauscht man täglich hellhöriger in sich hinein.

2022: Beim Musikhören zufällig das eigene Spiegelbild entdeckt: Da geht ein Kabel in den Kopf(Hörer) und ein Schlauch hängt aus dem Bauch. Oben rein unten raus. Aber besser so als umgekehrt

 

Grablegung

für

Niels Henrik Abel / Miguel Alfonseca / Isaac Asimov / Leonora Baroni / Habib Bourguiba / Robert Broom / Domenico Maria Canuti / Matthias Corvinus / Fatou Yacouba Djibo / Domenichino / Albrecht Dürer / Daniel Damasio Ascencio Filipe / Alice Fletcher / Jimmy Garrison / Greer Garson / Emanuel Geibel / Onaje Allan Gumbs / Juvénal Habyarimana / Bob Hite / Stephan Hermlin / Moses Hess / Heinz Kahlau / Adamantios Korais / Richard Löwenherz / Solomon Kalushi Mahlangu / Method / Ismael Nery / Vítěslav Nezval / Notger I. / Cyprien Ntaryamira / Michael “Fitz-James” O’Brien / Erich Ohser / Babatunde Olatunji / William Fitz Osbert / Anita Pichler / Raffael / Lothar Reher / Mickey Rooney / Reinhold Karl Werner Schneider / Adolf Slaby / Martin Sperr / Igor Fjodorowitsch Strawinsky / Meenakshi Thapar / Tommaso Michele Francesco Saverio Traetta / Hans Waldmann / Inge von Wangenheim / Paul Wiens / Wendy Orlean Williams / Tammy Wynette / Halil Yozgat

 

Da wurde uns so manches beerdigt:

Merseburg, 1647 „hat ein vorüber marschierendes Soldaten-Weib auf hiesiger Walck-Mühle einen Affen und drey Frösche gebohren, das haben die Völcker samt der Mißgeburth auf den Wagen geworffen, u. mit nach Halle genommen, da hernachs das Weib soll seyn von ihrem eignen Manne erschossen worden“ / Dubrovni, 1667: Erdbeben, mehr als 5.000 Tote / 1917 erklären die USA Deutschland den Krieg / 1941 marschieren deutsche Truppen in Griechenland und Jugoslawien ein / Amsterdam, 1990: ein Verwirrter besprüht Rembrandts „Nachtwache“ mit Säure / 1994 beginnt der Völkermord in Ruanda, dem etwa 1 Million Menschen zum Opfer fallen / Liquiçá, Osttimor, 1999: pro-indonesische Milizien massakrieren etwa 200 Menschen in einer Kirche / 2009: Erdbeben in Mittelitalien, 294 Tote.

 

 

7. APRIL

 

Erfrischung

mit

Donald Barthelme / Hervé Bazin / Robert „Bob” Berg / Ole Kirk Christiansen / Guillaume Jean Maxime Antione Depardieu / Dondi / Domenico Dragonetti / Dan Ellsberg / Willi Forst / Charles Fourier / David Frost / James Garner / Paul Greifzu / Klaus Havenstein / Billie Holiday / Freddie Hubbard / Jens Peter Jacobsen / Detlef Kobjela / Gustav Landauer / Violette Leduc / Bronisław Kasper Malinowski / Wolfgang Mattheuer / Gabriela Mistral / Miyagi Michio / Victoria Ocampo / Babatunde Olatunji / Emilio Pujol / Curt Querner / Wayne Rogers / Johann Christoph Rost / Hilde Rubinstein / Mongo Santamaria / Erich-Günther Sasse / Werner Schroeter / Ravi Shankar / Johannes Mario Simmel / Tobias Stimmer / Werner Stocker / Heinrich Tessenow / Ulrich Thein / Flora Tristan / Brett Whiteley / William Wordsworth

 

Da fühlten wir uns erfrischt:

Prag, 1348: Gründung der ersten Universität nördlich der Alpen / 1413 bestimmt Papst Alexander V., dass zwei „Merseburger Kanonikate“ künftig mit zwei Professuren der Leipziger Universität verbunden sein sollen / Wien, 1766: Öffnung des Praters für die Bevölkerung / Bordeaux, 1780: Eröffnung des Grande Théâtre / München, 1826: Grundsteinlegung für die Pinakothek / 1839: Einweihung der Elbebrücke bei Riesa, damit Inbetriebnahme der ersten deutschen Eisenbahnfernverbindung Leipzig-Dresden / München, 1919: Ausrufung der Bayerischen Räterepublik / 1948: Gründung der Weltgesundheitsorganisation WHO / 1969: Veröffentlichung der „Host Software“, „Geburtsstunde“ des Internets / 2023 laufen in Deutschland die letzten Corona-Beschränkungen aus.

 

Ich notierte:

1980: Ostermontag, der hierzulande aber kein Feiertag mehr ist, ein Arbeitsmontag also. Mit dem Zug (da das Moped kaputt ist) nach Deuben. Hier erfahre ich, dass die Aufführung meines Auftragswerkes gesichert sei, allerdings nicht direkt am Jahrestag der Befreiung, nicht am 8., sondern erst am 16. Mai, vonstatten gehen soll. Und statt eines von mir vorgesehenen Kinderchores haben sie nun ein Theaterensemble verpflichtet. Gut.

1988: Noch vor dem Aufstehen läutet’s an der Tür. Matthias, mein Stellvertreter im Literaturzentrum: Der Mitteldeutsche Verlag wolle ihn als Lektor einstellen, am liebsten sofort. Unglaublich, dieser Verlagsleiter hat nicht nur alle Intrigen aufgeboten, um mein Leuna-Projekt zu stoppen, zu verhindern, sondern versucht nun also mich auch direkt anzugreifen, zu zerstören. Oder warum grätscht er mir in diese so mühselig errungene Schreibzeit? Wird man mich also zurückbeordnen? Auf jeden Fall bin ich mal wieder raus aus dem Manuskript. Es ist zum Kotzen.

2010: Mal wieder zu Gast in Tunesien auf Einladung des Schriftstellerverbandes, Hotel in Gammarth. An den Nachbartischen Frauen, doch Männer auch, mit Hals-, Nasen-, Ohrenverbänden. Scharia? Wahrscheinlicher wohl ’ne Schönheitsfarm in der Nähe. Klar, fehlte nur noch, dass mir die Bandagierten Gute Besserung wünschten. Denn wer Bücher schreibt hat doch was am Kopp, oder? Ich meide Blickkontakte, sinniere Verschleierungstechniken nach.

2023:  Karfreitag. Und in Deutschland werden die allerletzten Corona-Beschränkungen außer Kraft gesetzt.

2024: Sonntag - und erstmals Hochsommertemperaturen in diesem Jahr – Anfang April, getrübt nur von Saharastaub, der von Süden mit herweht.

 

Und am Abend erfahren wir „über fünf Ecken“, dass wir zum zweiten Mal Urgroßeltern geworden sind. Eiszeit also, nach wie vor …

 

Ermüdung

für

Bruno Apitz / Theda Bara / P. T. Barnum / Modesta Bor / Joachim Wilhelm von Brawe / Siegfried Buback / Fernán Caballero / Seymour Cassel / Jacques Alexandre César Charles / Frederic Edwin Church / William Davenant / El Greco / Benjamin Ferencz / Peaches Honeyblossom Geldof / William Godwin / Jaroslav Havlíček / Fritz Heckert / Laryssa Henijusch / Jutta Hipp / Ignaz Holzbauer / Amir Abbas Hoveyda / Du'a Khalil Aswad / Johann Balthasar Kehl / Heiko Koschitzky / Auguste Lazar / Constanze Mary Lloyd / Golo Mann / Wolfgang Mattheuer / Willi Meinck / Franz Mon / Emmy von Rhoden / Robert Roberthin / Roger Rössing / Helmut Routschek / François-Dominique Toussaint Louverture / Dick Turpin / Agathe Uwilingiyimana / Max von der Grün / Lasse Wellander

 

Das ermüdete uns schwer:

451 zerstören die Hunnen Metz / 1897 beginnt der Türkisch-Griechische Krieg / 1939 okkupiert das faschistische Italien Albanien / 1945 versenkt die amerikanische Marine das größte Schlachtschiff der Welt, das japanische Flaggschiff „Yamoto“ auf der Fahrt nach Okinawa, 3.500 Tote / 1989 sinkt das sowjetische Atom-U-Boot „Komsomolez“ vor der norwegischen Bäreninsel, 42 Seeleute sterben / 1990: Großbrand auf der Fähre „Scandinavian Star“ auf der Fahrt von Norwegen nach Dänemark, 158 Passagiere kommen ums Leben.

 

 

8. APRIL

 

Chanson

mit

Dionisio Aguado / Kofi Annan / Jacques Brel / Emil Cioran / Humberto Constantini / Andrew „Sandy“ Comyn Irvine / Jozef Gabčik / Paul Dedrick Gray / Johann Christian Guenther / Keef Hartley / August Wilhelm von Hofmann / Edmund Husserl / Jonghyun / Alexi „Wildchild“ Laiho / Thomas Langhoff / Klaus Löwitsch / Fritz Mackensen / Biz Markie / Carmen McRae / Erdal Merdan / Claudio Merulo / Günter Pfitzmann / Mary Pickford / Jean Prouvé / Alexander Rüstow / Liam Scarlett / Giuseppe Tartini / Juan van der Hamen y León / Karl Walser / Vivien Westwood / Wilhelmine von Wickenburg-Almasy

 

Da hörten wir beschwingt zu:

1820 findet ein Bauer die Venus von Milo / 1874: wird in Deutschland die Impflicht für Kinder gegen Pocken eingeführt / 1886 erhält Carl Gassner das Patent für seine Trockenbatterie.

 

Ich notierte:

1980: Nach dem Frühstück sogleich an die Schreibmaschine, doch ich werde gestört. Zwei Herren begehren Einlaß, zeigen mir flüchtig Dienstausweise und beginnen auf mich einzureden. Ich verstehe kein Wort. Irgendwas von Spionage und Wachsamkeit. Hatte ich die nicht schon mal gesehen, vor Tagen aus der Ferne, wie sie auf Cathi einredeten? Was wollen die? Ich habe keine Ahnung. Nach mehr als anderthalb Stunden gehen sie endlich. „Wir kommen wieder!“ Ich bin völlig durchgeschwitzt. Arbeiten erst einmal unmöglich.

1986: Ich habe mein Arbeitsverhältnis „gelockert“, werde erst Mitte Mai wieder „strengen“ Dienst schieben, „bummele ab“ – dann werde ich Urlaub haben, für danach habe ich um Arbeitsurlaub (unbezahlt) gebeten, im Oktober werde ich nochmals „normal“ ran müssen – und dann ja ab November für ein Vierteljahr wieder zur Fahne (in den Knast sozusagen, als Strafe für mein Nicht-Funktionieren als Funktionär). Und wenn ich da wieder raus bin, will ich nur noch für zwei Tage die Woche was für schreibende Schüler und Junge Poeten machen. Abgesprochen ist das alles, nun ja, mal sehen, was wirklich wird.

1987: Im mitternächtlichen Gedränge vor der Kyrill-und-Method-Kathedrale geweihte Eier aufeinanderschlagend prophezeit mir Dimo (allgegenwärtiger und -wissender Dolmetsch), ob einer in meinen Händen zu guter Letzt heil gebliebenen Schale, Gesundheit für diese Jahr. „Und Zuversicht?“ „Ja, auch Glück!“ Nach alltäglichen Kreuzgängen versuche ich das Osterkerzchen, flackerndes Lebenslicht, das er mir daraufhin entzündet, gegen einen böig vom Schwarzen Meer her blasenden Wind argwöhnisch zu schützen.

1999: Am Vormittag ein Schreib-Workshop mit Hortkindern in Halle. Texte für einen geplanten Kinderkunstkalender entstehen. Gut zu sehen, dass meine Anregungen andere anregen. Gutes Klima. Wir lachen viel. Am Nachmittag zur Überprüfung einer Projektabrechnung im Regierungspräsidium. Da gibt’s natürlich nichts zu lachen. Aber ich kann offenbar alle Nachfragen befriedigend beantworten, notwendige Erklärungen geben.

2010: Tunis. Im dichtesten Basargedränge plötzlich Gekreisch und ich sehe: mein Rucksack klafft. Zu fehlen scheint jedoch nichts. Oder hatte ich (als Gastgeschenk für alle Fälle) mein neues Buch dabei? Wenn ja – nachdenkenswerte Möglichkeit, auf den arabischen Markt zu kommen.

2021: Seit einiger Zeit lese ich Mischa Meiers 1200-Seiten-Werk „Geschichte der Völkerwanderung“ – und zunehmend lese ich all das, was er kundig beschreibt als Gleichnis für das, was aktuell in dieser Welt geschieht.

 

2024: Lunch mit dem neuen Vorsitzenden des Merseburger Motorbootvereins. Sie wollens sich gern in die Würdigung hiesiger Geschichte einbringen. Ich empfehle, den 600. Jahrestag des Eintritts Merseburg in die Hanse (am 22.7.2026) dazu nutzen, sage selbstredend Unterstützung zu. Danach Besichtigung ihres Clubgeländes an der Saale. Keine Frage, hier gibt’s Potential.

 

Post scriptum

für

Vatche Arslanian / Uwe Bohm / Daniel Bovet / Caracalla / Egmont Colerus / Nathan Davis / Dead / Anton Diabelli / Gaetano Donizetti / Albert Ehrenstein / Joseph Benedict Engl / Charles Tomlinson Griffes / Henriette Charlotte von Nassau-Idstein / Peter Higgs / Adrian Hoven / Wilhelm von Humboldt / Ismael Ivo / Malcolm McLaren / Max Herrmann-Neiße / Wilhelm von Humboldt / Alfred Huth / Erik Axel Karlfeldt / Ernst Wilhelm Nay / Vaslav Nijinsky / Laura Nyro / Okada Yukiko / Louis Émile Pergaud / Georg von Peuerbach / Pablo Picasso / Domenico Piola / Marcel Prévost / Rudolf Raschke / Gerard Reve / Nikolai Iwanowitsch Saremba / Shōtoku Taishi / Heinrich von Stephan / Lizzi Waldmüller / Artjom Wessjoly / Ryan Wayne White

 

Das erklärte sich uns auch nachträglich nicht:

1783 verkündet Katharina die Große die Annexion der Krim und des Kuban-Gebietes / 1945 zerstören US-Bomber 82% der Innenstadt von Halberstadt, 2.500 Menschen kommen ums Leben / 1954 stürzt eine Comet 1 nach dem Start in Rom ins Meer, alle 21 Insassen sterben / 1961 kommt es auf dem britischen Passagierschiff „Dara“ vor Dubai zu einer Explosion, 238 Tote.

 

 

9. APRIL

 

Blumen binden

mit

Étienne Aignan / Carl Amery / Atala Apodaca Anaya / Richard Archbold / Ernst Balcke / Charles-Pierre Baudelaire / Jean-Paul Belmondo / Johannes Bobrowski / Arthur Briggs / René Burri / Jacques Futrelle / Charles Girod / Hugh Hefner / Rolf Kauka / Helene Lange / Friedrich Heinrich Ferdinand Emil Kleist von Nollendorf / Lew Sinowjewitsch  Kopelew / Helene Lange / Matthias Georg Monn / Irene Morgan / Eadwaerd Muybridge / Adele Florence Nicolson / Florence Price / Ignatius Taschner / Jørn Utzon / Art Van Damme / Victor Vasarely / Gian Maria Volonté / Heinrich Waldmann / László Weiner / Henry Winterfeld

 

An diesem Tage erschien uns alles blumig:

Nürnberg 1368: Anlage des ersten Kunstforstes der Welt / Paris, 1667: Eröffnung der weltweit ersten Kunstausstellung / 1809: Beginn des Tiroler Volksaufstandes unter Andreas Hofer / Lyon, 1834: Beginn des Seidenweberaufstandes / 1860: älteste bekannte Tonaufnahme durch Édouard-Leon Scott de Martinville / Paris, 1865: Louis Pasteuer präsentiert seine Entdeckung, dass Mikroorganismen Krankheiten auslösen und durch Erhitzen abgetötet werden können / Appomatox, 1865: Kapitulation der konföderierten Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg / 1872 Erteilung des US-Patents für Milchpulver / 1900 wird Stromdiebstahl in Deutschland strafbar / Wien, 1991: Eröffnung des Friedrich Hundertwasser gewidmeten Kunst Hauses / 1991 erklärt Georgien seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion / Bagdad, 2003: Sturz der Saddam-Hussein-Statue, Ende des Irakkriegs.

 

Ich notierte:

1974: Es ist empfindlich kalt. Rauhreif liegt auf dem Stalldach, glitzert auf der schwarzen Teerpappe. Nach der Arbeit fahre ich zum Leunaer Rathaus. Jeanny wartet schon, fast hätte ich sie nicht erkannt. Zum ersten Mal nach ihrer Schwangerschaft, nach einem halben Jahr wohl, sehe ich sie wieder im Rock, in einem ihre Figur betonenden Rock, fantastisch! Im Rathaus erledigen wir die Formalitäten zur Eheschließung, wie das amtlich heißt. Am 25. Mai, um 10.00 Uhr, wird es dann soweit sein. Nebenbei unterschreibe ich eine Vaterschaftserklärung und Jeanny lässt sich bestätigen, dass sie eine Tochter geboren hat. Alles schön bürokratisch. Doch für die 750 Mark, die wir dafür erhalten, nimmt man das Formale gern in Kauf. Am Abend fahren Emil und ich zur Probe. Heute ist es 14 Tage her, dass wir das Gesuch stellten, neu eingestuft zu werden. Seni müsste also etwas mehr über unsere konkrete Zukunft wissen. Und er weiß – er darf erst nächstes Jahr wieder spielen. Das haut uns auf die Bretter. Wenn wir alles Mögliche erwartet hatten – das nicht! Nasch Probe steht uns verständlicherweise nicht der Sinn. Seni steigt in seine Wohnung hinauf, um eine Eingabe als Kulturministerium zu schreiben. Vielleicht die letzte Chance, jemals wieder zusammen spielen zu können. Der Rest der Band probt mit mir Titel, die ohne Seni spielbar sind. Es sind nicht allzu viele. Seni ist nun mal der Mittelpunkt, um den sich alles in unserer Musik dreht. Alles andere, alles ohne ihn, muss zwangsläufig an Niveau verlieren. Trotzdem beschließen wir schließlich und unabhängig vom Ergebnis dieser Eingabe, unser Repertoire so umzustellen, dass wir ohne ihn spielfähig werden. So bitter das ist, wir werden uns wohl oder übel darauf einstellen müssen, eine Weile ohne Seni auszukommen. Einstufung ohne Seni, Auftritte ohne Seni. Die Konsequenzen sind klar – unsere Eigenkompositionen auf die wir so hofften, die uns den Durchbruch bringen sollten, werden sobald nicht im Funk produziert werden, nicht erscheinen. Und auch die Sonderklassen-Einstufung werden wir wohl loswerden. Aber vielleicht deckt Senis Eingabe das ganze Intrigenspiel endlich auf…

In Leuna erschrecke ich fürchterlich. Der Keketsch kommt mir im Flur entgegen und sagt: „Deine Tochter ist im Krankenhaus!“ Zuerst begreife ich gar nichts, und als ich es dann begreife, versteh ich es nicht. Ich stürze die Treppe hinauf, zu Jeanny. Sie liegt völlig aufgelöst im Dunkeln, im Bett. Ihr Kopfkissen ist völlig nass. Langsam erfahre ich, was los ist. Von Schluchzern unterbrochen erzählt sie mir, dass sie beim Waschen auf Cathrins Brust eine Geschwulst entdeckt habe. Die Mutter habe vom Nachbarn aus im Krankenhaus angerufen, und die hätten gesagt, dass sie Cathrin sofort bringen sollten, was sie dann auch getan haben. Der Arzt sagte, das sähe nicht gut aus, da sei Eiter drin. Sie würden Cathrin aber zuerst mit Tabletten oder Spritzen zu kurieren versuchen, doch sollte das nicht helfen, müsste sie operiert werden. Ich kann mir absolut nicht vorstellen, wie an diesem kleinen Wesen herumgeschnitten würde, versuche jedoch Jeanny und mich zu beruhigen, indem ich sage, dass die Ärzte doch am besten wissen, was mit Cathrin ist und wie ihr geholfen werden kann. Besuchen dürfen wir unsere Tochter aber erst in einer Woche, wobei wir nun jeden Tag ins Krankenhaus müssen, um Jeannys abgepumpte Milch zu bringen. Knapp eine Woche hatten wir unser Kind gerade bei uns, und jetzt ist es schon wieder weg. Mir fehlt Cathrins nächtliches Gurgeln beim Luftholen, fehlen ihre Hungerschreie, sie fehlt uns, fehlt uns. Das leere Bettchen grinst mich herausfordernd an – nein! - es wird alles wieder gut! Jeanny scheint das weniger zu glauben. Ich versuche ihr jedwede fiktiven Schuldgefühle auszureden, auszustreicheln.

1979: Obwohl ein Zeitungsinterview zugesagt war, erscheint in Hohenmölsen heute niemand, kein Reporter, keine schreibenden Schüler. Gut, nutze ich die Zeit für eine Straßenbegehung und Ortsbeschreibung: Der Buchladen an der Nordseite des Marktplatzes zieht mich bei jedem Aufenthalt an. Obwohl der Deubener Klubhauschef Hohenmölsen immer als „das Dorf“ bezeichnet, ist dieser Ort doch Kreisstadt und wird entsprechend beliefert. In den Regalen der Buchhandlung findet mal also zuweilen Schätze! Die Uhr am Spitzturm des Rathauses schlägt halb drei. Am Eingang eines Straßenschlauchs daneben ein Fischgeschäft und davor eine Menschenschlange: ein Schild besagt, dass es heute ab 15.00 Uhr Räucherfisch gäbe. In Schaufenster eines anderen Ladens ein Schild mit der Ankündigung, dass Morgen wegen handelspolitischer Schulung der Mitarbeiter erst um 9.00 Uhr geöffnet werde. Dann die Apotheke, Eckeingang, geduckte Häuser zu beiden Seiten, schmaler Bürgersteig, gelbschwarzes Kopfsteinpflaster, ein Rest alten Hohenmölsens. Das neue beginnt in Höhe der Bushaltestelle, an der ich stets hier ankomme, Neubauten, notwendig wohl, gewöhnlich, reizlos. An einem Block ein durchkreuzter Kreis mit einem blassen JA darüber. Nach der Einmündung der Badergasse sehen die Häuser auf einmal renovierter aus. Gedränge vor dem Laden des Bäckermeisters. Der Fotograf hat wegen Krankheit geschlossen (im Schaufenster die unvermeidlichen Fotos krabbelnder, grienender Säuglingen und verklärt blickender Paare). Gegenüber der Laden des Uhrmachers. Das Haus tadellos geputzt. Zwei Schaufenster! Glassturz geschützte Chronometer links, rechts Leere mit Plakat: Richtig bedienen! Mit Abbildungen von Menschen unterschiedlichstem Alters beim Ofenheizen. Rechts davon: Polstermöbel Albert Simon. Und darüber lehnt ein Herr auf einem Kissen aus dem Fenster. Was es hier wohl zu beobachten gibt? Mich etwa? Haus Nr. 30 mit einem Schaufenster der Freiwilligen Feuerwehr. Auslagen akkurat geordnet: ein Signalhorn, eine Schlauchspritze, ein Helm, noch eine Spritze… An den Spritzen hängen Schilder mit den Öffnungszeiten. Dieses Büros? Neben den Bindfäden der Schilder je ein Feuerlöscher. Über dem Helm auf brauner Pappe Rangabzeichen, Kragenspiegel, Kordeln, Medaillen. Vielleicht sollte mal jemand ins Horn tuten? Gegenüber an einem großen, grauen Tor mit weißer Kreide: Bis 30.4. Bri etts bestellen! Ich stehe mit dem Notizbuch in der Hand, ein etwa Zwölfjähriger tritt an mich heran, fragt: „Was schreim’sen da uff?“ Und nochmals und lauter: „Na, was schreimse’n uff?“ Da ich noch immer nicht antworte (was sollte ich ihm auch antworten?) wird er fordernd: „Eh…-he – was’n?“ Er schiebt sein Gesicht über mein Notizbuch. „Was soll’n das wär’n?“ Ich murmle irgendwas, hätte fast meinerseits gefragt, ob er nicht schreibender Schüler werden wolle. Aber er wird wohl besser mal Hilfspolizist (falls er es nicht schon ist).

1999: Nach dem Bürokram zwei Lesungen für Ferienkinder in einer halleschen Begegnungsstätte. Am Nachmittag setze ich mich zu Hause in einen Sessel und schlafe tief und fest für fast drei Stunden ein, Erschöpfung. Dann bei Sonnenschein im Garten komme ich aber langsam wieder zu mir. Am Abend in Merseburg bei „Uralt-Freunden“, einige sah ich gut 25 Jahre nicht mehr, eine Doppelkopfrunde im alten Proberaum meiner Anfänge als Rockmusiker. Schon mehrmals hatte mich Seni, der wohl wichtigste Partner meiner Musikerzeit, dazu eingeladen, jetzt war’s mir eben so, mal zuzusagen. (in Zeiten wenn einem die Zukunft irgendwie abhanden kommt, wendet man sich halt der Vergangenheit zu...) Am Doppelkopftisch sitzen noch die einstigen Fans, Tom und Heinz. Tom sieht sehr schlecht aus, Leberzirrhose, und außer mir sind alle anderen arbeitslos und von ihren Frauen verlassen. Nun ja, was bleibt da, als sich über Feinheiten von alten Rocktiteln auszutauschen, Rockmusik zu hören, Bier zu trinken und Doppelkopf zu spielen selbstredend...

2010: Kairouan, gegründet von Oqba Ibn Nafi, einem Gefährten des Propheten, und nach Mekka, Medina und Jerusalem die Nummer 4 der heiligen Städte des Islam. Ich erkläre dem Guide, weder in Nummer 1 noch 2, doch in 3 und nun also in 4 und dazu bereits im senegalesischen Touba, was ja wohl (quasi säulengleich) als Nummer 5 gilt, gewesen zu sein, und scherze (von Bartträger zu Bartträger sozusagen), ob mir nicht langsam halbe Pilgerehren zukämen, ich mich nicht Halb-Hadsch nennen könne. Sein Blick rät mir, besser zu schweigen. Gern aber nimmt der gottesfürchtige Mann mein Trinkgeld, mein ganzes.

2023: In der Osternacht träumte ich mir, hätte ein Stück geschrieben, in dem Hitler an seinem Geburtstag stirbt bevor er an die Macht kommt. Nach der Aufführung werde ich im Schlaf erschossen.

2024: Treff mit dem Vorstand des Merseburger Fotoclubs im Restaurant "ben zi bena". Sie wollen sich gern für die Zaubersprüche mit engaggieren. Gutes brainstorming.

 

Bekränzung

für

Mikael Agricola / Morteza Avini / Francis Bacon / Brook Benton / Andrée Blouin / Egon Bondy / Dietrich Bonhoeffer / Anni Burkard / Mrs. Patrick Campbell / Cemil Cem / Hans von Dohnanyi / Louis Émile Edmont Duranty / Andrea Rita Dworkin / Sarah Fielding / Kristán Jónsson Fjallaskáld / Jorge Eliécer Gaitán / Ludwig Gehre / Marcel Gerbohay / Theodor Haecker / Jürgen Hart / Robert Havemann / Giselher Werner „Gisi“ Hoffmann / Georg Hoprich / Christa Johannsen / Kammu / Giorgios Karaivaz / Zofia Kossak-Szczucka / Sidney Lumet / Johann Georg Meindl / Mushunokōji Saneatsu / Karl Neumann / William von Ockham / Phil Ochs / Hans Paul Oster / Niko Pirosmani / David „Dave“ Prater / François Rabelais / Yank Rachell / Hans Reichenbach / Dante Gabriel Rossetti / Karl Sack / Wilhelm Sauer / Joseph Victor von Scheffel / Liselotte Schinke / Ernst-Georg Schwill / Earl Simmons „DMX“ / Leonid Wassiljewitsch Solowjow / Joseph Karl Stieler / Albert Vigoleis Thelen / Philip Edward Thomas / Auguste van Pels / Christian Wolff / Frank Lloyd Wright / Yuan An

 

Das stieß uns selbst als Grabbeigabe auf:

37: Antiochia am Orentes wird durch ein Erdbeben zerstört / Bataan, 1942: nach der Niederlage der Amerikaner in der Schlacht um die Philippinen geraten viele GIs und Filippinos in japanische Kriegsgefangenschaft, 16.000 sterben beim berüchtigten Todesmarsch von Bataan/ 1947 durch einem Tornado kommen in Kansas, Oklahoma und Texas 167 Menschen ums Leben / Deir Yasin, 1948: Mitglieder der zionistischen Untergrundbewegung Irgun Zwai Leumi ermorden mehr als 100 Palästinenser / Tbilissi, 1989: Demonstrationen für den Austritt Georgiens aus der Sowjetunion, 16 Tote / 2017: Anschlag auf zwei koptische Kirchen in Ägypten, 44 Todesopfer.

 

 

10. APRIL

 

Recherche

mit

Mahmoud Khairat Abu-Bakr / Bella Achatowna Achmadulina / Hubertine Auclert / Ernst Balzli / William Booth / Abdul Ghafur Breshna / Rachel Aliene Corrie / Eugen d’Albert / Cosimo de’ Medici / Joey DeFrancesco / Dimtscho Welew Debeljanow / Daniel Faria / Joachim Gottschalk / Hugo Grotius / Samuel Hahnemann / Bo Hansson / Eddie „Smeero“ Hazel / William Hazlitt / Samuel Heinicke / Stefan Heym / Géza Hofi / Ota Hofmann / Bernardo Alberto Houssay / Alfred Kubin / Frederic Leclerc-Imhoff / Hanns Lothar / Wolfgang Menge / Marshall Warren Nirenberg / Joseph Pulitzer / Hans Purrmann / Jamie Reid / Abraham Reisen / Omar Sharif / Manmohandas Soparkar / Max von Sydow / Ehrenfried Walther von Tschirnhaus / Leona Vicario / Bunny Wailer / Fritz Zorn

 

Das würden wir jederzeit weiter erkunden:

Leipzig, 1496: Weihung des Neubaus der Thomaskirche durch den Merseburger Bischof Thilo von Trotha / 1710 tritt in Großbritannien das Statute of Anne in Kraft, das erste Urheberrechtsgesetz weltweit / 1849 erhält Walter Hunt das US-Patent für die Sicherheitsnadel / 1861: Gründung des Massachusetts Institutes of Technology / Rumänien, 1922: Niucolae Paulescu erhält das Patent zur Gewinnung von Insulin / 1953: Warner Bros. bringt den ersten 3D-Film in die Kinos, „House of Wax“ / Belfast, 1998: acht nordirischen Parteien, Großbritannien und Irland  unterzeichnen einen Vertrag zur Beendigung des Bürgerkriegs.

 

Ich notierte:

1980: Den ganzen Tag an der Schreibmaschine, abends mit Jeanny in den Jugendklub Leuna. Ich will die nächste Session absprechen, meine Veranstaltungsreihe, die immer wieder interessante Mugger anlockt. Ich schreibe jeweils Themen auf, danach wird improvisiert. Macht Spaß.

1985: Die letzten beiden Tage ständig Krisensitzungen beim Rat des Bezirkes über die Arbeit des Literaturzentrums. Doch ich habe nicht einmal die Chance, meine Probleme vorzubringen. Ich habe zu funktionieren. Basta. Ach, das erscheint mir alles wie ein endloses Warten, das sind keine Tage mehr, das sind ständige Alpträume, das ist fast schon wie Religiosität: warten auf ein Leben danach…

2000: Beginn der zweiten Arbeitswoche als Bödecker-Geschäftsführer, Büroarbeiten, dann zum Arbeitsamt Merseburg, um die geplante und geänderte AB-Maßnahme nochmals durchzugehen. Man sichert mir zu, dass es nun am 1. Mai losgehen könnte. Nun gut. Zu Hause weiter Planungen, Telefonate, Briefe um Projekte zu retten und dergleichen. Am Abend nehme ich mir Zeit, um mich für den nächsten Auftritt in der Merseburger „Ölgrube“ vorzubereiten, da ist einiges an Singen und Spielen zu üben, „California Dreaming“ beispielsweise. Mal sehen, ob unserer Reunion-Band  so ein alter Traumtitel tatsächlich gelingen kann.

2006: Zwischenlandung in Madrid. Mit jeder bewältigten Etappe auf dieser Reise um die halbe Welt wird wahrscheinlicher, dass wir schließlich da ankommen wo wir hinwollen: Auto, Regionalzug, ICE, Zubringerflug und nun gleich der Langstreckenflug nach Santiago de Chile… Einmal Verspätung, einmal falsch eingestiegen – und schon wäre das eine ganz andere Tour, letztlich ein anderes Leben. Bei aller Globalisierung mutet es mir noch immer wie ein Wunder, nein: unwirklich an, wie zielsicher und präzise das alles vonstatten geht. Als surfe man durchs Internet und reiste nicht körperlich. Zu Gründerzeiten wäre man allein nach Chile via Kap Hoorn gut ein Vierteljahr unterwegs gewesen. Und nun – Zeitgewinn durch Realitätsverlust?

2010: Tozeur. Sahara-Oase. George Lucas drehte Krieg der Sterne hier. Und womöglich obsiegte eine der Welten, scheint die Attraktion doch arabisches Disneyland zu sein. Immerhin zeigt ihr Mount Rushmore einzig das Antlitz eines Dichters: Ab El Karem Chebbi. Das lässt hoffen noch.

 

Rückschritt

für

Afewek Tekle / Anna Amalia von Braunschweig-Wolfenbüttel / Balduin von Avesnes / Paul Benoit / Casimir Ulrich Karl Boehlendorff / Philippe Boesmans / William Brewster / Johan de Haas / Václav Dobiáš / Robert Edwards / Siegfried Fall / Constanzo Festa / Khalil Gibran / Catharina Regina von Greiffenberg / Aaron Samuel Gumperz / Chris Hani / Auguste Lumière / Emilie Mayer / Joe „King“ Oliver / La Belle Otéro / Carl Leonhard Reinhold / Willy Semmelrogge / Stuart Fergusson Victor Sutcliffe / Algernon Charles Swinburne / Pierre Teilhard de Chardin / Evelyn Waugh / Anna Walentynowcz / Emiliano Zapata Salazar

 

Das empfanden wir deutlich als Rückschritt:

1826: Beginn des Massakers von Mesolongi bei dem durch osmanische Belagerer bis zu 10.000 Griechen ums Leben kommen / Plauen, 1945: durch alliierte Luftangriffe werden 75% der Stadt zerstört, 900 Einwohner sterben / 1963: Untergang des US-Atorm-U-Bootes „Tresher“, 129 Tote / Wellington, 1968: die Fähre „Wahine“ läuft auf ein Riff und sinkt, 53 Mensche ertrinken / Hochwald, 1973: eine Vickers Vanguard prallt beim Landeanflug auf Basel gegen eine Hügel, 104 Insassen sterben / Wichita Falls, Texas: Tornado, 58 Tote / Livorno, 1991: die Fähre „Moby Prince“ kollidiert mit einem Tanker und brennt aus, 132 Manschen kommen ums Leben / 2010 Absturz einer polnischen Regierungsmaschine bei Smolensk, 96 Todesopfer / Paravur, Indien, 2016: durch eine Explosion bei einem Feuerwerkswettbewerb sterben mehr als 100 Menschen.

 

 

11. APRIL

 

Einklang

mit

Werner Berg / Jonas Biliūnas / Lev Blatný / Horst Deichfuß / Bernd Eichinger / Denis Goldberg / Luise Adelgunde Victorie Gottsched /Anastasius Grün / Klaus Harpprecht / Marlen Haushofer / Wieland Herzfelde / Attila Jószef / Pierre Kartner / Christian Friedrich Krull / Barbara Köhler / Adélaïde Labille-Guiard / Nick LaRocca / Ferdinand Lassalle / Viola Fauver Gregg Liuzzo / Sándor Márai / Johann Heinrich Merck / James Parkinson / Jack Phillips / Christian Quadflieg / Alfredo Rampi / Henry Creswicke Rawlinson / Isolde Schmitt-Menzel / Horst Seemann / Claude Tillier

 

An diesem Tage spürten wir Einklang:

1713: Ende des Spanischen Erbfolgekrieges durch den Frieden von Utrecht / Amsterdam, 1888: Eröffnung des Concertgebouw / 1909 werden drei israelische Siedlungen zur Stadt Tel Aviv zusammengefasst / 1945 befreien amerikanische Truppen das KZ Buchenwald und das KZ Mittelbau-Dora / 1954 nennt der britische Programmierer den 11. April als „langweiligsten Tag des 20. Jahrhunderts“ / 1961 beginnt in Israel der Prozess gegen Adolf Eichmann / Kampala, 1979 zwingen tansanische Truppen den ugandischen Diktator Idi Amin zur Flucht / 2006 erreicht eine europäische Raumsonde die Umlaufbahn der Venus.

 

Ich notierte:

1981: Gestern war ich zu einer Tagung in Vorbereitung der Tage der Kinder- und Jugendliteratur im Bezirk Halle eingeladen. Edith Bergner war auch dabei und ich erfuhr, dass mein Manuskript im Cheflektorat des Kinderbuchverlages gelesen werde und ich wohl so Mitte Mai mit Post rechnen könne. Und Willi (der auch anwesend ist und auch was für Kinder geschrieben hat) und ich hören, dass wir wahrscheinlich im Herbst zu einem Gespräch nach Berlin eingeladen werden würden. Danach unterhielten wir uns über einen Artikel von Inge von Wangenheim zum Verhältnis von alten zu jungen Autoren, zu notwendigen „Fackelübergaben“. Willi sagte, er hole sich „die Fackel“ auch unter viel Mühen, auch wenn Väter deren Übergabe verweigerten. Beim Bier sage ich zu Willi, dass die Väter sich wohl den so genannten „großen Themen“ gewidmet haben, um sich aus den Alltagsauseinandersetzungen heraushalten zu können. Chance für uns sei insofern, dass wir das, was uns hier und heute passiert als historisch darzustellen versuchen. Und was uns die Alten verschweigen, müssen wir eben aus ihnen herausbrechen. Wir sitzen bis Mitternacht, Erstaunlich viele Übereinstimmungen, wir können uns bestens verständigen. Und dann schenkt mir Willi sogar die soeben bei Amiga erschiene Cobham-LP (die ich nicht kriegte, nirgendwo), sagt: „Du bist Musiker, brauchst die mehr als ich!“ Und noch erstaunlicher: er leist gerade wie ich Hochhut „Eine Liebe in Deutschland“…

1982: Irgendwie glaube ich, ich sei irgendwie untergegangen, ich schluckte schon Wasser, doch will an die Oberfläche zurück. Wird Schreiben erst nach dem eigenen Untergang möglich? Und doch braucht man zum Schreiben auch die Oberfläche zum Atmen. Was für ein Meer!

1986: Erfolg vorgestern mit dem Programm schreibender Schüler, das ich zusammen mit Hans-Jürgen Wenzel, mit der halleschen Komponistenklasse, auf die Bühne brachte, gestern in Berlin Gespräch mit dem Verlag Junge Welt, Projekt-Angebot, interessant – doch wichtig nichtig scheint das alles angesichts des neuerlichen Atombombentests der Amis in Nevada, der die SU veranlasste zu sagen, dass sie ihr Moratorium nach einem Dreivierteljahr aufheben und nun auch selbst wieder testen werden.

1987: Offizielle Bestätigungen liegen vor, ich werde zu den Internationalen Kinderbuchtagen nach Bulgarien fliegen können. Gut. An diesem Wochenende seit langem mal wieder zwei Tage für mich. Aber mehr als zwei Exposé-Versuche kommen nicht heraus.

1989: Zwei Monate Freistellung bis Ende September zum Schreiben. Immerhin. Gestern hatte ich in der Parteiorganisation des Verbandes meinen Bericht über die Nachwuchsarbeit, verknüpfte dies mit meinen Problemen – höfliches Interesse (bestenfalls). Gut, ziehe ich „mein Ding“ eben allein durch. So stelle ich jetzt schon (und nicht erst, wie gefordert, wenn das zweite Buch gedruckt vorliegt) meinen Antrag auf Mitgliedschaft im Verband. Da werden sie Farbe bekennen müssen, nicht weiter rumeiern können.

1999: Arbeit am „Dienstag“, ich schaffe es, das vorletzte Kapitel zu beenden und entscheide mich (endgültig?) für den Titel „Novembertau“ (statt „Ein Dienstag im November“). Und dann kommt noch ein Anruf, der mir allerhand Kraft gibt: Ab Juni werde ich einen Vertrag als freier Mitarbeiter der Robert Bosch Stiftung Stuttgart für Medienarbeit einer großen Ausstellung „Orte deutscher Geschichte“ im Berliner Dom bekommen. Na, wenn das nicht passt...

2006: Gegen 8.00 Uhr Ortszeit nach fast 14-stündigem Flug Landung in Santiago de Chile. Über den Anden noch gleißendes Licht, am Boden jedoch Nebel. Schon als wir unser Hotel im Barrio Alto erreichen bricht glücklicherweise jedoch die Sonne durch. Schnell frisch machen, umziehen und auf zur Stadtbesichtigung. Erstes Ziel: natürlich die Moneda. Perfekt wieder hergerichtet, der Präsidentenpalast, strahlend weiße Fassaden, seit Jahren wohl schon. Kleiner wirkt er, viel kleiner, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Und ich sehe auch sofort wieder die Fernsehbilder vom 11. September 1973, die Panzer hier, die Putschtruppen, die anfliegenden Bomber… Aber der Alptraum verwischt rasch, steht doch nun neben den Denkmalen bedeutender chilenischer Präsidenten auch eines für Allende. Hoffen wir, dass hier nie eines für Pinochet auftaucht. Carlos, unser Guide, erzählt, dass der weiterhin unter Hausarrest stünde und man wohl „die biologische Lösung“ des Problems erwarte, keinen Prozess gegen den einstigen Diktator anstrebe, um ein neuerliches Zerreißen der Nation zu vermeiden. Seit einiger Zeit sei im Übrigen auch erwiesen, dass Allende nicht ermordet wurde, sondern Selbstmord beging, mit der Kalaschnikow, die ihm Fidel Castro geschenkt hatte… Wie selbstverständlich kann man die Innenhöfe der Moneda betreten. Carlos meint, es sei durchaus nicht ungewöhnlich, hier auf Minister oder sogar das Staatsoberhaupt zu treffen. Allerdings sei Frau Bachelet gerade auf Antrittsbesuch in Paraguay und Brasilien. Santiago de Chile gefällt uns, eine offene Stadt, europäisch, viel Grün, viel Glas, freundliche Menschen, keine sichtbare Armut, keine Bettler, keine Anmache, alles wie frisch gewischt und geschniegelt. An Isabell Allendes Beschreibung erinnern gelegentlich noch die allgegenwärtigen zahmen, streunenden Hunde… Und allein heute kommen zweimal Chilenen freundlich auf uns zu, als wir sichtlich Problemchen haben: Beim Eiskaufen erklärt uns ein junger Mann, dass wir an der Kasse zuerst einen Bon erwerben müssten, der dann an der Eistheke einzulösen sei, nicht umgekehrt, und fragt schmunzelnd: „Alemán?“ „Si, Senor.“ (Doch woher weiß er das?) Und dann hilft uns eine ältere Frau, als wir orientierungslos den Stadtplan hin und her drehen. (In Deutschland wären wir als Ausländer vermutlich heute noch nicht weiter…) Bei allen noch zu lösenden Problemen und Konflikten gilt Chile dennoch als Wirtschaftswunderland Südamerikas, sinkende Arbeitslosenzahlen, steigendes Wirtschaftswachstum. Und irgendwie spürt man diese Prosperität, spürt man hoffnungsvolle Veränderung. Daher unsere Affinität zu dieser Stadt? Weiter zur Plaza de Armas: Die Kathedrale, ungewöhnlich langes, niedriges Schiff, der steten Erdbebengefahr wegen wohl (s. Heinrich von Kleist „Das Erdbeben in Chili“), Denkmal Valdivias, des Gründers der Stadt, den die eingeborenen Mapuche der Legende nach schließlich Gold in den Rachen gegossen haben sollen, um seine unersättliche Gier zu stillen. Im alten Mercado Central geschäftiges Gequirle, Fischmarkt mit riesigem Angebot, anschließend Fischrestaurants, wie praktisch. Schade, dass wir nur Zeit für die Besichtigung haben. Auffällig auf den Straßen, dass man kaum Kinderwagen sieht. Nicht mangels Kinder, nein, Kleinkinder werden zumeist getragen, im Bündel oder auf dem Rücken. Auffahrt zum Hügel San Cristobal. Panorama der 5-Millionen-Stadt vor Andenkulisse. Leider ob Smogs alles etwas verschwommen. Auf Empfehlung unseres Guides trinken wir einen eisgekühlten Mote – Pfirsichsaft mit Pfirsichhälften und gequollenen Getreidekörnern – sehr interessant und obendrein ebenso erfrischend wie sättigend. Dann zurück zum Hotel, Ende der offiziellen Tour. Wir ziehen weiter allein zu Fuß durch „unseren“ Stadtteil Providencia, etwas pflaster- und flugmüde schon, keine Frage. Aber als einziges Mittel gegen Jetleg hilft aus Erfahrung nur, die innere Uhr annähernd der hiesigen Zeit anzupassen. Kaffee also zur Kaffeezeit (obwohl schon reichlich bettreif), Abendessen zur Abendessenszeit – Empanadas, köstlich gefüllte Teigtaschen, und danach noch einen Pisco Sour, chilenisches Nationalgetränk, als Betthupferl.

2008: Nur heute noch dürfte ich auf Sark im Ärmelkanal meine Frau mit einer maximal fingerdicken Rute straffrei züchtigen, könnte jedoch wegen öffentlichen Strickens verhaftet werden, lese ich. Schade, von dieser Gesetzesänderung erst eben jetzt zu erfahren, dummerweise fliegen wir gerade nach Helsinki.

2010: Catharge. Zum zweiten Mal hier nach Jahren. Und die Ruinen dieses so mächtigen wie kriegerischen Reiches waren noch auffindbar und sehenswerter denn je. Verschwunden mittlerweile allerdings alle Erläutungstafeln.

2021: Matthias Biskupek ist tot. Matthias, der mich als Schatzmeister des PEN ermutigt hatte, sein Nachfolger zu werden. Vor Wochen hatten wir noch einen Artikel abgestimmt, den ich über ihn als ehemaligen Walter-Bauer-Preisträger geschrieben hatte. Thüringer Klöße wollten wir noch in diesem Jahr bei ihm in Rudolstadt gemeinsam essen. 71 wäre er im Oktober geworden. Krebs.

2024: Vernissage einer Moritz-Götze-Ausstellung in der Leunaer Klubhaus-Galerie. Jens-Fierje Dwars laudatiert. Interessante Bilder. Gute Gespräche.

 

Erschütterung

für

Matthäus Apelt / Michael Ballhaus / Carl Adolph von Basedow / Georg Joseph Beer / Ahmed Ben Bella / Mathhias Biskupek / Donato Bramante / Erskine Caldwell / John Horton Conway / Sándor Kőrösi Csoma / Michael Curtiz / Dolores del Río / Francis Durbridge / J. Geils / Franz Karl Ginzkey / Carl Andreas Göpfert / Marcel Gromaire / Guthlac / Jobst Harrich / Paul Hübner / Antioch Dmitrijewitsch Kantemir / Edem Kodjo / La Esterella / Loïc Leferme / Primo Levi / Joseph Merrick / Charnett Moffett / John O’Hara / June Pointer Whitmore / Syria Poletti / Jacques Prévert / Karl Wilhelm Ramler / Smizer Schylunowitsch / Meir Shalev / Sōchō / Stanislaus von Krakau / Julia Tsenova / Kurt Vonnegut / Otto Koloman Wagner / Thomas Wyatt d. J.

 

Das erschütterte uns nachhaltig:

1822: massakrieren osmanische Truppen Griechen auf Chios / 1952 muss eine DC-4 vor Puerto Rico notwassern, 52 Insassen ertrinken / 1965 ziehen 78 Tornados über den amerikanischen Mittelwesten, 271 Tote / Düsseldorf, 1996: Brand auf dem Flughafen, 17 Todesopfer, 88 Verletzte / Djerba, 2002: Anschlag auf eine Synagoge durch al-Quaida, 21 Menschen sterben / 2023: Pazigyi, Myanmar, Luftangriff des Militärrats auf ein örtliches Verwaltungszentrum, bis zu 100 Tote.

 

 

12. APRIL

 

Erdung

mit

Carl Christian Bry / Montserrat Caballé / Joachim Camerarius d. Ä. / David Cassidy / Tom Clancey / Imogen Cunningham / Inca Garcilasao de la Vega / Robert Victor Felix Delaunay / Michael Grzimek / Robert Emmett Harron / Hardy Krüger / Harald Lockwood / Richard Lucae / Charles Ludlam / Constantin Meunier / Bobby Moore / Valentin Nagel / Ian Parry / Nikolai Michailowitsch Prschewalski / Guillaume Thomas François Raynal / Norbert Schmid / Hieronymus Schurff / Tiny Tim / Billy Vaughn

 

An diesem Tage gewannen wir Bodenständigkeit:

1229: Ende des Albigenser-Kreuzzuges / Konstanz, 1848: Beginn des Hecker-Aufstandes in Baden / 1961: fliegt Juri Gagarin als erster Mensch ins All / 1981: erster Flug eines Space Shuttles.

 

Ich notierte:

2006: Heute Vormittag bleibt Zeit für individuelle Erkundungen von Santiago de Chile. Wir fahren mit der U-Bahn (sehr modern und sauber -nirgendwo Grafitti-, sehr pünktlich und preiswert) ins Zentrum. Noch einmal La Moneda – heute erleben wir rein zufällig den Großen Wachwechsel, großes Tamtam, preußische Märsche, zwischen den schneidig Paradierenden stromern jedoch ungestört die Straßenhunde herum, so, als nähmen sie die Parade ab, und niemand hier scheint das zu stören, gut – dann die Avenida O’Higgins entlang bis zur Iglesia San Fransisco, einzig erhaltene Kirche aus der Gründerzeit der Stadt. Weiter in den anschließenden Franziskanerkonvent, heute teilweise Museum: Gemälde vor allem, jedoch auch unglaublich kitschige nackte Jesulein mit goldigem Bubiköpfchen und deutlichem Schniedel unter Glas, schneekugelähnlich, so was hatte ich weißgott noch nie gesehen. Angeblich soll hier auch ein Faksimile der Nobelpreisurkunde Gabriela Mistrals, die bis ans Lebensende Franziskaner-Laienschwester war, ausgestellt sein, nun gut. 14.00 Uhr Sammeln der Reisegruppe in der Hotellobby, Fahrt zum Flughafen, Einchecken zur Osterinsel. Reichlich fünf Stunden Flug und nichts als Wasser unter uns, Wasser und Wolken, Wolken und Wasser… Während des Fluges holt uns die Nacht ein. Unglaublich eigentlich, dass wir zielsicher zu diesem einsamen, winzigen Eiland inmitten des riesigen Pazifiks finden und endlich aufsetzen. Die Landebahn sei eine extra lange, höre ich, von den Amis als Notpiste für Space-Shuttles gebaut. Wohl dem. Ausstieg aufs Rollfeld. Meeresschwüle, Signal, dass nun etwas ganz anderes beginnt. Im barackenähnlichen Terminal herzlicher Empfang durch unseren hiesigen Guide, Claudia, eine Rapa Nui, die perfekt Deutsch spricht (was das Ganze einmal mehr reichlich unwirklich macht) und uns Blumenkränze umhängt (sic). Einchecken im Hotel, tropischer Garten mit Datschas, frisch gepresster Mangosaft zur Begrüßung. Und auch die einheimische Hotelmanagerin spricht Deutsch (da sie mit einem Österreicher verheiratet ist)… Bis Mitternacht sitzen Jeanny und ich noch mit einem Bier am kleinen Pool, werden umweht von süßlichen Blu­mendüften, starren in den Vollmondhimmel (auch das noch), orientieren uns also am Kreuz des Südens.

2010: La Marsa. Wenn es Tee gegeben hätte auf der Promenade, köstlich wie in den Souks, mit Pfefferminze, Pinienkernen oder Mandeln, ja, wenn überhaupt, hätte ich glatt die Aussicht genossen und den Müll, all den Plastikmüll zwischen Palmen und Rabatten übersehen.

2013: Nun wohnt Mine wieder bei uns. Der Lebensgefährte unserer Tochter hat seine Stieftochter, unsere große Enkelin, wegen nichts und wieder nichts, rausgeschmissen, eine Siebzehnjährige!, wahrscheinlich, um „Platz“ für seine leibliche Tochter, unsere kleine Enkelin zu schaffen, unglaublich, unfassbar. Der endgültige Bruch offenbar.

2020: Beim Aufarbeiten der unveröffentlichten Gedichtbände Walter Bauers war mir ein Text untergekommen, den er zu seinem 62. Geburtstag, im November 1966 also, geschrieben hatte. Er sitzt abends allein in seiner Wohnung in Toronto und hat sich zum Trost eine Flasche Wein aufgemacht. Und da er genau sagt, was für ein Wein das ist, und dass das sein Lieblingswein sei, habe ich mir auch so ein Fläschchen besorgt: Grignolino Fontanafredda. Prost Walter! Und dass dein Lieblingswein auch mir schmeckt, überrascht mich keinesfalls. Zumal zu Ostern in dieser Zeit…

2024: Im März zu Eichis Geburtstag hatte einer seiner Kumpels ihn und mich zu seinem Geburtstag eingeladen. Na denn, auf nach Spergau und Prost.

 

Kartierung

für

Amakusa Shirō / Sitara Atschiksai / Gyula Babos / Josephine Baker / Clara Barton / Rudolf Benario / Margarethe Bothe / C. W. Ceram / Piero di Cosimo / Matthias Domaschk / Anne Geelhaar / Carl Humann / Walentin Petrowitsch Katajew / Wynton Kelly / Juana la Macarrona / Otakar Lebeda / Joe Louis / Michael Tarchaniota Marullus / Caspar Merian / Charles Messier / Pietro Metastasio / Mikael Nalbandian / Gustav Neuring / Herbert Horatio „Herbie“ Nichols / Alan Paton / Ludwig Pfau / Faith Ringgold / Franklin Delano Roosevelt / Fjodor Iwanowitsch Schaljapin / Werner Schroeter / Günther Schwab / Henry Siddons / Johannes Thienemann / Miroslav Tichý / Luis Trenker / Jaap van Praag /Arnold Wesker / Clemens Wilmerod

 

Das passte nicht zu unseren Karten:

Fort Sumter, 1861: Beginn des amerikanischen Bürgerkrieges / 1877 annektiert Großbritannien die Burenrepublik Transvaal / Shanghai, 1927: Triaden massakrieren Kommunisten und Arbeiter / 1970 sinkt das sowjetische Atom-U-Boot K-8 in der Biskaya, 30 Seeleute sterben.

 

 

13. APRIL

 

Warten

mit

Alexander Wassiljewitsch Alexandrow / Cemal Kemal Altun / Samuel Beckett / Friedemann Berger / Jack Bilbo / Gunter Böhmer / Ahmed Bouchiki / Jonathan Gregory Brandis / Josephine Butler / Teddy Charles / K. Sello Duiker / James Ensor / Bud Freeman / Lowell George / José Augustín Goytisolo / Seamus Heaney / Stephan Hermlin / Ragnar Jändel / Thomas Jefferson / Oskar Kohnstamm / Poul la Cour / Jacques Lacan / Georg Lukács / Siegfried Matthus / Juan Montalvo Fiallos / Julius Nyerere / Jean-Marc Reiser / Alexander Roda Roda / Bruno Rossi / Wilhelm Schmied / Chandulal Shah / Hillel Slovak / Paul Sorvino / Jurij Šubic / Richard Trevithick / Elisabeth Trissenaar / Orhan Veli / Andreas Walser

 

An diesem Tage warteten wir gern:

Nantes, 1598: Ende der Hugenottenkriege / Dresden, 1841: Einweihung der Semperoper / New York, 1870: Gründung des Metropolitan Museum of Art / München, 1901: erster Auftritt des ersten deutschen politischen Kabaretts „Die Elf Scharfrichter“ / Cape Canaveral, 1960: Star des Satelliten Transit 1B als Teil eines ersten weltweiten Navigationssystems / Bagdad, 2003: Zerstörung der Nationalbibliothek im Zuge des Dritten Golfkrieges.

 

Ich notierte:

1983: Ich fahre nach Gera zu den 21. Tagen der Kinder- und Jugendliteratur, erwarte Lesungen und hoffe auf Gespräche mit Kollegen und dem Kinderbuchverlag.

1999: Der Kosovo-Krieg scheint zu eskalieren: In der Nacht fliegt die NATO dreimal so viele Luftangriffe wie in keiner Nacht zuvor, und serbische Truppen greifen zum ersten Mal albanisches Staatsgebiet an. Andererseits verhandeln die amerikanische Außenministerin Albreight und russische Außenminister Iwanow in Oslo, nachdem aus Russland sogar schon vom Scharfmachen der Atomraketen zu hören war... In Leuna beginnt der Flieder zu blühen, obwohl es mal wieder ziemlich kühl ist. Und ich, was habe ich heute gemacht? - Einen Arzttermin wahrgenommen, Allergie-Test, da ich im letzten Jahr um diese Zeit erstmals schlimmen Heuschnupfen hatte. Aber bestenfalls lässt sich eine leichte Reizung durch Birken-Pollen feststellen. Dafür stuft mich die Ärztin beim Routine-Hauttest fest, dass ich potentiell Hautkrebs gefährdet sei, mich nach dem Sommer wieder vorstellen muss...

2000:Ich bin zur Teilnahmen an der  Sitzung der Literaturkommission ins Ministerium gebeten. Beratung über den diesjährigen Nachwuchspreis des Landes. Dann weiter nach Wernigerode zur Kulturkonferenz des Landes. Wie üblich bei solchen Anlässen, sind die Pausen- und Abendgespräche das wirklich Wichtige. Ich kann eine Menge Projekt- und Kooperationsabsprachen treffen und mit einigen Landtagsabgeordneten sogar Lobby-Arbeit leisten.

2001: Karfreitag. Lausig kalt. Immer wieder Schneechaos. Statt im Garten zu sitzen, also mal wieder ins Haus verbannt, Lesen, Musik hören, was die Sehnsucht nach Sonne aber nicht völlig befriedigen kann. Dieser Winter war einfach zu lang und scheint nicht aufhören zu wollen. Karfreitag der 13. eben.

2002: Flughafen Frankfurt/Main. Die erste Etappe unserer ersten Flugreise seit dem 11. September ist also bewältigt. In aller Herrgottsfrühe aufgestanden, kurz nach vier, da spätestens halb sechs in Leipzig einzuchecken war. Freiflug, denn auf unserem Lufthansa-Prämienkonto mussten bis Juni fleißig angesammelte Meilen abgeflogen werden, da sie sonst verfielen. Das nun nicht. Also einen Flug ausgesucht, obwohl ich durchaus noch zögerlich war. Aber wenn schon Prämienmeilen abfliegen, dann selbstredend zum weitest möglich zu erreichenden Ziel. So buchte ich vor vierzehn Tagen Malta. Dahin soll’s nun also gehen. Vorgestern dann nochmals eine Verunsicherung: Unweit südwestlich unseres heutigen Ziels, auf Djerba, war vor einer Synagoge ein Gastankwagen explodiert. Unfall, sagen die tunesischen Behörden. Klar. Sechs deutsche Touristen sind wohl bereits tot, etliche schweben noch in Lebensgefahr. Dennoch sitze ich nun am Gate B54, warte mit Jeanny auf den Flugaufruf und bin ruhig, bin wie überreizt ruhig. Gefühllos fast. Über mir ein Flughafenfernseher: ständig Bilder von den Kämpfen in Israel, all die Verwüstungen in den palästinensischen Städten, der hilflose Vermittler Powell, das Abschiedsvideo einer Selbstmordattentäterin aus Dschenin, die sich und Juden in Jerusalem in die Luft sprengte... Schon besser: der Wetterbericht: auf Sizilien und Malta sollen es heute bis 25°C werden. Leise Vorfreude, wenigstens dem dauermiesen deutschen Frühling für einige Tage entfliehen zu können. Ankunft auf Malta pünktlich. Ich schaffe es gerade noch vor ’nem Hitzeschock meinen dicken Überziehpullover über den Kopf zu bekommen: schwülwarme Luft wie angekündigt. Transfer zum Hotel nach Sliema: Mittelmeerfarben, Mittelmeerschmuddligkeit, chaotischer Verkehrs (Linksverkehr dazu!). Das Hotel dann direkt an der Hafenpromenade, Blick auf die Inselhauptstadt Valletta. Wir haben jedoch gleich ’ne Reklamation: Hinter einer Zimmerwand dröhnt permanent ein Aggregat. Die Umwälzpumpe für den Dach-Swimmingpool, erklärt uns der herbeigerufene Hotelmanager, doch stellt uns ohne Komplikationen ein anderes Zimmer zur Verfügung. Mit der Hafenfähre nach Valletta, erster kleiner Stadtrundgang. Seltsame Architektur innerhalb der gewaltigen Befestigungsmauern: schluchtenartige, rechtwinklig zueinander angelegte Gässchen, Häuser mit wabenartigen, geschlossenen Holzbalkonen. Und ständiges Reifengequietsche ringsum: der Asphalt hier ist spiegelblank. Im Hotel Treff mit einer Vertreterin der Reiseagentur, Abstimmung der gebuchten Touren und des Rücktransfers. Dann Schlendern quer durch Sliema, Abendessen in einem maltesischen Restaurant, Fisch vom Feinsten. Wer behauptete denn, auf Malta würde nichts richtig schmecken und sei obendrein sündhaft teuer? Quatsch. Dennoch auf dem Rückweg kleiner Streit ob einer Nichtigkeit (der angeblich von mir falsch gewählten Wegstrecke wegen). Uns fällt es offenkundig noch schwer, von Alltag auf Urlaub umzuschalten.

2006: Geweckt von Hahnengekräh sogleich anbaden im Pool. Und langsam dämmert’s, dass man tatsächlich in Hanga Roa, der Hauptstadt der Osterinsel, ist. Aber was heißt Hauptstadt, zum einen gibt’s hier nur noch einen Ort und zum anderen ist das sichtlich ein Dorf: relativ weitläufig inmitten Grüns, ausschließlich Flachbauten, hie und da eine Kneipe, eine Kaufhalle, abenteuerliche Fußwege, die Kirche, der Gouverneurssitz, das Rathaus, die Post, die Schule, der Fußballplatz, der Hafen… Nach dem Frühstück mit den Bus hinaus zu den alten Siedlungen. Zuerst nach Vaihu. Dies sei die letzte Stätte, die aufgegeben wurde, erklärt Claudia, erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als nach der Umweltkatastrophe und dem folgenden gesellschaftlichen Zusammenbruch, nach durch Europäer eingeschleppte Seuchen und Verschleppung in Sklaverei auf peruanische Guano-Inseln, kaum mehr als 100 Rapa Nui übrig geblieben waren, ergo die direkten Vorfahren der heutigen Osterinsulaner. (Wobei nun etwa ein Fünftel der Bevölkerung, ca. 800 Leutchen, zugezogene „Festland-Chilenen“ sind.) Wie eine Torte war dieses Inselchen einst unter den vermutlich 12 Rapa-Nui-Clans aufgeteilt: Man siedelte ringsum an der Küste, errichtete dort nahebei die Kultstätten, die Ahus, wo die Toten bestattet und dann die weltberühmten Kolossalfiguren, die Moai, aufgestellt wurden. Jeder Clan hatte je Ansehen und wirtschaftlicher Stärke einen oder mehrere Ahu, auf denen ein oder mehrere Moai standen, die mehr oder weniger groß waren und im Idealfall auch noch einen Pukao, den roten Kopfschmuck trugen. Durchaus vorstellbar, dass im blinden Eifer um die protzigste Figur, die protzigste Kultstätte, die Insel nach und nach komplett entwaldet wurde (Baumstämme als Mittel zum Moai-Transport…!). Und als infolgedessen alle Ressourcen knapp wurden, der Kampf um die Lebensmittel, ums Überleben schlechthin einsetzte, stürzte offenbar der eine Clan die Figuren des anderen von den Ahu, wachten die Moai, die Ahnenfiguren, mit ihrem Mana, ihrer mythologischen Stärke, doch über das jeweilige Stammesland, das sie überschauten. (Deshalb blickten die Moai in der Regel auch nicht aufs Meer.) Und waren die Moai dann erst einmal gestürzt (am Ende lagen alle mit den Nasen im Dreck), gab es keinerlei Tabus mehr, kam es sogar zum Kannibalismus. Angeblich soll eine der übelsten Beschimpfungen aus jener üblen Zeit gewesen sein: Das Fleisch deiner Mutter hängt zwischen meinen Zähnen… Nach Vaihu besichtigen wir die Ahu Akahanga, Hanga Tetenga und Tangaroa. Letzterer dürfte mit seinen 15 Moai wohl der imposanteste der Insel sein. Selbstredend war auch hier alles verwüstet und ein Tsunami hatte 1960 das Zerstörungswerk vollendet. Japanische Experten puzzelten jedoch alles wieder zusammen und richteten die Kolosse mittels Spezialtechnik schließlich wieder zu altem Ansehen auf. (Wenn man genau hinsieht, entdeckt man am Hals etlicher Moai, da, wo der massige Kopf durch den Sturz abbrach, nunmehr aber eine Zementkrause.) Im Übrigen scheinen bis dato zumindest die touristisch beeindruckendsten Ahu wieder hergerichtet. Höhepunkt der heutigen Tour ist zweifellos der Moai-Steinbruch Ranu Raraku am Außen- und Innenhang des gleichnamigen Kraters. Berührend: hunderte Statuen aller Größen, von „kleinen“ 4-metrigen, bis zur allergrößten, fast 21 m messenden, die in unterschiedlichsten Bearbeitungsstufen, von fertigen, auf den Abtransport zu den Ahu an den Küsten wartend, über halbfertige, der Ausarbeitung von Feinheiten (Ohren, Augen, Hände) harrend, bis erst grob aus dem einzigartig weichen Fels der Vulkanhänge herausgemeißelt, mit der Basis noch mit dem Lavagestein verbunden. Schlagartig scheint diese unglaubliche Produktionsstätte aufgegeben worden zu sein – neben Figuren waren Jahrhunderte später (und sind teilweise sogar heute noch) Werkzeuge der Steinmetze – wie zur Frühstückspause mal eben fallen gelassen - zu finden! Schlagartig scheinen die Osterinsulaner offenkundig wichtigeres zu tun gehabt tun haben, als Ahnenkulten zu frönen, so sehr diese bis dahin auch das gesamte Alltagsleben, letztlich ihr Dasein bestimmt hatten… So sehr ich mich in Vorbereitung auf diese Reise auch eingelesen hatte, beginne ich manches erst hier, als ich das alles, die Ahu, die Moai, den Steinbruch, in der Landschaft dieser Vulkaninsel sehe, zu begreifen. Gut auch, dass Claudia viel und kundig zu erzählen weiß, dabei aber stets Varianten anzubieten hat. Wer zehn Bücher über die Osterinsel gelesen hat, wird zehn verschiedene Erklärungen erfahren haben, meint sie schmunzelnd. Bis ins Detail wird sich das Ganze, was sich hier einst ereignete, wohl nie mehr rekonstruieren lassen. Bestenfalls wird’s wohl eine asymptotische Annäherung an den Wahrheitsgehalt des Mysteriums Osterinsel geben. Am Nachmittag dann vorbei am Poike, dem mit 2,5 Millionen Jahre ältesten Vulkan der Insel, zum Te Pito o Te Henua, zum Nabel der Welt - ein im Durchmesser etwa 80 cm großer, spiegelglatter, eiförmiger, magnetische Anomalien aufweisender Stein an der Nordwestküste. Bei Esoterikern aller Länder, die sich hier mittlerweile gern vereinen, ist dieser Stein sehr beliebt, höhere Mächte etc. im Spiel... Claudia meint jedoch, dass sie ähnliche von der Brandung glatt geschliffene Steine schnöde im Meer liegen sah. Interessanter insofern, dass Te Pito o Te Henua auch einer der drei herkömmlichen Namen der Insel ist. (Die anderen: Rapa Nui = großer, weiter Fleck, – und -nach Thor Heyerdahl- Mata Kite Rani = Himmelsauge). Claudia erzählt, sie könne sich vorstellen, dass der Inselname „Nabel der Welt“ daher käme, dass die Osterinsula­ner eines Tages, als der letzte Baum gefällt war und definitiv kein Holz mehr zur Verfügung stand, um seetüchtige Kanu zu bauen, die Rapa Nui sich quasi selbst in Gefangenschaft gebracht, sich völlig isoliert hatten, ihr Inselchen für sie folgerichtig zum Zentrum ihres Lebens, zum Wichtigsten und Einzigsten außer Wasser, Wasser und nochmals Wasser, eben zum Nabel der Welt wurde… Schließlich bleibt sogar noch Zeit zum Baden, Baden am schönsten der wenigen Strände hier, in Anakena, zugleich auch Kultstätte mit zwei Ahu und sehenswerten Moai, inzwischen wieder gerahmt von einem neu angepflanzten Palmenhain – Südseeromatik pur. Und beim Schwimmen in dieser Bucht fällt es mir nicht allzu schwer vorzustellen, wie hier einst der sagenhafte Ahnherr der Rapu Nui, wie hier Hotu Matu’a mit den Erstsiedlern an Land ging, wie hier gut tausend Jahre später der Osterinsel-Namensgeber Roggeveen mit seinen Segelschiffen ankerte, dann James Cook mit Georg Forster, Adalbert von Chamisso mit Kapitän Kotzebue usw.usf.

2007: Tallinn. Ehekrach & arktischer Regen. Kann jedoch sein, ein jeder hätte Probleme von der Fähre in die Altstadt zu finden. Keinerlei Schilder & schlammige Wege. Beim Geldwechseln wirst Du freundlich beschissen (wer kennt schon der Kurs zu estnischen Krone!), Tourist-Info geschlossen. Bier & Likör (wärmend) servieren Kellner in Westen, die ich als Junghippie trug & dazu folkrockts: Meine Oma fährt im Hühnerstatt Motorrad. Immerhin: Deutschritterbraten sättigt. Sonntag, der Dreizehnte.

2019: Hei, nun zieht der Winter wieder ein- schau, wie sie jubeln, die Schneeflocken! An Karfreitag also, werden wir einen Glühwein schlürfen, rot. Und zu Ostern dann freun wir uns auf die Erderwärmung, hei!

2021: Die WHO warnt, dass sich die Pandemie in einer kritischen Phase befinde, die Krankheitszahlen sich exponential steigerten: allein in der letzten Woche gab es weltweit mehr als 4,4 Millionen Neuinfektionen. Und mit dem Impfen gehe es, bis auf wenige Ausnahmen (Israel, USA, Großbritannien) nicht so recht voran, vor allem in Europa nicht, vor allem in Deutschland nicht… Hierzulande eskaliert dafür ein absurder Politstreit zwischen den „Schwesterparteien“ CDU und CSU, wer denn Kanzlerkandidat für die im Herbst anstehenden Bundestagswahlen wird. Und in Merseburg wurden die Parkmöglichkeiten vor dem Impfzentrum des Saalekreises so verändert, dass dort nun Knöllchen verteilt werden können, Leute, die tatsächlich schon einen Impftermin erhielten, bestraft werden…

 

Wende

für

Dorothy Jeanne Ashby / Giorgio Bassani / Letizia Battaglia / Archibald Stansfield Belaney / Julius Blüthner / Michel Bouquet / Annie Jump Cannon / Carlo Carrà / Ernst Cassirer / Nicolas Chamfort / Cécile Chaminade / Guillaume de Machaut / Jean de La Fontaine / Carlos Duarte / Georges Duhamel / Bettina Fless / Eduardo Galeano / Emil Gött / Günter Grass / Werner Gutjahr / Ilja Arnoldowitsch Ilf / Felix Graf von Luckner / Emil Nolde / Mary Quant / Funmilayo Ransome-Kuti / Paul Raymond / Elisa von der Recke / Thomas Rosenlöcher / Oskar Schlemmer / Muriel Spark / Jeremy Steig / Ishikawa Takuboku / Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin / John Archibald Wheeler / Leo Zeff

 

Da schien sich uns alles übel zu wenden:

344: Höhepunkt der Christenverfolgung im Sassanidenreich, an diesem Karfreitag werden bis zu 1.000 Gläubige hingerichtet / 1204. plündern Kreuzfahrer das christliche Konstantinopel und töten etwa 2.000 Einwohner / 1749 sinken vor der Küste Südostindiens die britischen Linienschiffe „Pembroke“ und „Namur in einem Zyklon, 850 Besatzungsmitglieder sterben / Colfax, Louisiana, 1873: bei Rassenunruhen kommen bis zu 150 Menschen ums Leben / Amritsar, 1919: britische Soldaten feuern auf Demonstranten, 379 Tote / Saratow, 1934: Einsturz der im Bau befindlichen Eisenbahnbrücke, 150 Tote / Gardelegen, 1945: Nazis ermorden über 1.000 KZ-Häftlinge in der Isenschnibber Feldscheune.

 

 

14. APRIL

 

Abwägung

mit

Ali Akbar Khan / Bhimrao Ramji Ambedkar / Friedrich von Amerling / Eugene „Gene“ Ammons / Averroes / Peter Behrens / María Luisa Bemberg / Ignaz Bösendorfer / Wilhelm Busch / James Branch Cabell / Javier Valdez Cardenás / Péter Esterházy / Arno Fischer / Denis Iwanowitsch Fonwisin / John Gielgud / Emil Otto Hoppé / John Howard / Christiaan Huygens / Valter Kaaver / Martin Kessel / Max Kruse / Werner Lamberz / Loretta Lynn / Mani / Hirsch David Nomberg / Abraham Ortelius / Henrique Oswald / Dean Spalding Potter / Ales Traphimawitsch Prudnikau / Oliver Rath / Gerhard Rohlfs / Moritz Schlick / Fritz Schulze / Rod Steiger / Tasada Tomotaka / Arnold Joseph Toynbee / Adolf Uzarski / Michael Wagmüller

 

Das erschien uns bestens abgewogen:

Rom, 972 heiratet Kaiser Otto II. Theopanu / Nürnberg, 1561: Himmelsphänomen, das wie ein Luftkrieg zwischen dreigliedrigen Kugeln und zylindrischen Objekten erscheint und dargestellt wird / Paris, 1812: der Tischler Cochot meldet die Jalousie zum Patent an / 1900: Eröffnung der Pariser Weltausstellung / 1929 wird erstmals der „Große Preis von Monaco“ gestartet / 1931: Ausrufung der zweiten Spanischen Republik / 1975: die Bevölkerung des Königreichs Sikkim entscheidet sich zum Anschluss an Indien / Genf, 1988: Unterzeichnung eines Ankommens zum Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan / Dhaka, 1989: erstmals findet der folkloristische Umzug Mangal Shobhajatra statt, mittlerweile immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe / Luzern, 1994: Wiedereinweihung der durch einen Brand zerstörten Kapellbrücke / Kourou, Guayana, 2023 startet die europäische Raumsonde „Juice“ zum Jupiter.

 

Ich notierte:

1974: Ostersonntag. Noch im Halbschlaf spüre ich, wie meine Bettdecke weggerissen wird. Jemand beginnt auf meinen Beinen herumzupeitschen. Als ich die Augen öffne, erkenne ich Mutter mit einem grünen Reisigbündel. „Schmack Ostern!“ Brauchgemäß drehe ich mich um und biete auch meinen Allerwertesten an, der auch umgehend bearbeitet wird. Halb acht. Natürlich denken Jeanny und ich nicht daran, jetzt schon aufzustehen, meingott! Als wir es dann gegen elf doch tun, blicken wir in nichtösterliche Gesichter, Vater, Mutter, Emil sind vergnatzt, dass wir uns allen anderen Osterbräuchen, vom Eiersuchen bis Eieressen widersetzt haben. Zum Glück fahren sie bald zu Evi nach Ha-Neu. Und als sie am Abend wiederkommen, bessert sich die Stimmung zwischen uns und ihnen zusehends auf. „Schmack Ostern!“

1996: Lissabon: Alis Ubbo, liebliche Bucht, nannten Phönizier den Ort, und nachfolgende Herrscher, Römer, Westgoten, Araber, Portugiesen, empfanden offenbar ähnliches hier: Olisippo, Ulixippona, Al-Ashbouna, Lisboa. Vasco da Gama segelte aus der Tejo-Mündung gleich zahllosen weiteren Entdeckern terra incognita zu. Und mit den Schätzen der Kolonien wuchs die Stadt zum Zentrum eines Weltreiches. Doch dann das Erdbeben/ 1755/ Zivilisationsschock. Ein Anfang vom Ende seitdem - Prunk und Verfall in einem. Verlust gigantischer Macht bis hin zur Armut. Und ins Katastrophenbild passend: der Brand des Chiado-Viertels/ 1988. Zwar wird gewerkelt allenthalben, und Alfama oder Baixa, das Castelo de Sao Jorge oder die Sé, der Praça do Comércio oder das Torre de Belém faszinieren wie eh, doch nichts kann mehr so sein wie es war. Vom letzten Versuch neu anzufangen, April 74, mit Argwohn oder Hoffnung betrachtet von der Welt, verblassen noch rote Nelken auf bröckelndem Putz.

1999: Fahrt nach Taucha, Gespräch mit Dr. Pleßke, Vorbereitung einer Veranstaltung zur Würdigung des fast schon vergessenen Merseburger Schriftstellers Siegfried Berger (dessen Nachlaßverwalter Dr. Pleßke ist) am bevorstehenden Welttag des Buches. Von Taucha nach Leipzig (wo es graupelt, meingott), Jahresversammlung des Verbandes der Verleger und Buchhändler. Hochinteressanter Vortrag von Professor Sauer aus München über Kontinuität und Veränderungen des Buchmarktes, obwohl es da nicht eben Ermutigendes zu sagen gibt. Nachdenkenswert aber: Bücher haben einen wesentlich längeren Bestand als elektronische Medien, da sie als Hardware schlichtweg nur den Leser benötigen, keinerlei sich ständig verändernder technischer Geräte. Informationen stehen also nicht unbegrenzt lange zur Verfügung... Mit der Bosch Stiftung einige ich mich heute telefonisch über die Konditionen meiner freien Mitarbeit ab Juni. Danach schreibe ich meine Kündigung an den Künstlerhausvorstand und öffne mir ein Fläschchen Wein...

2002: Sonntag. Erster Ausflug auf Malta: die sogenannte Drei-Städte-Tour. Das Wetter ist noch besser als gestern, längst nicht mehr so schwül. Der Tourbus kommt pünktlich, der Guide erweist sich als freundlich und kompetent, weiß interessant zu erzählen und antwortet auf Fragen präzise. Da hatten wir im Laufe diversen Reisen ja schon ganz anderes erlebt... Als die drei Städte bezeichnen die Malteser die Orte Cospicua, Senglea und Vittoriosa, alle drei östlich der Landzunge, auf der Valletta liegt, dazwischen der Grand Harbour, der große Naturhafen, der Maltas Bedeutung ausmacht. Die Insel verfügt über keine Bodenschätze, ist auch landwirtschaftlich nur beschränkt nutzbar, liegt jedoch strategisch günstig mitten im Mittelmeer und hat dazu eben natürliche und gut zu schützende Häfen. Seit Menschengedenken war die Insel umkämpft. Phönizier, Römer, Byzantiner, Araber, Normannen, Spanier, Ordensritter, Franzosen, Engländer beherrschten die Insel und somit auch große Teile des Mittelmeerraumes. Die älteste Festung und Stadt war Birgu, das nach dem großen Sieg über die belagernden Türken Ende des 16. Jahrhunderts vom Johanniter-Großmeister in Vittoriosa umbenannt wurde. Die zweite Festung und Stadt dann auf dem nächsten Felsvorsprung in den Grand Harbour Senglea, dann Cospicua, schließlich Valletta, das alles äußerst wehrhaft von einem gewaltigen doppelten Mauersystem umgeben. Westlich davon neuere Ansiedlungen wie Sliema.

Heute bieten diese Wehrstädte phantastische Aussichten: ich fotografiere von Zitadellenvorsprüngen, wir staunen von den Piers die Wälle hinauf, laufen endlich durch die Altstadt Vittoriosas, besichtigen den Großinquisitor-Palast. Danach begegnet uns auf der Straße ein gutangezogener, der unseren Guide freundlich grüßt, kurzer Wortwechsel im Vorbeigehen. Stolz sagt unser Guide dann, das sei ihr Präsident gewesen. Wie? – Maltas? Oder seiner Firma? Möglich wäre Ersteres schon, so überschaubar wie hier alles erscheint. Und obendrein klingt es so unwahrscheinlich für Mitteleuropäer, dass es einfach wahr sein muss. Wir trafen den Präsidenten. Punktum. In Valletta lassen wir uns am zentralen Busbahnhof der Insel beim Tritonsbrunnen absetzen, schlendern nach Floriana hinein. (Eine weitere von 26 Städten, die hier nahtlos ineinanderübergehenden und wo sich 80% der 400.000 köpfigen Inselbevölkerung zusammendrängt.) In Floriana beginnt heute der Reigen der bis in den Herbst dauernden Fiestas, der Patronatsfeste. Festlich geschmückt die Straßen, viel Volks unterwegs, biertrinkend, lärmend, Blitzknaller werfend. Blaskapelle. In Valletta essen wir einen Happen, besichtigen dann weitere Sehenswürdigkeiten, Kirchen, den Großmeisterpalast etc. Schließlich mit der Fähre zurück nach Sliema. Dabei geht mir durch den Kopf, was der Guide auf meine Frage antwortete, ob sie Probleme mit Flüchtlingen erwarteten, wenn Malta, so exponiert wie es heute läge, wie geplant in zwei Jahren der EU beitrete. Die hätten sie längst, in der Nähe des Flughafens gäbe es ein riesiges, konzentrationslagerähnliches Areal, die Unterkünfte prallvoll mit Afrikanern vor allem. Chaotische Zustände, oft komme es zu Gewaltausbrüchen, Meutereien, das koste dem kleinen Staat schon jetzt mehr als er sich leisten könne... Kein Thema für die Weltmedien jedoch offenbar, denn beim besten Willen kann ich mich nicht entsinnen, davon jemals gehört zu haben. Für den Abendbummel besteigen wir einen maltesischen Linienbus. Auf Malta muss man Linienbus gefahren sein, sagt man. Also mutig hinein in eines dieser allgegenwärtigen klapprigen, weiß-orange-gelb-gestreiften Vehikel und für billiges Geld nach St. Julians, einem der sich zunehmend für den Tourismus entwickelnden Orte. Hier fängt es jedoch an zu regnen, was auf Malta laut Reiseführer eigentlich recht selten vorkommt. Nun gut. Wir suchen Unterschlupf in einer Bushaltestelle, doch schrecken plötzlich gewaltig auf: Aus einem vorbeifahrenden Auto wirft jemand etwas Explodierende ins Wartehäuschen. Im Augenblick des Knalls ist aber nicht registrierbar, dass es bloß ein Blitzknaller, ein Fiesta-, ein Freuden-Knaller ist. Herzrasen... Dennoch beobachten wir zu guter Letzt von der Hotelterrasse aus das nächtliche Fiesta-Feuerwerk über Floriana, trinken dazu maltesischen Rotwein. Schöner Abend.

2006: Karfreitag auf der Osterinsel. Die Geräusche der Nacht: lautes Grillengezirp, Hundegekläff und Brandungsrauschen und ab und an heranwehender polynesischer Gesang. Gegen Morgen dann wieder lauthals die Hähne und immer wieder trommeln Regengüsse aufs Dach. Allgegenwärtig auf Rapa Nui sind Pferde, mal in Herden frei durch die Graslandschaft streifend, mal die Wege kreuzend, blockierend. Und plötzlich galoppiert auch immer mal wieder ein Reiter durch Hanga Roa. Nach wie vor scheint es mir hier zuweilen, als passiere manches nicht so ganz wirklich, und nicht zuletzt, da mit uns in der Reisegruppe (die sich glücklicherweise als unproblematisch erweist, keine Sonderwünschler, keine Stets-zu-spät-Kommer, keine krampfhaft Anschluss Suchende) zwei stark schwäbelnde eineiige Zwillingsdamen unterwegs sind, die sich stets identisch kleiden, Gleiches essen und trinken (Pisco Sour) und sogar gleich lächelnd und gestikulieren. Und als sie dann auch noch gleiche Sonnenschirme aufspannen und so über die Insel spazieren denke ich, womöglich in ein neues Alice-Wunderland geraten zu sein… Zu Beginn der für heute geplanten Tour gießt es wie aus Kübeln. Claudia sagt, dass die meisten der unbefestigten Inselwege für unseren Kleinbus so zumindest für eine Weile unpassierbar werden und schlägt vor, das Mögliche zu versuchen, variiert das Programm in der Hoffnung auf Wetterbesserung. Zuerst zu einer malerischen Höhle am Meer, Ana Kai Tangata, die so genannte Menschenfresserhöhle, mit allerdings zauberhaften Deckenmalereien, Seeschwalbenfresken. Durchaus verbreitet im polynesischen Raum war der Glaube, mit dem Fleisch eines Verstorbenen/Getöten auch dessen Mana, dessen Kraft, in sich aufzunehmen. Auf Rapa Nui schien der Kannibalismus jedoch vor allem mit dem Kampf ums nackte Überleben zu tun gehabt zu haben. Nächste Station: Puna Pau, der Pukao-Steinbruch auf einem kleinen Nebenvulkanhügel, hier wurden die roten Kopfbedeckungen der Moai, die wohl den traditionellen roten Kopfschmuck Höhergestellter nachahmen, aus dem Fels gehauen, die Hutfabrik also. Phantastischer Blick auf Hanga Roa. Da langsam die Sonne durchbricht, die Hügellandschaft in ein wanderndes Licht-Schatten-Farbspiel taucht, bleiben wir noch ein bisschen und Claudia nutzt dies, uns Alltäglichkeiten zu erzählen: Schon im Kindergarten lernen die Einheimischen wie die hier wohnenden jungen Chilenen Rapa Nui und Spanisch. Die Grundschule durchläuft man auf der Insel, für höhere Schulen geht man zumeist aufs Festland ins Internat. Und studiert wird (oft mit speziellen Stipendien) auch auf Hawaii oder in Neuseeland. Dann kommen die jungen Leute aber zumeist auf die Insel zurück, suchen sich hier eine (zumeist nicht ihrer Qualifikation entsprechende) Beschäftigung. Ein Problem, keine Frage, doch Heimweh und Verwurzelungen scheinen stärker. Eine Tageszeitung gibt es nicht auf der Osterinsel, mit den derzeit fünf pro Woche landenden Flugzeugen kommen jedoch chilenische Zeitungen her. Fernsehnachrichten gab’s vor Jahren nur per Video, um eine Woche zeitversetzt. Nun ist man per Satellitenschüsseln und per Internet stets up to date. Und seit kurzem gibt es sogar Inselfernsehen: Der Bürgermeister und die Gouverneurin berichten über geplante Projekte oder man erfährt welcher Spezialist in dieser Woche in der Ambulanz anwesend ist, entweder der Zahnarzt oder der Tierarzt oder… Weiter zum Ahu Akivi, der einzige Ahu, der keine Begräbnis-, sondern ausschließlich Kultstätte war. Nur hier blicken die Moai nichts ins Landesinnere, übers Stammesland, sondern aufs Meer hinaus. Die sieben Statuen hier sollen die sieben Botschafter sein, die der Ahnherr Hotu Matu’a der Legende nach (von Mangareva oder Hiva) einst aussandte, um neuen Siedlungsraum zu finden. So wurde Rapa Nui entdeckt. Fünf Boschafter blieben und bereiteten alles für die Landnahme vor, zwei fuhren zurück und brachten den König mit 500 Getreuen hierher. Die Geschichte der Erstbesiedlung also. Möglicherweise gab es später eine zweite Besiedlungswelle, waren die einen dann die so genannten Kurzohren, die ande­ren die Langohren, zwischen denen dann die tödlichen Rivalitäten ausbrechen sollten… Interessant, dass Wissenschaftler 1994 mit einem rekonstruierten Hochseekanu von Mangareva her nach 17 Tagen die Osterinsel erreichten. Nach einer kleinen Erfrischungspause (schnell mal in den Pool gesprungen, da die Sonne schon wieder brennt), fahren wir zu den Ahu Vinapu I + II. Da der erste Heyerdahl stark an in Peru gesehene Mauern erinnerte, stellte er die (mittlerweile widerlegte) Theorie auf, die Osterinsel sei vom Festland her, von den Inka besiedelt worden. Anders als in Peru handelt es sich hier nicht um riesige, sorgsam zusammengefügte Steinblöcke, sondern nur um passgenaue Platten zur Umfassung des Ahu. Da diese Ahu-Bauweise jedoch einmalig ist (und der jüngere nahebei stehende Ahu Vinapu II bereits nicht mehr so kunstvoll ausgeführt wurde, sondern wieder in loser Steinaufschüttung) meint Claudia, dass die immer mal wieder auftauchende angebliche zweite Siedlungswelle möglicherweise eine verschwindend kleine Gruppe von Leuten war, die eventuell vom Festland kamen, Inka, die alsbald assimiliert wurden, jedoch ihr Wissen kurzzeitig zum Ahu-Bau einbrachten. Tatsächlich scheinen jüngste wissenschaftliche Erkenntnisse zu belegen, dass der Inka-Prinz Tupac Yupanqui im 15. Jahrhundert mit Segel-Flößen polynesische Inseln und auch Rapa Nui erreicht haben könnte… Schließlich fahren wir zum Krater Rano Kau hinauf. Beeindruckender Blick über die Insel, dann über den Vulkanschlund, 200 m tief, 1.600 m im Durchmesser. Und hier oben befindet sich auch die Orongo-Kultstätte, nicht zuletzt bekannt geworden durch Kevin Costners Film „Rapa Nui“, dessen Originalteile hier gedreht wurden. Zum Meer mit den drei kleinen vorgelagerten Inseln Motu Kao Kao, Motu Iti und Motu Nui fällt die Krateraußenwand 300 m steil ab. Einmal im Jahr fand in Orongo der große Vogelmann-Wettbewerb statt, wurde der Vogelmann-Kult begangen. Möglicherweise um 1680 könnte es infolge der Umweltkatastrophe zum Bürgerkrieg und/oder einem Militärputsch gekommen sein, was logischerweise auch zu neuen kulturellen und religiösen Ritualen und Verehrungen führte. Offenkundig brach der alte Moai-Ahnenkult zusammen und fortan wurde nur noch ein Gott aus der bisherigen polytheistischen Götterwelt verehrt: Makamake. Damit stieg der Vogelmann-Kult ins rituelle Zentrum auf. Nicht von ungefähr sicherlich, dürfte man sich in kanulosen Zeiten doch der ausweglosen Isolation bewusst geworden sein. Und Vögel hingegen stehen für ungebundene Freiheit, fliegen wohin du willst… Die Vogelmann-Verehrung, noch heute sichtbar in Petroglyphen und Höhlenmalereien, mit dem Wettbewerb um das erste Ei der Rußseeschwalbe, passt also bestens ins Bild. Orongo ist ein seltsamer Ort, hoch oben auf dem Kraterrand des Rano Kau: Für die Häuptlinge, deren Gefolge und natürlich für die Wettkämpfer, wurden hier extra Häuser aus Stein gebaut, eine Art olympisches Dorf, hier wartete man Jahr für Jahr, dass die erste Rußseeschwalbe über den vorgelagerten Inselchen entdeckt wurde. Dann gab der Häuptling, dessen Wettkämpfer im vergangenen Jahr gewonnen hatte und der seitdem über Rapa Nui herrschte, das Startzeichen. Die Vertreter der Stämme rutschten auf Binsengeflechten die Klippen hinab, schwammen etwa 2 Kilometer durch Hai verseuchtes Wasser nach Moto Iti, warteten bis eine erste Schwalbe ihr Ei gelegt hatte, versuchten es einander streitig zu machen, schwammen zurück und kraxelten den Kraterrand wieder hinauf und übergab seinem Stammesoberhaupt dieses kostbare Ei. Nun regierte der für ein Jahr, bestimmte so u.a. wie die wenigen Lebensmittel verteilt wurden – nicht ganz unwichtig und interessante Konsequenz eines Fruchtbarkeitskults… der Wettkämpfer wurde belohnt, indem er sich eine von sieben Jungfrauen, die seit einiger Zeit vor dem Wettkampf in einer Höhle bei Anakena hausen mussten, um eine weißere, herrschaftlichere Haut zu bekommen, zur Frau wählen durfte. Zuvor deflorierte aber noch der oberste Priester die Auserwählte mit seinen Fingern. Welche Ehre. Claudia erzählt, dass die Statisten für den Costner-Film hauptsächlich Rapu Nui waren, die Insel während der Dreharbeiten durchaus von Hollywood profitierte. Als man dann jedoch das Endprodukt sah, war die Enttäuschung groß. Diese kitschig zentrale Liebesgeschichte, diese unzulässige Zusammenziehung der alten und neueren Kulte wie der gesellschaftlichen Ereignisse! Einhellig war man aber auch der Meinung, dass der Vogelmann-Kult gut dargestellt wurde.

2021: So recht kann ichs noch nicht fassen: ich bin endlich mal nach endlosen Versuchen in einer Corona-Hotline durchgekommen, und: Jeanny und ich haben einen Impftermin! Erstimpfung schon diesen Sonnabend, Zweitimpfung am 3. Juli – wow!

2022: Ausgelesen: „Die Jakobsbücher“ von Olga Tokarczuk, 1.200 Seiten großartige Literatur einen würdigen Nobelpreisträgerin. Magisch wird man in untergegangene Welt der Schtetele, des Ostjudentums, das bizarre Leben des selbsternannten Messias Jakob Frank hineingesogen. Beeindruckend.

 

Abschluss

für

Chatschatur Abowjan / Bibi Andersson / Horst Bastian / Benny Bailey / Klaus Bednarz / Ignaz Bösendorfer / Rachel Carson / Colin Davis / Simone de Beauvoir / Balthasar Denner / Boris Djacenko / Joachim Nicolas Eggert / Bernt Engelmann / Pete Farndon / Henri Giffard / Carl Hagenbeck / Karl Höller / Ollie Johnston / Phil Katz / Martin Kessel / Johann Erasmus Kindermann / Günther Krupkat / Wladimir Wladimirowitsch Majakowski / Fredric March / Harry Meyen / Alice Miller / Anthony Newley / Amalie Emmy Noether / Jeanne-Antoinette Poisson / Ramana Maharshi / Gianni Rodari / Sabas / John Singer Sargent / Bernard Schultze / Mark Sheehan / Percy Sledge / M. Visvesvaraya / Friedrich Wilhelm Wolters / Ludwik Lejzer Zamenhof

 

Das schloss uns etliches ab:

Callao, Peru, 1864: Beginn des Spanisch-Südamerikanischen Krieges / 1912 sinkt die „Titanic“ im Nordatlantik, 1.514 Menschen kommen ums Leben / Bombay, 1944: der britische Frachter „Fort Stikine“ explodiert im Hafen, 1.500 Tote / Potsdam, 1945: britischer Luftangriff, bis zu 5.000 Tote / 1986 kommen in Bangladesh 92 Menschen in einem Hagelsturm ums Leben / 2010: Erdbeben im tibetischen Bezirk Yushu, mindestens 400 Tote / 2022 versenkt die ukrainische Marine das russische Flaggschiff „Moskwa“ Raketen vor der Krim / 2023 brechen im Sudan Machtkämpfe aus, bei denen gleich zu Beginn bis zu 100 Menschen ums Leben kommen / 2024 sterben in Pakistan nach schweren Regenfällen mindestens 29 Menschen..

 

 

15. APRIL

 

Vielversprechendes

mit

Dodi Al-Fayed / Artur Alliksar / Corrado Alvaro / Anastasio Mártir Aquino San Carlos / Erich Arendt / Beate Barwandt / Basdeo Bissoondoyal / Marie Camargo / William Cullen / Leonardo da Vinci / Nanak Dev / Jango Edwards / Leonhard Euler / Johann Friedrich Fasch / Felice Fontana / Arshile Gorky / Nikolai Stepanowitsch Gumiljow / Hermann Graßmann / Henry James / Nick Kamen / Hermann Köhl / Georg Kolbe / Ernst Lehmann / Jean Moréas / Josef Romano / James Clark Ross / Etienne Pierre Théodore Rousseau / Wallace Reid / Bessie Smith / Boris Natanowitsch Strugazki / Corrie ten Boom / Nikolaas Tinbergen / Thomas Tranströmer / Wilhelm Wagenfeld / Robert Walser / Richard von Weizsäcker / Max Wertheimer / Woolly Wolstenholme / Benjamin Zephaniah

 

Das hielten wir für durchaus vielversprechend:

1218 wird Bern freie Reichsstadt / Merseburg, 1614: „fiel nemlich ein Knabe von 6 Jahren über der Waßer Kunst in die Salah, u. wurde von dem Waßer durch das Rad gezogen. Als er durch kommen, wurde er von dem Müller gesehen u. herausgezogen. Der Knabe war anfänglich gantz todt, als aber das Waßer von ihme schoß, kahm er wieder zu sich selbst, u. mangelte ihme nichts“ / 1736 rebellieren die Korsen gegen die Genuesische Besatzung / Paris, 1874: erste Impressionismus-Ausstellung / 1945 befreien britisch-kanadische Truppen das KZ Bergen-Belsen / Imst, 1951: Eröffnung des ersten SOS-Kinderdorfes / Marrakesch, 1994: Gründung der Welthandelsorganisation WHO / Antwerpen, 2016, die bislang größte Schleuse der Welt, die Kieldrechtschleuse geht in Betrieb / 2023 werden die letzten drei deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet.

 

Ich notierte:

1986: Prognosen besagen, dass der Dritte Weltkrieg in einem Krisenherd der dritten Welt beginne. Als Jeanny von der Nachtschicht kommt weckt sie mich und sagt, dass die Amis seit 2 Uhr Tripolis bombardierten. Da möchte man am liebsten nicht mehr aufstehen. Hätte Mr. Reagan mit diesem Angriff noch 5 Tage gewartet, hätte er gut sagen können, dass das angesichts des Geburtstages eines gewissen Herrn, alles andere als zufällig am 20. April, geschehen wäre…

2002: Mit einem der abenteuerlichsten, Saharastaub verdreckten Linienbus nach Rabat, der alten Inselhauptstadt Unterwegs, in Mosta, fällt Jeanny auf, dass die Kirchturmuhren alle falsch, alle unterschiedlich falsch gehen. Mir fällt ein gelesen zu haben, dass dies auf Malta bewusst so geregelt sei, damit der Teufel verwirrt wird, um nicht wissen zu können, wann die Heilige Messe beginnt. Gut, doch ob das gegen die Hölle hilft, in der Zeitzünder eingestellt werden? Von Rabat zu Fuß nach Mdina, der sogenannten silent city. Aber so silent wie verheißen ist es in dem vollständig innerhalb einer Zita­delle errichteten Ortes dann nicht. Überall Straßenbauarbeiten, Absperrungen, Minibulldozer in den superengen Sträßchen, Dieselgestank. Dazu Scharen von japanischen Touristen. Also weiter. Freundlich weist uns ein Malteser den Weg zum Bus nach Dingli. Diese Haltestelle hätten wir nie gefunden. Freundlich dann auch eine alte Frau in Buskett, wo wir ausstiegen, um nach Clapham Junction zu kommen, bronzezeitliche Wagenspuren laut Reiseführer und etwas Einmaliges in der Welt. Dennoch sind wir weit und breit die einzigen Touristen hier. Und ohne die freundliche Malteserin hätten wir in diesem touristischen Niemandsland wohl weder die Wagenspuren als solche entdeckt noch die dahinter liegenden urzeitlichen Höhlen gefunden. Die ist dann durchaus sehenswert, wenn nicht phantastisch, will sagen: Phantasie anregend. Mindestens ebenso rätselhaft wie die angeblichen Wagenspuren – schienartig und schachbrettartig in den Fels gehauene parallel verlaufende Vertiefungen, wozu? – erscheint, wie dieses als archäologisch bedeutsam beschriebenes Gelände reichlich vermüllt und touristisch brach liegt. Weiter zu den Dingli Cliffs, malerische Felsabbrüche an der Süd­seite der Insel. Aber so paradiesisch hier manches anmutet - die kleine Kapelle am Klippenrand, die Gärten auf einer Zwischenterrasse – ist es dennoch nicht. Ständiges Gewehrgeknalle: Malteser gehen einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen nach, der Zugvögeljagd. Auf dem Weg zur Stadt Dingli sehen wir dann auch noch einen Alten in seinem Steingarten Vogelfallen stellen... Von Dingi mit dem Bus zurück nach Valletta. Heute besichtigen wir die eindrucksvolle St. John’s Co-Cathedral mit all den bunt intarsierten Grabplatten der hier begrabenen Ordensritter. Abstecher nach Lower Barracca Gardens oberhalb der Hafeneinfahrt, schließlich vorbei an Fort St. Elmo mit dem Kriegsmuseum auf der Spitze der Landzunge zur Fähre nach Sliema. (Kriegsmuseum, verständlich hier auf dieser Insel mit seiner Geschichte, doch wann und wo gibt’s auf dieser Welt endlich mal ein Friedensmuseum!)

2006: Hanga Roa. In dieser Nacht wurde getrommelt, polyrhythmisch polynesisch. Und Dorfgespräch ist, dass ein Kreuzfahrtschiff anlegen wird. Etwa 12- bis 15-mal im Jahr geschieht das mittlerweile. Meist kommen diese Schiffe wohl von Valparaiso her, stoppten vor der Robinson-Crusoe-Insel und fahren weiter nach Tahiti. 600 Leute werden heute erwartet - alle Busse und Taxis und Fremdenführer werden stehen habacht! -, aber zuerst einmal ist noch nichts von Touristenscharen und einem Luxusliner zu entdecken. Erst nachdem wir Tahai, die stimmungsvolle Kultstätte gleich hinter den letzten Hütten von Hanga Roa besichtigten, wo der einzige Moai aufragt, dem man unlängst wieder Korallenaugen einsetzte, und das Museo der Insel besuchten, taucht am Horizont auf einmal etwas größer werdendes Weißes auf. Meingott, wie müssen die völlig isolierten Insulaner einst aufs Meer hinausgestarrt haben, als die Segel der europäischen Entdecker näher kamen! Im Museo fällt mir auf, dass nur Faksimiles der Rongorongo-Tafeln ausgestellt sind. Rongorongo, die einzigartige Schrift der Osterinsel, gab der Wissenschaft lange Rätsel auf. Heute glaubt man zu wissen, dass dies keine Laut-, sondern eine Zeichenschrift ist, deren Symbole den Priestern ermöglichten, rituelle Erzählungen zu memorieren, Gedächtnisstützen sozusagen. Das Wissen aber, wofür diese Symbole stehen, somit der Textinhalt selbst, ging fast vollständig verloren. Etwa 25 dieser hölzernen Schriftdokumente wurden im 19. Jahrhundert gefunden. Und alle befinden sich nun in europäischen oder amerikanischen Museen und Sammlungen. Eine Schande! Mit welchem Recht werden den Osterinsulanern, die eindeutig ihnen gehörenden und für die Rapa Nui Kultur und Identität unersetzbaren Tafeln vorenthalten? Nach köstlichem Abendessen (Thunfisch-Carpaccio und Cebiche – das sind Rohfischwürfel in Kokosmilchsauce mit Salat, Taro und Reis) zum Auftritt des „Ballet Cultural Rapa Nui – Kari Kari“. Und da scheint alles noch echt – die Tänzer und Tänzerinnen, Musiker und Sänger haben schlicht selbst Freude an ihren Tänzen und Gesängen „Hoko“ und „Sau Sau“, vermitteln uns glaubwürdig Osterinsel-Charme und -Flair.

 

Vers

für

Robert Anasch / Anna Ancher / Vittorio „Vik“ Arrigoni / John Jacob Astor IV / August Wilhelm Bach / Antonie Baumberg / Eleasar ben Ja’ir / Rosalba Carriera / Joseph Crocé-Spinelli / Simon Dach / Aimé-Jules Dalou / Michael Evenari / Ruben Fonseca / Jacques Futrelle / Michael Gaismair / Greta Garbo / Jean Genet / Franz Seraph Henseler / Gerda Herrmann / Allen Holdsworth / Hu Yaobang / Pedro Infante Cruz / Walter Kaufmann / Lee Konitz / Gaston Leroux / Abraham Lincoln / Michail Wassiljewitsch Lomonossow / Robert Musil / Jack Phillips / Amparo Poch y Gascón / Karl Benjamin Preusker / Joey Ramone / Schnuckenack Reinhardt / Eduard Rhein / Caroline Rudoplhi / Jean-Paul Sartre / Corrie ten Boom / Totò / César Vallejo / Kenneth Williams

 

Das erschien uns alles andere als poetisch:

73: römische Truppen stürmen nach einjähriger Belagerung die Festung Masada, 960 jüdischen Verteidiger wählten zuvor den Freitod / 1031 Bari wird nach dreijähriger Belagerung von den Normammen besetzt / Lyon, 1834: der zweiter Aufstand der Seidenweber beginnt, bei dem mehr als 600 Rebellen ums Leben kommen / 1917 torpediert ein deutsches U-Boot den britischen Truppentransporter „Cameronia“ vor Malta, 210 Menschen sterben / 1941 bombardiert die deutsche Luftwaffe Belfast, über 1.000 Tote / 1986 bombardieren US-Jets Tripolis und Bengasi, 36 Tote / Sheffield, 1989: Panik bei einem Fußballspiel, 96 Tote, 730 Verletzte / Mekka, 1997: bei einem Brand auf einem Zeltplatz sterben 343 Pilger, 1.500 werden verletzt / Busan, 2002: eine Boeing 767 stürzt beim Landeanflug ab, 128 Insassen kommen ums Leben / Boston, 2013: Anschlag auf einen Marathonlauf, 3 Tote, 264 Verletzte / Paris, 2019: Großbrand der Kathedrale Notre-Dame.

 

 

16. APRIL

 

Flugversuch

mit

Kingsley Amis / Carolina Beatriz Ângelo / Peter Apian / Joseph Black / Rolf Dieter Brinkmann / Ford Madox Brown / David McDowell Brown / Charlie Chaplin / Merce Cunningham / Anatol France / John Franklin / Bennie Green / Jakob von Heine / Edmond Jabès / Jožka Jabůrková / Trijntje Keever / Lee Kerslake / Sarah Kirsch / Hermann Lange / Boby Lapointe / John Law / Sibylle Lewitscharoff / Henry Mancini / Herbie Mann / Spike Milligan / Eberhard Panitz / Claude Papi / Nikolaj Pipatschuk / Selena Quintanilla-Pérez / Charlotte Salomon / Christian Georg Schütz d. J. / Hans Sloane / Ernest Solvay / Dusty Springfield / Esbjörn Svensson / John Millington Synge / Ernst Thälmann / Tristan Tzara / Peter Ustinov / Élisabeth Vigée-Lebrun / Sándor Wagner / Karl Julius Weber / Leó Weiner / Elmar Wepper / Wilbur Wright

 

An diesem Tage schienen wir abzuheben:

Paris, 1856: Unterzeichnung der Seerechtsdeklaration / 1853: Inbetriebnahme der ersten Eisenbahnverbindung Asiens zwischen Bombay und Thane / 1871: Verabschiedung der Bismarckschen Reichsverfassung / 1912: Harriett Quimby überquert als erste Frau im Alleinflug den Ärmelkanal / 1913 trifft Albert Schweitzer in Lambaréné ein / 1917: Lenin kehrt aus dem Schweizer Exil nach Russland zurück / 1922: Unterzeichnung des Vertrages von Rapallo / Paris, 1948: Gründung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

 

Ich notierte:

1974: Heute habe ich mir ab Mittag freigenommen, da heute Sprechstunde bei Cathrins behandelndem Arzt ist. Jeanny und ich fahren mit der Straßenbahn (da das Moped mal wieder streikt) ins Krankenhaus. Nach der üblichen Wartezeit erfahren wir, dass das Cathrins Geschwür wahrscheinlich durch eine Schmierinfektion verursacht, geschnitten wurde und nun gut verheilt. Wenn alles abgeheilt ist, können wir unsere Tochter holen und das könnte vielleicht schon Ende der Woche sein. Wunderbar! Wir bedanken uns und steigen die Treppen hinauf zur Kinderstation. Eine Schwester zeigt uns durch die Glasscheibe unser schlafendes Töchterchen, Sie sieht gut, sieht wohlgenährt aus. Ab und zu blinzelt sie verstohlen, als wolle sie fragen: Na, was wollt ihr denn schon wieder? Ich will doch schlafen! So starten wir denn den zweiten Versuch, Tapeten für unsere Wohnung zu kaufen. Und nach einigem Hin und her gelingt dies tatsächlich. Mein Vater fährt uns und die Rollen nach Leuna, dort kaufen wir noch Eimer, Besen und Scheuerleisten – die ersten eigenen Utensilien für die erste eigene Wohnung…

1999: In aller Herrgottsfrühe nach Wefensleben im ehemaligen Grenzgebiet nahe Helmstedts, Veranstaltung in der Gemeindebibliothek für Omas, Opas und Enkel. Läuft sehr gut, vielleicht da man ja auch selbst Opa ist... Von Wefensleben gegen Mittag nach Magdeburg. Wahlversammlung des Friedrich-Bödecker-Kreises im AMO-Kulturhaus. Alles andere als ein satzungsgemäße Routineakt wie in vergangenen Jahren, da der Vorsitzende, Heinz Kruschel, nicht zur Wiederwahl steht und sein Verhältnis zu mir, als seinen Stellvertreter, wie zu Thea Iser als Geschäftsführerin, nicht mehr so freundschaftlich ist, wie es einst war. Da ist bei Heinz wohl viel Verbitterung im Spiel (was auch in seiner Abschiedsrede überdeutlich wird), da steht ein knapp Siebzigjähriger, der mit der Welt und sich im Clinch und von daher auch mit alten Partnern zu sein scheint. Die Wahl verläuft jedoch recht überraschend, seine Protegés können sich nicht durchsetzen (was seine Frau, die mir an der ganzen bedauerlichen Entwicklung nicht ganz schuldlos scheint, zu dem unbeherrschten Ausruf verführt: „Das gibt’s doch nicht!“!!), ich werde als stellvertretender Landesvorsitzender bestätigt, Otto Zeitke (ein ebenfalls alter Mitstreiter Kruschels, der von ihm auch sehr düpiert wurde) zum neuen Vorsitzenden gekürt. Das ist allerdings eine Konstellation, die für die Zukunft einiges eröffnet, Thea Isers Wunsch beispielsweise, im nächsten Jahr mit Erreichen der Altersinvaliditätsgrenze die Geschäftsführung ohne Schaden für den Verein abzugeben, in machbare Nähe rückt: Unser „Postentausch“ im nächsten Jahr scheint unproblematisch.

2002: Malta. Über Nacht die Erkenntnis, dass der Patron von Floriana, dessen Patronatsfest wir miterlebten, beobachtend zumindest, wohl der heilige Florian sein muss. Na, wenn das nicht hoffen lässt... Mit dem Bus nach Valletta. Wir würden gern das Hypogäum, das wohl wichtigste archäologische Bauwerk der Insel, besichtigen. Laut Reiseführer ist dies aber nur auf Nachfrage bei der zuständigen Museumsverwaltung möglich. Also suchen wir im Gassengewirr die angegebene Behörde, finden die schließlich sogar, werden aber schon vom Pförtner, der offenbar nur Malti spricht, merkwürdig angesehen, dennoch zur eigentlichen Verwaltung geschickt. Doch sorry, derzeit keine Besichtigung des Hypogäums möglich. So fahren wir mit dem Bus zu einer anderen archäologischen Sehenswürdigkeit, den prähistorischen Tempelanlage von Tarxien. Zu ersten Mal sehen wir hier neolithische Tierfresken, zwei Stiere und eine Sau mit dreizehn säugenden Ferkeln. Weiter mit dem Bus nach Birsebuggia an der Ostseite der Insel. An der Küste entlang laufen wir bis Marsaxlokk, einem malerischen Fischerdorf (in dessen idyllische Bucht voller blaubraunweißgrüner Fischerboote man jedoch ein Kraftwerk geklotzt hat), essen erstaunlich preiswert Frischfisch, schlendern über den Wochenmarkt, wo es offenbar alles das zu Kaufen gibt, was man absolut nicht braucht, und fahren schließlich zurück nach Valletta. Herrlicher Sonnentag, Kaffeetrinken vor der Co-Cathedral (Kaffee La Vallette, versteht sich). Den Rest des Tages verbringen wir in Sliema, Bummeln, Weintrinken, Fischessen, Reden. Auffällig das neben den zahlreichen deutschen (und zumeist schwäbelnden) vor allem französische Touristen Malta bevölkern. Die treten doch sonst außerhalb Frankreichs nie scharenweise auf?

2006: Hanga Roa, Ostersonntag: Jeanny und ich gehen zur Ostermesse und erleben heutige Osterinsel-Alltagskultur in Reinform: ergreifend, wie zur Liturgie polynesisch gesungen wird. Die katholische Kirche war schon immer Weltmeister (sic!) darin, vorhandenes Brauchtum geschickt zu modifizieren und in eigene Rituale zu integrieren: An den Kirchenwänden neben Kreuz und dem Auge Gottes Abbilder des Vogelmannes und anderer hiesiger Gottheiten, die Pietà-Maria hat wunderschöne Rapa-Nui-Gesichtszüge und das Christkind ist mit einer Blumenkette geschmückt (der Priester im Übrigen auch). Im Anschluss an die Messe werden aus einem vor dem Altar stehenden Holztrog Mango und Bananen, Guaven und Papaya verteilt. Klar, auf der Südhalbkugel (oder zumindest auf der Osterinsel) fallen Ostern und Erntedank zusammen. Mittags finden wir uns samt zahlreichen Einheimischen mitten in Hanga Roa zum Umu ein: In langer Schlange steht man fröhlich-geduldig vor dem traditionellen Erdofen an, in dem seit Stunden gegart wurde und erhält schließlich wie jeder andere hier ein Stück Fleisch, eine Süßkartoffel, ein Stück Bananenkuchen und einige kleine Bananen. Dann sitzt man gemütlich im Baumschatten beieinander und verzehrt dieses einzigartige Mahl. Umus gibt es seit Menschengedenken regelmäßig zu festlichen Anlässen auf Rapa Nui. Reihum fungiert nun immer eine (offenbar der wohlhabenderen Familien) als Gastgeber, beköstigt somit die gesamte Inselgemeinschaft. Und wie gesagt, auch jeder Fremde, der sich dazugesellt, ist ganz selbstverständlich willkommen und wird auch mit beköstigt. Schwer zu verstehen, weshalb von unserer Reisegruppe außer uns beiden nur noch eine Zahnarztfamilie beim Umu erscheint. Überhaupt stieß mir zuletzt auf, dass vor allem die älteren, alleinreisenden Damen der Gruppe (allesamt Westdeutsche) jede Situation nutzen um in Wortschwällen darzutun, wo sie alles schon waren auf dieser Welt. So bestaunte ich denn beispielsweise Umrisse von Hare Paengas (alte Rapa Nui Wohnhäuser in Bootsform) oder Hare Moas (hüttengroße, traditionelle Hühnerställe aus Stein) und wurde mit x-belieben Stories aus Australien, Äthiopien oder Ecuador vollgequasselt… Offenbar gehört es in bestimmten Kreisen zum guten Ton, fernste Länder anführen zu können, auch wenn man dort eigentlich nichts erfuhr und sah. Den Sonnenuntergang erleben Jeanny und ich in der Kultstätte Tahai, wo mit die ältesten Moai stehen, herrliche Farbspiele, Konturen, Silhouetten.

 

Bruchlandung

für

Aphra Behn / Albert Betz / Rachel Bluwstein / Erik Bodom / Tarita Cheyenne Brando / Filippo Calendario / Teddy Charles / Chou Eun-hee / Francisco de Goya / Alexis de Tocqueville / Ralph Waldo Ellison / Domenico Fetti / George-Jules Fournier / Rosalind Elsie Franklin / Carlos Franqui / Johann Heinrich Füssli / Charles Geschke / Pamela Gidley / Albert Hofmann / Panait Istrati / Emilio Jacinto / Ahmad Jamal / Kawabata Yasunari / Guy-Andé Kieffer / Ulrich Kienzle / Kyōgoku Tamekane / Kujō Yoshitsune / David Lean / Georges-Louis Leclerc de Buffon / José Carlos Mariátegui / Barry Mason / Helen McCrory / Menachem von Worms / Kurt Mühlenhaupt / Liam Scarlett / Johanna Schopenhauer / Luis Sepúlveda / Bernadette Soubirous / Alexander Lee „Skip“ Spence / Roland Topor

 

Da meinten wir, hart aufgeschlagen zu haben:

Angers, 1850: Einsturz einer Hängebrücke durch Resoanzschwingungen, 226 Menschen sterben / 1888: annektiert Deutschland Nauru / Sofia, 1925: Bombenanschlag auf die Kathedrale Sweta Nedelja, mehr als 150 Tote / 1945 versenkt ein sowjetisches U-Boot das deutsche Schiff „Goya“ vor der Küste Pommerns, etwa 7.200 Flüchtlinge kommen ums Leben / Zerbst, 1945: US-Bomber zerstören die Stadt zu 80%, 574 Einwohner kommen ums Leben / Texas-City, 1947: im Hafen explodieren die Frachtschiffe „Grandchamp“ und „Highflyer“, 581 Todesopfer, 5.000 Verletzte / 2007 Amok-Lauf an der Virginia Polytchnic Institute and State University, 32 Tote / 2014 kentert die Fähre „Sewol“ vor der südkoeranischen Insel Jindo, 302 Menschen kommen ums Leben.

 


17. APRIL

 

Träumerei

mit

Eliza Acton / Theo Angelopoulos / Mariama Bâ / Sirimavo Bandaraneike / Chris Barber / Ida Boy-Ed / Karen Blixen / John Ford / Billy Fury / William Holden / Sixt Ernst Kapff / Michał Klepfisz / Katia Krafft / Carl Krayl / James Last / Frans Luycx / Aziz Mian / René Moawad / Johann Gottlien Naumann / Gregor Piatigorsky / Joachim Rähmer / Bill Ramsey / Matthias Ronnefeld / Artur Schnabel / Klaus Seehafer / Lissy Tempelhof / Hilmar Thate / Annelie Thorndike / Chavela Vargas / Thornton Wilder / Anton Otto Wildgans

 

Da kamen wir ins Träumen:

1895 endet mit dem Frieden von Shimonoseki der Erste Japanisch-Chinesischer Krieg / 1919 gründen Charlie Chaplin und andere Schauspieler die Filmproduktionsgesellschaft United Artists / 1946: Ausrufung der Syrischen Arabischen Volksrepublik nach dem Abzug der letzten französischen Truppen / Brüssel, 1958: Einweihung des Atomiums anlässlich der Weltausstellung.

 

Ich notierte:

1980: Am Abend zu einem Mann der seinen Trabi verkaufen will. Probefahrt. Alles in Ordnung offenbar. Aber das Auto ist Baujahr 69, und der Mann fordert 9200 Mark! Laut seinem Kaufvertrag hatte er vor 11 Jahren nur 6800 bezahlt – er will also 3400 Mark Schmiergeld! Das wäre alles, was wir in Jahren mühsam zusammengekratzt haben… Ich sage schließlich doch zu, will den Trabi am Sonnabend holen.

1999: Mieses Wetter. Dennoch gut gelaunt zur Eröffnung der neuen Bücherei in Haldensleben: Zum ersten Mal nehme ich Mine zu einer meiner Veranstaltungen mit. Erstaunlich, nein begeisternd, wie sie mitmacht, mitsingt, wie sie stolz auf ihren Opa und eifersüchtig auf die anderen Kinder ist (erzählt hinterher Jeanny).

Doch hält meine kleine Idylle bestenfalls bis zu den abendlich aktuellen Kosovo-Kriegs-Bildern vor...

2002: Ausflug nach Gozo, Maltas Nachbarinsel. Pünktlich um 8.00 Uhr holt uns die heutige Reiseleiterin vom Hotel ab. Mit einem Reisebus zum Fährhafen Cirkewwa an der Westküste, vorbei an St. Pauls Bay mit der kleinen vorgelagerten Insel, auf der im Jahre 56 der heilige Paulus nach Schiffbruch gestrandet sein und anschließend binnen drei Monaten die ganze Inselbevölkerung christianisiert haben soll. Auf Gozo, wo im übrigen Odysseus sieben Jahre bei Kalypso verbracht haben soll, kommen wir im Fährhafen Mgarr an. Hier besteigen wir einen gozoanischen Bus, der im Unterschied zu den maltesischen nicht weißorangegelb, sondern weißrotgrau, aber ansonsten mindestens genauso alt ist.

Gozo erscheint längst nicht so verbaut wie Malta, wirkt landschaftlich überhaupt reizvoller. Und auch historisch gibt’s hier Bemerkenswertes: Wir besichtigen die neolithischen Tempelanlage von Ggantija, vorgeblich die ältesten freistehenden Gebäude der Welt, immerhin und auf jeden Fall gut 5000 Jahre alt und ohne Frage sehr imposant. Erstaunlich, welcher Rummel beispielsweise um Stonehenge gemacht wird, während Ggantija offenkundig einiges mehr zu bieten hat. Weniger eindrucksvoll, dafür aber eben auch im Programm das Gozo Heritage Center: multivisueller Rundgang durch die Geschichte Maltas. Glücklicherweise befindet sich das Ganze in einem schönen alten Bauernhof, da kann man friedlich in der wohltuenenden Frühlingssonne sitzen und die prächtige Flora bewundern... Von hier an die Ostküste Gozos, was trotz oft abenteuerlich engen und holprigen Straßen recht schnell geht, da die Insel nur 14 Km lang und 7 Km breit ist. Beim Durchfahren eines der kleinen Inselstädtchen weist uns die Reiseleiterin auf eine gozoanische Besonderheit hin: Wenn die Leute hier aus dem Haus gehen, lassen die meisten den Haustürschlüssel außen stecken! Da die rund 27.000 Gozoaner einander wie in einer Großfamilie kennen, sei Kriminalität hier so gut wie unbekannt. Ein Gefängnis gibt es auf Gozo längst nicht mehr und der Gerichtshof tagt nur noch zweimal wöchentlich. Wir erreichen Dwejra Bay mit dem kleinen inlandigen See, der durch einen Felsspalt mit dem Meer verbunden ist, mit dem Azure Window, einen gewaltigen meerumspülten Felsbogen, und den bizarren Klippen, an denen die Gischt hoch aufspritzt. Wie üblich auch hier ein halbes Stündchen Freizeit und weiter nach Victoria, der Inselhauptstadt, von den Einheimischen aber wie seit eh und je Rabat genannt. Über der heutigen Stadt die uralte Zitadelle, 800 v.Chr. von den Phöniziern gegründet, an wahrhaft herausragender Stelle. Von hier überblickt man tatsächlich die ganze Insel, konnte jede Annäherung rechtzeitig bemerken. Bis zum 17. Jahrhundert war dies überlebenswichtig, war die Zitadelle Fluchtburg für die Gozoaner, da ihre Insel immer wieder von Angreifern heimgesucht wurde, letztens von nordafrikanischen Piraten. Ein starkes Erdbeben zerstörte jedoch Ende des 17. Jahrhunderts die Zitadelle, zum Glück war da das Piratenunwesen soeben beseitigt. Die Zitadelle blieb so lange Zeit Wüstung, wurde auch nie wieder bewohnt. Wir fahren schließlich von Victoria/Rabat nach Xlendi, einem der beiden Badeorte der Insel, winziges Städtchen an felsiger Bucht, aber offenbar ein Taucherparadies. Denn wo schon hätte ich je Froschmänner (und  –frauen) in voller Montur gesehen, die aus dem Meer auftauchen und übers Stadtpflaster zu ihren Hotel patschen... Schon sind wir wieder in Mgarr, setzen zur Hauptinsel über. Gegen 18.30 Uhr wieder im Hotel, auf der Terrasse hoch oben über dem Marsamxett Habour mit Blick auf Valletta das Gefühl durchaus ein wenig Abstand zur Alltagsgeschäftigkeit gewonnen zu haben. Und wann schon auf unseren Städte-Bildungsreisen hätten wir uns sogar ein wenig Sonnenbräune geholt... Am späten Abend bringt böiger Westwind aber empfindlich kühle Luft.

2003: Xaman-Ha, Wasser des Nordens, hieß der Ort aus dem sich das Städtchen Playa del Carmen und somit auch unsere Hotelregion Playancar entwickeln sollte, zur Zeit der Maya. In Xaman-Ha reinigten sich Maya-Pilger einst mit einem rituellen Bad bevor sie zur vorgelagerten Insel Cozumel übersetzten, um der Fruchtbarkeitsgöttin Ixchel zu huldigen. Keine Frage, gebadet haben wir bereits ausgiebig in den türkisfarbenen Wassern der Karibik, haben unter Palmen am weißsandigen Strand gelegen und all-inclusive Cocktails geschlürft sowie selbstredend auch all den darüber hinaus gebotenen Hotelkomfort genossen. Nun (und bezeichnenderweise) am Ostersonntag wollen wir uns auf eine Rundreise zu den wichtigsten Mayastätten begeben, zwar nicht nach Cozumel (dahin können wir per Fähre problemlos später), sondern per Bus ins Innere Yucatáns. Als der erste Conqistador Hernandez de Cordoba diese Halbinsel betrat und Einheimische fragte, wie dieses Land hieße, sollen die geantwortet haben: Ma’c ubab than – was so viel heißt wie: Wir verstehen euch nicht... Damit wir nun möglicherweise wenigstens ein bisschen etwas von dieser so exotischen Region begreifen, buchten wir diese Tour.

2006: Heute, am Ostermontag vor 284 Jahren landete Mijnher Roggeveen auf Rapa Nui und nannte das einsame Eiland einfältig ignorant Osterinsel. Wir fliegen ab. Ein letztes Mal sehen wir Rapa Nui aus dem Flugzeugfenster, gewinnen schnell an Höhe und dann wieder stundenlang nur Wasser, Wasser, Wasser. Dem Himmel sei dank fliegen wir wieder mit der chilenischen Luftfahrtgesellschaft LAN (freundliche Stewardessen, guter Service, eigener Bordbildschirm für jedermann, blitzblanke, hochmoderne Maschinen) und nicht wie beim Flug von Frankfurt mit der unsäglichen spanischen Iberia. Die Zeit vergeht wahrhaftig wie im Fluge. Schon erscheint die Festlandküste, gute Sicht bei Abenddämmerung, rötlich-violettes Streiflicht.

2021: Nun sind Jeanny und ich tatsächlich zum ersten Mal gegen den Corona-Virus geimpft (mit dem, immer mal wieder ob seiner Wirksamkeit umstrittenen Vakzin von AstraZeneca), den Termin für die notwendige Zweitimpfung haben wir auch schon (3.7. – wieder 8.36 Uhr und 8.39 Uhr) –so chaotisch alles bis hierhin lief, so unkompliziert war nun das Procedere selbst. Heureka Zeneca! (Hoffentlich)

Auf jeden Fall erscheinen die Fallzahlen auf einmal ein wenig weniger erschreckend: Fälle weltweit: 140 Millionen, Tote weltweit: 3 Millionen, 3,13 Millionen Infizierte in Deutschland, 80.000 Tote.

 2024: Mir träumte, ich trete meinen Dienst als neuberufener Geschäftsführer des Pariser Künstlerhauses an. Und bei einem ersten Rundgang durch die riesige, versailleähnliche Anlage verliere ich bei Gesprächen mit Künstlern alsbald meine Begleiter, irre durch die schier endlosen Räumlichkeiten voller wunderlichster Ausstellungen, kann mich aber, wohl aufgrund meines schlechten Französischs immer weniger verständlich machen, und finde und finde nicht mehr in mein Büro zurück.

 

 

Torschluss

für

Ralph Abernathy / Carlton Lloyd „Carlie“ Barrett / Louis de Berquin / Ilona Bodden / Albert Alick „Al“ Bowlly / Harriet Brooks / Aimé Césaire / Eddie Cochran / Sor Juna Inés de la Cruz / Philipp Heinrich Erlebach / Benjamin Franklin / Toni Frissell / Bessie Head / Kawaji Ryūkō / Dieter Lattmann / Radu Lupu / Wilhelm Friedrich Lutz / Gabriel García Márquez / Johann Mattheson / Linda McCartney / Felix Pappalardi / Proklos / Hans Purrmann / Hannie Schaft / Iwan Jegorowitsch Starow / Xaver Jakub Ticin / Ton’a / William Wilson

 

An diesem Tage spürten wir Panik:

1839 endet mit dem Austritt Guatemalas de facto die Zentralamerikanische Konföderation / Bodaibo, 1912: zaristische Truppen massakrieren mindestens 150 streikende Bergarbeiter / 1947 verschwindet der britische Passagierdampfer „Sir Haevey Adamson“ mit 269 Menschen an Bord auf der Fahrt von Rangun nach Mergui spurlos / 1961: Beginn des US-Invasionsversuchs in der kubanischen Schweinebucht / 1975 nehmen die Roten Khmer Phnom Penh ein / 2024 kommen im Oman bei schweren Regengüssen mindestens 20 Menschen ums Leben.

 


18. APRIL

 

Montage

mit

Kathy Acker / Jaan Anvelt / Daisy Bates / André Bazin / Clarence Gatemouth Brown / Carlos Manuel de Céspedes / Antero Tarquinio de Quental / Jean Jülich / Kanō Tsunenobu / Natalia LL / Ludwig Meidner / Grete Meisel-Heß / Tadeusz Mazowiecki / Thomas Middleton / Na Hye-sok / Leif Panduro / August Heinrich Petermann / Otto Piene / David Ricardo / Jean Richard / Karl Jochen Rindt / Miklós Rózsa / Herbert Sandberg / Adolf Slaby / Alexander Lee „Skip“ Spence / Werner Steinberg / Carl von Steuben / John Christopher Stevens / Franz von Suppè / Friedrich von Thiersch / Hans David Tobar / Engelbert Wittich

 

An diesem Tage meinten wir, etwas zusammenbringen zu können:

Rom, 1506: Grundsteinlegung für den Neubau des Petersdoms / London, 1881: Eröffnung des Natural History Museums / Fort Worth, 1934: Eröffnung des ersten Waschsalons weltweit / 1949 tritt Irland aus dem Commonwealth aus und wird Republik / Bandung, 1955: erste Konferenz von Dritte-Welt-Staaten / 1980: Simbabwe wird unabhängig.

 

Ich notierte:

1980: Gleich nach dem Aufstehen fahre ich mit dem Moped nach Merseburg, schaffe die alte, immer wieder streikende Mopedbatterie zum Altstoffhändler, erhalte einen Bleiabgabeschein und nachdem ich den im Mopedladen vorgelegt habe, eine neue Batterie. Weiter zur Sparkasse. Ich räume unser Konto für den Trabikauf leer. Am Nachmittag mit der Straßenbahn nach Halle, Versammlung des Schriftstellerverbandes. Ich bin erstmals als Gast eingeladen. Vortrag von Professor Hanke vom ZK, er spricht u.a. davon, daß ständig steigenden Bedürfnissen der Bevölkerung unseres Landes ein sich stetig verlangsamendes Wirtschaftswachstum gegenüber stünde. Hört, hört! Doch ich muss schon vor Ende der Versammlung gehen, verrückterweise muggen wir heute in Leuna. Und mir hat die Erkältung auf die Stimme geschlagen, ich kann so gut wie nicht singen, und dann reißt mir auch noch die A-Saite (teurer Spaß)…

1983: Seit gestern Mittag zurück aus Gera. Nach anfänglichen Fremdheiten, Ängsten und Selbstzweifeln gute Kontakte zu anderen, mir bis dahin zumeist unbekannten Kollegen. Das Wichtigste aber: das Buch ist so gut wie durch! Ein positives Außengutachten liegt vor, eines wird noch erwartet… Und Katrin Pieper sprach mit mir über ein nächstes Projekt für Kinder. Ja, an der Lichtmeß wären sie interessiert, ich solle ein Exposé schreiben. Und vielleicht bekomme ich sogar ein Bändchen mit Erzählungen für Kinder in der Art von „Turnhöschen“. Es ist kaum zu fassen: endlich das Gefühl, ernst genommen zu werden, etwas geschaffen zu haben, etwas schaffen zu können. Und wenn die Zusammenarbeit mit dem Kinderbuchverlag sich wirklich so rasant entwickeln sollte, würde ich wohl sogar mein Leuna-Projekt hintanstellen. Irgendwie ein Gefühl, endlich dazuzugehören. In einer Veranstaltung stand ich sogar auf und gab spontan eines meiner Kinderlieder zum Besten. Und heute schon kam ein Brief aus Gera. Eine Schülerin aus einer Klasse, in der ich gelesen hatte, machte mir Titelvorschläge für mein Buch (ich hatte den Schülern erzählt, dass der noch geändert werden solle/müsse…) und schrieb, dass sie es sich unbedingt kaufen wolle, da sie wissen wolle, wie die Geschichte ausgeht. Da hat mich die Verantwortung für das, was man so schreibt, also eingeholt. So geht das also.

2000: Mittag bin ich in Magdeburger Literaturbüro mit dessen Geschäftsführer, Erich-Günther Sasse, verabredet. Unterscheid zwischen dem „großen“ Literaturbüro und dem „kleinen“ Bödecker-Kreis: der FBK war vor Jahren schneller und/oder auch pfiffiger und bekam die institutionelle Förderung der Geschäftsstelle vom Lande, das Literaturbüro nicht. Das sorgt natürlich für Dauerneid und dauerhafte Versuche des Kultusministeriums, die beiden Institutionen irgendwie zu verschmelzen. Wozu immer das einmal führen könnte, ist wohl schwer zu sagen, auf jeden Fall verabreden wir Kooperation bis hin zu gemeinsamer Projektarbeit und natürlich ständigen Informationsfluss. Dabei wird man sehen, wer wem – oder auch nicht...

2006: Letzter Tag in Chile. Ausflug nach Valparaiso und Vina del Mar. Über die neue Autobahn, durch malerische Kordillerentäler, vorbei an Kupferminen und Weingütern erreichen wir nach etwas anderthalb Stunden die alte Hafenstadt Valparaiso, pittoresk sich auf etlichen Hügeln an weiter Bucht sich hinstreckende urwüchsige Siedlung meist bunter Häuser. Ob dieses einzigartigen Gesamteindrucks, der nachvollziehen lasse, wie eine Drehscheibe globalen Handels vor 100 Jahren aussah, als dies noch der wichtigste Pazifikhafen Südamerikas war, wurde die Stadt 2003 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt.

Und was ich kaum zu hoffen gewagt hatte, wird wahr: Wir besichtigen sogar La Sebastiana, Nerudas hiesiges Haus. Ein weiteres Haus hatte Neruda in Santiago und das bekannteste wohl steht in Isla Negra, etwas 100 Kilometer von hier. La Sebastiana bietet herrliche Ausblicke über die Stadt, den Hafen, die Bucht sowie verspielte Innenansichten. Fünf Stockwerke, alle in anderen Grundfarben, voller skurriler Mitbringsel aus aller Welt und bestaunenswerte Möbel. Unterm Dach sein Arbeitszimmer. Da verharrt man dann schon mal ein Weilchen… Von La Sebastiana schlendern wir durch Gassen und fahren mit einer der zahlreichen museumsreifen Standseilbahnen hügelabwärts, spazieren am Denkmal für Admiral Prat, der in Chile verehrt wird, obwohl er die einzige Seeschlacht des Landes verlor (den Salpeterkrieg gewann dann Chile allerdings gegen Peru und Bolivien – was offenkundig heute noch zu Spannungen zwischen diesen Ländern führt), gelangen so zum Pier. Weiter dann im Bus in den nur wenige Kilometer entfernten Luxus-Badeort Vina del Mar. Schlagartig verpufft aller Flair – Betonklötze an Betonpromenade, seltsame Moderne. Hochbetrieb im piekfeinen Spielkasino schon am frühen Nachmittag. Nee, das ist nichts für uns. Gegen Abend treffen wir wieder in Santiago de Chile ein. Nachtflug. So sehen wir leider nichts von Argentinien, Paraguay, Brasilien tief unten. Auf dem Bordbildschirm registriere ich aber, dass wir südlich von Belem die Atlantikküste erreichen, und ab geht’s nochmals weit übers Meer, nun jedoch nach Hause.

2010: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten schepperte’s aus dem Schiffslautsprecher angesichts der Loreley. Und angelandet grüßen wir vom Eisweindenkmal hinüber zur Germania, erinnern uns (trotz Eisweins) jedoch nicht mehr der Wacht am Rhein.

 

2024: Buchpremiere „Figuricon“ in der cce-Galerie. Volles Haus, und auch die meisten der Künstler, die meinen neuen Band illustrierten, sind erschienen, signieren dann mit, so Lutz Bolldorf, Dieter Gilfert, Uwe Pfeifer. Mit Paul Bartsch steuere ich die Musike für diesen Abend bei. Läuft alles bestens.

 

 

Memoire

für

Eugenio „Nicolò“ Barsanti / Dickey Betts / Anna Bilińska-Bohdanowicz / Gonzales Coques / Erasmus Darwin / Edeltraud Eckert / Bernard Edwards / Albert Einstein / John Ambrose Fleming / Pablo Gonzáles Casanova / Martin Gumpert / Cox Habbema / Hadeloga von Kitzingen /Lorenz Heister / Thor Heyerdahl / Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau / Giselbert Hoke / Kamisese Mara / Lyra Catherine McKee / Justus von Liebig / Robert Limpert / Filippino Lippi / Grete Meisel-Heß / Gerardus Johannes Mulder / Hermann Nitsch / José Maurício Nunes Garcia / Marcel Pagnol / Ottorino Respighi / Julius Bernhard von Rohr / Tantya Tope / Juan Valera / Polydor Vergil

 

Daran wollten wir nie mehr erinnert werden:

San Francisco, 1960, Erdbeben, bis zu 3.000 Todesopfer / 1947. zerstört das britische Militär die Bunkeranlagen auf Helgoland – bislang die größte nichtnukleare Sprengung / Beirut, 1983: Selbstmordattentat auf die US-Botschaft, über 60 Tote / Kana, Libanon, 1996: israelische Artillerie beschießt ein UN-Beobachterzentrum, 106 Flüchtlinge sterben / Kairo, 1996: Terroranschlag auf ein Hotel, 16 griechische Gäste, die für Israelis gehalten wurden,  kommen ums Leben / 2023, Sanaa, Jemen: Massenpanik während des Ramadan, mindestens 78 Tote.

 


19. APRIL

 

Schauspiel

mit

Sonja Åkeson / Alexis Argüello / Therese von Artner / Edith Bergner / Fernando Botero / José Echegaray / Christian Gottfried Ehrenberg / Ole Evinrude / Franz von Gaudy / Eva Gonzalès / Samuel Heinzi / Richard Hughes / Johannes „Hans” Humpert / August Wilhelm Iffland / Norbert Conrad Kaser / Josepha Kodis / Alexis Korner / Jayne Mansfield / Ulrich „Ulli” Melkus / Roger Morris / Samuel Reyher / Hermann Rietschel / May Robson / Alice Salomon / Chaim Schitlowsky / Anton Schmaus / Kurt Schmidtchen / Karel Soucek

 

Das sahen wir gern:

Lexington, 1775: Beginn des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges / Boston, 1897: Start des ersten nichtolympischen Marathonlaufs / Warschau, 1943: Beginn des Aufstandes im Ghetto / Kuba, 1961: Ende des amerikanischen Invasionsversuches in der Schweinebucht / Berlin, 1999: das Reichstagsgebäude  wird Sitz des Deutschen Bundestages / 1971 startet die Sowjetunion mit Saljut 1 die erste Raumstation / 1975: ein erster indischer Satellit wird in eine Erdumlaufbahn gebracht /

 

Ich notierte:

1980: Sonnabend. Nach dem Frühstück nach Merseburg-Süd. Und tatsächlich – es klappt, was ich kaum zu hoffen wagte: Ich bekommen den Trabi, alles geht ganz fix, Unterschriften, Geldübergabe und schon fahre ich im ersten eigenen Auto davon! Das Wetter allerdings spielt nicht so recht mit – Schneeschauer! Trotzdem hole ich sogleich meine beiden Frauen ab und wir fahren zu Schorsch, dann nach Meuschau. Nach dem Mittagessen wollen wir nach Halle. Doch es ist wie verhext, der Müntzer-Ring ist wegen eines Radrennens gesperrt. So fahren wir schließlich über Dieskau nach Ha-Neu, großes Hallo – doch Falk, Gatte Jeannys Schwester Evy, steht der pure Neid ins Gesicht geschrieben. Und als wir zurückfahren wollen, sind Jeannys Schuhe im Treppenhaus nicht mehr auffindbar. Geklaut. Schöne Wohngegend. In der Nacht Rock-Palast: Joan Armatrading, Ian Hunter und: ZZ Top, genial!

1982: Nun ist alles vorbei mit den „Tagen der Kinder- und Jugendliteratur im Bezirk Halle“, die ich mitorganisierte, alles halbwegs gelaufen. Eine Menge neuer, wichtiger Kontakte! Ich weiß noch nicht, was aus all dem werden wird. Ich bin erstmal irgendwie erschöpft. Bei einem Feier bezeichnet mich Konrad als „Maitre de plaisir“… Doch ich weiß einfach nicht, ob ich unter solchem Druck, weiter arbeiten kann. Und neuerdings höre ich sogar an Musik vorbei, komme irgendwie in nichts mehr richtig rein…

1993: Luxembourg. Tatsächlich sehen wir wohlbetuchte Herren mit Aktenkoffern, die möglicherweise sogar voller Geld (Schwarzgeld?) sind, in Banken verschwinden. Wir leisten uns ein ofenfrisches Baguette und Café au lait und müssen am Ende noch für Falschparken bezahlen.

1999: In dieser Woche leite ich mal wieder ein Seminar, versuche meine (nicht zuletzt in den Künstlerhausjahren gewonnenen) Erfahrungen über Projektmanagement weiterzugeben.

2000: Am Nachmittag lese ich in der umgebauten und erweiterten Merseburger Stadtbibliothek. Schöne neue Räume, sehr ansprechend, auch wie Walter Bauers Bücher nun präsentiert werden, ist ansprechend. Natürlich lese ich aus „Ortungen“ und dabei natürlich die Walter Bauer Spurensuche. Gutes Klima, in dem sich nach meiner Lesung eine lebhafte Diskussion entspinnt. Und im Anschluss gibt’s sogar noch ein Gläschen Sekt. Das war hier gewiss nicht immer so.

2023: Kurztrip nach Františkovy Láznĕ. Den hatten wir schon mal vor vier, fünf Wochen geplant, dann war das Wetter aber so scheußlich, dass wir absagten. Nun ist das Wetter zwar noch immer kaum besser, aber wir wollen/müssen einfach mal wieder raus aus dem Alltag. Und nach einer labyrinthischen Anfahrt (da eine Umleitung in Selb idiotisch ausgeschildert ist) kommen wir bei schönsten Sonnenschein in Franzensbad an. Kalter Wind, doch auch so lässt es sich wunderbar durch die großzügigen Parkanlagen schlendern, bestes Bier vom Fass, Knoblauchsuppe, Topinki und Knedl genießen.

 

Schweigen

für

Konrad Hermann Joseph Adenauer / Jerzy Andrzejewski / James Graham Ballard / George Gordon Noel Byron / Canaletto / Jean-Pierre Cassel / Pierre Curie / Charles Darwin / Benjamin Disraeli / Daphne du Maurier / Günter Bruno Fuchs / Ivan Grohar / Levon Helm / Otto Hettner / François Jacob / Jonasz Kofta / Ellen Kuzwayo / Sven Lager / Stan Levey / Philipp Melanchthon / Ernst Elias Niebergall / Octavio Paz / Niels-Henning Ørsted Pedersen / Ōta Nampo / Georg Gerhard Schrimpf / Py Sörman / Jim Steinman / Michael Stifel / Władysław Tarnowski / Sergei Alexandrowitsch Tokarew / Paolo Veronese / Rudolf Wacker / Stephen Wise / Friedrich Zollinger

 

Das verschlug uns die Sprache:

Kopenhagen, 1689: bricht während einer Opernaufführung im Schloss Amalienborg ein Feuer aus, 171 Tote / 1902: Erdbeben in Guatemala, 2.000 Todesopfer / Kischinew, 1903: Beginn eines zweitätigen Pogroms, bei dem 45 Juden ermordet werden / 1989 sterben bei einem Übungsschießen auf dem US-Schlachtschiff „Iowa“ 47 Seeleute / Waco, 1993: US-Bundesbehörden stürmen eine Ranch auf der sich Sektenmitglieder verschanzten, 82 Tote / Oklahoma-City, 1995: bei einem Bombenanschlag auf ein US-Bundesgebäude kommen 168 Menschen ums Leben / 2000 beim Landeanflug auf die philippinische Insel Samai stürzt eine Boeing 732 ab, alle 131 Insassen sterben / 2015 ertrinken bei einem Schiffsunglück im Mittelmeer bis zu 800 Flüchtlinge.

 


20. APRIL

 

Tolerierung

mit

Carlos Abdala / Paul Ackermann / Johannes Agricola / Matthäus Apelt / Pietro Aretino / Louis Artan / Hermann Bang / Carl Gottlob Beck / Aloysius Bertrand / Emmanuel Bove / Benjamin Carrión / Henry de Montherlant / Johann Christoph von Dreyhaupt / Antje Garden / Heinrich Göbel / Lionel Hampton / William Godvin „Beaver” Harris / Victor Hollaender / Nasar Michaylowytsch Hontschar / Mary Phelps Jacob / Karl-Heinz Jakobs / Günter Karau / Charles David Keeling / Kurd Laßwitz / Michel Leiris / Arne Leonhardt / Liang Sicheng / Harold Lloyd / Brigitte Mira / Juan Miró / Ryan O'Neil / Slavoljub Eduard Penkala / Francisco Pi i Margall / Philippe Pinel / Charles Plumier / Julie Powell / Tito Puente / Christian Rätsch / Fred Raymond / Hans José Rehfisch / Rainer Schulze / Edie Sedgwick / Ida Seele / Henry Theodore Tuckerman / Hermann Ungar / Luther Ronzoni Vandross / Daniel Waruzhan / Ibn Wāsil / Franz Xaver Winterhalter

 

Selbstredend tolerierten wir das:

1535 werden über Stockholm Wetteranomalien beobachtet nd dokumentiert: Halo-Erscheinungen und Nebensonnen / 1887 findet von Paris nach Versailles das erste Autorennen der Welt statt / Köln, 1998 erklärt die Rote Armee Fraktion (RAF) ihre Selbstauflösung.

 

Ich notierte:

1988: Mittwoch. Seit Sonntag extrem schöne Sommertage. Schreiblust und –vermögen reifen wieder. Nicht zuletzt: seit Montag habe ich einen neuen Trabi. Und mit dem will ich am Sonnabend mit Jeanny allein in den Urlaub fahren. Ich hoffe, es bleibt sommerlich.

2003: Tulum, „Ma’ lo kin”, begrüßt uns die Reiseleiterin auf Yucatek-Maya: „Guten Morgen“. Brütende Hitze, die man ob der phantastischen An- und Ausblicke jedoch spielend wegsteckt. Tulum, malerische Maya-Ruinen oberhalb der Küste. Und was ist hier nicht astronomisch/ astrologisch zu sehen? Lucille weiß nicht nur Baudetails zu erläutern, sondern hat sogar Fotos dabei die zeigen, wie hier an bestimmten Tagen, den Äquinoktien beispielsweise, Sonnenstrahlen lupenartig durch präzise in Hauswänden ausgesparte Löcher dringen. Tulum ist der spät- oder nachklassischen Maya-Periode zuzurechnen, etliches Wissen über Baukunst scheint da infolge des nach wie vor rätselhaften Untergang des Maya-Reiches (etwa um 900) bereits verloren, offenkundig nicht aber das über Himmelsereignisse, deren Sichtbarmachung und Mystifizierung. Dieser Untergang scheint sich nach mehr als 2000jähriger Zivilisation innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten vollzogen zu haben. Möglicherweise infolge einer schlimmen Trockenperiode, die eine ökologische Katastrophe heraufbeschwor, angeheizt zudem durch Überbevölkerung, Raubbau etc. pp. vielleicht. Das Ganze könnte zu Hungersnöten geführt haben, die wiederum zu sozialen Unruhen gegen die gottähnliche Oberschicht (da deren Rituale die Götter offenbar nicht mehr gütig zu stimmen wussten?) geführt haben. Dazu kamen dann wahrscheinlich sich verschärfende Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Herrscherhäusern und –gebieten. Ein Bündel von Faktoren wohl, ein unglückseliges. Weiter nach Cobá, in der klassischen Maya-Periode, also vom 2. – 9. Jh. n. Chr. Wohl die größte Siedlung auf Yucatán. Sachbeobs (weiße Straßen aus gewalztem Material) verbanden die wichtigsten Orte schnurgerade miteinander. Erstaunlicherweise war dieses Verkehrsnetz aber ausschließlich für Fußgänger angelegt, da die Maya weder Rad noch Reittiere kannten. In Cobá nun kreuzten sich (sicher nicht von ungefähr) viele dieser Wege und der längste Sachbé der Maya-Welt führte über 101 km von Cobá nach Yaxuná. An fünf idyllischen Seen (Vorsicht Krokodil! – warnt uns eine Tafel) lag diese riesige Siedlung für etwa 50.000 Menschen einst. Heute sind einige Schneisen in den alles überwuchernden Dschungel geschlagen und die wichtigsten erhaltenen Bauwerke von Erde und Bewuchs befreit. So sehen wir erstmals einen Maya-Ballspielplatz und erreichen nach gut halbstündigem Marsch durch die Nachmittagsglut des Dschungels das höchste erhaltene Bauwerk des nördlichen Yucatán, die Nochob-Mul Pyramide, 42 m hoch. 120 ungerade Stufen kraxeln wir hinauf, werden oben mit einem phantastischen Rundblick über das grüne Blätterdach belohnt, der Abstieg über die schräge, sehr schräge Pyramidenwand erweist sich dann jedoch als nachgerade abenteuerlich. Nur nicht nach unten blicken... Auf dem Rückmarsch zum Bus sehen wir im Unterholz sogar eine der giftigsten Schlangen weit und breit, eine rotschwarze Korallenschlange, davonschleichen. In Valladolid kurzer Halt im Zentrum, Besichtigung der Kirche, Schlendern durch den Stadtpark, ein bisschen shoppen und weiter nach Chichén Itzá. Wunderbares Hotel direkt neben der weltberühmten Ruinenstadt. Im Licht der untergehenden Sonne das imposante Maya-Observatorium. Keine Frage, das geht nahe. Das Hotel mit seinen schönen strohgedeckten Bungalows liegt inmitten eines urwaldähnlichen Parks. Lautes, vielstimmiges Vogelgezwitscher, Vogelgeschrei. In der Dunkelheit dann sogar allenthalben Glühwürmchen. Und am Morgen sogar Kolibris.

2023: Mir träumte ich hätte ein Stück geschrieben, in dem Hitler an seinem Geburtstag stirbt bevor er an die Macht kommt. Nach der Aufführung werde ich im Schlaf erschossen.

2023: Nach Markneukrichen wollte ich seit mehr als dreißig Jahren, seitdem ich nämlich erstmals über den Merseburger Geigenherzig und seine Riesenbassgeige schrieb. Und endlich stehe ich heute im Musikinstrumentenmuseum vor diesem einzigartigen Instrument. Beeindruckend! Selbstredend schenke ich dem Museum den ersten Band meiner „Merseburger Persönlichkeiten“ mit dem Porträt des Geigenherzogs und der Gesichte dieses Basses. Prompt erhalten Jeanny und ich erhalten Freikarten und eine freundliche Führung. Wow.

 

Todesfuge

für

Franz Carl Achard / Andrea Andreen / Alexei Nikolajewitsch Arbusow / Avicii / Martin Böttcher / Anton Braun / Ferdinand Braun / Hans Breuer / Johannes Bugenhagen / Paul Celan / Johann Christoph Denner / Rudolf Dirks / Teddy Edwards / Gersonides / Antanas Gudaitis / Elisabeth Hauptmann / Wilhelm „Willi” Herren / Tim Hetherington / Benny Hill / Chris Hondros / Paul Juckoff / Bernard Katz / Helmut Käutner / Johan Hernik Kellgren / Michał Klepfisz / Wolfgang „Wolle“ Kriwanek / August Lafontaine/ Carl Loewe / Steve Marriott / Archibald MacLeish / Les McKeown / Gustav Nachtigal / Nadia Nashir-Karim / Seán Ó Faoláin / Giuspeppe Peano / Pontiac / Bronisław von Poźniak / August Sander / Rachel Joy Scott / Monir Shahroudy Farmanfarmaian / Don Siegel / Hans Söhnker / Bram Stoker / Taichō / Erich Weinert

 

Da spürten wir Grabeskälte:

1207 zerstört ein Barnd große Teile Magdeburgs, samt Kaiserdom und Kaiserpfalz / 1633 erstürmen schwedische Truppen Landsberg am Lech und massakrieren fast die gesamte Einwohnerschaft / Scheideck, 1848: vernichtende Niederlage der „Hecker-Aufständischen“ im Zuge der Badischen Revolution / Ludlow, Colorado, 1914: Nationalgardisten töten 22 streikende Bergarbeiter / Bergen, 1944: im Hafen explodiert das niederländische Frachtschiff „Voorbode“, 150 Todesopfer / 1967 prallt eine Bristol Britannia bei Nikosia gegen einen Berg, 150 Insassen kommen ums Leben / Windhoek, 1968: Absturz eines südafrikanischen Verkehrsflugzeuges, 129 Todesopfer / 1986 bricht der Damm der Kantale-Talsperre auf Sri Lanka, bis zu 175 Menschen sterben / Colombine, Colorado, 1999: Amok-Lauf an der High-School, 15 Tote / 2010 explodiert im Golf von Mexiko die Ölplattform „Deepwater Horizon“ und verursacht den bislang größten Ölteppich weltweit / Islamabad, 2012: Absturz einer pakistanischen Passagiermaschine, 127 Insassen kommen ums Leben.

 


21. APRIL

 

Eröffnungskonzert

mit

Fredrik Bajer / Leo Blech / Charlotte Brontë / Lodovico Carracci / Elisabeth II. / Oskar Erbslöh / Walther Flemming / Friedrich Fröbel / Arthur Galston / Slide Hampton / Ulrich von Hutten / Raden Adjeng Kartin / Allison Beth Krause / Josef Lenzel / Bruno Maderna / Heinz Meynhardt / Harry Miller / Han-Peter Minetti / John Muir / Johann Albert Werner Munzinger / Sally Perel / Friedrich Christoph Perthes / Anthony Quinn / Dieter Roth / Tony Sarg / Klaus Selmke / Walther Victor / Clara Ward / Max Weber / Albert Weisgerber

 

Da meinten wir neue Töne zu hören:

753 v. Chr. gründet Romolus der Legende nach Rom / 1782 Erhebung Bangkoks zur Hauptstadt Siams / Melbourne, 1856 erkämpfen Demonstranten weltweit erstmals den 8-Stunden-Arbeitstag / 1934: Inbetriebnahme des Apennin-Basistunnels zwischen Bologna und Florenz / 1960 wird die neue brasilianische Hauptstadt Brasilia eingeweiht / Eisenach, 1983: Wiedereröffnung der Wartburg nach umfänglicher Restaurierung / 1989 kommt erstmals ein Game-Boy auf den Markt / 1993 wird der erste Web-Browser „Mosaic“ freigegeben / Paris, 2009: Eröffnung der World Digital Library.

 

Ich notierte:

1980: Heute erstmals im Trabi nach Deuben. Keine Frage, dieses Auto ist für mich kein Luxusgegenstand, sondern ein Arbeitsmittel. In Deuben nochmalige Verschiebung des Aufführungstermins meines Auftragswerks: „Sergej“ soll nun nicht mehr am 16., sondern schon am 5. Mai in der Gedenkstätte Pirkau zu hören und sehen sein! Und es soll nun doch nicht – wie von mir konzipiert -das ganze Programm sein – es sollen auch ein paar Kampflieder erklingen. Mein Gott, warum denn das nun? Doch ich winke ab, resigniere. Mittag schon zurück, in Merseburg hole ich Wim ab, Mugge auf der Peißnitz, zum ersten Mal Freiluft in diesem Jahr. Am Abend zum Konzert Sextett ins Steintor: Fischer-Sextett, Charlie Mariano, Toto Blanke und ein indischer Percussionist. Wunderbar!

1981: Ich bringe meinen Bass-Verstärker nach Radebeul zur Reparatur, übernachte bei Olaf. Diskussionen bis weit in die Nacht hinein. Am Nachmittag im Zwinger, in der Gemäldegalerie. Und dann ist der Verstärker nicht wie versprochen fertig. Doch war diese Fahrt umsonst? Nein!

1993: Von Colmar, von Grünewalds grandiosem Isenheimer Altar, nach Murbach - Ehrfurcht weckende Reste des Pirmin zugeschriebenen Klosters - gewaltige Türme mit Apsis am Ende eines schmalen, waldreichen Tales - und schließlich zum höchsten der Berge hier, zum Großen Belchen, Grand Ballon, Menhire und Druidengegeheimnisse: Heute, an einem der uralten keltischen Feiertage, soll die Sonne über diesem Gipfel emporsteigen und nähren die Belchen-Theorie, die den Deutungen Stonehenges gleicht. Durch den verhangenen Gipfelhimmel lärmt jedoch nur ein Hubschrauber mit rotweißblauer Kokarde unterm Rumpf.

2000: Karfreitag. Heute vor 2000 Jahren hat sich (wenn der Termin und alles drumrum denn stimmen) zweifellos die Welt verändert. Ob’s den Leuten damals bewusst war? Ob uns heute bewusst wäre, wenn wir Weltveränderndes erleben?

2003: Chizen-Itza. Dank der günstigen Hotellage sind wir an diesem Morgen wohl die ersten Besucher in der weitläufigen Anlage. Das hat zwei Vorteile: die Besucherströme kommen wie die drückende Hitze erst später. Mit Muße können wir also die zahlreichen Bauwerke der ursprünglich von Mayas, später von Tolteken besiedelten Stadt bewundern: das Observatorium, die Venus-Plattform, das Nonnenkloster, den Jaguarpalast, den Ballspielplatz, den Palast der Krieger und natürlich die Kukulcán-Pyramide, die ich umgehend wie schon gestern die Nohoch-Mul-Pyramide besteige.

Dieser imposante Bau gilt als riesige Sonnenuhr und steht wohl auch für astrologisch/mystische Deutungen: Aus neun Terrassen besteht die Pyramide, obenauf der Tempel: Die Maya stellten sich das Universum als gigantischen Ceiba-Baum vor. Dessen Zweige trugen den Himmel, am Stamm verlief das Leben der Menschen auf der Erde und die Wurzeln steckten in der aus neun (!) Etagen bestehenden Unterwelt. – 91 Treppenstufen muss man zur Tempelplattform hinaufsteigen: 91 mal 4 Pyramidenseiten plus Stufe zum Tempeleingang macht 365, die Anzahl der Tage im Maya-Jahr. Vier Treppen unterteilen jede Pyramidenseite in zwei Hälften, so dass es eigentlich jeweils 18 Absätze gibt, die Anzahl der Monate im Maya-Jahr. 52 Platten an den Pyramidenseiten entsprechen dem 52-Jahres-Zyklus des Maya-Kalenders. – Zur Tag- und Nachtgleiche (21. März und 21. September) scheint sich durch Schattenspiele an den Treppenflanken ein Schlangenleib herabzuwinden: Kukulcán ist in der Vorstellung der Maya eine gefiederte Schlange... etc.pp.

Symbol des Himmels war der Quetzal-Vogel, das der Erde die Schlange, das der Unterwelt der Jaguar (die Sonne bei Nacht, seine Fellflecken die Sterne) – zwar keine christliche, aber dennoch auch eine Dreieinigkeit. Und wieso kamen die Maya auf den Lebensbaum Ceiba und die Germanen z.B. auf den Weltenbaum Yggdrasil? Interessant auch, dass die Maya den vier Himmelsrichtungen Farben zuordneten: Rot der Osten, Schwarz der Westen, Süden Gelb und Norden Weiß. Und die Mitte (die Pyramidenplattform sozusagen) ist Grün (siehe Ceiba, siehe Erde!)... Octavio Paz, der mexikanische Literaturnobelpreisträger, äußerte sich in Das Labyrinth der Einsamkeit zu den Pyramiden der Maya und Azteken sehr nachdenkenswert so: „... ein Pilger auf der Suche nach der fünften Himmelsrichtung, die, nach alter aztekischer Vorstellung, zum Mittelpunkt der Welt – nach Mexiko – führte. (...) Mexiko eine abgeschnittene Pyramide zwischen zwei Meeren, deren vier Seiten die vier Himmelsrichtungen, deren Stufen die Klimate aller Erdzonen, deren ’Hoch-Altar’ das Haus der Sonne und der Gestirne bedeuten. Es ist wohl bekannt, dass für die Alten die Welt ein Berg und in Sumer wie in Ägypten und Mesoamerika ihr geometrisch-symbolisches Abbild die Pyramide war. Mexikos Pyramidengeographie lässt eine geheime Beziehung zwischen natürlichem Raum und symbolischer Geometrie und zwischen dieser und unserer ’Intrahistoria’ ahnen. Als Archetypus der Welt und Metapher des Kosmos kulminiert die mesoamerikanische Pyramide im magnetischen Punkt des ’Plattform-Heiligtums’. Hier ruht die Achse der Welt, hier ist der Punkt, in dem die vier Himmelsrichtungen sich schneiden, der Anfang und Ende aller Bewegung bedeutet, Stillstand, in dem der kosmische Tanz beginnt, endet und wieder beginnt. Als versteinerte Zeit stellen die vier Pyramidenseiten die vier Sonnen oder Zeitalter der Welt dar, und ihre Treppen bedeuten die Tage, Monate, Jahre, Jahrhunderte. Auf der Plattform ging die fünfte Sonne, die Ära der Nahua und Azteken, auf. Die Pyramide ist ein Gebäude aus Zeit, die war, ist und sein wird, sie ist ebenso ein Gebäude aus Raum, dessen ’Plattform-Heiligtum’ der Ort göttlicher Epiphanie und Opferstätte zugleich ist, der konzentrische Punkt der Welt der Götter und Menschen, das Zentrum jeder Bewegung, Anfang und Ende aller Zeiten, ewige Gegenwart der Götter. Die Pyramide ist Abbild der Welt, also Abbild der menschlichen Gesellschaft. Wenn es wahr ist, dass der Mensch sich Götter nach seinem Bilde formt, ist es ebenso wahr, dass er sich in den Bildern wiederfindet, die ihm Himmel und Erde bieten. So macht der Mensch aus der un-menschlichen Landschaft menschliche Geschichte. Die Natur verwandelt die Geschichte in Kosmogonie und Sternentanz.“

Manches scheint eindeutig, anderes öffnet mal wieder Raum für phantasievolle Auslegungen. Als Lucille ergo wieder ins Reich der Esoterik abdriftet geht mir durch den Kopf: Wenn nicht die Maya-, sondern unsere Welt untergegangen wäre, wie würden Maya heute vor den Ruinen des Kölner Doms stehen – würden sie nach den astronomischen Löchern suchen, um aus den Durchscheintagen nach Bedeutungen zu suchen? Würden sie enttäuscht sein, nichts dergleichen zu finden, ahnen, verstehen können, dass dieses imposante Bauwerk nichts als der Machterhaltung des Klerus durch die steingewordene Vorführung der Allmacht Gottes diente, der Rechtfertigung von Prunk und Zementierung von Hierarchien?

Oder anders: Wie mag wohl auf einfache Mayas gewirkt haben, wenn an bestimmten Tagen, ja Stunden, die ihre Priester und Herrscher genau voraussagen konnten, plötzlich Sonnen- oder  Mondstrahlen durch Aussparungen in Tempeln erstrahlten, wenn Schlangenreliefs wie von Geisterhand aufstrahlten? Beweis dafür, dass ihre Oberschicht mit den Göttern im Bunde war und ihnen also tumb zu gehorchen ist? Sicherlich. Man sollte sich hüten, die Dinge zu überinterpretieren, dabei alles stets nur aus heutiger Sicht zu erklären versuchen. Denn was allein behaupten Leute, die nicht in der DDR lebten, nur gut ein gutes Jahrzehnt nach ihrem Untergang, wie angeblich dieses System funktionierte...

Apropos Untergang: Laut Maya-Kalender dauert unser Zeitalter (das fünfte und das der Menschen in ihrer Überlieferung) vom 12.8.3114 v. Chr. bis zum 22.12.2012 n. Chr. Na, wenn das nicht Prophezeiungen ins Kraut schießen lässt! Tatsächlich könnte nach etwa 5000 Jahren mal wieder eine Umpolung des Erdmagnetsystems ins Haus stehen (las ich in irgendeiner Wissenschaftszeitung). Doch wenn da was dran ist, woher wussten das die Maya, konnten danach ihren Kalender ausrichten??

Weiter über gut befahrbare, meist schnurgerade Straßen durch halbhohe, für Yucatán typische Dschungel. Allenthalben viel Windbruch, Überbleibsel der Hurrikans Gilbert und Isidor, die hier schreckliche Verwüstungen anrichteten (wie Lucille erklärt). Ab und an durchfahren wir auch Maya-Dörfer. Mittagessen kurz vor Uxmal. Für uns wurde im Erdofen Schwein und Huhn im Bananenblatt gebacken – köstlich. Dazu eisgekühlten Pulqué und am Ende einen Cucaracha (Kahlua mit Tequila und Soda aufgeschüttelt): Ex! Bueno.

Dann erreichen und besichtigen wir Kabah. Nachmittagsglut, gut also, dass diese stimmungsvolle Anlage nicht allzu weitläufig ist. Der Aufstieg zum Codz Poop Tempel lohnt jedoch allemal: Einst zierten dieses Gemäuer mehr als 200 Abbildungen des Regengottes Chaac mit seiner seltsamen Rüsselnase. Bis auf einen sind aber alle Chaac-Rüssel abgeschlagen. Warum? Da die Leute irgendwann nach langer Dürre in ihrer schlimmen Not meinten, einem Regengott, der keinen Regen mehr schickte, nicht mehr opfern zu müssen? Ihr Schicksal selbst in die zu nehmen, Scharen von Chaac-Priestern nicht mehr ernähren zu müssen, zumindest deren Wasserrationen selbst zu trinken? Klassicher Ansatz für Revolution samt Bilderstürmerei? Oder erklären sich die abgebrochenen Chaac-Nasen durch ein Fresko an der Rückseite des Codz Poop?: zwei Krieger, Eroberer (Tolteken?), auf jeden Fall Leute, die den auf den Wänden des Ballspielplatzes von Chichén Itzá Abgebildeten sehr ähneln, zwingen einen Maya-Herrscher in die Knie – den hiesigen König, dessen Gott Chaac man demonstrativ die Nasen abbrach um gebrochene Macht zu demonstrieren?

Am frühen Abend in Uxmal, das Hotel in ähnlich günstiger Lage wie in Chichén Itzá und mit fast identischer Ausstattung. Wunderbar, mitten im Dschungel bei Vogelkonzert erst mal eine Rund im Pool schwimmen... Nach Sonnenuntergang Besuch einer Licht-und-Ton-Show in den Ruinen Uxmals. Das Ganze stellt sich dann allerdings so dar, wie im Reiseführer beschrieben: als kitschig. Bunte Scheinwerferstrahlen auf Ruinendetails, dazu pathetischer Text (für Deutsche und sonstige Ausländer per Kopfhörer) und schwülstige Musik bei schier unerträglicher, vom Mauerwerk abgestrahlter Hitze. Überhaupt die Musik, die hier so aus Hotel-, Restaurant oder sonstigen Lautsprechern schallt: Franz von Suppé scheint hier noch immer das Nonplusultra, nicht etwa Carlos Santana...

2021: Projektabschluss „Anna Hood entdeckt Leuna“ in der Stadtbibliothek Leuna. Der musste coronabedingt schon mehrmals verschoben werden. Nun haben wir uns entschieden, das Ganze ohne Teilnehmer und ohne Publikum durchzuführen, um endlich zu einem Ende zu kommen. Dietlind, die Bürgermeisterin, Volker, ihr Stellvertreter, und die beiden Bibliotheksdamen lesen Texte der beteiligten Schüler, ihr erkläre das Projekt und klimpere dazu auf meiner Kalimba. Das wird aufgenommen und ins Internet gestellt. Den schreibenden Schülern, von denen die Texte stammen wird ein Belegexemplar mit dem Hinweis auf den Internet-Link zugesandt. Corona-Kultur.

 

Abschlusskonzert

für

Abaelard / Anselm von Canterbury / Peter Apian / Louis-Armand de Lom d’Arce / Sandy Denny / Eleonora Duse / Hannelore Elsner / Thomas Fritsch / Louis Théodore Gouvy / Karin Gregorek / Marcel Janco / John Maynard Keynes / Jean-François Lyotard / Lonnie Mack / Gummo Marx / Moritz Wilhelm von Sachsen-Merseburg / Girolamo Parabosco / Boris Andrejewitsch Pilnjak / Prince / Laisenia Qarase / Jean Baptiste Racine / Hans Ralfs / Nina Simone / Fritz Sperling / Tiradentes / Mark Twain / Vernon Jay „Verne“ Troyer / Carlos Pezoa Véliz

 

An diesem Tage hörten wir Abschiedstöne:

1519: landet Hernán Cortez nahe des heutigen Veracruz und beginnt mit der Eroberung Mexikos / Frankfurt am Main, 1873: bei Protesten gegen eine Erhöhung der Bierpreise kommen 20 Demonstranten ums Leben / Hsinchu, Taiwan, 1935: Erdbeben, 3.276 Tote / Algier, 1961: vier französische Generäle versuchen zu putschen / 1967: in Griechenland putscht sich das Militär für sieben Jahre an die Macht / München, 1988: Säure-Attentat auf drei Werke Albrecht Dürers, 100 Millionen D-Mark Schaden / Sri Lanka, 2019: Bombenattentate auf drei Kirchen und  vier Hotels, 350 Tote.

 


22. APRIL

 

Umbruch

mit

Jacques Stéphen Alexis / Loreta Asanavičiūtė / Cándido Camero / Glenn Campbell / Paul Laurence Dunbar Chambers jr. / Baldev Raj Chopra / Emily Davies / Germaine de Staël / Henry Fielding / Steve Fossett / Paula Fox / Simone Frost / Louise Glück / Georg Joachim Göschen / Immanuel Kant / Wladimir Iljitsch Lenin / Alo Mattiisen / Yehudi Menuhin / Charles Mingus / Vladimir Nabokov / Robert Oppenheimer / Betty Page / Raymond Louis Gaston Planté / Odilon Redon / Ludwig Renn / Georg Rollenhagen / Ferdinando „Nikola” Sacco / Wilhelm Schickard / Klaus Schumann / James Stirling / Johann Wilhelm von Stubenberg / Bruno Tesch / Tomita / Cajetan Tschink / Edward Ellerker Williams

 

An diesem Tage schien Neues aufzubrechen:

Angkor, 967: Einweihung des Tempels Banteay Srei / 1513 bemerkt der spanische Navigator Antón de Alaminos vor Florida eine starke Meeresströmung, die später Golf-Strom genannt wird / Salzburg, 1841: Gründung des Vereins Dommusikverein und Mozarteum / 1856: Eröffnung der ersten Brücke über den Missisippi zwischen Rock Island, Illinois und Davenport, Iowa, Detroit /  Michigan 1903: Jack Root wird erster Boxweltmeister im Mittelgewicht./ 1970: erster „Earth Day“ in den USA, fast 20 Millionen Menschen demonstrieren landesweit für Umweltschutz.

 

Ich notierte:

1980: Heute erster Ausflug im eigenen Auto. Jeanny hat eine guten Vorschlag: Hinter Bitterfeld, in Pouch, soll es einen Laden geben, genannt „Klein Neckermann“, der unglaubliche Sachen anbietet. Also nichts wie hin. Das Einzige, das wir dann dort erstehen, ist aber eine Hose für Cathi. Na, immerhin.

1981: In Max Frischs „Blätter aus dem Brotsack“ lese ich: „Es ist der Künstler, dem das Gestalten genug ist, das Immer-wieder-Gestalten… und wie beim Künstler, beim echten, so scheint es auch hier: er liebt das Schaffen, nicht das Geschaffene.“ Ja, das ist es! Ich habe hunderte fertige und halbfertige Texte rumliegen – uninteressant! Doch mich nervt, dass ich sei Wochen nichts Neues geschrieben habe, aus Termingründen nur zum Korrigieren, zum Ausbessern komme.

1982: Umzug aus Daspig, aus unserer ersten Wohnung in die van#T-Hoff-Straße.. Wände kahl von Bildern, weiße Flecke, Spinnennetzschwärme fliegen mir daraus entgegen. Sie kommen wohl aus der Weite hinter den Bildern, die ich stets um mich hatte und – versuchen mich zu erreichen…

2003: Nach dem Frühstück mit sehr exotischen Früchten (Mamées z.B.) Besichtigung der Reste der alten Stadt Uxmal. Sehr eindrucksvoll gleich am Anfang des Rundgangs die einzigartig ovale Pyramide des Zauberers, die der Legende nach in einer Nacht erbaut wurde (Archäologen sagen: Bauzeit ca. 400 Jahre), dann das Nonnenviereck mit den wunderbaren Darstellungen der gefiederten Schlange, der Gouverneurspalast, das Schildkrötenhaus und und und. Puuc-Kultur. Das alles in einer gepflegten parkähnlichen Landschaft mit phantastischen Aus- und Einblicken. Aber schon bald ist man wieder klatschnass. Die Sonne brennt. Und wir müssen weiter nach Celestun am Golf von Mexiko. Lucille bittet unseren Busfahrer von der Haupt- auf eine Nebenstraße abzubiegen, und so sehen wir verlassene Haziendas, die in der Sisal-Zeit blühten, weite brachliegende Felder und ärmliche Maya-Dörfer. Die Eingeborenen blieben nach dem Niedergang der Sisalproduktion, hier, die Herrschaften nahmen das aus dem Land gequetschte Geld und zogen weiter...

Am Wegesrand auch überwucherte Hügel, ohne Zweifel unausgegrabene Maya-Siedlungen. Was mag hier noch alles schlummern, zu entdecken sein. Und wie viele Maya-Siedlungen sind in den Dschungeln bis heute nicht mal lokalisiert! (In dieser Region muss im Übrigen vor 65 Millionen Jahren der riesige Komet niedergegangen sein, der wohl das Aussterben der Saurier beförderte.) In Celestun führt uns Lucille in ein malerisches Strandrestaurant. Während wir aufs Essen warten (fangfrischen Fisch selbstredend) gehe ich von der Restaurantterrasse mal schnell einige Schritte über den Strand und schwimme im Golf von Mexiko. Und ein unvergessliches Bad nehme ich am Nachmittag während eines Bootsausfluges in die Lagune von Celestun, Heimat unzähliger Flamingos, Fregattvögel, Reiher, Löffler: Am Ende eines Mangrovenkanals erreichen wir einen Cenote, eine Art Quellbrunnen, mitten im Mangrovendickicht. Glasklares, kaltes Wasser sprudelt hier empor. Außer mir und einigen Kindern traut sich aber keiner aus der Gruppe hier zu schwimmen. Selbst schuld.

Am Abend erreichen wir Mérida, wuselige Millionenstadt. Wir übernachten im Hotel Fiesta Americana, und hossa! – hier kann man sogar vom Klo aus telefonieren, nobel nobel.

2023: Vor 30 Jahren gründete ich den Verein Sachzeugen der Chemischen Industrie mit. Heute findet im Deutschen Chemiemuseum in Merseburg, das dieser Verein initiierte und betreibt, eine große Festveranstaltung statt. Ich bin mit einem Büchertisch dabei. Gute Gespräche.

 

Urteil

für

Jeppe Aakjær / Ansel Adams / Jacques Stéphen Alexis / Hans Aßmann Freiherr von Abschatz / Ahmad Bābā / Vivi Bach / Christiana Büsching / Hubert Dreyfus / Dieter Forte / Michael Glawogger / James Hargreaves / Richie Havens / Earl Hines / Eberhard Friedrich Hübner / Barry Humphries / Käthe Kollwitz / Gustav Kühne / Kūkai / Stephen Lawrence / Walter Macken / Jeanne Mammen / Don Pullen / Pier Antonio Quarantotti Gambini / Heinrich Rathjen / Henry Royce / John Peter Russell / Johann Adolf Scheibe / Heinz Schröder / Georg Stiernhielm / Fritz Straßmann / Tchicaya U Tam’si / Marie Taglioni / Richard Trevithick / Heinz Trökes / Alida Valli / Michael Verhoeven / Gert Heinrich Wollheim

 

Das vernahmen wir schlimmes als Urteil:

Paris, 1370: Grundsteinlegung für die Bastille / Saragossa, 1529: Spanien und Portugal grenzen ihre Kolonisierungsinteressen im Pazifik vertraglich ab / 1915 setzten deutsche Truppen in der Schlacht bei Ypern weltweit erstmals Giftgas ein / 1945 unternehmen Gefangene der Ustascha einen Ausbruchsversuch aus dem KZ Jasenovac, 540 der 600 Häftlinge kommen ums Leben / 1974: prallt eine Boeing 707 beim Landeanflug auf Bali gegen eine Berg, alle 107 Insassen sterben / 1980 sinkt das philippinische Fährschiff „Don Juan“ nach der Kollision mit einem Tanker, 313 Tote / 1980 lässt der Putschist Samuel K. Doe in Liberia 13 abgesetzte Regierungsmitglieder erschießen / Guadalajara, 1992: bei Explosionen in der Kanalisation sterben üb er 200 Menschen / 2004 kommen bei einem Zugunglück im südkoreanischen Ryongchón 160 Menschen ums Leben.

 

23. APRIL

 

Sommernachtstraum

mit

Dirk Bach / Frank Borzage / Stephen Maynard „Steve“ Clark / Glenn Cornick / Pierre Dupont / Georg Fabricius / Marianne Fiedler / Friedrich Fink / Michel Fokine / Friedrich von Hagedorn / Halston / Ilse Korn / Halldór Laxness / Ruggero Leoncavallo / Ruth Leuwerik / Edith Ngaio Marsh / Johann Georg Meind / Ramabai Donge Medhavi / John Miles / Lee Miller / Roy Kelton Orbison / Oleg Wladimirowitsch Penkowski / Max Planck / Sergei Sergejewitsch Prokofjew / Julius Rembke / Martin Rinckart / Charlie Rivel / Julius Caesar Scaliger / Dietrich Schwanitz / Ethel Smyth / Marie Taglioni / Shirley Temple / Maarten Tromp / William Turner / Lena Vandrey / Hervé Jean-Pierre Villechaize / Wilhelm Wackernagel / Artemus Ward / Ernst von Wolzogen / Granville Tailer Woods / Fritz Wotruba

 

Wunderbar träumten wir an diesem Tage:

1512: der Frieden von Malmö beendet den Dänisch-Hanseatischen Krieg / 1516 wird das „Bayrische Reinheitsgebot“ für Bier erlassen / Nußdorf, 1525: Beginn des Pfälzischen Bauernaufstandes / San Lorenzo de El Escorial: Grundsteinlegung für den weltweit größten Reanaissancebau, die Klosterresedienz El Escorial / Leipzig, 1843: Einweihung des Bach-Denkmals, des weltweit ersten Denkmals dieser Art / Angora, 1920: unter Atatürk konstituiert sich die Große Nationalversammlung der Türkei / 1945: amerikanische Truppen befreien das KZ Flossenbürg / Berlin, 1976: der „Palast der Republik“ wird eröffnet / Key West, 1982: symbolische Ausrufung der Conch Republik aus Protest gegen Zollbarrieren (die nach einer Minute zurückgenommen wird) / 1988 fliegt Kanelios Kanellopoulos mit einem allein durch Muskelkraft betriebenem Flugzeug von Kreta nach Santorin / 2005: Start von YouTube.

 

Ich notierte:

1979: Heute zweimal Geld: die Abrechnung für den Monat April und ein Zweier im Zahlenlotto! Dafür bekam ich heute in keiner der beiden Bibliotheken (Leuna und Deuben) auch nur eines der Bücher, die ich fürs Studium brauche. Und in Hohenmölsen erscheinen zum Zirkel schreibender Schüler zwar Schüler, doch haben die nichts geschrieben und wollen heute auch nichts schreiben. Nun gut, brotlose Kunst offenbar

 

2024: Walter-Bauer-Abend am Welttag des Buches in der Deutschen Nationalbibliothek. Der hat einige Schweißtropfen gekostet. Doch alles läuft sehr gut. Voller Saal, kundige Begrüßung durch den Direktor, es lesen die Bauer-Stipendiaten Adina Heidenreich und Christoph Liedtke sowie die Preisträger Thomas Kunst und André Schinkel. Ich moderiere und steuere eine Power-Point-Präsentation zum Leben und Werk WBs sowie Musikkonserven bei – einige meiner alten Kompositionen, über die ich Walters Originalstimme gezogen habe. Kommt gut an. Wirkt.

 

 

 

Quichotterie

für

Maria Àngels Anglada / Arno / Karl Friedrich Bahrdt / Albrecht Theodor Andreas Graf von Bernsdorff / Manfred Bieler / Klaus Hans Martin Bonhoeffer / Brian Boru / Rolf Dieter Brinkmann / Rupert Brooke / Charles G. Dawes / Miguel de Cervantes / Teresa de la Parra / Inca Garcilaso de la Vega / Erik Gustaf Geijer / Paulette Goddard / Boris Godunow / Bertram Grosvenor Goodhue / Wilhelm Leberecht Götzinger / Pete Ham / Clement Hugh Gilbert Harris / Albrecht Haushofer / Theodor Gottlieb von Hippel / Kira Hlodan / Otto Hübener / Hans John / Daniel „Dan“ Kaminsky / Krzysztof Komeda / Johann Georg Lahner / Wolfgang Menzel / Milva / Wilhelm zur Nieden / Rudolf Nilsen / Otto Preminger / Ranavalona III. / Douglass „Doug” Haywood Rauch / Satyajit Ray / Gregor von Rezzori / Romano Scarpa / Rüdiger Schleicher / Elisabeth Schumann / William Shakespeare / Johnny Thunders / P. L. Travers / Karl-Heinz-Wirzberger / William Wordsworth

 

Vergeblich versuchten wir das nicht ernst zu nehmen:

Merseburg, 1669 „war ein grausam Ungewetter, da der Hagel wie Tauben-Eyer groß die Fenster und Baum-Blüthen zerschmettert“ / 1885: der belgische König Leopold II. erklärt den Kongo als seinen Privatbesitz.

 


24. APRIL

 

Fund

mit

Akwasi Afrifa / Clara Arnheim / Kamla Bhasin / P. Bhaskaram / Antonie Baumberg / Louis Canivez / Edmund Cartwright / Marcus Andrew Hislop Clark / Willem de Kooning / Fred Delmare / Vinzenz Depaul / Fattty George / Johnny Griffin / Klaus Groth / Fritz Oskar Hampel / Joe Henderson / Ludger Hölker / Karl Leberecht Immermann / José Ingenieros / Hannah Karminski / Johanna Kirchner / Robert Edgar Konrad / Helmuth Lohner / César Manrique / Albert Mayer / Otto Reutter / Heinz Schröder / Mano Solo / Carl Spitteler / Werner Siegfried Teske / Robert Penn Warren / Wilhelm von Oranien / Xu Guangqi / Karl Zink

 

Da glaubten wir, einen Fund gemacht zuhaben:

Dublin, 1916: Beginn des Oster-Aufstandes gegen britische Besatzung / 1934 erhält Laurens Hammond das Patent für die von ihm erfundene Orgel / Stockholm, 1961: Bergung des bei seiner Jungfernfahrt im Jahre 1628 gesunkenen schwedischen Flaggschiffes „Vasa“ / 1964 tritt das internationale Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen in Kraft / 1970 wird Gambia Republik / 1970: China startet einen ersten Satelliten ins All / 1974: beginnt in Portugal die Nelken-Revolution / 1990 wird das Hubble-Teleskop in eine Erdumlaufbahn gebracht.

 

Ich notierte:

1999: Frühmorgens mit Jeanny zur diesjährigen Tagung der Haslacher Brauchtumsrunde nach Wechmar in Thüringen. Seit der Wende werde ich zu diesen Zusammenkünften von Brauchtumsforschern, die zumeist im Süden oder Südwesten Deutschlands tagen, aufgrund meiner Veröffentlichungen über die Spergauer Lichtmeß eingeladen, gehöre somit fast zum „Stamm“, freue mich also viele Bekannte wiederzusehen. Erstaunlicherweise sind aber nur wenige der alten Brauchtumsfreunde erschienen, dafür läuft de facto eine Berichtsversammlung des Thüringer Trachtenbundes ab, Referat hinter Referat, zumeist kleinkariert, idyllisierend, tümelnd. Keine Zeit zum Gedankenaustausch, für persönliche Gespräche. Wir fühlen uns deplaziert. Und als Jeanny schließlich sogar von einem der Trachtentümler angegangen wird, verlassen wir mit den Haslachern unter Protest diese obskure Versammlung, setzen uns endlich mit „alten Bekannten“ bei einem Glas Wein zusammen.

2000: Ostermontag. Kein Sonnenschein mehr, alles Grau in Grau und kühl. Leichte Melancholie, dass da mal wieder etwas vorbei ist, unwiederbringlich. Ich versuche mich auf Arbeit zu konzentrieren, bereite eine Vorlesungsreihe vor, die ich in dieser Woche beginnend, dann vierzehntägig an der Fachhochschule Merseburg zu halten habe.

2015: Heute vor 100 Jahren wurden in Konstantinopel armenische Intellektuelle, Wissenschaftler, Journalisten, Autoren, verhaftet, gefoltert, ermordet dann, begann der Genozid am armenischen Volk im Osmanischen Reich. Mit meinen Partnern im armenischen Schriftstellerverband hatte ich vereinbart, aus diesem Anlass zwei Bücher herauszugeben: eines mit Texten schreibender Schüler aus Deutschland und Armenien zum Thema „Völkermord“, das andere mit Texten armenischer Dichter, die damals Opfer der Jungtürken wurden. Die beiden Bücher sind tatsächlich fertig geworden (gerade eben) und ich bin eingeladen, an Genozid-Gedenkveranstaltungen in Jerewan teilzunehmen.

Die Innenstadt ist großflächig abgesperrt, allenthalben Polizei, Militär, zuckendes Blaulicht, Sirenen. Gut, dass ich gleich im Flughafen ein badge, eine Zugangskarte (mit Foto!) erhalten und umgehängt bekommen hatte, sonst – wer weiß.

Bis zum Hotel kommen wir noch gut, der Weg nach Tsitsernerkaberd, zur Genozid-Gedenkstätte scheint jedoch selbst Badge-Trägern versperrt. Heftiges Uniformierten-Gestikulieren und –Grimassieren und nach abenteuerlichen Gekurve durch Hinterhofstraßen stehen wir auf einem Pfützenparkplatz. Aufgeregtes Telefonieren der Betreuer. Und als es dann über andere Umleitungen irgendwann doch weitergeht – Straßenkontrollen aller paar hundert Meter, mehr und mehr blauer armenischer Drillich und zunehmend auch Herren in schwarzen Kunstlederjacken oder schlechtsitzenden Jugendweiheanzügen sowie Uniformierte in Regenpelerinen, die vorm Bauch verdächtig breit sperren…

Mit etwa zwei Stunden Verspätung treffen wir endlich in Tsitsernakaberd ein, doch nun heißt es noch eine Stunde warten, da gerade Staatsoberhäupter (Putin, Hollande) und Botschafter, Kirchen- und sonstige Repräsentanten Reden reden und Kränze niederlegen. Klar, es ist zu verstehen, dass man nervös ist, dass heute hier alles sicher sein und ablaufen muss. Zu unversöhnlich leugnet die türkische Regierung nach wie vor diesen Völkermord, zu deutlich hingegen diskutiert die Weltöffentlichkeit und erkennt diesen Völkermord als solchen an: der Papst, die EU, jüngst der deutsche Bundespräsident und heute in Berlin auch der Bundestag. Keine Frage, ich verstehe diese überzogenen Sicherheitsbemühungen. Und während wir, nachdem wir unsere Blumen an der Ewigen Flamme niederlegten, zurück in die City fahren, strömen uns Zehntausende entgegen, die alle auch mit ihren Blumen die Opfer ehren wollen. Und dies offenbar unbeeindruckt davon, dass es heftig zu regnen beginnt. Wie immer am 24. April, am Genozid-Gedenktag, meint einer meiner armenischen Begleiter. „Gott weint…“.

Symbol dieses Gedenkens ist in diesem Jahr armenisches Vergissmeinnicht. Auf jedem Plakat, an jedem Auto prangt diese lila Blüte, sie ziert T-Shirts, Hüte, ist Souvenir, Politiker und Fernsehansager tragen lila Schlipse, Ansagerinnen lila Tücher und ein jeder, eine jede wohl hat einen lila Vergissmeinnicht-Anstecker an der Bluse, am Revers…

Für den Abend sind ich und die anderen Autoren aus aller Herren Länder, die zu diesen Gedenkfeiern eingeladen wurden, zu einem großen Freiluftkonzert auf dem Platz der Republik gebeten. Da Gott jedoch mehr und mehr weint und die Temperatur arktisch wird, erinnere ich mich schlagartig, dass ich die letzte Nacht in Flugzeugen und –häfen hockte und gehe beizeiten schlafen.

2021: Heute tritt bundesweit ein neues Infektionsschutzgesetz in Kraft, das u.a. ab bestimmten Infektionszahlen eine Ausgangssperre von 22 bis 5 Uhr festschreibt. Wir wollten an diesem Wochenende eigentlich in Hamburg sein, ich hatte Karten für die Elbphilharmonie ergattert… Doch natürlich alles längst gecancelt. Immerhin habe ich eine Konzert-CD von Ibrahim Maalouf, den wir live erleben wollten, aufgetrieben. Die genießen wir nun mit einem guten Rosé daheim.

 

Falle

für

Gegham Barseghjan/ Władysław Bartoszweski / Gustl Bayrhammer / Karin Boye / Eliana Burki / Alejo Carpentier / Jean Daniel Abraham Davel / Ernesto de Fiori / Cornelis Gerard Anton de Kom / Juan de Padilla / Walter Dreizner / José Giovanni / Jimmy Giuffre / Hans Hollein / Karl Wilhelm Junghuhn / Hans Koch / Leonid Alexejewitsch Kulik / Poul la Cour / Adélaïde Labille-Guiard / Max von Laue / Lucy Maud Montgomery / Johannes Olearius / Papa Wemba / Pem / Alfred Polgar / Willi Resetarits / Tadeusz Różewicz / Wassili Andrejewitsch Schukowski / Otis Spann / Rolf Stommelen / Oliver Tambo

 

An diesem Tage meinten wir, in eine Falle geraten zu sein:

1877: Ausbruch eines weiteren Russisch-Osmanischen Krieges / 1884: Beginn der deutschen Kolonisierung Südwestafrikas / 1898: Spanien erklärt den USA den Krieg /  Konstantinopel, 1915: Beginn des Genozids an den Armeniern / Stockholm, 1975: RAF-Terroristen überfallen die deutsche Botschaft, nehmen Geiseln und ermorden zwei Diplomaten / Teheran, 1980: eine US-Militäraktion zur Befreiung zur Befreiung von 53 als Geiseln gefangen gehaltenen US-Botschaftsangehörigen scheitert / Sabhar, Bangladesh, 2013: bei einem Gebäudeeinsturz kommen 1.127 Menschen ums Leben und 2.438 werden verletzt.

 


25. APRIL

 

Schwank

mit

Muhammed Said Abdulla / Joseph Abileah / Leopoldo Alas / Richard Anders / Karel Appel / Sigmund von Birken / Eugene Eart Bostic / Oliver Cromwell / Édouard-Leon Scott de Martinville / Petja Stojkowa Dubarowa / Ella Fitzgerald / August Fresenius / Amir Fryszer Guttman / Jindřich Hořejší / Nathan Jonas „Joey“ Jordison / Albert King / Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow / Georg Major / Guglielmo Marconi / Francesco Patrizi da Cherso / Wo1fgang Ernst Pauli / Carol Reed / Bertrand Tavernier / Cy Twombly / Albert Uderzo / Otto von Wenckstern

 

Da fühlten wir uns erheitert:

Eger, 1459: vertragliche Festlegung der Grenze zwischen Sachsen und Böhmen / 1644: aufständische Bauern besetzen Peking, Ende der Ming-Dynastie / Port Said, 1859: erster Spatenstich zum Bau des Suez-Kanals / Tetuan, 1860: Friedensschluss im Spanisch-Marokkanischen Krieg / Torgau, 1945: Zusammentreffen von amerikanischen und sowjetischen Truppen bei der Zerschlagung Nazi-Deutschlands / 1945 flieht Mussolini aus Italien, Ende des italienischen Faschismus.

 

Ich notierte:

1987: Zurück von den Internationalen Kinderliteraturtagen aus Bulgarien, Sofia, Varna, Konferenzen. Lesungen, Empfänge, und nach einem hektischen Tag voller Arbeit – aus dem Stande sozusagen – nun bei herrlichem Sonnenschein der Versuch, langsam wieder zu mir und auf den Boden zu finden. Einfach mal ein Tag um zu verdauen, abzuarbeiten, ein Tag ohne Reden, Programmleitungen, ein Tag um wieder aus sich selbst heraus agieren, nicht nur reagieren zu können. Hoffentlich.

2000: Erste Telefonate und Büroarbeiten nach Ostern, dann Termine in Merseburg, u.a. im Domgymnasium, langes, interessantes Gespräch mit dem Direktor Dr. Böhm, dann ins Pelikan-Büro, zwei Bewerberinnen für die AB-Maßnahme stellen sich vor, weiter zu Peter, unserem Computermann, der die Homepage-Seite so gut wie fertig hat, schließlich nach Halle, Literaturbüro und LKJ. Mit dem Geschäftsführer Axel Schneider erarbeite ich einen Antwortbrief ans Regierungspräsidium Magdeburg, um gegen die drohende Rückforderung von Fördergeldern in sechsstelliger Höhe (!) anzugehen. Wieder zu Hause kommt Cathi mit der Hiobsbotschaft, dass ihre ABM in Spergau nicht verlängert werden soll. Da ist guter Rat teuer, nicht zuletzt auch hinsichtlich der von ihr dort so engagiert aufgebauten Tanz- und der Aerobic-Gruppe.

2009: Pellworm. Und dann verebbt ein Wolkenband überm Watt (gemach). Von den Deichen äugen Schafe (ungeschoren). Strandläufer, Austernfischer, Regenpfeifer. Ich sitze am Hafen und pule & esse Krabben (fangfrisch, 1 € die Tüte) und überlege, was wäre, wenn ich eine Fähre später führe (vielleicht).

2015: Jerewan: Ein Wunder: Sonnenschein. Frühlingslüfte am Morgen. In den Nachrichten: der türkische Präsident habe, da Bundespräsident Gauck in Berlin vom „Völkermord“ an den Armeniern sprach, gesagt, die türkisch-deutschen Beziehungen seien auf Dauer beschädigt. Unglaublich. Wie kann man nur so hartnäckig Tatsachen leugnen, Eiszeiten schaffen? Am Eingang von Tsitsernerkaberd sah ich gestern die Flaggen der Länder wehen, die den Völkermord an den Armeniern als solchen mittlerweile unmissverständlich und klar anerkannt haben. Die deutsche fehlte allerdings, eiert die Merkel-Koalition doch noch herum. Wie wäre es aber, wehte hier eines Tages nicht nur die deutsche (was wohl zu erwarten ist), sondern auch die türkische Staatsflagge! Genau das bringe ich dann als Vision in ein Rundtischgespräch mit armenischen Autoren und den anderen Autorengästen aus aller Welt ein. Und während alle Kolleginnen und Kollegen freudig nicken, als ich die deutsche Flagge imaginiere, blicken mich die armenischen angesichts der türkischen ungläubig an… Nach dem 5-stündigen-Roundtable-Gespräch (das vor allem aus halbstündigen Statements der armenischen Teilnehmer und – selbstredend auf Armenisch – bestand, die in einem fürchterlich hallenden Raum in so gut wie unverständliches Englisch übertragen wurden) nochmals nach Tsitsernakaberd: Besichtigung des Genozid-Museums (das ich allerdings von meinem ersten Besuch in Armenien vor fünf Jahren her kannte), ich übergebe der Museumsbibliothek unsere Bücher – doch im Freien dann Überwältigendes: kamen gestern Zehntausende zur Gedenkstätte, dürften es heute Hunderttausende sein, Völkerscharen: Familien, Greise, Kinder und alle mit Blumen. Die Ewige Flamme dürfte geschützt sein auf ewig… kein Armenier offenbar, der nicht hierher pilgerte… Am Abend zur Premiere des Films „1915“ ins Moskwa-Filmtheater. Roter Teppich und so, standing ovations für die anwesenden Darsteller. Der Film selber aber nicht so mein Ding – spielt in Los Angeles und scheint dort (von wohlhabenden Diaspora-Armeniern) auch finanziert und inspiriert zu sein.

 

Schauspiel

für

Hasil Adkins / Leon Battista Alberti / Harry Belafonte / Holger Biege / Mike Brant / Victor Conrad / William Cowper / Álvares de Azevedo / Siegfried Einstein / Per Olov Enquist / Wastl Fanderl / Razeq Fani / Wilhelm Gemoll / Dexter Gordon / Ellen Key / Michèle Kiesewetter / Paul Kornfeld / Louise Labé / Lisa Nicole Lopes / Uku Masing / Zenta Mauriņa / Aquiles Nazoa / Bobby Pickett / Siméon Denis Poisson / Raffi / Ginger Rogers / Wolfgang Rohde / Wacław Rolicz-Lieder / George Sanders / Andreas Scultetus / Anna Sewell / Alan Sillitoe / Clifford D. Simak / Werner Steinberg / Eddie Southe / Torquato Tasso / Stefanie Zweig

 

An diesem Tage erlebten wir ein übles Schauspiel:

Paris, 1792: erste Hinrichtung mit der Guillotine / 1915: Beginn der mehrmonatigen Schlacht von Gallipoli / 1980 prallt eine Boeing 727 beim Landeanflug auf Teneriffa gegen einen Berg; alle 145 Insassen kommen ums Leben / Amagasaki, Japan, 2005: Eisenbahnunfall, 107 Mensachen sterben/ Nepal, 2015, starkes Erdbeben, zahlreiche Todesopfer.

 


26. APRIL

 

Zähmung

mit

Vicente Aleixandre / John James Audubon / Mark Aurel / James P. Beckwourth / Celadet Ali Bedirxan / Fanny Blankers-Koen / Eugène Delacroix / Albert Ebert / Teddy Edwards / Carl Einstein / Per Olof Ekström / Akseli Gallen-Kallela / Jimmy Giuffre / Paul Gurk / Jossi Harel / Regine Hildebrandt / Arthur Maurice Hocart / Arno Holz / Marianne Hoppe / Hertha Kräftner / Leo Kofler / Ruan Langyiu / Christian Ludwig Liscow / Bernard Malamud / Renate Müller / Ieoh Ming Pei / Bona Peiser / Gertrude „Ma“ Rainey / Charles Francis Richter / Wilhelm Scherer / Maria Sebaldt / Mykola Kostjantynowytsch Serow / William Shakespeare / Douglas Sirk / Ludwig Uhland / Jean Vigo / Ludwig Wittgenstein / Gary Wright

 

An diesem Tage meinten wir, würde Widerspenstiges gezähmt:

Ayr, 1315: Eröffnung des ersten schottischen Parlaments / 1336 besteigt Francesco Petrarca den Mount Ventoux, Beginn des touristischen Bergsteigens / Frankfurt (Oder), 1506: Eröffnung der Universität Vladrina / 1964: Vereinigung von Sansibar und Tanganjika zu Tansania / Newark, New Jersey, 1956: das erste Containerschiff der Welt geht auf Fahrt / Südafrika, 1994. erste freie Wahlen nach dem Ende des Apartheid-Regimes /

 

Ich notierte:

1980: Mit dem Trabi nach Halle. Mugge im Volkspark. Zuvor aber Halt am Rannischen Platz, einer der beiden „Herren“, die mich jüngst zu Hause aufsuchten, hatte mir eine Karte geschrieben und gebeten, ihn heute hier zu treffen. Was soll das? Er führt mich zum Nebeneingang eines Hauses, schließt auf und wir sitzen in einem völlig schmucklosen Zimmer bei geschlossenen Vorhängen. Mein Name sei bei Ermittlungen im Zusammenhang mit einem westlichen Geheimdienst aufgetaucht. Ich solle Augen und Ohren offen halten, sie werden mich immer mal wieder befragen wollen. Ob ich einverstanden sei. Hä? Und wenn ich jetzt Nein sage, was passiert dann? Bin ich Spion oder was? Ich eiere herum, traue mich nicht Nein zu sagen, sage aber auch nicht Ja. Vielleicht verläuft sich das Ganze. Nachts gegen zwei nach Mugge zu Hause. Jeanny wartet noch auf mich, ist aufgebracht. Nachbars erzählten im Dorf herum, dass wir Assis seien, nicht ordentlich arbeiten gingen, machten uns schlecht. Jeanny nimmt sich das sehr zu Herzen. Wir sitzen bis gegen fünf. Hängt das womöglich mit diesem ominösen Herren zusammen?

2015: Ausflug nach Garni und Geghard. Stopp am Tscharenz-Denkmal in den Bergen oberhalb Jerewans: Sehnsüchtig machender Blick zum schneebekrönten Ararat-Massiv, erhaben. Dann aber zuckeln wir durch Dörfer, die sich seit dem Erdbeben von 1988 offenkundig selbstüberlassen blieben: Ruinen in blühenden Aprikosen- und Kirschgärten, Gärten in denen Kinder spielen, Ruinen in denen Frauen Essen kochen, Menschen leben… In einem nächsten Ort sind wenigstens schon die Dächer wellblech- und asbestplattengedeckt… Dann: Garni, einstige Sommerresidenz der armenischen Könige. Ansehnlich restaurierter antiker Tempel. Hier soll Rhadamistos 51 n. Chr. Seinen Schwiegervater Mithridiatis von Armenien ermordet haben, um selbst armenischer König zu werden (bis er selbst ermordet wurde…). Ein Stoff, den immerhin Georg Friedrich Händel verarbeitete – oder anders gesagt: hier ist der Originalschauplatz der Händel-Oper „Rhadamistos“. Unterwegs komme ich mit einer anderen Autorin ins Gespräch, die auch über den armenischen Genozid schrieb und so zu den Gedenkfeiern eingeladen wurde: Marcella Polain aus Australien. Und siehe da, sie kommt aus Perth und ist sehr überrascht als ich sage, dass ich erst vor zwei Monaten in Perth war – wow! – so klein ist die Welt.

Und als ich mit dem kanadischen Teilnehmer Alan Whitehorn rede, stellt sich heraus, dass er meinen kanadischen Dichterfreund Henry Beissel gut kennt und in Kingston, Ontario zuhause ist, wo ich mit Jeanny vor Jahren auch schon mal nächtigte… Nochmals: so klein ist die Welt! Schließlich Geghard: UNESCO-Weltkulturerbe, Klosterkomplex am Anfang einer Felsenschlucht, einige Kapellen und Mönchszellen aus dem Felsen geschlagen, sehr beeindruckend. Und in der Nachmittagssonne unter blühenden Mandelbäumen sitzend und das bunte Volks der Klosterbesucher beobachtend, Trommlern und Duduk-Spielern lauschend, übermannt mich die Schönheit dieser Welt, ja und das (oder vielleicht gerade) , da sie so einzig, so klein ist, ja, so verletzlich, so bedroht…

 

Ausbruch

für

Kurt Absalon / Lucille Ball / Count Basie / Bjørnsterne Bjørnson / Emil Karl Blümml /Carl Bosch / John Bunny / Robert Campin / Detlef Cauer / Cecil Coles / Hart Crane / Édouard-Leon Scott de Martinville / Mário de Sá-Carneiro / Franz Michael Felder / Juan Gerardi / Hermann Gmeiner / Chaim Grade / John Heartfield / Günter Karau / Dragomir Kette / Ardian Klosi / Frank Jürgen Krüger / George Herbert Mead / Otto Mellies / Pelle Molin / Josef Nesvadba / Juan Carlos Olivas / Pierre Perrin / Jean-Baptiste Pillement / Srinivasa Ramanujan / Augusto Roa Bastos / Georg Friedrich Sacke / Maria Schell / Klaus Schulze / Ellen Schwiers / Karl Siegmund Freiherr von Seckendorff / Hubert Selby / Arnold Sommerfeld / Phoebe Snow / Pjotr Jakowlewitsch Tschaadajew / Ueshiba Morihei / Simonetta Cattaneo Vespucci / Konstantin Konstantinowitsch Waginow / Johannes Wüsten / Yun Hyon-seok

 

Da schienen uns Dämme zu brechen:

1457 v. Chr.: Schlacht bei Megiddo / Geuernica, 1937: Bomber der deutschen Legion Condor zerstören die baskische Stadt im Spanischen Bürgerkrieg, bis zu 2.000 Einwohner kommen ums Leben / Benxihu, Mandschurei: bis dato schwerstes Bergwerksunglück der Welt, 1.549 Bergleute kommen ums Leben / 1952 kollidieren der Minensucher „USS Hobson“ und der Flugzeugträger „USS Wasp“ im Atlantik, 176 Tote / Taschkent, 1966: bei einem Erdbeben werden 300.000 Einwohner obdachlos / Tschernobyl, 1986: Nuklearkatastrophe, in Folge bis zu 4.000 Todesopfer weltweit / Nagoya, 1994: Absturz eines Airbus A-300 beim Landeanflug, 264 Menschen sterben.

 

 

27. APRIL

 

Favorisierung

mit

Sadriddin Aini / Alfred Julius Becher / Sarniza Bilcescu / Wallace Hume Carothers / Johann Friedrich Cotta / Denzil DaCosta Best / Fatou Yacouba Djibo / Peter Ensikat / Friedrich von Flotow / Friedrich Goldmann / Pete Ham /Amir Sjarifuddin Harahap / Hermann Härtel / Gordon Haskell / Johann David Heinichen / Johannes Honsell / Jack Klugmann / Krzysztof Komeda / Hans-Joachim Kulenkampff / Ljubomir Lewtschew / Katarzyna „Kasia“ Lenhardt / Samuel Finley Breese Morse / Hans Olde / Andreas Jakob Romberg / Ján Palárik / Werner Sanß / Herbert Spencer / Edward Whymper / Mary Wollstonecraft

 

An diesem Tage glaubten wir etwa favorisieren zu können:

1763: Beginn des Aufstands von Agonkin-Stämmen unter Pontiac gegen die britische Kolonialmacht / London, 1840: Grundsteinlegung für den Palace of Westminster / Wien, 1899: Gründung des ersten Schall-Archivs der Welt / 1960 wird Togo unabhängig von Frankreich / 1961 wird Sierra Leone unabhängig von Großbritannien / China, 1969: Auflösung der Roten Garden, Ende der Kulturrevolution / 1994: Vereinigung der Homelands mit Südafrika / New York, 2006: Grundsteinlegung für das „One World Trade Centers“ am Ground Zero.

 

Ich notierte:

1999: Übles Wetter, Nebel. Doch glücklicherweise habe ich heute als erstes ein „Heimspiel“, lese in der Jahn-Schule in Leuna. Hochinteressierte und motivierte Kinder, ich werde regelrecht „gelöchert“ und bleibe fast 4 Stunden. Dann ins Büro, und kocht langsam das Chaos hoch, Ärger mit dem Arbeitsamt, die Verlängerung von ABM-Stellen betreffend, soll ich wie selbstverständlich aus der Welt schaffen. Klar, dieser Automatismus musste ja massiv werden - wer merkt da schon noch, dass das hier nicht meine Aufgabe ist! Und außerdem habe ich bulgarische Schriftstellerkollegen zu betreuen, die seit gestern in Halle zu Gast sind: Ivan Roidow, Dimitr Atanassow, Welitschka Nastradinowa und Natscho Christoskow. Ich kenne sie alle von meinem letztjährigen Besuch in Plovdiv. Wiedersehensfreude und sofort kommt unser Gespräch auf den Kosovo-Krieg. Einhelliger Wunsch: sofortiges Ende aller Kämpfe und Bombardements. (Unsere Hoffnungen werden aber im Laufe des Tages einmal mehr getäuscht: Draskovic bekennt, dass er seine gestrigen Friedensaussagen nicht mit Milosevic abgestimmt hatte, der NATO-Oberbefehlshaber Clark kündigt eine Ausweitung der Luftschläge an und der russische Vermittler Tschernomyrdin, der morgen wieder nach Belgrad fliegen wollte, sagt seine Reise ab...) Ich fahre mit den Bulgaren nach Bad Lauchstädt, ein Hauch von Klassik tut uns offenbar allen gut. Ich zeige ihnen das Goethe-Theater, dann den Kurpark. Zurück in Halle bleibt mir bis zur abendlichen Lesung der Bulgaren im Marktschlösschen noch ein wenig Zeit. Ich besuche meinen alten Freund Lutz Bolldorf, Maler und Betreiber einer halleschen Szene-Kneipe. Doch ist da außer mir kein Gast, er sieht schlecht aus, malt aber seit kurzem wieder, zeigt mir stolz seine neuen Bilder.

2006: Dodendorf. Aus Ministeriumsengen auf die Autobahn, heim, nur heim. Alsbald jedoch Nebel, schon Stau, Ausweichversuche, bald aber Stillstand vor Schranken, klaustrophob. Radio an, Radio aus, Bonbons, Lenkrad betrommeln. Und dann entdecke ich nahebei einen Schwarm Stieglitze, buntes Geflatter, wunderlandgleich, Stieglitze, einen Schwarm. Und was habe ich davon? Eben das.

2015: Jerewan. Pressekonferenz, Fernsehen, Rundfunk, Presse. Das nenne ich doch mal Interesse an Literaturprojekten…! Mein Mitherausgeber Edward Militonyan stellt unsere beiden Bücher vor, betont, wie wichtig es ist, dass die Dichtung armenischer Genozidopfer nun auch in Deutschland bekannt werden kann, und dass wir auch armenische und deutsche Schüler zum Schreiben zur Thematik Völkermord aufgerufen hatten und die eingereichten Texte von einer ernsthaften Auseinandersetzung zeugten. Zweimal also haben wir „Steinchen ins Wasser“ geworfen – schaun wir mal, was das bewirkt… Die Reporterinnen (es sind tatsächlich ausschließlich Damen) bedanken sich bei Edward und mir herzlich für zielsichere Projektleitung (so was wäre in Sachsen-Anhalt auch unvorstellbar). Und eine will von mir sogar wissen, ob ich (bei meinem Aussehen) wirklich Deutscher bin und nicht vielleicht doch armenische Wurzeln habe. Nun gut.

Kurzer Aufenthalt im Haus der Schriftsteller (wo Edward als neuer Verbandsvorsitzender residiert). Und obwohl wir eigentlich nur die Zeit bis zur Premiere unserer Bücher in der Nationalbücherei überbrücken wollen, kommen ständig andere Autoren ins Büro, Diaspora-Autoren vor allem, die offenbar ihrer alten Heimat anlässlich der Gedenkfeiern einen Besuch abstatten. So bin ich ratzbatz mit armenischen Kollegen aus dem Libanon, aus Syrien, aus Kuweit und aus Russland im Gespräch. Und keine Frage, dass ich auch mit diesen Autoren das eine und andere Gläschen besten armenischen Cognacs leeren muss. Und dann die Premiere: Vorm Saaleingang wieder Fernsehkameras, Mikrofone – anderer Fernseh- und Rundfunkstationen wohl – und obwohl wir eigentlich schon zu spät kommen, kommen wir nicht ohne Statement und Frage-Antwort-Spiele an den Reportern vorbei. Vor der Bühne des überfüllten Saales dann die nächste (typisch armenische) Überraschung: obwohl ich seit drei Tagen immer wieder nachfragte, wie diese Buchpremiere ablaufen soll, hatte ich nie eine Antwort erhalten, keinen Plan, nichts. Nun aber (vor dem schon seit gut einer Viertelstunde geduldig wartenden Publikum) präsentiert mir ein Moderator ein völlig unsinniges Konzept – will das sogar noch mit mir durchsprechen! Zum Glück ist Professor Martirosyan in der Nähe, der als Germanist bereits an den beiden Büchern mitwirkte, interlinear übersetzt hatte, und mir in den letzten Tagen schon mehrmals hilfreich zur Seite stand. So übernehme ich denn spontan die Veranstaltungsleitung, stelle die Bücher vor, bitte die Schüler, die Texte zu unserem Schreibwettbewerb einreichten und hier anwesend sein sollen (wie man mir sagte – und was gottseidank stimmt) auf die Bühne und lasse sie ihre Beiträge lesen, überreiche am Ende den Schülern und allen, die geholfen hatten, Belegexemplare. Applaus. Gruppenfotos. Schweiß abwischen. Geschafft! Letzter Akt für diesen Tag: in Edwards altem Dienst-Wolga fahren wir ins Schriftstellerheim nach Tsaghkadzor, ins Hochgebirge also (wo noch Schnee liegt), anderthalb Stunden hin – armenisch-fürstliches Abendessen – anderthalb Stunden zurück. Ach ja: Anlass für dieses Festessen war, dass mir Edward in der Premieren-Hektik einen Orden an die Brust geheftet hatte. Na denn, wohl bekomm’s!

2021: Dreimal wurde die PEN-Jahrestagung wegen der Pandemie schon abgesagt, einmal im vergangenen, zweimal in diesem Jahr. Ich träume diese Nacht: Auf meiner alltäglichen Radtour entdeckte ich Plakate, dass die PEN-Tagung nun in Leuna stattfindet, Motto „PEN in der Helle!“ – aber niemand hatte mir Bescheid gesagt, geschweige denn mich eingeladen.

2024: Nacht der Museen. Ich lese im Merseburger Schloss (mit einer einst von mir ausgebildeten Stadtführerin) Rabengeschichten.

 

 

Finalisierung

für

Hermann Abeken / Walter Baumann / Kazys Binkis / Carlos Castaneda / Anne Cécile Desclos / Therese von Droßdik / Ralph Waldo Emerson / Antonio Gramsci / Willem Frederik Hermans / Al Hirt / Edmund Husserl / William Jones / Walther Kauer / Ilmari Kianto / Lin Juemin / Matthias Lüders / Fernando Magellan / Olivier Messiaen / Kippie Moeketsi / Gerard Kitchen O’Neill / Kwame Nkrumah / Penjo Penew / Lothar Popp / Meir von Rothenburg / Mstislaw Leopoldowitsch Rostropowitsch / Alexander Nikolajewitsch Skrjabin / Sigismund Thalberg / David Weiss

 

An diesem Tag ging uns so manches zu Ende:

1602 hat es in Merseburg „geschloßet und schweffel geregnet“ / 1863 sinkt vor Neufundland der Passagierdampfer „Anglo Saxon“, 238 Todesopfer / 1865 explodiert das Dampfschiff „Sultana“ auf dem Mississippi, 1.700 Tote / 1895 bricht die Stauermauer einer Talsperre bei Épinal, bis zu 200 Todesopfer / 1909 putschen die Jungtürken im Osmanischen Reich / 1978 putscht in Afghanistan das Militär / 1992 kommen bei einem Amok-Lauf eines Polizisten in der südkoreanischen Provinz Gyeongsangnam-do 58 Menschen ums Leben / Willow Island, West Virginia: Gerüsteinsturz, 51 Arbeiter sterben.

 

28. APRIL

 

Applikation

mit

Franz Carl Achard / Bruno Apitz / Tobias Asser / Humayun Azad / Lionel Barrymore / Bhanu Athaiya / Roberto Bolaño Ávalos / Charles Bourseul / Kurt Böwe / Caroline Shawk Brooks / Simin Daneschwar / Jürgen Frohriep / Hilarius „Lari“ Gilges / Kurt Gödel / Bertram Grosvenor Goodhue / Carl Göring / Beate Grimsrud / Horst Hussel / Yves Klein / Karl Kraus / Tobias Lagenstein / George E. Lee / Harper Lee / Matsumura Goshon / Ian Murdock / Nezahualcóyotl / Olivia Nova / Terry Pratchett / Peter Sadlo / Erich Franz Emil Salomon / Oskar Schindler / Elisabeth Schumacher / Eugene Shoemaker / Hermann Suter / John Tchicai / Yang Shuo

 

Das glaubten wir gut gebrauchen zu können:

1220: Grundsteinlegung für die Kathedrale von Salisbury / Manila, 1611: Eröffnung der erste Universität Asiens / Den Haag, 1915: Beginn des ersten Internationalen Frauenfriedenskongresses / London, 1923: Eröffnung des Wembley-Stadions / Schweiz, 2005: Durchbruch des Lötschberg-Basistunnels

 

Ich notierte:

1981: Bei Harald Korall, ein mehr als dreistündiges Gespräch. Er zeigt sich von meinen letzten Texten durchaus angetan und empfiehlt, meinen geplanten Ausstieg aus der Musikszene irgendwie festzuhalten, das ganze Ausstiegsprozedere: zu erst die Abkehr aus dem geraden Bildungsweg Abitur und Chemiestudium zur Unterhaltung, von dort wiederum hin zum Wort, das endlich Erfüllung geben soll. Der Blickwinkel müsse skeptisch sein. Hatte mir Beate Morgenstern bei einer Seminargruppen-Diskussion in Leipzig nicht Ähnliches geraten! Tagebuchartiges vielleicht, Aufzeichnungen eines Nachdenkenden, Platzsuchenden, eines sich seines geistigen Nomadentums bewusst werdenden. Das könnte gehen, habe ich doch immer mal wieder Tagebuch geschrieben, so Erfahrungen im besten Sinne gesammelt, schreibe ja auch jetzt wieder Tagebuch…

1986: Königendorf. Schreibwerkstatt mitten im Wald. Wir spielen Tischtennis zwischen den Diskussionen. Da kommt einer der jungen Autoren angerannt und ruft: in den Nachrichten hätten soeben gesagt worden, bei den Russen sei ’n Atomkraftwerk durchgeknallt. Klar, sage ich – wirf mal den Ball rüber! Und noch immer kann ich nicht fassen, was in Tschernobyl geschah.

2005: Dass Grundschüler, nachdem ich mit ihnen mein Leseratten-Lied sang, die eine oder andere, darin vorkommende Märchenfigur nicht kennen, bin ich ja mittlerweile gewöhnt, als jedoch ein Drittklässler, nachdem ich eine Geschichte vorgelesen hatte, in der ein Wellensittich vorkam, allen Ernstes fragte, was ein Wellensittich sei, wurde ich sprachlos.

2000: Wie üblich am Morgen einige Büroarbeiten, dann nach Halle in die Franckeschen Stiftungen, Eröffnung der Kinderliteraturtage, Pressekonferenz. Am Nachmittag bei schönem Wetter Vorbereitungen auf den nächsten Oldie-Abend im Garten. Und schließlich der Ölgrubenabend selbst. Läuft gut bis sehr gut. Na ja, wir spielen Deep Purple, das war mal unsere Domäne...

2010: Ich träume: Honecker holt mich aus einem prallvollen Saal auf die Bühne und verkündet, ich solle den Parteitag 2016 organisieren. Danach wache ich mit unerträglichem Schmerz auf: Bandscheibenvorfall…

2015: Ausflug zum Sewan-See. Ich komme im Bus ins Gespräch mit der Teilnehmerin aus den USA, Meline Toumani. Sie erzählt, dass ihre armenische Familie aus dem Iran stammt und vor etwa 80 Jahren auswanderte, also nicht vertrieben wurde. Und das nun macht ihr im Alltag Probleme. Die Nachkommen der Genozid-Vertriebenen und -Opfer erkennen die Auseinandersetzungen von Nicht-Genozid-Vertriebenen mit diesem Thema nicht an (zumal wenn sie kritisch ist), glauben, die alleinige Deutungshoheit zu haben. (In der Diaspora!) Dazu kommen nationalistische bis ultranationalistische Einstellungen, die letztlich dazu führen, dass ihre Bücher kaum verkauft, kaum gelesen werden… Immerhin leben von den ca. 10 Millionen Armeniern heute nur noch etwa 2,5 Millionen in Armenien und also 7,5 Millionen in der Diaspora – und davon rund 1,5 Millionen in den USA! Das allerdings dürfte für den weiteren Umgang mit der „armenischen Frage“ nicht unerheblich sein… Von Sewan immer entlang des Ufers des mehr als 100 Kilometer langen Sees nach Noratus, wo mehr als tausend Kreuzsteine, Chatschkare, stehen – die ältesten mehr als tausend Jahre alt – die größte Chatschkar-Stätte Armeniens. Sehr eindrucksvoll. (Eine vergleichbare in Nachitschewan soll mittlerweile von Aseris verwüstet worden sein.) Am Abend in Jerewan Abschieds-Veranstaltung mit Minister. Ich übergebe ihm unsere beiden Bücher, signiere. „Danke! – Schnorhalakutjún!“ Und schon entführen mich Edward und mein neuer Schriftstellerfreund Ghukas (den ich für den Herbst zu unseren Landesliteraturtagen nach Sachsen-Anhalt eingeladen habe) zu einem Abschiedsessen. Na denn – auf die deutsch-armenische Freundschaft!

2017: Dortmund. Ich werde zum Schatzmeister des deutschen PEN gewählt, erhalte von der Mitgliederversammlung sogar mehr Stimmen als die neue Präsidentin Regula Venske. Wow.

2020: Zur Post. Und zum ersten Mal mit Maske. Das ist Vorschrift nun. Mal sehen, wie lange. Mehr als 3 Millionen Infizierte.

 

Auslöschung

für

Chairil Anwar / Francis Bacon / Marie Camargo / Erich A. Collin / Erdmuthe Dorothea von Sachsen-Merseburg / Jewstignei Ipatowitsch Fomin / Bruno Gimpel / Sepp Herberger / Senna Hoy / Richard Hughes / Johannes Koekkoek / Evelyn Künneke / Harry Liedtke / Peter Lilienthal / Daniel Casper von Lohenstein / Niklaus Manuel / Gavrilo Princip / Joachim Rähmer / Eugen Roth / Wilhelm Schumacher /  Ernst Sorge / Johann Friedrich Struensee / U. V. Swamanitha Iyer / Debora Vaarandi / Ludwig Tieck / Carl Friedrich von Weizsäcker

 

Da verlosch uns so manches:

711: Beginn der islamische  Expansion auf der iberischen Halbinsel / Frankreich, 1893: Einführung der Fahrradsteuer, die auch für Motorräder und Automobile gilt / Türkei, 1903: Erdbeben, 2.200 Tote / 1958: Beginn von US-Kernwaffentests auf dem Eniwetok- und dem Bikini-Atoll / 1965: US-Invasion der Dominikanischen Republik / Tasmanien, 1996: bei einem Amoklauf sterben 35 Menschen / Velje, 2001: albanische Rebellen der UÇK verüben einen Anschlag auf mazedonische Spezialkräfte, mehr als 10 Tote / Baikonur, 2001: der erste Weltraumtourist, ein amerikanischer Multimillionär, fliegt mit einem russischen Raumschiff ins All.

 

 

29. APRIL

 

Gestaltung

mit

George Adams / Hasil Adkins / Paul Baran / Erika Gräfin von Brockdorf / James Brooke / Lonnie Donegan / Karl von Drais / Duke Ellington / Ernst Maria Johann Karl Freiherr von Feuchtersleben / Alfred Gerhardt / Hugh Hopper / Walter Janka / Michael Karoli / Konstantinos Kavafis / Walter Kempowski / Egon Erwin Kisch / Franz Eugen Klein / Fritz Kühn / Morice Lipsi / Walter Mehring / Carl Joseph Millöcker / Abie Nathan / Charles Nodier / Ward Pinkett / Alejandra Pizarnik / Henri Poincaré / Alla Rakha / Franz Raveaux / Otis Rush / Hermann Scheer / Achmet Kuanowitsch Schubanow / Jürgen Schumann / Tammi Terrell / Toots Thielemans / Lourdes van Dúnem / Pedro Vargas / Fred Zinnemann

 

Das spürten wir Raum für Gestaltung:

1945 befreien US-Truppen des KZ Dachau / Caserta, 1949: Unterzeichnung des Abkommens zur Kapitulation der deutschen Truppen in Italien / 1997 tritt die UN-Konvention zum Verbot von Chemiewaffen in Kraft.

 

Ich notierte:

1981: Nachdenken muss ich, weshalb ich, als ich merkte, dass ich im Rock keine Erfüllung mehr fand, nicht zum Jazz ging. Ansätze gab’s ja mit Dieter, die irre Session mit der Brüning beispielsweise und Gabor Presser, und mir andererseits Musikhören allein keine musikalische Befriedung verschafft.

1982: Nun also in der neuen Wohnung in der van’t-Hoff-Straße. Das ist alles noch wie Urlaub, zu erobernde Fremde. Irgendwie bin ich noch nicht „draußen“ und nicht „drinnen“, in der Nacht in der „stillen Stunde“, Hochdruckanlagendröhnen vom nahen Werk, ja, dem sind wir in jeder Hinsicht näher gekommen. Das scheint der Preis. Ich war am Tage im Org.Büro der Kinderliteraturtage. Es wird noch ein Besäufnis geben, und das war’s dann wohl. Doch wie unter Hochdruck etliches Neues: der Kinderbuchverlag schließt einen Fördervertrag mit mir, der Funk möchte ein Hörspiel von mir, und Neutsch und der Mitteldeutsche die ersten gültigen Seiten meines Leuna-Romans, dazu vieles, vieles Kleines… Eine völlig neue Situation. Und nicht zuletzt steht da nun noch die Offerte, eine Funktion im Literaturzentrum anzunehmen, so all das, was ich mir den „Tagen“ angekurbelt habe, fortzuführen. Die Zirkel schreibender Schüler vor allem. Ab 1.1.1983 würde man mir sogar einen Arbeitsvertrag bieten…

1999: Am Morgen ins Künstlerhaus, ich (wer sonst) schreibe den Tätigkeitsbericht für die Herren und Damen Künstler für die letzten anderthalb Jahre, damit überhaupt eine Chance auf weitere Förderung besteht. Dann treffe ich mich in Merseburg mit Rüdiger Merten, dem „Ost-Beauftragten“ der Robert Bosch Stiftung. Wir fahren zum „Arbeitsessen“ nach Spergau, quatschen meinen Part für die geplante große Ausstellung durch (die nun im nächsten Jahr zuerst im Haus der Deutsche Geschichte in Bonn, dann in Berlin gezeigt werden soll). Klingt alles machbar. Halb zwei schließlich die Einweihung des von mir initiierten archäologischen Gartens am Rössener Hügel in Leuna, (die notwendigen Fördermittel hatte ich von der Bosch-Stiftung besorgt). Großer Bahnhof: Bürgermeisterin, Landesinstitut für Archäologie, Wirtschaft, Fernsehen, Presse... Erstaunlich wie aus einer meiner Nach-Wende-Stammtisch-Ideen, Leuna in aller Kontrastreiche begreifbar zu machen - von einem der bedeutendsten Fundplätze der Jungsteinzeit bis zum geschichtsträchtigen Industrieort der Moderne - nunmehr tatsächlich Realität geworden ist.

2015: Auf dem Rückflug von Jerewan Zwischenstopp in Wien. Der stellvertretende armenische Botschafter Ashot Alexenian holt mich am Flughafen ab, freut sich sehr über meine beiden „Genozid-Bücher“ (die ich ihm selbstredend mitgebracht habe). Ashot schreibt selbst, derzeit an einem Roman über die hochinteressante Frühgeschichte Armeniens, übersetzt auch aus dem Deutschen ins Armenische, so derzeit Musil. Interessant, wie er die derzeitige Lage einschätzt: Er rechnet in nicht allzu langer Zeit mit einer Verständigung, vielleicht sogar der Aussöhnung mit den Türken. Zum einen wird der internationale Druck auf die Türkei zur Anerkennung des Genozids als solchen, für ein Schuldeingeständnis, immer größer – nicht zuletzt dank weltweit zunehmender Aufmerksamkeit, und nicht zuletzt durch Projekte wie eben unsere Bücher. Zum anderen scheint in der Türkei selbst die Bürgergesellschaft eine immer größere Rolle zu spielen, wächst das Verlangen nach Bewältigung dieser Vergangenheit, wächst das Verlangen nach Aufklärung, nach Aufarbeitung. Und es leben keinesfalls nur Türken in der Türkei – sie stellen nur etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung, zu der auch Kurden, Alaviten, Araber, Tscherkessen, Georgier und andere gehören. Und immer mehr Nachkommen von Armeniern, die vor 100 Jahren zwangsislamisiert wurden, finden zu ihren Wurzeln, erkennen, dass ihre Vorfahren eben keine Türken, sondern Armenier waren, beginnen sich um ihre Sprache, ihre Kultur zu bemühen. Das scheinen mehr und mehr zu werden! Nach einer Aussöhnung könnten reiche, in der Diaspora lebende Armenier, in ihren Heimatorten investieren – und die liegen eben in der heutigen Türkei, der kämen diese Investitionen direkt zugute. Und wenn endlich wieder die Landgrenzen zwischen der Türkei und Armenien offen stünden, könnte es rasch zu einem schwunghaften Handel kommen, von dem auch nicht zuletzt die Türkei profitierte. Vielleicht würde sich im Zuge dieser Aussöhnung sogar das Berg-Karabach-Problem wie von selbst lösen: die Armenier gäben die von den Aseris eroberten Regionen zurück, hofften dabei allerdings auf Anerkennung der Republik Berg Karabach in einem Friedensabkommen mit Aserbaidshan. Hierbei wiederum könnte der Iran eine wichtige Rolle spielen, der Perser und Armenier von einer gemeinsamen Linie herkommen sieht, Störfaktor könnte Russland sein, das durch eine Annäherung Armeniens an die Türkei seine Einflusssphäre in dieser Region möglicherweise schwinden sähe. Nicht von ungefähr hatte sich Putin ja vor wenigen Tagen in Tsitsernerkaberd zum spiritus rector der weltweiten Genozid-Anerkennung erklärt. Putin also mal wieder, mit seinen nationalistischen Großmachtansprüchen. Das lässt angesichts des andauernden Ukraine-Krieges nicht unbedingt hoffen… „Ach“, sagt Ashot und lächelt diplomatisch, „mal sehen, was kommt!“ Keine Frage, dass ich (seiner Bitte entsprechend) rasch weitere Exemplare unsere Bücher in die Botschaft schicken werde.

2021: Zur Aufhellung des grauen Corona-Alltags bestellen wir uns am Abend bei „unserem“ Italiener (der Montenegriner ist, und natürlich wie alle anderen auch geschlossen hat, jedoch außer Haus verkauft) eine Pizza. Die verzehren wir dick eingemummt (das das Wetter seit Wochen um die 10 Grad herumdümpelt, dies wohl der kälteste April seit 1977 ist) im Garten. Schmeckt aber gut, sehr gut.

 

Gewissheit

für

Joseph Isidor Achron / Thomas Beecham / Max Bense / Aloysius Bertrand / Bo Yang / Otto Braun / Hans Brausewetter / Wallace Hume Carothers / Leroy Carr / Henri de France / Michiel de Ruyter / George Farquhar / Abraham Gesner / Denis Goldberg / Anton Günther / Samuel Heinicke / Bert Heller / Alfred Hitchcock / Léon Jouhaux / Konstantinos Kavafis / Sahabzade Irrfan Ali Khan / Lautaro / Joe May / Les Murray / Lautaro / J. B. Lenoir / Giovanni Battista Piazetta / Alice Ernestine Prin / Mick Ronson / Joanna Russ / Helmut Sackers / Zabihollah Safa / Isaac von Sinclair / Maj Sjöwall / Annie Taylor / Micky Waller / John Webber / Johann Bernhard Wiedeburg / Ludwig Wittgenstein

 

An diesem Tage verloren wir Gewissheit:

1483: Niederschlagung des letzten Widerstandes der Guanchen, Gran Canaria wird spanisch / 1892 zerstört ein Zyklon große Teile von Mauritius, 1.200 Tote /  Irland, 1916: Niederschlagung des Osteraufstandes durch britische Truppen, mehr als 1.000 Todesopfer / 1991, Zugunglück in der chinesischen Provinz Hunan, 200 Menschen sterben / 1991: eine durch einen Zyklon ausgelöste Flutwelle trifft auf Bangladesh, 138.000 Tote / Los Angeles, 1992: Ausbruch von sechs Tage andauernden  Rassenunruhen, mehr als 50 Menschen kommen ums Leben.

 


30. APRIL

 

Redigieren

mit

Hans Breuer / Dorival Caymmi / Jill Clayburgh / Andrea Dandolo / Gary Davis / Joaquim Pedro de Oliveira Martins / René Deltgen / Julius von Ficker / Carl Friedrich Gauß / Georg Gerster / Jaroslav Hašek / Kaspar Hauser / Fredinand von Hochstätter / Umar Kayam / Cloris Leachman / Gerda Lerner / Jerry Lordan / Franz Lehár / Anandamayi Ma / Dhundiraj Govind Phalke / Georg Queri / Ángel Rama / Luise Rinser / Claude Shannon / Max Skladanowsky / Michael John „Mike“ Smith / Alice B. Toklas / Richard „Dick” Twardzik / Klausjürgen Wussow / Burt Young / Eva Zippel

 

Da hatten wir nichts zu redigieren:

1803 kaufen die USA die französische Kolonie Louisiana für 7 US-$ pro km²/ Leipzig, 1825: Gründung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler / 1838 erklärt sich Nicaragua für unabhängig / 1916 führen Deutschland und Österreich-Ungarn als erste Länder weltweit die Sommerzeit ein (1919 wieder abgeschafft) / Bogotá, 1948: Gründung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) / Rostock, 1960: Inbetriebnahme des Überseehafens / 1993: Freigabe des World Wide Web/ 2023, Astana: Ding Ling wird als erster Chinese Schach-Weltmeister.

 

Ich notierte:

1974: Inge, meine Schwiegermutter in spe, kam plötzlich die Idee, dass ich mir für die Hochzeit die Haare abschneiden müsse. Ich widerspreche heftig: Ohne Haare keine Hochzeit…

2000: Sonntag. Am Vormittag schreibe ich an der Sparkassenchronik. Am Nachmittag lese ich weiter im „Handbuch der Inquisitoren“. Am Abend schließlich wieder in die Ölgrube, wo der Trägerverein seinen Geburtstag feiert. Natürlich hat dazu die „Hausband“ zu spielen.

2017: Dortmund: Deutsches Fußballmuseum. Sonderausstellung: Sepp-Herberger-Bibliothek. Und so lese und höre ich denn allenthalben: Elf Freunde müsst ihr sein! Desillusionierung jedoch schon in der Herrentoilette: nur neun Urinale reihum.

2022: Mit „Figuricon“, dem neuen Manuskript komme ich zügig voran. Die ersten 40 Seiten stehen.

 

Rückschau

für

Nana Adu Ababio II. / Tony Allen / Leslie Conway “Lester” Bangs / George Balanchine / Ludwig Bäte / Friedrich Bödecker / Beth Carvalho / Bessie Coleman / Richard Fariña / Fran Krsto Frankopan / Gustav Freytag / Uwe Friedrichsen / Mbah Gotho / Peter Huchel / Jens Peter Jacobsen / Ben E. King / Albert Langen / Sergio Leone / Václav Levý / Lukan / Éduard Manet / Marisol / ohn Montagu / Jean Moréas / Albrecht „Tonio“ Pflaum / Birger Sjöberg / Leo Smit / Robert Stevenson / Emily Stowe / Pramoedya Ananta Toer / Otto Wallburg / Muddy Waters / Jock Zonfrillo / Petar Zrinski

 

Darauf wollen wir besser nicht zurückschauen:

1802: Bruch der spanischen Talsperre von Puentes, 608 Menschen kommen ums Leben / 1908 explodiert der japanische Kreuzer „Matsushima“ bei Magong, 206 Tote / 1941 versenkt ein deutscher U-Boot den britischen Passagierdampfer „Nerissa“ bei Rockall im Nordostatlantik, 207 Menschen sterben.

 


1. MAI

 

Service

mit

Hugo Asbach / Wiktor Petrowitsch Astafjew / Big Maybelle / Costa Cordalis / Walter Cramer / Celio Secondo Curione / Ralf Dahrendorf / Danielle Darrieux / José Martiniano de Alencar / Hilaire de Chardonnet / Horst Drinda / Fritz Eckerle / Ekkehard von Merseburg / Glenn Ford / Guido Gezelle / Uwe Greßmann / Giovanni Guareschi / Hasret Gültekin / Joseph Heller / Shirley Horn / Ozaki Hotsumi / Danièle Huillet / Sonny James / Anna Marie Jarvis / Little Walter / Jón Leifs / Adelardo López de Ayala / James Clarence Mangan / Juro Mĕtšk / Alekos Panagoulis / Marcel Prévost / Jenny Wyse Power / Santiago Ramón y Cajal / Jannis Ritsos / Ilja Anatoljewitsch Simin / Ignazio Silone / Emily Stowe / Werner Türk / Charles Alfred Guy Vetter / Aleksander Wat / Konrad Weiß / Justus Friedrich Wilhelm Zachariae / Christiana Mariana von Ziegler / Nikolaus Zrinski

 

Das empfanden wir als hilfreich:

1707 tritt der Act of Union in Kraft, Großbritannien entsteht / Bayern, 1808: Einführung der ersten ständeunabhängigen Volksvertretung in einem deutschen Staat / 1840: Verkaufsbeginn für die erste Briefmarke der Welt, der britischen „One Pence Black“ / London, 1851: Eröffnung der ersten Weltausstellung / Wien, 1865: Inbetriebnahme der Ringstraße / Chicago, 1886: Haymarket Aufstand, Bezugsdatum für den Ersten Mai, den „Tag der Arbeit“ / 1890 wird international erstmals der „Kampftag der Arbeiterbewegung“ begangen / 1892 verkehrt in Deutschland zwischen Köln und Berlin der erste D-Zug / 1920: Vereinigung von 7 thüringischen Kleinstaaten zum Land Thüringen / New York, 1931: Eröffnung des damals höchsten Gebäudes der Welt, des Empire State Buildings / 1975: Ende des Vietnam-Krieges / 1979 wird Grönland autonom / 2003 erklärt George W. Bush den Irakkrieg für beendet / 2008: Eröffnung der bislang längsten Überseebrücke der Welt zwischen den chinesischen Städten Cixi und Jiaxing.

 

Ich notierte:

1974: Die Hummel schlief erstaunlicherweise zum ersten Mal eine Nacht durch. Gegen Mittag beschließen Jeanny und ich, uns vom Massenbelustigungstrubel mitreißen lassen und fahren nach Merseburg. Mutter passt auf die Hummel auf. Am Gotthardsteich spielt Leuna II, die neue Truppe natürlich, denn noch vorm Jahr waren wir das zusammen mit Bee Gee Bieschke. Reichlich Musikanten stehen vor den Bühne, obwohl die Musik grottenschlecht ist. Und wir stoßen zu einer trinkfesten Gruppe, ziehen mit Lotte, Wim, dem Zicker, Spreng, Arkadi (der morgen zur Fahne muss) und dessen Freundin Christa zum Bahnhofsvorplatz, fahren dann nach Leuna ins Bierzelt auf der Festwiese, dann zu Willi ins Jugendklubhaus und landen schließlich im Speisesaal der BBS. Hier spielt „Praxis II“, wir waren erstaunt, Fetz hier als Sänger zu sehen und hören. Jeanny kennt ihn recht gut von den „Alexanders“ und holt ihn an unseren Tisch. Zu Hause blinzelt uns die Hummel entgegen, streckt die Zunge raus und schon einen Finger in den Mund, beginnt schmatzend daran zu saugen. Ich bereite ihr ein köstliches Nachtmahlfläschchen und alsbald liegen wir schließlich alle Drei in den Betten.

1990: Keine Demonstration. Das hatte ich erwartet. Zwar war weltweit der 100. Tag der Arbeit angesagt, wen aber motivierten hierzulande derzeit Jubiläen, solche zumal! Und wer war, ob des verlängerten Wochenendes, überhaupt hiergeblieben? Ich war also überrascht vom Menschengewimmel rund ums Leunaer Kulturhaus der Werktätigen. Lockte das hochsommerliche Wetter? Blasmusik, Rostbratwurst, Kinderbühne, Oldtime-Jazz… Oder wurzelt proletarische Tradition in einer Industriestadt wie Leuna doch tiefer als vermutet? Ein Mann tritt vor die Freilichtbühne, unser neuer Gewerkschaftsboß, höre ich sagen. Und da spricht er auch schon von Veränderungen, erkämpften wie befürchteten. Die Zeit der verordneten Vorbeimärsche sei vorbei, ein für allemal. Aber eben auch die Zeit der Sorglosigkeit um Arbeitsplätze und soziale Sicherheiten. Gewerkschaftliches Nahziel sei die Einführung der 40-Stunden-Woche, um Arbeit besser zu verteilen. Beifall hie und da, verhalten zwar, aber immerhin.

Tage zuvor hatte der Generaldirektor der Leunawerke unter der Schlagzeile „Arbeitslosigkeit per Umschulung bannen!“ ein anderes Konzept ins Gespräch gebracht. 7.000 Werktätige, rund ein Viertel der Leuna-Belegschaft, müssten entlassen werden, gäbe es keine Hilfen, um das Kombinat einigermaßen konkurrenzfähig zu machen. Mit der Regierung würde über Steuervergünstigungen verhandelt, mit ausländischen Betrieben über produktbezogene Kooperationen. So solle es möglich werden, die Produktion umzuprofilieren. Es soll nicht entlassen, sondern eben entsprechend umgeschult werden! Darauf nun spreche ich Besucher dieser Mai-Feier an. Theoretisch müsste ja jeder vierte Erwachsene hier alsbald umschulen müssen. Merkwürdig aber, ich treffe nicht einen, den das zu treffen scheint. Niemand weiß nichts Genaues. Deutlich zu spüren jedoch allenthalben: die Verunsicherung ist groß.

Ich radle ins Werk (da ich als berufenes Mitglied der Umweltkommission einen provisorischen Werksausweis habe), frage in einem mir seit Jahren bekannten und in zahlreichen Diskussionen vertraut gewordenen Schichtkollektiv nach. Und da wird nun manches konkreter. Man ist beim Aufräumen, Putzen, Anlage fegen. Nicht des Feiertags wegen, nein, am nächsten Tag werden Vertreter eines so genannten Ölmultis erwartet. Vertriebsmöglichkeiten von Erdölproduktionen sollen wohl verhandelt werden, vielleicht auch mehr. Vor allem wird dabei aber die Leistungsfähigkeit der Belegschaft überzeugen müssen. Wie könnte die gegebenenfalls entscheidend gesteigert werden? Durch bessere Rohprodukte, hochwertigeres Erdöl vor allem? Aber woher nehmen bei festen Lieferverträgen mit der SU? Durch höhere Produktivität? Wie sollte die erreicht werden? Mittels modernerer Technik? Die Erdölraffinerie war doch stets das hiesige Vorzeigeobjekt, hochmodern angeblich! Mittels Personaleinsparung? Wie sollte das machbar sein, wenn derzeit gerade so die Sicherheitsbesetzung gewährleistet werden kann? Austausch von minder qualifizierten gegen anderweitig freiwerdende, höher qualifizierte Anlagenfahrer? Wen aber erwischt es da? Und überhaupt, er weiß schon, wohin die Überlegungen der Verantwortlichen gehen, ist das Leunawerk erst, wie angekündigt, per 1. Juli eine Aktiengesellschaft… Bald ist mir klar: nichts als Verunsicherungen, auch hier. Niemand wurde über notwendige Veränderungen hinreichend in Kenntnis gesetzt, keinerlei Dialoge. Und niemand hier kennt irgendjemand irgendwo im Werk, der besser informiert wäre.

1993: Von Colmar, von Grünewalds grandiosem Isenheimer Altar, nach Murbach - Ehrfurcht weckende Reste des Pirmin zugeschriebenen Klosters - gewaltige Türme mit Apsis am Ende eines schmalen, waldreichen Tales - und schließlich zum höchsten

der Berge hier, zum Großen Belchen, Grand Ballon, Menhire und Druidengegeheimnisse: Heute, an einem der uralten keltischen Feiertage, soll die Sonne über diesem Gipfel emporsteigen und nähren die Belchen-Theorie, die den Deutungen Stonehenges gleicht. Durch den verhangenen Gipfelhimmel lärmt jedoch nur ein Hubschrauber mit rotweißblauer Kokarde unterm Rumpf.

1995: Obersalzberg. Was eigentlich hatte ich vermutet hier - grölende Skins, zielende Wehrsportler, Aufmärsche alter Kameraden? Nichts dergleichen. Hie und da Bunkerbeton, Fotografierende, Spazierende, die Aussicht Genießende. Einziges Ärgernis: Vorm Gästehaus ist Parken nur US-Bürgern gestattet. Dann weht von Berchtesgarden Johlen herauf: Großes Maibaumsetzen. Nach Gaudi jedoch war mir erst recht nicht zumute.

1999: Am Vormittag arbeite ich einen Auftrag des Merseburger Museums ab, schreibe einen Artikel für den Kreiskalender: Merseburg im 20. Jahrhundert.

2011: Lüneburger Heide. Sperrgebiet im tiefsten Herrmann-Löns-Land: normalerweise rollen Panzer hier (wofür auch immer), schießen scharf, heute darf besichtigt werden: die Siebensteinhäuser: Hünengräber, prächtig neolithisch, fünf an der Zahl, immer schon (so wie man seine Siebensachen halt zusammenhält). Gen Bergen-Belsen dann marschieren Rotzer und schwenken Badetücher wie Rote Fahnen. Ich winke mit (halbwegs) weißem Taschentuch zurück.

2020: In der Nacht träumte ich diesen Text: Und eine Stimme sprach zum Milliardär, baue ein Weltraumschiff, nimm deine Familie und von jeder anderen Gattung auf dieser Erde je ein Paar und begib dich hinein! Da er aber beim Monopoly gerade beim Gewinnen war, glaubte er der Stimme nicht.

 

Letzter Gang

für

Moses ben Israel Isserles / Butrus al-Bustani / Albrecht I. / Johann Baptist von Alxinger / Johann Ludwig Bach / Aram Chatschaturjan / Eldridge Cleaver / Felipe Colares / Fred Delmare / Olympia Dukakis / Antonín Dvořák / Ekkehard von Merseburg / Anna Heilmann / Spike Jones / Asger Jorn / Jizchak Katzenelson / Irene Koss / Gordon Lightfood / David Livingstone / Frans Luycx / Ejnar „Miki” Mikkelsen / Heinz Nittel / Marcus Omofuma / Justus Perthes / Gottlieb Konrad Pfeffel / José Enrique Rodó Piñeyro / Ayrton Senna / Paul Takahashi Nagai / Mohamed Talbi / Wilhelm Thöny / Niccolò Tommaseo / Percy William Whitlock / Wolodymir Franzowytsch Zych

 

An diesem Tage schien es uns nicht weiterzugehen:

1045 verkauft Papst Benedikt IX. sein Amt für 1.000 Pfund Silber / 1443 fällt in Merseburg „ein großer Schnee davon der Wein in diesem Landen fast alle erfrohren“ / Berlin, 1929: Polizisten schießen auf Demonstranten, 33 Tote / 1929: Erdbeben im Iran, 5.800 Todesopfer / 1977: bei der bis dahin größten Mai-Demonstration der türkischen Geschichte werden 37 Menschen getötet / 2003: Erdbeben in der Türkei, 177 Todesopfer.

 

2. MAI

 

Dichten

mit

Wolfgang Abendroth / Sherko Bekas / Gottfried Benn / Helga Brauer / Willi Bredel / Judge Dread / Gisela Irmgard Elsner / Werner Finck / Fips Fleischer / Abraham Gesner / Theodor Herzl / Trude Hesterberg / Franz Innerhofer / Jerome K. Jerome / Yoram Kaniuk / Katharina II. die Große / Athanasius Kirchner / Alfred Kurella / Lothar Kusche / Goldy McJohn / Louis Leitz / Lew Natanowitsch Lunz / Wolfgang Mocker / Karl Ludwig Nessler / Novalis / Satyajit Ray / Kamal Salibi / Alessandro Scarlatti / Heinrich Steffens / Paul Thiersch / Marten Toonder / Mehmet Turgut / Lene Voigt / Jigme Dorje Wangchuk / Link Wray / Yongle / Oskar Bruno Zwintscher

 

Das beeindruckte uns wie Dichtung:

1800 gelingt in Großbritannien erstmals eine Elekrolyse, die Spaltung von Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff / Paris, 1869: Eröffnung des später „Folies Bergère“ genannten Varietés / 1876 beginnt in Bulgarien ein Aufstand gegen die Osmanische Herrschaft / Budapest, 1896: Inbetriebnahme der ältesten U-Bahn Kontinentaleuropas / 1945 kapituliert Berlin / 1952 verwendet die Fluggesellschaft BOAC weltweit erstmals ein Düsenflugzeug im Linienbetrieb, eine „Comet“ auf der Strecke London-Johannesburg / 1989: beginnt Ungarn mit dem Abbau seiner Grenzanlagen zu Österreich / Abbotabad, 2011: der al-Qaida-Anführer Osama bin Laden wird durch eine US-Spezialeinheit aufgespürt und getötet.

 

Ich notierte:

1999: Sonntag. Ich erarbeite ein Thesen-Papier für eine Talk-Runde, die ich ab Herbst im Klubhaus Leuna moderieren soll. Ansonsten zupfe ich Unkraut im Garten und versuche zur Ruhe zu kommen. 40. Tag des Kosovo-Krieges: 2 US-Jets stürzen bei Kampfeinsätzen ab, das NATO-Hauptkommando gibt zu, versehentlich einen Bus voller Zivilisten bombardiert zu haben (mehr als 60 Tote), Jesse Jackson erreicht die Freilassung von 3 US-Soldaten aus serbischer Kriegsgefangenschaft ohne Vorbedingungen. Neuerlicher Hoffnungsschimmer?

2020: „Session“ beendet: Hochgefühl und Leere wohl noch dialektischer als sonst.

2021: Erschreckend: in Indien steigen die Corona-Infektionen auf über 400.000 pro Tag an. Was bedeutet das bei einer Pandemie in einer globalisierten Welt?

2022: Schönes Wetter, Windstille und Sonne. Ich drehe mit dem Fahrrad meine Runde. Aus dem Kreypauer Wäldchen ruft der Kuckuck. Ein Hauch Normalität.

 

Demontage

für

Frederick Scott Archer / Shantaram Athavale / William Beckford / Michael Blake / Josef Chaim Brenner / Hermann Burmeister / Elisabeth Cruziger / Leonardo da Vinci / Mohammed Dib / Käte Duncker / Paulo Freire / Marianne Grunthal / Manuel Amador Guerrero / Hide / Karel Hiršl / Erich Knauf / Friedo Lampe / Giacomo Meyerbeer / Alfred de Musset / Jeff Hanneman / Clara Helene Immerwahr / Heinz Jankofsky / Gustav Landauer / A. R. Penck / Maja Michailowna Plissezkaja / Lynn Redgrave / Robert Oliver Reed / Ruth Rendell / Antun Branko Šimić / Ibrahim Tuqan / Wolfgang Völz / Alfred Weber

 

Das empfanden wir übel als Demontage:

1386 zerstören Hanse-Söldner Kopenhagen / München, 1919: Niederschlagung der Räterepublik / 1982 versenkt das britische Atom-U-Boot „Conqueror“ im Falklandkrieg den argentinischen Kreuzer „General Belgrano“, 323 Seeleute.


3. MAI

 

Fügung

mit

Salah Abd as-Sabur / Abe Kaoru / Jehuda Amichai / Mary Astor / Ludwig von Alvenesleben / May Ayim / James Brown / Betty Comden / Bing Crosby / Marcel Dupré / Konstantine Gamsachurdia / Marcel Gerbohay / Katharina Heise / Douglas James Henning / William Inge / K’an Joy Chitam I. / Lindseay Kemp / August Friedrich Ferdinand von Kotzebue / Juana la Macarrona / Niccolò Machiavelli / Bernd Leistner / John Lewis / Martin Luserke / Nicolò Machiavelli / Walter Macken / Golda Meir / Georges Moustaki / Richard Ohnsorg / Georges Politzer / Matthäus Daniel Pöppelmann / Aldo Rossi / Pete Seeger / Vincenzo Vela / Max Volmer / Steven Weinberg

 

Da schien sich uns Gutes zu fügen:

1494: Christoph Kolumbus entdeckt als erster Europäer Jamaika / 1660. Unterzeichnung des Vertrages von Oliva, Ende des Ersten Nordischen Krieges / 1775 erhält der Brite Alexander Cumming ein Patent für das von ihm erfundene Wasserklosett / 1791 beschließt der polnisch-litauische Sejm die erste demokratische Verfassung Europas / 1849: Beginn des fünftägigen Dresdner Maiaufstandes / 1909 wird deutschlandweit ein Führerschein eingeführt / 1913: Premiere eines ersten indischen Films / 1956 finden in Tokio die ersten Judo-Weltmeisterschaften statt / 1960: Tritt der Vertrag zur Gründung der Europäischen Freihandelszone EFTA in Kraft / Paris, 1968: Beginn der Mai-Unruhen.

 

Ich notierte:

1982: So sehr mich das Engagement, all die außerliterarische Arbeit vorangebracht haben mag – in der Literatur, der eigentlichen Arbeit, hat es mich natürlich nicht weitergebracht, im Gegenteil. Ich habe Schwierigkeiten, den Punkt wiederzufinden, bis zu dem ich mich schon vorgeschrieben hatte. Alles bleibt äußerlich, flüchtig, so wie es die Tätigkeit des letzten Vierteljahres war. In kann einfach nicht eindringen in meinen Stoff, in die Worte, habe fast Angst vor dem Schreiben. Und dann ist da ja noch dieser Termindruck… Bilder kommen schon, das ist es nicht, Schreiben wäre möglich. Doch ich misstraue irgendwie mir selbst, befürchte wohl, dass das, was ich da schreibe, nicht der von mir offenkundig erwarteten Größe entspricht. Das ist ein verdammter Rucksack. Ich muss ohne Fluchtmöglichkeiten wieder zu mir selbst finden, nur aus mir selbst heraus wächst Selbstvertrauen. So können mir Worte wieder selbstverständlich werden.

1983: Seit vergangenen Donnerstag ständig im Stress: Zentrale Jury des Schülerschreibwettbewerbs in Berlin, dann diverse Versammlungen und allein in dieser Woche 13 Muggen – rechne ich die Zirkel dazu. Kann das gut gehen? Habe ich meine Planungen, nicht nur für diese Woche, zu optimistisch gemacht? Eine Mugge ging aber schon mal flöten, da der alte, jüngst neu gekaufte Trabi, seinen Geist aufgab…

1990: Frankenwald. Nach Oßla also und weiter in kürzlich noch gesperrtes Gebiet: Lehesten, Grumbach, Brennersgrün. Am Restzaun vor Titschendorf springt mir, ob hämmernden Pulses wohl die Uhr vom Gelenk und tickt fortan nicht mehr ganz richtig. Flugs zur Reparatur also oder sollte’s besser gleich ‘n neuer Zeitmesser sein?

1999: Die letzte Arbeitswoche im Künstlerhaus beginnt. Ich hoffe das geht ohne Katastrophen ab, lässt mir die Chance eine saubere Zäsur für einen Neuanfang zu setzen. In mir aber scheint der Übergang in die neue Episode meines Lebens  nicht so ganz glatt zu laufen: Wegen einer Kleinigkeit schnauze ich Mine an, mache mir hinterher Vorwürfe, werde misslaunig.

2001: Nach einem schier ewigen Winter und dem darauf nahtlos folgenden kaltgrauen, verregneten April nun urplötzlich ein Tag mit Temperaturen bis über 40°C in der Sonne. Lähmend. Am Abend aber selbstredend Gewitter.

2013: Marburg. Auf Pfaden der Grimms zum Aschenputtel-Schloss, vorbei dann an Hänsel & Gretels Lebkuchenhaus und der Werkstatt des Tapferen Schneiderleins zur Jahrestagung deutscher Poeten, Essayisten, Novellisten: Berichte, Resolutionen, Nekrologe.

2021: Hubertus Schmid, mit dem ich nach der Wende den Merseburger Altstadtverein gegründet hatte, ruft an und sagt, dass er ein Exemplar seiner soeben erschienenen „Merseburger Trilogie“ für mich habe. Also schwinge ich mich aufs Fahrrad und strampele nach Neu-Meuschau, wo er noch immer wohnt und ich einst auch groß wurde. Natürlich habe ich für ihn etliche neue Bücher von mir dabei. Wir kaupeln also und versichern und gegenseitig unseren Frust über die unfähige Merseburger Stadtverwaltung. Zurück fahre ich durch die Fasanerie, den Wald unserer Kindheit. Längst nur noch trostloses Gestrüpp.

 

Riss

für

Francesco Graf von Algarotti / Karel Appel / Gary Becker / Dalida /  David Hermann Engel / Raimund Harmstorf / Leslie „Les“ Cameron Harvey / Günter Herburger / Christine Jorgenson / Hermann Kesten / Daliah Lavi / Ernst Lehmann / Carl Lohse / Homero Manzi / Maurice Merleau-Ponty / Pierre Moerlen / Gerulf Pannach / Patrick Henry Pearse / Joachim Rachel / Cathérine Vicat / Mohamed Abdel Wahab / Anton Otto Wildgans / Narciso Yepes

 

An diesem Tage verspürten wir einen üblen Riss:

Nanaimo, British Columbia, 1887: Grubenunglück, 150 Bergleute sterben / 1920: Teilung Irlands in Süd- und Nordirland durch den Government of Ireland Act / 1945 versenken britische Jagdbomber in der Lübecker Bucht die „Cap Arcona“ und die „Thielbek“, 7.000 KZ-Häftlinge und 380 Mann Besatzung und Wachmannschaft kommen ums Leben / 1999: Serie von Tornados in Oklahoma, 46 Tote / Sotschi, 2006: beim Landeanflug stürzt ein Airbus A320 ins Meer, 113 Todesopfer / 2008 schwächt sich der Zyklon Nargis nach sieben Tagen über Myanmar ab, durch den 84.537 Menschen ums Leben kamen /2023, Belgrad: ein Dreizehnjähriger erschießt acht Mitschüler und einen Wachmann.

 


4. MAI

 

Mission

mit

Nickolas Ashford / Wolfgang Graf Berghe von Trips / Monica Bleibtreu / Friedrich Arnold Brockhaus / Ed Cassidy / Frederic Edwin Church / Haroutune Krikor jr. „Harry“ Daghlian / Dick Dale / Jean Charles de Borda / Max Albert Hugo Eberlein / Pericle Fazzini / Maynard Ferguson / Salomo Friedlaender / Mordechaj Gebirtig / Wolfgang Robert Griepenkerl / Keith Haring / Oswald Hempel / Audrey Hepburn / Johann Friedrich Herbart / Trude Herr / Thomas Henry Huxley / Umm Kulthum / Wilhelm Lehmann / Alice Liddell / Leonid Isaakowitsch Mandelstam / Marianna von Martines / Jacob Mathias Miller / Rüdiger Nehberg / Amos Oz / Gennadi Nikolajewitsch Roschdestwenski / Emil Nikolaus von Reznicek / Elizabeth Shaw / Johan Otto von Spreckelsen / Bruno Taut / Louis Jacques Thénard / Guy Warren

 

An diesem Tage glaubten wir, etwas Gutes beginne:

Epsom, 1780: das erste Pferdesport-Derby wird ausgetragen / Leipzig, 1883: erscheint die erste deutsche Illustrierte, das „Pfennigmagazin“ / Hollywood, 1927: Gründung der Academy of Motion Picture Arts and Sciences / Wendisch Evern, 1945: Admiral von Friedeburg unterzeichnet die Teilkapitulation für Nordwestdeutschland, Dänemark und die Niederlande / 1990 erklärt Lettland seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion / 1993 wird in Andorra das seit 1278 bestehende Feudalsystem abgeschafft.

 

Ich notierte:

1981: Montagmorgen. Ich hole Geld von der Bank, um einen Moskwitsch zu kaufen. Alles Geld, was wir haben. Mit diesem Auto werde ich dann die Band fahren können, vielleicht auch andere – so wieder etwas Geld verdienen. Keine Frage, Geld zu haben, hat was Beruhigendes. Doch verliert man, wenn man Geld, viel Geld hat, nicht seine Motivation aus den Augen?

2000: Heute nun habe ich das große Kinderbücherfest in den Franckeschen Stiftungen zu eröffnen. Hunderte Kinder im Innenhof, zahlreiche Stände, etliche Autoren. Gott sei Dank schönes Wetter. Diverse Gespräche, Planungen am Rande, eine eigene Lesung, dann schon die direkten Vorbereitungen auf unsere nachmittägliche Premiere des Schülerbuches im Festsaal der Stiftungen. Die jungen Autoren sind rechtzeitig da, auch die Mitwirkenden, u.a. Cathis Spergauer Tanzmäuse, und eine halbe Stunde vor Beginn erscheint auch der Verleger Harry Ziethen mit dem Buch. Na bitte. Und das Buch sieht auch noch gut aus. Und die Premiere läuft auch gut.

2014: Mittlerweile wurde auf dem Maidan (einmal mehr) Weltgeschichte geschrieben. Nachdem der ukrainische Präsident Janukowitsch Ende November ein Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnete (da er offenkundig von Putin unter Druck gesetzt worden war), verbarrikadierten sich auf dem Maidan bis in den Februar Tausende für die Westorientierung des Landes, gab es sogar Tote, bis Janukowitsch endlich aufgab und floh. Danach fiel die Ukraine zusehends ins Chaos, brach peu á peu auseinander, wurde selbst ein Klitschko als Präsident gehandelt, annektierte Russland die Krim, wird nun seit Wochen in der Ostukraine gekämpft, gab es vorgestern sogar in Odessa Tote. Glatt verläuft dort also gar nichts mehr, ein deutscher Oberst, Namensvetter meines Freundes Axel, war in einer ostukrainischen Stadt wie weitere OSZE-Beobachter bis gestern Geisel der Separatisten. Keine Ahnung, wohin das noch führt, Sensationsreporter faseln ja längst vom Dritten Weltkrieg. Doch warum hatten Axel und ich im letzten Herbst absolut nicht gespürt, dass sich in der Ukraine etwas zusammenbraut, noch dazu diesen Ausmaßes? Waren wir blind, taub, zu sehr mit uns selbst beschäftigt? Oder wurden zur Zeit unserer Reise erst die Drehbücher geschrieben, die Strippen gezogen? Außerhalb der Ukraine? Im Westen wie im Osten? Qui bono? Ich bin unsicher, reichlich unsicher, ahne, dass wir auf unserer Alte-Männer-Reise keineswegs nur museale Zeugnisse des Kalten Krieges zu sehen bekamen, dass wir tatsächlich an diversen Hotspots vorbeikamen, befürchte, dass alsbald Transnistrien in diese Szenerie gerät…

2022: Am Nachmittag nach Leipzig, mal wieder Rosches, unsere ehemaligen Nachbarn, besuchen. Gesprächstoff hat sich reichlich angesammelt, keine Frage. Nach dem Kaffee in den Zoo, da wir das neueingeweihte Aquarium sehen wollen. Das allerdings ist eine einzige Enttäuschung. Da war selbst das Aquarium in der kleinen polnischen Stadt Misdroj, in dem wir im letzten Jahr zufällig landeten, wesentlich moderner ausgestaltet und bot im Gegensatz zu Leipzig einen regelrecht spektakurären Fischbestand. Überhaupt wirkt der Zoo schmuddlig. In der Fernsehserie über diesen Zoo wirkt immer alles sehr viel schöner…

 

Demission

für

Aldo Ballarin / Isaac Barrow / Klara Blum / Stephan Born / Karl Bröger / Paul Butterfield / Walter Conrad / Georgi Nikolow „Goze“ Deltschew / Coxsone Dodd / Diana Dors / Edmund Edel / George Enescu / Engelbrekt Engelbrektsson / Rachel Held Evans / Alfred Hermann Fried / Nick Kamen / Kanō Jigorō / Edward Calvin Kendall / Allison Beth Krause / Kishan Maharaj / Fritz Muliar / Colin Murdoch / Edith Nesbit / Abi Ofarim / Carl von Ossietzky / Roland Paris / David Reimer / Emily Remler / Christian Knorr von Rosenroth / Coluccio Salutati / Sandra Lee Scheuer / Anna-Maria Schürmann / Rudi Strahl / Tipu Sultan / Josip Broz Tito / Cécile Vogt / Harold „Doc“ West / Adam Nathaniel Yauch

 

Das empfanden wir schmerzhaft als Rücktritt:

1586 fallen in Merseburg „bey schrecllichen Donner-Schlägen Stücke von anderhalb Pfunf von Himmel, davon Fenster u. Bächer, Menschen u. Vieh Saat u. Bäume gelitten“ / Hamburg, 1842: ein vier Tage wütender Brand bricht aus, 51 Tote / Paris, 1897: bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung kommt es zu einer Feuerkatastrope aus, 129 Tote / 1917 versenkt ein deutsches U-Boot im Golf von Genua den Truppentransporter „Transylvania“, 412 Menschen sterben / Turin, 1949: beim Landeanflug prallt eine Flugzeug mit der Fußballmannschaft des AC Turin an Bord gegen einen Berg, alle 31 Insassen kommen ums Leben / Kent, Ohio, 1970: US-Nationalgardisten schießen auf protestierende Stundenten, 4 Todesopfer / Cassinga, 1978: südafrikanische Flugzeige bombardieren ein namibisches Flüchtlingslager, bis zu 1.000 Tote / Mardin, Türkei, 2009: bei Auseinandersetzungen zwischen zwei kurdischen Clans kommen 44 Menschen ums Leben / 2023, Dubowo, Serbien: ein 21-jähriger erschießt aus einem Auto heraus acht Menschen.

 

 

5. MAI

 

Manifest

mit

Michael James Adams / Alexandra Andrejewna Antonowa / Heinrich Apel / Ron Arad / Eddi Arent / Francesco Azopardi / Agostín Pio Barrios / Blind Willie McTell / Nellie Bly / Beth Carvalho / Halfdan Egedius / Floyd Gottfredson / Wiktor Alexandrowitsch Hartmann / Marie Smith Jones / Søren Aabye Kierkegaard / Felix von Lichnowsky / Farabundo Martí / Maria Clementine Martin / Karl Marx / Samir Kassir / Herbert Kitzel / Stanisław Moniuszko / Anna Maria Mozzoni / Weli Muhadow / Rudolf Oeltzschner / Sylvia Pankhurst / Giuseppe Porsile / Prince Ital Joe / Tyron Edmund Power III. / Miklós Radnóti / Albert H. Rausch / Leo Joseph Ryan Jr. / Johann Adolf Scheibe / Henryk Sinkiewicz / Emil Friedrich Julius Sommer / Tammy Wynette

 

Da meinten wir, würde Richtungweisendes festgeschrieben:

1835 wird Zwischen Brüssel und Mechelen die erste Eisenbahnstrecke auf dem europäischen Kontinent in Betrieb genommen / New York, 1891: Eröffnung der Carnegie Hall / London, 1901: entsteht am Piccadilly Circus das erste Parkhaus weltweit / 1918: Ende des finnischen Bürgerkrieges / 1945 wird das KZ Mauthausen als letztes deutsches KZ befreit / London, 1949: Gründung des Europarates / 1955 treten die Pariser Verträge in Kraft, die Bundesrepublik Deutschland erhält ihre staatliche Souveränität.

 

Ich notierte:

1974: Gegen 13.00 Uhr hole ich bei Ingo mein repariertes Moped ab, das tatsächlich fährt! Welche Überraschung. Rasch Mittag gegessen, schon fährt mein Vater vor. Und natürlich ist Cathrin nun die Hauptperson. Uns schenken Opa und Oma (auf mein Bitten hin) schon heute das Geld, das sie uns eigentlich erst zur Hochzeit schenken wollten. Wir danken (ohne in die fest verschlossene Tüte zu sehen). Als ich das Kuvert dann öffne, scheinen sich meine Pupillen zu weite. So viel hatte ich nicht erwartet! Auch Jeanny freut sich riesig. Schon schmieden wir Einrichtungspläne und stimmen Aufgaben ab.

1980: Ein großer Tag heute? Ein wichtiger auf jeden Fall. Eine Voraussetzung dafür, daß etwas gelingen kann, ist für eine Freiluft-Aufführung gegeben: strahlender Sonnenschein. Und ich habe etwas, was ich als Mugger schon seit langem nicht mehr kenne: Lampenfieber. Nach dem Mittagessen fahre ich mit Jeanny und Cathi zum Mahnmal nach Pirkau. Dort parken schon eine Masse Autos, Busse sogar. Ich parke unseren Trabi hinzu und wir gehen durch den Tunnel der Hochhalde zum Sgrafitto. Etwa 1.000 Leute stehen dort schon im Carre, Bergleute. Schulklassen, Kampfgruppen, GST, Freunde. Blasmusike aus Lautsprechern. Rundfunkwagen. Ich werde begrüßt und vorgestellt, Kranzniederlegung, Salut, Ansprache – und schon geht’s los. Und oh weh – die Musiker haben die Tempi falsch aufgefasst und Fehler schleichen sich Auch ein. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass es irgendwie gut gehen wird. Die ersten Textpassagen kommen – und Sicherheit zieht ein. Und schon ist es vorbei. Der Generaldirektor und der Parteisekretär schütteln mir die Hand, bedanken sich. „Das führen wir wieder auf!“ „Ja, unbedingt!“ Beide versichern mir, dass sie eine Ergriffenheit gespürt hätten. Nun ja.

Am Abend besucht mich völlig überraschend Herr Haase, mein alter Kapellenleiter, der mich de facto rausschmiss wegen all meiner anderen Verpflichtungen, wegen Deuben auch, gegen den ich fast geklagt hätte, und – umgarnt mich, verspricht, zu meiner nächsten Session zu kommen und mitzuspielen, und – möchte, dass ich wieder einsteige… Ich sage weder Ja noch Nein.

1981: Die Angst kommt wieder hoch, ob es richtig war, für diesen alten (gelben) Moskwitsch so viel Geld auszugeben. Zuerst springt der Motor nicht an, dann auf der Autobahn jedoch so was wie Fahrspaß, Fahrlust. Angst macht mir wohl die Bewusstheit, dass es Schwierigkeiten bei der Umgestaltung meines Lebens geben wird, selbst bei banalen Lebensumständen wohl. Ja, das wird es sein: Angst etwas falsch zu machen, wie im Traum auf eine selbstverschuldete Katastrophe zugehen… oder sogar Schuld für das Schicksal anderer auf sich geladen zu haben. Gut, das Leben ist kein Traum. Doch wird aus einem Traum ein Trauma, wenn man seinen „Errungenschaften“ hilflos gegenüber steht?

Am Abend müsste ich mich eigentlich auf die Prüfungen am Literaturinstitut vorbereiten, beginne dann aber „Montauk“ von Max Frisch zu lesen, den ich heute erstehen konnte, lese mich fest, bin schwer beeindruckt.

1986: Überm hochsommerlichen, strahlend-blauen Halle kreist den langen Nachmittag lang eine Tu-154. Kreist, kreist, versucht also nicht in Schkeuditz zu laden oder so. Aber soll diese Übung? Pilotentraining? Oder Messungen infolge von Tschernobyl?

1999: Letzte Veranstaltung vor der großen Silberhochzeits-Reise nach Mauritius, Lesung für Lehrlinge in der Stadtbibliothek Wittenberg. Da mein Freund Klaus derzeit in der Wittenberger Stadtkirche ausstellt und uns Urbans obendrein just für heute Abend zum Essen eingeladen haben, nutze ich diese Konstellation und besichtige zuvor die Ausstellung. Keine Frage, die gotische Sakristei der Stadtkirche gibt einen sehr effektvollen Raum für die Plastiken und Skulpturen von Klaus. Im Gästebuch zumeist Eintragungen die sich mit meinen Empfindungen decken: hohes Lob! Einer schrieb sogar, nun endlich habe er erstmals moderne Kunst verstanden.

Am späten Nachmittag wieder zu Hause und es bleibt noch etwas Zeit bis uns Urbans abholen, so beginne ich den Mauritius-Klassiker zu lesen, der ja sogar zur Geistesentwicklung im Vorfeld der französischen Revolution beigetragen haben soll: „Paul und Virginie“ von Bernardin de Saint-Pierre. Klappentext: „Weil er mit so eindringlichen erzählerischen und stimmungsmäßigen Mitteln eine ideale Welt und Lebensweise schilderte, gehört er freilich in seiner Wirkung zu den revolutionärsten Büchern der Geschichte, und trug zur Geburt des modernen Geistes Wesentliches bei.“ Schon auf Seite 11 fühle ich mich direkt angesprochen: „Es ist ein allen empfindsamen und leidenden Wesen gemeinsamer Naturtrieb, sich in die wildesten und ödesten Gegenden zurückzuziehen, als ob Felsen Wälle wären gegen das Unglück, als ob die Ruhe der Natur die unglücklichen Störungen der Seele zu bannen vermöchte...“

2001: Jimi hörend und Cortézar lesend weiß ich zumindest wieder woher ich kam und wie Horizonte aufdämmern könnten…

2023: Die WHO teilt mit, dass durch die Corona-Pandemie (eingerechnet einer „Dunkelziffer“) 20 Millionen Menschen ums Leben kamen.

 

Verramschung

für

Ai Qing / Sonja Åkeson / Jürg Amann / Georg Graf von Arco / Walter Bruch / James Branch Cabell / Chit Phumisak / Haraldo Conti / Gary Davis / Rosario de Acuña / Daniel Defoe / Peter Gustav Lejeune Dirichlet / Eva Gonzalès / August Friedrich Graun / Käthe Haack / Richard „Ricki” Hallgarten / Bret Harte / August Wilhelm von Hofmann / Tobias Hübner / Mór Jókai / Irmgard Keun / Sarah Kirsch / Carlos Saavedra Lamas / Theodore Maiman / Hadschi Murat / Napoleon Bonaparte / Wolfgang Neuss / Constantino Nivola / Charles Grafton Page / Bobby Sands / Werner Sanß / Martiros Sarjan / Rosemarie Schuder / Walter Sisulu / Callen „Cal“ Radcliffe Tjader Jr./ Andreas „Andy“ Töfferl / Tomita / Atıf Yılmaz Batibeki

 

An diesem Tage wurden uns Hoffnungen verramscht:

Salvador de Bahia, 1668: die Galeone „Santissimo Sacramento“ läuft auf ein Riff und sinkt, 930 Todesopfer / Hamburg, 1842: durch Brandstiftung kommen 57 Menschen kommen ums Leben

1936: Einmarsch italienischer Truppen in Addis Abeba / Palermo, 1972: beim Landeanflug prallt eine DC-8 gegen einen Berg, alle 115 Personen an Bord sterben / Douala, Kamerun: nach dem Start stürzt ein kenianisches Verkehresflugzeug ab, alle 114 Insassen kommen ums Leben.

 

 

6. MAI

 

Kino

mit

Johann Joachim Becher / Martin Hans Blancke / Carl Ludwig Börne / Maximilien de Robespierre / Max Eyth / Sigmund Freud / Erich Fried / Stewart Granger / Heinrich II. / Hanns Dieter Hüsch / Ike no Taiga / Abraham Jacobi / Randell Jarrell / Ernst Ludwig Kirchner / Karl Christian Friedrich Krause / Gaston Leroux / Kamisese Mara / Harry Martinson / Christian Otto Josef Wolfgang Morgenstern / Nogami Yaeko / Max Ophüls / Jónannes Patursson / Robert Edwin Peary / Wilhelm Heinrich Riehl / Horst Salomon / Kurt Schumacher / Skanderbeg / Franziska von Stengel / Rudolph Valentino / Orson Welles / André Weil / Yasushi Inoue

 

An diesem Tage glaubten wir ein Happy End zu sehen:

1576: Ende des Fünften Hugenotten-Krieges / 1682 wird Versailles Regierungssitz Frankreichs / Leipzig, 1678: Beschluss, eine Börse zu errichten / 1686 schließen Polen-Litauen und Russland den „Ewigen Frieden“/ 1994: Eröffnung des Eurotunnels unter dem Ärmelkanal.

 

Ich notierte:

1986: Heute, 10 Tage nach der Atom-Katastrophe, gibt es plötzlich eine Prawda-Live-Reportage aus Tschernobyl! Und eine Presse-Konferenz! Allerdings mit nichts als merkwürdigen, höchst unsensiblen Formulierungen. Erstaunlicher Rückfall in die Vor-Gorbatschow-Informationspolitik. Aber davon angesehen: wird 1986 das Jahr der symbolträchtigen Katastrophen: erst die Challenger, nun Tschernobyl. Bekommt all dies idiotisch technische Zukunfts- und Fortschrittsgläubigkeit endlich den entscheidenden Knacks?

1990: Kommunalwahlen. Schlagen die Probleme des Werkes auf die Politik der Stadt durch? Denn nicht nur vom Namen her dürfte Leuna ein Ganzes sein. Auf Gedeih und Verderb ist diese Stadt mit dem gleichnamigen Werk verbunden. Sofern die Wahlprogramme der Parteien und Gruppierungen die Wähler hier überhaupt erreichten, erscheinen sie erstaunlich einheitlich und populistisch, kommen über Slogans zumeist nicht hinaus. Natürlich ist es auch wichtig, einen kommunalen Öko-Fonds zu bilden, Gewerbefreiheit zu ermöglichen, den Fernsehempfang zu verbessern… Aber ist das wirklich das Wichtigste? Und selbst wenn: wie soll das alles verwirklicht werden? Kein Wort über Taktiken geschweige denn Strategien zur Zukunft des Werkes? Und warum werden Folgen denkbarer sozialer Erdrutsche weitestgehend ausgespart? Da sie selbstredend unpopulär sind? Ja, aber wie will eine Stadt wie Leuna, wenn sie im Zuge der Verwaltungsreform für ihre Finanzen selbst verantwortlich wird, das Problembündel Sanierung der verseuchten Umwelt plus Sanierung der maroden Bausubstanz plus Ausgleichung der Folgen massiver Arbeitslosigkeit bewältigen? Dringend notwendige Verbesserungen des Kulturlebens seine hierbei sogar erst einmal hintangestellt – obwohl das bei der Dämpfung sozialer Probleme Kommunalpolitik etliche neue Betätigungsfelder böte… Natürlich und einmal mehr: das Geld macht die Musike. Im Raum Bitterfeld/Wolfen kann mittlerweile mit Regierungszuschüssen gerechnet werden – auf Druck der Bevölkerung wie wohl auch einigere Kommunalpolitiker wurde diese Gegend zum Umweltnotstandsgebiet erklärt! Und der Raum Leuna/Merseburg/Buna?

1999: Wirres Zeug geträumt, irgendetwas von Kompromissen aus DDR-Zeiten, ohne am Morgen noch recht zu wissen, um was es da eigentlich ging. Immerhin, seit langem mal wieder überhaupt geträumt und nicht von traumatisierenden Tageserlebnissenim Künstlerhaus. Löse ich mich langsam aus dem, was in den letzten sechs Jahren meinen Alltag bestimmte? Sogar das Herzstechen, das ich seit Wochen wieder sehr spürte, scheint langsam zu verfliegen. Am Nachmittag eine Gesprächsrunde im „Bäumchen“, einer halleschen Begegnungsstätte, um ein Zeitzeugenprojekt, insbesondere über das BUNA-Klubhaus, in Bewegung zu setzen.

2016: 2016: Brocken. Zugegeben: gelaufen war ich zum Blocksberggipfel noch nie, zumindest nicht hinauf und hinab und schon gar nicht die ganze Strecke: Goetheweg, von Torfhaus durchs Hochmoor. Glaubhaft, dass Johann Wolfgang dabei Faustisches sah. Mir jedoch wird schließlich bewusst, dass der Meister seinerzeit mehr als dreißig Jahre jünger war, scheinen wir kurz vorm Brockenhaus doch

2022: Aufschlussreiche Nachricht: Deutsche Sargtischler erhöhen die Preise um bis zu 20%.

 

Kurzschluss

für

Thomas Alder / Alcides Arguedas / Lyman Frank Baum / María Luisa Bombal / Errol Brown / Andres Celsius / Fanny Cerrito / Marlene Dietrich / Hans Andrias Djurhuus / Don Drummond / Heinrich Ehmsen / Friedrich von Hausen / Deniz Gezmiş / Ernest Giraud / Alexander von Humboldt / Ragnar Jändel / Candye Kane / Barney Kessel / Adolph Knigge / Shūzū Kuki / Kunihiko Hashimoto / Erhard Kutschenreuter / Maria Lassnig / Franz von Lenbach / Maurice Materlinck / Grant William McLennan / Maria Montessori / Irmtraud Morgner / Farley Mowat / Menahem Pressler / Gunter Sachs / Chaim Schitlowsky / James Young Simpson / Henry David Thoreau / Juan Luis Vives / Georg Joseph Vogler / Helene Weigel

 

Das erschien uns einem Kurzschluss gleich:

1527: Beginn des Sacco die Roma, der Plünderung Roms, Ende der italienischen Renaissance / Thessaloniki, 1876: fanatische Muslime ermorden den deutschen und den französischen Konsul / 1902 gerät das Passagierschiff „Camorta“ im Mündungsgebiet des Irrawaddy in einen Zyklon und sinkt, alle 739 Menschen an Bord kommen ums Leben / 1919: Beginn des Driten Anglo-Afghanischen Krieges / 1930, Erdbeben im Iran, 2.500 Todesopfer / Lakehurst, 1937: das Luftschiff „Hindenburg“ geht bei der Landung in Flammen auf, 36 Menschen sterben / 1976: Erdbeben im Friaul, 989 Menschen sterben / 1998: Grenzkonflikte zwischen Eritrea und Äthiopien flammen auf / 2023, Kongo: durch Überschwemmungen und Erdrutsche kommen in Süd-Kivu und umliegenden Regionen bis zu 400 Menschen ums Leben.

 

 

7. MAI

 

Ballett

mit

José Antonio Abreu / Francis Beaufort / Siegfried Bernfeld / Horst Bienek / Alfred Carl Blancke / Johannes Brahms / Johanna Braun / Robert Browning / Cornelius Cardew / Evaristo Carriego / Gary Cooper / Willem Elsschot / Olympe de Gouges / Carl Heinrich Graun / Johann Anton von Güldenstädt / Therese Huber / David Hume / Kurt Kauter / Ilmari Kianto / La Esterella / Arno Lustiger / Archibald MacLeish / Karl Mauch / Nexhmije Pagarusha / Penjo Penew / Eva „Evita” Perón / Jonathan Petersen / Giovanni Pontano / Stanisław Przybyszewski / Nikolai Alexejewitsch Sabolozki / Zabihollah Safa / Wolf Schneider / Fritz Schwegler / Władysław St. Reymont / Rabindranath Tagore / Josip Broz Tito / Pjotr Iljitsch Tschaikowski / Jacob Walcher

 

Das beschwingte uns tänzerisch:

1718: Gründung von New Orleans / 1763: Beginn des Pontiac-Aufstandes mehrerer Indianerstämme gegen die britische Besatzung / München, 1925: Eröffnung des Deutschen Museums / Reims, 1945: Generaloberst Jodl unterzeichnet die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht / Điện Biên Phủ, 1954: Kapitulation der französischen Garnison.

 

Ich notierte:

1974: Auf Arbeit ruft mich meine Tante Gisela an, meine Mutter hätte einen Hochzeitsanzug für mich aufgetrieben. Ich solle doch heute Abend nach Merseburg kommen. Puh, das auch noch. Eigentlich bin ich ausgeplant, doch es muss wohl sein. Dieses Kulturrelikt muss ich mir wohl anziehen, wenn ich die Hochzeitsgäste, die liebe Verwandtschaft, nicht vollends gegen uns aufbringen will. Bei der Anzugprobe treten die erwarteten Mängel auf: typisch deutscher Schnitt: die Jacke kneift, die Hose hängt. Wie gut haben’s da die jungen Amerikaner oder Engländer, deren Hose passt und die Jacke hängt. Aber bis unsere Modeschöpfer diese Vorteile begreifen, werden wohl Jahrhunderte ins Land gehen. Vielleicht dauert’s sogar so lange, bis einst gar keine Hosen mehr getragen werden? Was soll’s, dieses Prachtstück von Anzug war das einzige, was für mich überhaupt in diesem Provinzkaff aufzutreiben war. Also nehme ich das Ding, nachdem man mir fest versprochen hat, zumindest die Hose zu ändern. Mit dem Bus fahre ich zur Probe. Viel kommt nicht heraus, aber immerhin haben wir angefangen, „Roundabout“ von Yes einzustudieren. Im Fernsehen dann wird der Rücktritt Willy Brandts verkündet.

1979: Gut gearbeitet, gut vorangekommen, doch das Gefühl, mit jedem, was man abschließt, immer besser die Unabschließbarkeit des Ganzen zu fühlen.

1999: Heute nun betrete ich das Künstlerhaus 188 definitiv zum letzten Mal als Angestellter. Auf dem Weg dahin sehe ich vor der Sparkasse (wo ich Kontoauszüge holen will) einen Mann in seinem Auto sitzen, der zwei Zigarren raucht! Realität oder Illustration meiner Stimmung? Die letzten Bürostunden verlaufen dann aber absolut unspektakulär. Dieses Telefonat, jene Unterschrift - niemand scheint zu merken, dass da jemand nach sechs Jahren geht. Nun gut. Gehe ich eben.

2008: Sarajevo. Beim Landen flimmern mir Nachrichtenbilder der Belagerung auf, Flimmern vom Herzen. Dann zeigen die Fassaden aber kaum noch Narben, geschweige denn Wunden. Niemand, der giftete. Und nichts was (mich) traumatisierte des Nachts. Ecke Ulica Zelenih Beretki/Obala Kulina Bana. Stadtidyll: Blühende Kastanien an Flusspromenade, Flirtende auf alter Brücke, ein Akkordeonspieler, Frühlingssonne, Kinder – Idylle pur, wäre das nicht diese Inschrift: From this place on 28 June 1914 Gavrilo Princip assasinated the heir to austro-hungarian throne Franz Ferdinand… Und schon wähne ich wieder sniper auf den Dächern, den Hügeln, in den Hecken ringsum, stehle mich davon. Carlos Fuentes sagte: „Das kürzeste Jahrhundert: von Sarajevo 1914 bis Sarajevo 1994.“

 

Beben

für

Heinrich Christian Beck / Fritze Bollmann / Grace Bumbry / August Joseph Norbert Burgmüller / Jean Carrière / William Copley / Diego Corrales / Charles Théodore Henri De Coster / Peter Edel / Douglas Fairbanks jr. / Justus Miles Forman/ Caspar David Friedrich / Paul Frischauer / José María Heredia / Peter Hille / Theodore von Kármán / Georg Katzer / Stanisław Jerzy Lec / Ernst August Lehmann / Mihkel Lüdig / Ralph Eugene Meatyard / James Nasmyth / Fritz Novotny / Otto I. (der Große) / Ottoviano Petrucci / Franz von Pocci / Antonio Salieri / Gottlieb Schick / Franz von Sickingen / Felix Weingartner

 

Das erschütterte uns nachhaltig:

Natchez, Mississippi, 1840: in einen Tornado kommen 317 Menschen ums Leben / St. Vincent, 1902: Ausbruch des Vilkans Soufrière, 1.680 Todesopfer / 1915 versenkt ein deutsches U-Boot das britische Passagierschiff „Lusitania“ vor der irischen Küste, 1.195 Tote / Dalian, 2002: beim Landeanflug stürzt ein chinesisches Verkehrsflugzeug ab, alle 112 Insassen kommen ums Leben / 2023: Tanur, Indien: Bootsunglück: 22 Todesopfer.

 

 

8. MAI

 

Wiederholung

mit

Inessa Armand / Lex Barker / Martin Brandenburg / Chinmayananda / António José da Silva / Alexander Alexandrowitsch Daneika / René del Risco Bermúdez / Emilio Delgado / Friedrich Döppe / Jules Dumont d’Urville / Henry Dunant / Augusta Jane Evans Wilson / Fernandel / Romain Gary / Edward Gibbon / Gottfried Herold / Miguel Hidalgo / Robert Johnson / Otakar Lebeda / Alein-René Lesage / Sonny Liston / John Mark / John Stuart Mill / Natalja Wadimowna Moltschanowa / Georg Muche / Ricky Nelson / Sibylle von Olfers / Cheikha Rimitti / Roberto Rossellini / Mary Lou Williams

 

Das hätten wir gern wiederholt:

1654: mit dem Frieden von Westminster endet der Erste Englisch-Niederländische Krieg / 1945: Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa / 1949 schafft Costa Rica seine Armee ab / 1980 erklärt die WHO die Pocken für weltweit ausgerottet / 2007 entdecken israelische Archäologen das Grab des Herodes.

 

Ich notierte:

1974: Tag der Befreiung – noch vor wenigen Jahren wäre heute Feiertag gewesen. Doch gestern ist eben leider nicht heute. Dieser Feiertag wurde wie etliche andere auch schnöde abgeschafft, um die Produktivität zu erhöhen, doch seltsamerweise gibt’s nun Beschlüsse zur Erhöhung des Mindesturlaubs. Nach der Arbeit fahre ich Farbe für unsere Wohnung nachkaufen, auf dass sie bald bezugsfertig wird. Ich hatte mich in der notwendigen Menge doch stark verschätzt.

1981: In Pirkau wird heute mein Auftragswerk zum zweiten Male aufgeführt. Ich fahre im Moskwitsch mit Jeanny und Cathi hin. Qualität der Aufführung kaum besser als bei der Uraufführung. Die Herrn Theatermusiker hatten es wohl nicht für nötig erachtet, mal zu proben. Nun ja. Und alles wie gehabt: zuerst die Reden, dann die Kranzniederlegung, dann Salutschüsse und zu guter Letzt, die Kultur, mein Stück also. Ich frage mich, was mal das passieren würde, was ich eigentlich angestrebt hatte: dass die Kultur das ganze Programm, die ganze Ehrung wäre!

1990: Hohen Wangelin. Lesungen bei hochsommerlichen Temperaturen. In der Mittagspause winkt mich die aufregend dekolletierte Bibliothekarin zu ihrem Wartburg. Eine Überraschung habe sie für mich! Und wir holpern über kaum erkennbare Wege durch menschenleere mecklenburgische Wälder. Ich starre mich an ihrem hochrutschenden Rocksaum fest. Und ehe ich mich recht versehe springt sie verführerisch nackt in einen See. Ich kraule was ich kann. Doch als Überraschung präsentiert sie mir dann das versteckte Anwesen Honeckers, reetgedeckte Villa mit Bootssteg, stacheldrahtbewehrt, unereichbar, da scharf bewacht, noch vor Jahresfrist. Und selbst wenn sie nun gewollt hätte, hätte ich wohl nicht mehr gekonnt.

1991: Säntis. Von Liechtenstein her kurvten wir in die bizarre Bergwelt hinein. Vorfreude auf unerreichbare Gipfel bislang. Nahe der Talstation lieferten sich Schweizer Panzer jedoch derart ein Übungsgefecht, dass es schwer fiel, neutral zu bleiben.

1994: Gutach, Schwarzwälder Freilichtmuseum. Hoch unterm First

des Hippenseppenhofes mumifiziert der Kopf des Ochsen, der einst das Holz für den Bau dieses Hauses ankarrte und nach getaner Arbeit geopfert wurde, altem Aberglauben angeblich.

1999: Heute vor 54 Jahren war (zumindest in Deutschland) der Zweite Weltkrieg zu Ende. Selbstverständlich hätte ich unsere Silberhochzeitsreise nach Mauritius ruhiger starten können, hätte ich im Teletext am Morgen ähnliches über den Kosovo lesen können. Doch nachdem jüngst die Außenminister der G8-Staaten (einschließlich Russlands) diplomatische Bewegung in dieser Richtung zu signalisieren schienen, schlugen in der Nacht drei Raketen in der chinesischen Botschaft in Belgrad ein. Das dürfte einiges komplizieren, denn mit Chinas Veto ist der UNO-Sicherheitsrat und somit der Kosovo-Friedensplan (den im Übrigen nun auch die UCK ablehnt) blockiert...

Mittag fährt uns Cathi zum Flughafen. Trübes, kühles Wetter. Zubringerflug nach Frankfurt und dann ab auf die Insel! Beim Einchecken in Leipzig schwinden uns urplötzlich aber alle Urlaubshoffnungen: Unser Zubringerflug nach Frankfurt ist von uns zwar bezahlt, doch vom Reiseveranstalter nicht gebucht worden! Und der Flieger ist voll, überbucht sogar! Was für ein Hin und Her, Aufregung, reichlich Hilf- und Ratlosigkeit - und nicht nur bei uns. Schließlich nimmt sich unser aber ein freundlicher Lufthansaangestellter an und kümmert sich ernstlich, als er hört, dass dieser Flug der Beginn unserer Silberhochzeitsreise ist. Und als wir schon alles abgeschrieben hatten, als wir schon an 14 sinnlos freie Tage dachten, dürfen wir kurz vor Abflug doch noch an Bord, sitzen schließlich tatsächlich im proppevollen Flieger nach Frankfurt, Reihe 1 selbstredend. Logisch.

2008: Buna, Bosnien-Herzegowina. Nichts erinnert mich an der Quelle, wo einst Derwische tanzten, an BUtadienNAtrium. Stevan jedoch übersetzt mir Buna mit: Aufruhr. Buntovnik: der Rebell! Da werde ich daheim auch Chemikern was erklären können.

2021: Forscher der Universität Washington schätzen, dass bislang weltweit 6,9 Millionen Menschen in der Corona-Pandemie starben. Die WHO gibt offiziell aktuell 3,2 Millionen Corona-Tote an.

2022: Endlich sind die Mauersegler zurück in Leuna. Einiges später als sonst. Dennoch mal wieder ein Schein von Normalität.

 

Wachablösung

für

LaVerne Sofie Andrews / Mordechai Anielewicz / Eddy Arnold / Dirk Bogarde / Graham Bond / Debiprasad Chattopadhyaya / Georg Daniel Coschwitz /  Antoine Laurent de Lavoisier / Cornell Dupree / Gustave Flaubert / Eugène Henri Paul Gauguin / Paul Gauguin / Mauro Giuliani / Georg Groscurth / Roy Horn / Helmut Jahn / Genja Jonas / Rita Lee / Lew Natanowitsch Lunz / Virgilio Masciadri / Eadweard Muybridge / Luigi Nono / Sergei Wladimirowitsch Obraszow / Farrochru Parsa / Nasrat Parsa / Talcott Parsons / Elmer Rice / Peter Sehr / Maurice Sendak / Ethel Smyth / Sri Ananda Acharya / Tuca / Otto Ubbelohe / Gilles Villeneuve / Berta Waterstradt / James Charles Napier Webb

 

Da übernahm Übles die Kontrolle:

Meudon, Frankreich, 1842. Eisenbahnunfall, mindestens 50 Tote / Sétif, Algerien, 1945: französische Kolonialtruppen massakrieren Demonstranten / Martinique, 1902: Ausbruch des Vulkans Mont Pelé, 30,000 Menschen kommen ums Leben.

 

 

9. MAI

 

Ortung

mit

Richard Adams / Hisham al-Hashimi / Leopold Andrian / Léon Bakst / Hans Baluschek / J. M. Barrie / Wolfgang Bottenberg / John Brown / Angela Carter / Howard Carter / Drafi Deutscher / Albert Finney / Herta Günther / Karl Hanusch / Ernst Hardt / Bernd-Dieter Hüge / Glenda Jackson / Ulrich Kienzle / Johann Anton Leisewitz / Hilde Levi / Mihkel Lüdig / Peter Merseburger / Dick Morrissey / Bulat Schalwowitsch Okudschawa / José Ortega y Gasset / Anna Pappritz / Halina Poświatowska / David „Dave“ Prater / Julius Röntgen / Josef „Jossele“ Rosenblatt / Celia Sánchez Manduley / Sophie Scholl / Franz Albert Venus / Henriette Vogel

 

An diesem Tage glaubten wir an sinnvolle Zielsetzungen:

1927 wird Canberra Hauptstadt Australiens / 1994: Wahl Nelson Mandelas zum südafrikanischen Präsidenten.

 

Ich notierte:

1974: Als ich zurückkomme, hält ein Barkas vom Möbelhaus vorm Klepzig-Häuschen. Unser Küchentisch wird angeliefert, nach kurzem Gespräch und Extra-Trinkgeld-Versprechen gelingt es mir die Barkas-Typen zu unserer Wohnung umzudirigieren. Die Leute tragen den Tisch samt Stühlen sogar hoch in den ersten Stock, in unsere Wohnung, lassen im Flur ihrer Verblüffung über die grellbunten Anstriche freien Lauf und halten die Hände auf. Dann werkele ich noch bis zum Abend in der Wohnung, im Bad vor allem, es ist noch so viel zu tun.

1982: Worte hin und her gewälzt und da kommt wieder ein Ahnung von Texten wie aus Träumen heraus, Einflüsterungen, Raunen, der Stoff wird mir zum höheren Wesen, hilft mir durch den alltäglichen Sprachberg wieder ins Schlaraffenland Phantasie vorzudringen. Ja, auf dem Rücken liegen und gebratene Gänse vorm Maul und dann einfach danach schnappen – Träumen und Schreiben liegen so nah beieinander.

1983: Seit Sonnabend, seit zwei Tagen also für eine Woche mit Jeanny und Cathi in Wurzbach. Und als hätte ich diesen Urlaub nicht verdient, bin ich mit einer Erkältung geschlagen, kann kaum aus den Augen gucken. Letzte Woche hatten mir Kinder immer wieder gesagt, dass sie mein Hörspiel „Anna und der Trommelstock“ im Radio gehört hätten und begeistert seien. Ich hatte das Gefühl, Kindern mit meinem Schreiben eine große Freude machen zu können. Und hier bin ich nun auch, um Cathi eine Freude bereiten zu können…

1987: Ab heute endlich den durch den Reservedienst und die Amtsübernahme aufgeschobenen Resturlaub. Eigentlich wollten wir, wie schon im vorigen Mai, nach Wurzbach, hatten auch reserviert, doch liegt seit Dienstag Schorsch – der nun seit kurzen wegen seiner Krankheit bei uns wohn - wieder in der Urologie. Und Cathi will am Montag mit dem Ballett wegfahren. Wir gaben den Urlaubsplatz zurück, vielleicht auch, da in der ersten Wochehälfte schreckliches nassgraues Wetter herrschte. Heute nun scheint die Sonne vom blauen Himmel und Schorsch sitzt in unserem Garten, erhielt Wochenendurlaub… Doch was soll’s, ich habe zu schreiben, erhielt vom Funk die Offerte, ein neues Hörspiel einzureichen – nach zwei Jahren Hin und Her… Dafür vom Kinderbuchverlag ein Schreiben, dass eine Nachauflage meines „Montag“ erst für 88/89 geplant sei…

1995: Wien. Hellersches Spektakel auf dem Heldenplatz, Luftschiffattrappe über der Hofburg, rotweißrot, Show, Fiakerdunst und Flieder, Flieder. Besichtigungsprogramm absolviert: Stephansdom und Kapuzinergruft, Schönbrunn und Belvedere, Café Griensteidl auch. Einspänner, Kaiserschmarrn, Tafelspitz. Und im Prater blühten tatsächlich die Bäume. In die U-Bahn also mit Heurigen-Wehmut, dann aber Blasmusik, durch den Westbahnhof schallend. Allemal, da marschiert sich's leichter heim.

1999: Ab Frankfurt dann ruhiger Flug hinweg über ganz Italien, Mittelmeer, Lybien, Sudan, Kenia, die Nordspitze Madagaskars, guter Service. Nach gut 11 Stunden und fast 10.000 Flugkilometern landen wir 7.10 Ortszeit (2 Stunden Zeitverschiebung) fast pünktlich auf Mauritius. Phantastisch, wie da auf einmal mitten in den Weiten des Indischen Ozeans die Insel auftaucht, diese Silhouette, diese Felsspitzen - Keine Frage, Schnabel hatte gut gewählt: Insel Felsenburg. Und Virginie brauchte 3 Monate, um von Frankreich nach Mauritius zu segeln! So ändern sich die Zeiten... Keinerlei Probleme beim Auschecken, selbst die Koffer sind da! Und ein Kleinbus steht bereit, der uns ins Hotel bringt. Mit uns fährt ein zweites Ehepaar, unseres Alters etwa, nett, und bald stellt sich heraus, dass auch sie auf Silberhochzeitsreise sind! Großes Hallo!

Wir durchqueren die Insel vom Südosten von Pleasance (wo der Flugplatz liegt) zum äußersten Nordosten nach Grand Gaube (wo unser Hotel steht), fahren durch das die Insel teilende Felsenburggebirge, vorbei an Curepipe und durch die Hauptstadt Port Louis. Fast anderthalb Stunden bei satten 30°C. Da steigt schon mal leise Müdigkeit auf trotz einzigartiger An- und Aussichten.

Alle Bleierniss verfliegt aber, als wir unser Hotel Le Grand Gaube erreichen. Großzügige parkähnliche Anlage an weitgeschwungener Palmenbucht, toller Empfang mit eisgekühltem, hibiskusblütenverziertem Ananassaft. Schnell sind alle Formalitäten erledigt. Wir haben ein geräumiges Zimmer mit Balkon und Blick aufs Meer und die vorgelagerten Inseln. Raus aus den Klamotten, rein ins Meer. Anbaden, das tut gut! Mittagessen am Strand. Tandoori-Huhn, dazu einen Cocosmilch-Rum-Drink. Als neben unserem Tisch zwei freilaufende Hunde zu kopulieren beginnen, holt der Kellner einen Polizisten, der die Hunde vertreibt... Erster kleiner Spaziergang, um die umliegenden Buchten zu erkunden. Draußen am Riff bricht sich hochaufgischtend das Meer, Fische springen in der Lagune. Nach dem Laufen wieder baden und ein wenig dösen. Und als wir aufs Zimmer zurückkommen, steht eine Flasche Sekt und ein Früchtekorb voll exotischer Leckerbissen auf dem Tisch (Mini-Ananas, Mini-Bananen, Maracujas). Service für Hochzeitsreisende. Tolle Überraschung! Wir sitzen auf dem Balkon, umschwirrt von indischen Staren, Webervögeln und Bulbuls und beobachten wie langsam die Sonne von Norden nach Westen wandert. Gewöhnungsbedürftig wie Linksverkehr. Zum ersten Male in unserem Leben sind wir jenseits des Äquators. Also fungiert diese Flasche Sekt auch für unsere Äquatortaufe! Bei Sonnenuntergang setzt ein unglaubliches Gezschilpe ein. Offenbar streiten sich Scharen von Vögeln im umstehenden Grün um die besten Schlafplätze. Und dazu rauschen die Kasuarinen, diese seltsamen langnadligen Bäume, als huschten windige Züge vorbei... Schließlich zum Dinner: vier Gänge, alles köstlich, süß und scharf in einem. Letztlich noch ein kleiner Verdauungsspaziergang, wir bewundern den hier unglaublich gleißenden Sternenhimmel. Doch dann bekommt die Müdigkeit langsam die Oberhand, macht sich der fehlende Schlaf der letzten Nacht bemerkbar.

2008: Mostar. Kaffee heißt auf Kroatisch kava, auf Serbisch kafa und auf Bosnisch kahva. Eines aktuellen Witzes zufolge verlangt ein kroatischer Wirt von einem Gast, der kava bestellt, zwei Mark, von einem, der kafa möchte, vier und für kahva sechs. Also trinke ich rakija und loza und sljivovica, kein Witz.

2013: Sarajevo. Ich lese für Schüler und erfahre, dass in bosnisch-herzegowinischen Geschichtsbüchern Gavrilo Princip, der 1914 hier den Erzherzog Franz Ferdinand samt Gemahlin erschoss, als Terrorist gebrandmarkt, in denen der Republika Srpska hingeben als Held gepriesen wird. Es lebe der 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs.

 

Ode

für

Nelson Algren / Theodor Maximilian Bilharz / Joseph Breitbach / Dieterich Buxtehude / Heinrich Campendonk / Cornelis de Vos / Marco Ferreri / Jürgen Fuchs / Joseph Louis Gay-Lussac / Lena Horne / Canada Lee / Little Richard / Eddie Jefferson / George Maciunas / Aldo Moro / Siegmund Neuberger / Gregor Pinke / Friedrich Schiller / Augustin Schurff / Karl Siebel / Fritz Ernst August Stavenhagen / Margarete Steiff / Sardar Tenzing Norgay / Fritz Umgelter / Wouter Weylandt / Augusta Jane Evans Wilson / Nikolaus Ludwig Graf von Zinsendorf und Pottendorf

 

Da war uns gewiss nicht zum Jubel zumute:

1664 erobern Engländer die schwedischen Besitzungen an der Goldküste / 1769: Korsische Truppen unterliegen französischen in der Schlacht bei Ponte Novu, Ende der Unabhängigkeit Korsikas / Dresden, 1849 sächsische und preußische Truppen nach einer Woche den Dresdner Maiaufstand nieder beidem 343 Barrikadenkämpfer ums Leben kommen / Iquique, 1877: Erdbeben und Tsunami, 2.541 Menschen sterben / Thessaloniki, 1936: Polizisten schießen auf demonstrierende Tabakarbeiter, 12 Tote / 1987: eine Il-62 stürzt eine Stunde nach dem Start in Warschau ab, 183 Todesopfer / Accra, 2001: Panik in einem Fußballstadion, 126 Menschen kommen ums Leben / 2011 stürzt in Indonesien ein Suchoi Superjet bei einem Demonstrationsflug ab, 45 Tote.

 

 

10. MAI

 

Einführung

mit

Fred Astaire / al-Hamdānī / Arthur Alexander Jr. / Karl Barth / Eric Berne / Adolf Brütt / Ivan Cankar / Angelika Catalani / Augustin Jean Fresnel / Benito Peréz Galdós / Friedrich Wilhelm Christian Gerstäcker / Johann Peter Hebel / Hans Jonas / Kim Jong-nam / Eugen Leviné / Craig Jamieson Mack / Marcus Omofuma / Fernando Pereira / Pinckney Benton Stewart Pinchback / Víctor Piñero / Upendrakishore Raychaudhuri / Hans Reichel / Claude Joseph Rouget de Lisle / Ettore Scola / David O. Selznick / Olaf Stepleton / Gustav Ernst Stresemann / Anne Robert Jacques Turgot / Fritz von Unruh / Sid Vicious / Alfréd Wetzler / Yukteswar Giri

 

Das hielten wir für eine gute Einführung:

London, 1824: Eröffnung der National Gallery / 1869: Inbetriebnahme der ersten transkontinentalen Bahnlinie der USA / 1871: Friede von Frankfurt, Ende des Deutsch-Französischen Krieges / 1877 erklärt Rumänien seine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich / Dayton, Ohio, 1954: Präsentation des ersten Silicium-Transistors / Berlin, 2005: Einweihung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas.

 

Ich notierte:

1981: Gestern ein Abend mit Othello. Nach Jahren sieht man sich wieder. Unvorstellbar, dass er nun in Florida lebt. Es ist mir, als würden wir noch immer zusammen muggen, als hätte er nicht am selben Tag, an dem ich damals zur Fahne musste, zu seiner Mutter ausreisen dürfen. Nun kommen wir auch auf amerikanische Politik zu sprechen. Othello sagt, er steht hinter Reagan. Auch das ist mir unvorstellbar, doch ich hake nicht nach, will keinen Streit.

1988: Absolut herrliche Tage, hochsommerlich fast – viele Lesungen. Und gestern die letzten Jugendweihegäste verabschiedet. Ja, unsere Tochter hatte Jugendweihe, die Bude war voll. Alles ok.

1999: Zum Freizeitangebot unseres mauritianischen „Silberhochzeit-Hotels“ gehört auch ein Glasbodenboot, also lassen wir uns damit zum Riff fahren. Auf der einen Seite - grandios, wie sich beim Hinausfahren aus der türkisblauen Bucht langsam das Inselpanorama öffnet und wie unterm Glasboden bunte Fische auftauchen - aber das Riff selbst andererseits, das ist doch alles Grau in Grau, die Korallenstöcke, nur vereinzelt mal ein lichtblauer, ein violetter Farbklecks. Stirbt auch hier schon das Riff? El Niño lässt grüßen? Nachmittags am Strand, Schnorcheln, Schwimmen, Dösen, Plaudern mit Olaf und Liz (man duzt sich also mittlerweile mit dem anderen Silberhochzeitspaar). Dann ein Spaziergang ins Dorf, nach Grand Gaube, zehn Minuten vom Hotel entfernt. Die Leute, Fischer zumeist, blicken freundlich, grüßen. Wir suchen einen Laden, wollen Trinkbares einkaufen, um die deftigen Hotelpreise (ein 0,25 Liter-Fläschchen Bier kostet da 65 Rupien, glatte 5 Mark also, muss nicht sein) zu umgehen.

Am Abend sind wir (wie die anderen Gäste) vom Hotelmanager, einem Österreicher, zum Cocktail am Pool geladen. Das lässt man sich selbstverständlich gefallen... Nach den Cocktails geht’s zum großen Seafood-Büfett, alles vom Feinsten: Austern, Bouillabaisse, Tintenfisch, Gambas, Fisch gegrillt, Fisch gedünstet, Fisch gekocht, in orientalischer Sauce, in indischer Sauce, in mauritianischer Sauce, als Pastete und Auflauf. Und sogar Teufelsfischfilets! Man möchte essen und essen...

2008: Medjugorje. Jugendlichen soll hier die Jungfrau Maria erscheinen. Also scheine ich denn wohl (oder übel) zu alt. Oder ich glaube zu wenig oder falsch oder? Weißgott.

2013: Vogasca. Faiz hatte mich eingeladen, sein Dorf zu besichtigen. Und nun trinke ich mit Ibrahim und Muhamad Sarajevska Pivo, und Hadzem spendiert Hausgebrannten. Und als Emir dazu Schweineschinken auftafelt, sieht man mir wohl an, was mich beschäftigt: „Seid ihr nicht Moslems?“ - „Ja, europäische!“

2014: Plovdiv. Zusehends fördert man antike Pracht zutage, restauriert stolz Reste Philippopolis’ und Trimontiums. Schon wähne ich, aus den Rhodopen wehten orphische Klänge hinzu, aus Zelten vorm Rathaus dudelt jedoch nur Europawahlkampffolklore.

2023: Allenthalben Diskussionen über Künstliche Intelligenz - mir kommt der Gedanke: Die Dampfmaschine potenzierte die physischen Leistungsmöglichkeiten des Menschen, setzte jedoch auch katastrophale Umweltzerstörung in Gang, der Computer entfesselte die psychische – was aber offenbar bestenfalls zu Künstlicher Intelligenz, nicht aber zur Vernunft führen wird.

 

Entwurzelung

für

Marie Magdalene Charlotte Ackermann / Andreas Aubert / Andrés Bonifacio / Louis Paul Boon / Sebastian Brant / Joan Crawford / Roque Dalton / Jean de La Bruyère / Gidō Shūshin / Hermann Glöckner / Paul Greifzu / Fabjan Hafner / Christian Friedrich Henrici / Hokosai Matsuhika / Johann Hüglin / John Wesley Hyatt / Günther Kaufmann / Robert Kraft / Eli Lotar / Namba Yasuko / Juri Karlowitsch Olescha / Jimmy Raney / Paul Revere / Michail Jewgrafowitsch Saltykow-Schtschedrin / Bernardo Sassetti / Friedrich Schröder Sonnenstern / Woody Shaw / Soraya / Henry Morton Stanley / George Vancouver / Fritz Wehrmann / Albert Weisgerber / Peter Weiss / Walter Weiße / Martin Wiehle

 

An diesem Tage fühlten wir uns entwurzelt:

1558 hat es in Merseburg „Schweffel geregnet“ / Merath, Indien, 1857: Beginn des Sepoy-Aufstandes gegen die britische Kolonialmacht, 50 Inder werden massakriert / 1933: Bücherverbrennung in Deutschland / 1940 bombardieren deutsche Flugzeuge irrtümlich Freiberg im Breisgau, 57 Tote / 1996 werden am Mount Everest Expeditionen von einem Schneesturm überrascht, 8 Bergsteiger kommen ums Leben / 1997: Erdbeben im Ost-Iran, bis zu 4.000 Menschen sterben.

 

 

11. MAI

 

Münchhausiade

mit

Johann Friedrich Ernst Albrecht / as-Sakkākī / Rose Ausländer / Carl Christian Bagger / Johann David Beil / Irving Berlin / Carla Bley / Laskarina Bouboulina / Onelio Jorge Cardoso / Gladys Casely-Hayford / Camilo José Cela / Fanny Cerrito / Salvador Dalí / Edsger Wybe Dijsktra / Ralph Earl / Marco Ferreri / Richard Feynman / Rubem Fonseca / Kurt Gerron / Martha Graham / Antony Hewish / Mychal F. Judge / Robert Jungk / Theodore von Kármán / Elisabeth Käsemann / Saadat Hassan Manto / Niklaus Meienberg / Ottmar Mergenthaler / Cory Monteith / Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen / Paul Nash / Otto Niemeyer-Holstein / Joe „King“ Oliver / Annie Pootoogook / Harrier Quimby / Natasha Richardson / Margaret Rutherford / Eva Schulze-Knabe / Günther Simon / Francisco Umbral / Jaap van Praag / Ethel Lilian Voynich / Grete Weiskopf

 

An diesem Tage glaubten wir Unglaubliches:

868: Fertigstellung des ältesten Buchdruck-Erzeugnisses weltweit, der „Diamant-Sutra“ / 1867 wird das Großherzogtum Luxemburg unabhängig und neutral / Montana, 1910: Einrichtung des Glacier-Nationalparks.

 

Ich notierte:

1974: Wohnungswände pinseln bei Sonnenschein, macht dann gleich doppelt Spaß. Gegen Mittag holt mich Lotte ab, heute Nachmittag soll ja das große Fußballspiel Eckhard-Zakk-Set gegen den Carnevals-Club der TH steigen, ein Spiel um einen Kasten Bier. Schon sind wir auf dem Weg zum Sportplatz vorm Internat 8. Der CC ist schon vollständig in einheitlich rot-weiß-gestreiften Jerseys angetreten. Unsere Sportkluft fällt da etwas anders aus: Wim und Lotte mit alten Motorradlederhauben, Seni mit einem ähnlichen, doch nicht genau definierbaren Gebilde auf dem Kopf, und unübersehbar sein Bauch. Spreng als einziger in einem normalen Sporthemd, aber Spreng wirkt eh stets lächerlich. Und schließlich ich in orangen, zerfetzten Hosen und einer knallbunten Mütze auf dem Kopf. Mit lächerlich ernsten Mienen laufen wir aufs Spielfeld. Wie bei einem furchtbar amtlichen Spiel reichen sich die Mannschaftskapitäne die Hände. Wir erhalten vom CC sogar einen Wimpel. Natürlich haben wir nichts dergleichen zu bieten. Und kaum ist angepfiffen, setzt ein heftiger Regen ein. Es gießt wie aus Kübeln! Klatschnass rennen wir wie aufgescheuchte Gänse auf dem zermatschten Platz umher, denn von Fußball haben wir selbstredend keine Ahnung. Nach der ersten Halbzeit steht es 16 : 2 für den CC, nach dem Schlusspfiff: 26 : 5! Triefend schleichen wir zum Duschen, und siehe da – es hört auf zu regnen. Unfassbar, bzw.: was für eine Leistung in der einzigen Regenstunde des Tages Fußball zu spielen! Wahrscheinlich gab dieser Rahmen erst den richtigen Rahmen für dieses denkwürdige Spiel.

1980: Sonntag. Schon um acht raus. Drei Muggen stehen an! Frühschoppen zur Eröffnung der Badesaison im Freibad Zwenkau, ab Drei KGD-Programm, dann in Halle Freiluft-Konzert mit Gerd Christian (der mit Blumen überhäuft wird), Autogramme, Autogramme, zwei Zugaben. Fast hatte ich schon vergessen, dass es so was noch gibt…

1987: Nach drei Tagen Urlaub, viel Schlaf und Ruhe und halbwegs diszipliniertem Hörspielschreiben habe ich beim Plattenhören das Gefühl, wesentlich mehr Feinheiten zu hören als sonst. Und hatte ich nicht seit einiger Zeit schon das Gefühl, gestresst schlechter zu sehen? Und was ist mit meinen anderen Sinnen?

2008: Sarajevo. An der Grabstätte „Sieben Brüder“ müsse man einen Obolus lassen und sich etwas wünschen. Wunderbar, ziert doch das bosnische 2-Mark-Stück eine Friedenstaube. Allerdings ist zu, verriegelt und verrammelt, und zwielichtige Gestalten lungern vorm Tor.

1999: Grand Gaube, Mauritius: Nachmittag fahre ich mit einer Gruppe zum Außenriff. Noch ein Service des Hotels: Schnorcheln. Und kaum tauche ich in die Unterwasserwelt wirklich ein, weiß ich, dass der Glasbooteindruck täuschte. Kein Vergleich zu dem was ich da sah und dem, was ich nun sehe! Das Riff lebt, ist voller Fische in aberwitzigen Farben, Anemonen wogen, die Korallenstöcke sehen aus der Nähe auch völlig anders aus. Ein großes Erlebnis, unfassbar fast. Und keine Frage - Schnorcheln am Außenriff war ich nicht das letzte Mal! Diese Korallentäler über die schwebt als gleite man wie ein Flugzeug durch phantastische Täler, beäugt von Fischschwärmen, tief hinunter tauchen zu besonders schönen Farben und Formen... Dieses Abenteuer allein wäre die Reise schon wert gewesen.

2000: Presse-Meldungen heute: Indien zählt nun eine Milliarde Einwohner! Und wegen Fahrlässigkeit brennt Los Alamos, das Städtchen in den USA, in dem dereinst die erste Atombombe entwickelt worden war, ab, no comment...

2013: Travnik. „Nobel“ heißt die Pinte, in die wir uns vorm Blasenregen flüchten, doch nobel geht’s hier weißgott nicht zu. Steigt man jedoch in die erste Etage hinauf, gelangt man ins Museum für Ivo Andric, der hier her stammt und dann den Nobelpreis erhielt, ja, für die „Travniker Chronik“ nicht zuletzt. Schau an.

 

Minimierung

für

Alvar Aalto / Shireen Abu Akleh / Douglas Adams / Mary Astell / Lex Barker / Alexandre Edmond Becquerel / Peter Behrens / Aimé Bonpland / Louis Cartier-Bresson / Sait Faik Abasıyanık / Juan Gris / William Dean Howells / Wenedikt Wassiljewitsch Jerofejew / Bernhard Joseph Klein / Torsten Lamprecht / Norman Lloyd / Bob Marley / Daniel Meisner / Philipp Müller / Barry Newman / Carl Otto Ehrenfried Nicolai / Richard Ohnsorg / Noel Redding / Max Reger / Juliane Reichardt / Cheikha Rimitti / Malte Rühmann / Ferdinand Freiherr von Rezniček / Klaus Schlesinger / Karl Schwarzschild / Miloslav Stingl / Eugène Françoise Vidocq / Rafał Wojaczek

 

Da wurde uns manches verdammt klein:

Regensburg, 1189: Barbarossa bricht zum Dritten Kreuzzug auf / 1824: Beginn des ersten Britisch-Birmanischen Krieges / Waco, Texas, 1953: in einem dreitägigen Tornado kommen 114 Menschen ums Leben / Sichuan und Yunnan, 1974: Erdbeben, 20.000 Todesopfer / Bradford, 1985: Feuerkatastrophe in einem Fußballstadion, 56 Menschen sterben / Miami, 1996 stürzt eine DC 9 nach dem Start in die Everglades, alle 110 Insassen kommen ums Leben.

 

12. MAI

 

Rummel

mit

Elechi Amadi / Burt Bacharach / Artur Becker / Joseph Beuys / Massimo Bontempelli / Werner Bräunig / Maurice Carême / George Carlin / Egmont Colerus / Ian Dury / Lincoln Ellsworth / Gabriel Fauré / Johan Ferrier / Cäsar Otto Hugo Flaischlen / Frère Roger / Julius Graumann / André Greiner-Pol / Ágnes Heller / Katherine Hepburn / Dorothy Crowfoot Hodgkin / Ibn al-Athīr / Kanō Sōshū / Fritz Kortner / Jiddu Krishnamurti / Ludovic Lamothe / Edward Lear / Ernst August Lehmann / Justus von Liebig / Josef Mánes / Jules Massenet / Madeleine Beth McCann / Ian McLagan / Heinrich Menu von Minutoli / Maryam Mirzakhani / Farley Mowat / Mushanokōji Saneatsu / Erdmann Neumeister / Florence Nightingale / Mushunokōji Saneatsu / Gary Peacock / Miriam Pielhau / Julius Rosenberg / Dante Gabriel Rossetti / Joachim von Sandrart / Larisa Sawizka / Johann Heinrich Schulze / Helene Weigel / Norman Whitfield / Andrei Andrejewitsch Wosnessenski / Xing-Hu-Kuo

 

Da spürten wir Feststimmung aufkommen:

Fritzlar, 919: Heinrich I. wird zum ersten deutschen König gewählt / Krakau: 1364: Gründung der zweiten Universität Europas / Lima, 1551: Gründung der ältesten bis heute durchgängig betriebenen Universität Amerikas / 1907 wird in Grafton, West Virginia, erstmals der Muttertag gefeiert / 1926: überfliegt Umberto Nobile mit Roald Amundsen mit einem Luftschiff den Nordpol / 1941 stellt Konrad Zuse den ersten programmgesteuerten Rechner vor / 1997 endet der erste Tschetschenien-Krieg / 2010: Inbetriebnahme der Einheitsbrücke zwischen Tansania und Mosambik, somit der ersten durchgängigen Straßenverbindung entlang der ostafrikanischen Küste.

 

Ich notierte:

1974: Diesen Sonntag widme ich ganz unserer künftigen Wohnung, pinseln, pinseln, pinseln. Am Nachmittag kommt mir Jeanny zu Hilfe. Und am Abend fahren wir mit einem Handwagen noch den alten, frisch gestrichenen Küchenschrank in die Wohnung.

1985: Wieder mal in Wurzbach. Die große Stille ringsum, so ganz und gar ohne Werksgeräusche, ohne Bürolärm, ließ mich nur schwer einschlafen. Lauschen wohl, ob da nicht doch noch irgendwo etwas sei – oder etwas nicht sei… Krude Träume dann. Abstreifen einer ungeheuren Spannung, Überwinden einer Oberfläche, Eindringen in eine andere Existenz… Seit kurzen habe ich eine Chefin im Zentrum, keine Ahnung von Literatur, soeben vom Kulturministerium zurückdelegiert an den Rat des Bezirkes… Warum? Da wirbelt im Dienst so einiges völlig durcheinander. Andererseits ist nun mein Antrag auf Kandidatur im Schriftstellerverband (mit Befürwortung des Bezirksverbandes!) auf dem Wege.

1988: Lesung im Berliner Zentralinstitut für Molekularbiologie. Erstaunliche Erfahrung: die Wissenschaftler verlangten nach herkömmlicher, „spannender“ Literatur, können mit Experimenten, die versuchen Zeitgeist zu reflektieren, nichts anfangen, mit Annährungsversuchen wie den meinen beispielsweise. Sie, die für die Zukunft forschen, wollen also in Formen der Vergangenheit unterhalten werden? Sehen heutige Literatur nicht als ebenbürtig?

1994: Kötschach-Mauthen, Kärntnisches Idyll. Statt einer Madonna schützt eines der Portale jedoch eine Granate. Inschrift: 31. Juli 1916. Ja, vom Plöckenpaß donnerte einst der Italiener herunter wie heuer der Serbe vom Igman. Das trifft.

1997: Streit. Der weiteren Urlaubsroute wegen oder wasweißich. Allein durch die Stadt, kaum Sinn für’s Stockalperschloß und dergleichen. Am Sebastiansplatz aber eine Tafel, erinnernd an die Umweltkatastrophe von vor dreieinhalb Jahren - Flüßchen Saltina verheerte den Ort! Sollte ich das vergessen haben, vollständig vergessen vor Alltäglichkeiten und Banalitäten oder wasweißich? Und jene Tafel, markierend die Höhe eingebrochenen Schlamm und Gerölls, jene Tafel hängt immerhin mehr als zwei Meter über mir.

1999: Mit dem Taxi nach Pamplemousses, zum berühmten botanischen Garten. Wir engagieren einen Guide, der sogar halbwegs deutsch spricht. Ohne Guide wäre der Rundgang bestenfalls halb so interessant, denn all die Palmenarten (insgesamt wohl weit über hundert), die hier zu entdecken sind, all die Gewürzbäume, Tee-, Kaffeesträucher, Ingwer, Lotus, Teak-, Sandel-, Ebenholz und nicht zuletzt die riesigen Blätter der Wasserlilie „Victoria regia“ hätten wir sicher nicht alle gefunden und erkannt. Immer wieder sammelt der Guide Blätter auf, zerreibt sie, lässt uns riechen: Muskat, Nelke, Piment... Dazu tauchen zwischen all den diffizilen Grüntönen und Formen des Blattwerks Inderinnen in leuchtend farbigen Saris auf. Ein Fest für Augen und Nase. Weiter nach Port Louis, der Hauptstadt der Insel, umrahmt von ein einer imposanten Felsenkette, schwül-heißes Klima. Wir schlendern von der modernen Waterfront vorbei am Hafen zum Markt. Geschäftiges Treiben in den Hallen, Berge exotischer Früchte, Gemüse, Gewürze. In einer anderen Halle: Textilien, Souveniere. In einer dritten (und schon von weitem deutlich am Geruch identifizierbar): Fleisch und Fisch. Die Händler sprechen dich zwar an, sind aber nicht lästig, wie ich es in Palästina erlebte. Allenthalben freundliche Gelassenheit.

Beeindruckend auch das friedliche Nebeneinander (Miteinander?) dieses Vielvölkerstaates. Direkt hinter der großen Moschee beginnt beispielsweise China-Town... Auf den beinbrecherischen Straßen mit ihrer halbmeterhohen Teerdecke, die steil zum Rinnstein abfällt, muß man höllisch auf das Verkehrsgewimmel achten. Und alles fährt katalysatorlos! Zurück zum Taxi vorbei am Regierungspalast mit dem Denkmal der Königin Victoria, durch die schöne Palmenallee mit dem Denkmal für Labourdonnais, dem wohl richtungsweisendsten einstigen französischen Gouverneur der Insel. Wir bitten den Taxifahrer uns zu einem Restaurant zu bringen, wo wir auch mal richtig landestypisch, kreolisch also, essen können. Kein Problem selbstredend. Und alles ist wunderbar: frische Gambas in Knoblauchöl und Fisch-Chili und am Ende auch die Rechnung - und der Kellner feilscht sogar noch um Trinkgeld! Nun gut. Nicht aufregen, hier nicht. Fürs Taxi, für die ganze Tagestour, bezahlen wir schließlich ein Viertel vom Preis dieses Mittagessens... Während der Fahrt erzählte der Taxifahrer immer wieder Stories über die Korruptheit der mauritianischen Polizei (um uns von diesem betrügerischen Kellner abzulenken?), Motto: Wenn du Geld hast, kannst du dir so gut wie alles erlauben. Natürlich kann man hier für Rauschgifthandel beispielsweise mit dem Tode bestraft werden, man kann aber auch schmieren und reich werden und Polizisten reich machen. Kürzlich seien in Amsterdam sogar zwei mauritianische Minister beim Rauschgiftschmuggel erwischt worden... Olaf, der hoher Polizeibeamter in Frankfurt ist, will’s gar nicht so recht glauben, fragt immer wieder nach. Doch auch die Gespräche zwischen uns beiden Silberpaaren entwickeln sich - leicht verrückt (oder sollte ich besser sagen: schicksalshaft?) mutet uns wohl durchaus an, dass sich da zwei fast gleichaltrige und fast auf den Tag genau gleich lang verheiratete Paare in dieser exotischen Ferne kennenlernten, Paare mit ähnlichen Lebensansichten und -absichten zudem offenbar und obwohl mit Ost- wie mit Westdeutscher Biografie. Betreiben wir hier also sogar so etwas wie ost-westdeutsche Verständigung, nein: Normalisierung?

2000:Oschersleben.  Lesung mit Peter Abraham, Christa Kozik und Benno Pludra. Läuft ganz gut.

2008: Banja Luka. Als uns auf dem Wege ein Waldschrat mit einem Knüttel bedroht, blühen mir heftig Vorurteile auf. Dann sehe ich aber die (1941) zerstörte Basilika wieder orthodox glänzen, und höre, die (1993) gesprengte weltbekannte Moschee werde wieder aufgebaut, bestimmt. Und als wir Autoren aus aller Welt im Banski Dvor, wo Nationalisten parlamentierten, lesen, erhält die Russin nicht mehr Beifall als der Araber, als der Deutsche.

2020: „Session“ beendet: Hochgefühl und Leere wohl noch dialektischer als sonst.

 

Ruin

für

Ghazaleh Alizadeh/ Charles Barry / Emilia Pardo Bazán / Elisabeth Bergner / Jacques Bingen / Minna Cahnt / Juan Morel Campos / Perry Como / James Connolly / Jean Dubuffet / John Dryden / Monika Ertl / Paul Panda Farnana / HR Giger / HAP Grieshaber / Friedrich Huch / William Huggins / Joris-Karl Husymans / Charlotte von Kalb / Astrid Kirchherr / Anna Langfus / Lau Lauritzen jr. / Hermann Lenz / Li Qingzhao / Amy Lowell / Natascha Lytess / Fritz Mackensen / Alicia Moreau de Justo / Sam Nzima / Frances „Fanny“ Sargent Osgood / Pancratius Pfeiffer / Michel Piccoli / Robert Rauschenberg / Keith Relf / Nelly Sachs / August Wilhelm Schlegel / Bedřich Smetana / Erich von Stroheim / Christian Friedrich Tieck / Magda Trott / Alexei Andrejewitsch Tupolew / Johann Peter Uz / Adolfo Wildt / Charles Adolpge Wurtz / Xicoténcatl d. J. / Eugène Ysaÿe / Monica Zetterlund

 

An diesem Tage fühlten wir uns ruiniert:

1881 wird Tunesien französisches Protektorat / Mönchengladbach, 1940: britische Flugzeuge bombardieren die Stadt, Beginn des Luftkrieges im Zweiten Weltkrieg in Deutschland / Changjiao, 1943 verüben japanische Besatzer massakrieren vier Tage lang chinesische Zivilisten, 30.000 Todesopfer / 1957 kommt es zu einem Unfall beim italienischen Autorennen Mille Miglia, 12 Tote / 2008: bei einem Erdbeben in Sichuan sterben fast 70.000 Menschen / Tripoli, 2010: bei einem Druchstartmanöver eines Airbus A-300 kommen 103 Insassen ums Leben.

 

 

13. MAI

 

Animation

mit

Otl Aicher / Miguel Ángel Blanco Garrido / Georges Braque / Charles Bruce Chatwin / Alphonse Daudet / Daphne du Maurier / Gil Evans / Franz Michael Felder / Emil Gött / Ewgen Gwaladse / Adolf Hölzel / Danny Kirwan / Laza K. Lazarević / Shlomo Lewin / Joe Louis / Carlo Maratta / Maria Theresia / Kate Marsden / Siegfried Adolf Meißner / Carlo Mense / Édouard Molinaro / Witold Pilecki / Caroline Pratt / Larissa Michailowna Reissner / Gregor von Rezzori / Walter Richter / Ronald Ross / Reinhold Karl Werner Schneider / Chuck Schuldiner / Arthur Seymour Sullivan / Karl August Tavaststjerna / Melanie Janene Thornton / Ritchie Valens / Helmut Weiß / Mary Esther Wells / Roger Joseph Zelazny

 

So fühlten wir uns animiert:

Berlin, 1710: Baubeginn für die Charité / 1779: Ende des Bayerischen Erbfolgekrieges zwischen Österreich und Preußen / Riobamba, 1830: Ecuador erklärt seine Unabhängigkeit von Großkolumbien / 1888 schafft Brasilien als letzter Staat in Südamerika die Sklaverei ab / Mailand, 1909: Start des ersten Giro d’Italia / Tunis, 1943: Kapitulation der deutschen Heeresgruppe Afrika.

 

Ich notierte:

1980: Am Abend gehe ich zur Verkehrsteilnehmerschulung, ja, so was muss ein Autofahrer hierzulande machen, muss sich die Teilnahme abstempeln und die Stempelkarte bei Verkehrskontrollen vorzeigen können…

1981: Gestern Abend mal wieder Session im Jugendklubhaus Leuna, ich hatte diverse Themen komponiert, notiert – lief alles gut. Da redeten plötzlich wieder Leute mit mir, die mir seit Zakk-Set-Zeiten den Rücken zugekehrt hatten. Das war wohl so etwas wie eine musikalische Rehabilitation. Ich begreife, dass man sich mit einer Band beachtlich über sein eigenes Vermögen hinaus erheben kann (wie derzeit Almas „Passion“), dass man als Schreiber jedoch immer und immer nur sich selbst zur Verfügung hat. Da gibt es kein einfaches Mitspielen oder „Dranhängen“. Heute Nachmittag rufe ich Edith Bergner an und höre, dass mein Kinderbuch im Verlag nur als erste Niederschrift gewertet wurde. Na denn Prost! Am Abend die Nachricht vom Attentat auf den Papst, Bilder der panisch schreienden Menschen auf dem Petersplatz. Sinnlose Gewalt, schlimm, einfach schlimm! Dagegen muss prinzipiell angegangen werden, engagiert – so was muss meine Haltungen beeinflussen, konsequent! Ich darf nicht dilettieren und mich in Hektik vor mir und der Welt verstecken – Konzentration!

1986: Mal wieder in Wurzbach. Aber am Bungalow wird ewig gewerkelt, ’ne ganze Bauarbeiter-Brigade nervt. Und die Urlauber aus dem jüngst eröffneten FDGB-Heim überfluten die Gegend. Mit der Idylle (eine der letzten, die wir kannten) scheint’s vorbei.

2016: Malcesine. Als Spion wurde Goethe hier verhaftet, 1786, da er das Castello skizzierte. Rötelstift. Ich stibbe im Burghof an die breite Hutkrempe seiner Bronzebüste. Ja, in wessen Lebenslauf wären nicht derlei Missverständnisse verzeichnet.

 

Aus

für

Joseph Isidor Achron / Scholem Alejchem / Chet Baker / Monica Bleibtreu / Erika Gräfin von Brockdorff / Mykola Chwylowyj / Gary Cooper / Jimmy Copley / George Cuvier / Doris Day / Donald Dunn / Gisela Irmgard Elsner / Wilhelm Guddorf / Joseph Henry / Rolf Hochhuth / Wassili Iwanowitsch Ignatenko / Walter Küchenmeister / Helene Lange / Sibylle Lewitscharoff / Li Yangjie / Apolinario Mabini y Maranan / Cyrus McCormick / Hubert von Meyerinck / Fridtjof Nansen / Sallust / Hermann Scherer / Christian Georg Schütz d. J. / Daniel Carlsson Solander / Paul Zsolnay

 

Da meinten wir, es wäre alles aus:

Santa Pola bei Cartagena, 460: Vandalen vernichten die römische Flotte / Mont Aimé, 1239: 183, der Häresie angeklagte Katharer werden auf dem Scheiterhaufen verbrannt / Santiago de Chile, 1647: Erdbeben, 12.000 Menschen sterben / Portsmouth, 1787: die Frist Fleet mit Sträflingen an Bord bricht nach Australien auf, um dort eine Sträflingskolonie zu gründen / 1846 erklären die USA Mexiko den Krieg / 1940 beginnt die deutsche Wehrmacht mit der Invasion Frankreichs / 1969 brechen in Malaysia Unruhen zwischen Malaien und Chinesen aus, bei denen 196 Menschen sterben / Osaka, 1972: Brand in einem Nachtklub, 119 Tote / 1996 kommen durch einen Tornado in Bangladesh mehr als 600 Menschen ums Leben / 1997: schwere Unwetter in Yunnan und Guangdong, 290 Todesopfer / Enschede, 2000: Explosion der Feuerwerksfabrik, 27 Menschen kommen ums Leben /  Andijon, Usbekistan, 2005: die Armee feuert auf friedliche Demonstranten, bis zu 700 Tote.

 

 

14. MAI

 

Imagination

mit

Sidney Bechet / Jack Bruce / Roque Dalton / Bobby Darin / Claude Dornier / Virgílio dos Anjos / Kurt Eisner / Herbert W. Franke / Thomas Gainsborough / Magnus Hirschfeld / Victor Hofmann / Marcel Junod / Karl IV. / Eduard von Keyserling / Otto Klemperer / Nikolai Wassiljewitsch Krylenko / Daniel Mark Lewin / Sigi Maron / Afanassi Nikolajewitsch Matjuschenko / Emilie Mayer / Rupert Neudeck / Robert Owen / Polaire / Juliane Reichardt / Marcel Renault / Hans Rothe / Friedrich Schmidl / Coco Schumann / Mrinal Sen / Leo Smit / Albrecht Daniel Thaer / Leo Zeff

 

Da meinten wir, Wunderbares zu sehen:

London, 1692 erscheint der erste Wetterbericht weltweit in einer Wochenzeitschrift / 1811 wird Paraguay unabhängig von Spanien / 1948: Israel erklärt seine Unabhängigkeit / England, 1796: erste Impfung gegen Pocken weltweit / 1909 werden in Deutschland Banknoten gleichberechtigt neben Münzen gesetzliches Zahlungsmittel.

 

Ich notierte:

1974: Irgendwie müssen heute im Werk besonders häufig Fässer gerollt werden, bei Feierabend fühle ich mich reichlich zerschlagen, schleppe mich zum Werkstor hinaus. Jeanny hält mich für gnatzig, aber ich bin doch nur kaputt! In letzter Zeit kam ja weißgott einiges geballt auf mich zu: Wohnung-Hochzeit-Proben-Einstufung-Arbeit-Unterricht… Es lebe die sinnvolle Freizeitbeschäftigung! Könnte ich selbst wählen, fiele mein Wahl auf… Keine Ahnung.

1981: Gegen Mittag komme ich mit Cathi aus der Schwimmhalle. Sie hat Ferien und mich am Morgen überredet, mit ihr baden zu gehen. Auf dem Rückweg nun erzählt sie mir fortwährend was von einem Stein, der im Gebüsch stehe. Ich verstehe kein Wort. Und dann zieht sie mich in ein Gebüsch gleich neben der Straße unweit des Hauses, in dem wir seit sieben Jahren wohnen – und beschämt mich! Ja, hier steht ein Stein, ein Gedenkstein für im Ersten Weltkrieg Gefallene aus unserem Ort, versteckt klar, passt ja nicht so recht in diese Zeit. Aber wie konnte ich das sieben Jahr lang übersehen? Kaum zu glauben, nicht zu erklären.

2005: Gegen 22.30 Uhr Landung in Kapstadt. Keinerlei Jetleg, da keine Zeitverschiebung. Ortszeit entspricht Mitteleuropäischer Sommerzeit. Aber etwas geschlaucht, immerhin fast zwölf Stunden Flug und mit Anreise zum Flughafen Düsseldorf fast zwanzig Stunden unterwegs. Und man spürt sofort, dass man vom Frühling in den Spätherbst kommt. 10°C – alle Autoscheiben von der hohen (Meeres)Luftfeuchtigkeit schwer beschlagen, dann sogar Nebel. Wir werden von Chris, dem Chef unserer Partnerorganisation, abgeholt. Mietwagen übernehmen (ein VW-Bus – was denn für uns alle? Zehn Leute plus Fahrer plus Gepäck da hinein? Geht denn das? Ja, das geht.) Und schon geht’s ab ins Swartland, nach Malmesbury, gut 60 Kilometer nördlich Kapstadts, wo wir in einem Gästehaus untergebracht sind. Erstaunliche Einrichtung: Doppelbett mit der typisch englisch gemeinsamen Zudecke. Prima, wenn man da mit seiner Partnerin zu nächtigen hätte, aber so… Und ich traue meinen Augen nicht: Mitten im Zimmer ragt die nackte Porzellanschüssel des Klos auf. Schauthronen oder was? Zappa hätte seine helle Freude gehabt. Na denn, (erstmal) Gute Nacht.

1999: Wir fahren mit einem Zubringerbus quer durch Mauritius bis Mahébourg zum Hotel „La Croix du Sud“ zu einem Katamaran. Im Gebirge bei Curepipe geraten wir in schweren regen, und als wir die Ostküste erreichen, weht hier eine ziemlich „steife Brise“. Die Frauen werden etwas blass, aber das Katamaransegeln erweist sich als unproblematisch. Durch türkisfarbene Wasser spuren wir an der imposanten, bizarren Ostküste entlang, bekommen reichlich zu trinken, Saft mit Rum, Cola mit Rum, Bier, Wein - was immer dein Herz begehrt, Blauer Mauritius...! In der Mündung des Grande Rivière Sud-Est steigen wir vom Katamaran in ein Motorboot um, fahren den Fluss bis zu einem Wasserfall hinauf, imposant. Als wir zurückkommen hat die Besatzung Marlin gegrillt, wir bekommen einmal mehr so viel wir wollen, dazu köstlicher bootgemachter Kartoffelsalat und eine vorzügliche Fischpastete, sahnig und fein mit Limetten abgestimmt. Schließlich legen wir an der Ile aux Cerfs an, die Badeinsel der Insel. Weite weiße Strände, aber ziemlich überlaufen. Jeanny und ich versuchen zur nahen Ile de l’Est hinüberzuschwimmen, aber die Strömung ist hier so stark, dass Jeanny auf halbem Wege umkehrt. Ich schaffe es, sitze schließlich schweratmend zwischen Mangroven. Dann schnorcheln wir durch seichte Wasser, beobachten einen höchst merkwürdigen Fisch, einen Fisch mit 4 Gliedmaßen?, und ich entdecke sogar einen prächtigen Kofferfisch. Gegen 14. 00 Uhr segeln wir zurück, geraten auf hoher See in einen tropischen Regen, sehen überm Meer unglaublich farbenprächtige Regenbögen stehen, dieses Violett über dem Türkis des Meeres, phantastisch! Und natürlich reicht man uns wieder reichlich zu trinken. Gegen 16.00 Uhr legen wir am Hafen an, schade. Ich tausche in Mahébourg auf der Bank meine Reiseschecks ein - hochbürokratischer Vorgang mit Ausfüllen und Abstempeln zahlreicher Papierchen, aber der Wechselkurs ist hier bedeutend günstiger als im Hotel. Gegen 18.00 Uhr sind wir wieder „daheim“, und uns alle befällt eine bleierne Müdigkeit, kaum, dass wir noch das Abendbrot schaffen. Mir schwankt alles - Seekrankheit im Nachhinein oder was? Na denn, gute Nacht!

2008: Sarajevo. Zu guter Letzt Stecci, Grabsteine aus bogumilischer Zeit, Inschriften in Bosancica, alter bosnischer Schrift. Und obwohl ich’s nicht lesen kann, weiß ich nun, was da steht.

2010: Avignon. Papstmief verweht in der Stadt der starken Winde, Palastprotz pur nunmehr – und ein Hauch von Petrarca…

2021: Trotz des nach wie vor unangenehm kühlen Wetters kehrten mittlerweile auch seltene Zugvögel zurück, beobachteten wir im Garten schon Mauersegler und Bienenfresser. Und auf meiner heutigen Radtour hörte ich im Kreypauer Wäldchen einen Kuckuck rufen.

 

Implosion

für

Ernst Fredrik Werner Alexanderson / Maurice Bavaud /Hippolyte Bayerd / Heinz Beberniß / Sidney Bechet / Ludwig Bechstein / Silpa Bhirasri / Charles Edgar „Eddy“ du Perron / Viktor Dyk / Günter Gaus / Jean Gebser / John Giblin / Emma Goldman / Paul Gonsalves / Rita Hayworth / Georg Hecht / Heinrich IV. / Fanny Hensel / Magnus Hirschfeld / Johannes XII. / B. B. King / Matthew Gregory Lewis / Ludwig Meidner / Richard Oehring / Fritz Perls / Jean Rhys / Raoul Hermann Michael Richter / Cristoforo Roncalli / Bessie Schönberg / Frank Sinatra / Georg Ernst Stahl / William Stanley Jr. / August Strindberg / Menno ter Braak / Johann Heinrich Ursinus / Tom Wolfe

 

An diesem Tage fühlten wir alles in sich zusammenfallen:

Djerba, 1560: Ende der fünftägigen Seeschlacht zwischen einer osmanischen und einer christlichen Flotte, mehr als 20.000 Tote / Kramfors, 1931: schwedisches Militär schießt auf streikende Arbeiter, 5 Demonstranten sterben / Rotterdam, 1940: deutsche Flieger bombardieren die Stadt, 800 Einwohner kommen ums Leben / 1943 versenkt ein japanisches U-Boot das australische Lazarettschiff „Centaur“ vor der Küste von Queensland, 268 Tote / 1955 erste unterseeische Atomwaffentest der USA im Pazifik.

 

 

15. MAI

 

Meisterleistung

mit

al-’Abbās ibn ’Ali / Kârale Andreassen / Arletty / Richard Avedon / Eddy Arnold Lyman Frank Baum / Michail Afanassjewitsch Bulgakow / Jean Cavaillès / Gottlieb Siegmund Corvinus / Joseph Cotton / Pierre Curie / Mireille Darc / Hendrick de Kayser / Raymond Federman / Max Frisch / Nicolae Grigorescu / Nikolaus Hollweg / Joachim Knappe / John Lanchbery / Jella Lepman / Sonja Lerch / Trini Lopez / James Mason / Ralph Eugene Meatyard / Claudio Monteverdi / Sardar Tenzing Norgay / Grace Ogot / Anny Ondra / Maria Theresia Paradis / Katherine Anne Porter / Reinhard Raffalt / Alfred Rethel / Richard Schirrmann / Arthur Schnitzler / Dieter Schubert / Peter Shaffer / Williamina Paton Stevens Fleming / Max Taut / Gary Thain /  David Vogel / Carl Wernicke / Assia Esther Wevill

 

Das hielten wir für eine besondere Leistung:

1940 werden in den USA erstmals Nylonstrümpfe verkauft / 1955 verpflichtet sich Österreich zur Neutralität /

 

Ich notierte:

1974: Wieder ein verdammt anstrengender Arbeitstag. Und am Abend wird wieder gepinselt, wir kommen der Bewohnbarkeit unseres Heims näher. Dennoch geht mir alles nicht schnell genug. Würde ich jetzt aufschreiben, was noch alles fehlt, was alles noch erledigt werden muss, müsste ich ein halbes Buch vollschreiben. Heute beispielsweise erscheint der Klempner einfach nicht. Ach, Mann.

1981: Dieses vordergründige Denken an Geld muss ein Ende haben, das ist wie ein Strudel, der alle Poesie zu ersäufen droht. Ich betreibe Geschäfte, die eigentlich nichts mit mir zu tun haben, mich bestenfalls tangieren, doch nichts mit meinem Vordringenwollen in die Welt übereinkommen. Auch wenn ich weiß, dass meine Texte, die einzige Möglichkeit, die einzige Quelle einer Befriedigung sein können, lebt es sich schwer danach. In einer oberflächlichen Umgebung, liegen seichte, liegen abtötende Befriedigungen allzu griffbereit. Ja, der Geist ist willig, doch… Vorankommen kann ich wohl nur durch stete Verfeinerung der Sinne, auf das ein Leben in der Poesie, in der Literatur mir zum alleinigen Bedürfnis wird. Fragt sich nur, wie weit ein Einzelner kommen kann, denn jede Verfeinerung vereinsamt wohl auch.

1989: Pfingstmontag. Die letzten Tage proppevoll: Lesungen, Büroarbeit, Vobereitung der Jury des Zentralen Schüler-Schreibwettbewerbs, Tage der Kinder- und Jugendliteratur, Korrekturen am Leuna-Buch, die Lichtmeßpassagen wie be- und versprochen, um endlich den versprochenen Verlagsvertrag zu erhalten.

2005: Pfingstsonntag. Erstaunlich gut geschlafen. Aber kalt ist es in Südafrika, saukalt. Da hier natürlich nicht geheizt wird und der Safari-Lodge ähnliche Frühstücksraum sogar sperrangelweit offen steht – und das bei morgennebligen Wintertemperaturen. Auf jeden Fall läuten jedoch schon mal wie daheeme die Glocken (gleicher Klang wie in Leuna!). Und das Frühstück hier sieht auch recht ordentlich aus. Und dann lugt sogar die Sonne hervor. Erster kleiner Erkundungsgang rund ums Quartier beim Warten auf Chris: gleich gegenüber das weitläufige, gepflegte Gelände der Swartland Highschool, weiß-schwarze Kapraben kreisen, Strelizien stehen in voller Pracht, Bougainvillas und sogar ein Drachenbaum mit großen violetten Blüten. Wir fahren nach Kapstadt (zwei Autos heute). Beim ersten Fernblick auf die Stadt wird aber klar, dass der Tafelberg heute kein Ziel sein kann – er hat sein „Tischtuch aufgelegt“, ist schwer Wolken verhangen. So fahren wir nach kurzem Zwischenstopp im malaiischen Viertel mit seinen kunterbunten Häusern zur Waterfront, sehenswertes, hochmodernes Geschäfts- und Kulturzentrum am Hafen. Und mit der Fähre setzen wir schließlich über nach Robben Island. Keine Frage, dass wir die berüchtigte Gefängnisinsel, die durch den Häftling Nelson Mandela zu traurigem Weltruhm kam, sehen wollen. Fantastisch, wie bei der Überfahrt durch den recht stürmischen Atlantik die gesamte Silhouette Kapstadt vor der Tafelbergkulisse sichtbar wird. Verständlich, dass Reiseführer von einer der schönsten Städte der Welt sprechen. (Obwohl sie mir aus der Nähe etwas provinziell vorkam.)

Robben Island ist (bis auf die eigentlichen Zellentrakte) nur per Bus zu erkunden, und der Guide tut sein Möglichstes, um durch langatmige, Effekt heischende Erklärungen einem das Erlebnis Robben Island zu vermiesen. Am besten einfach weghören, da stellt sich Mandelas autobiografischer Geist ein und ich kann mir vorstellen, wie das alles hier war. Back to the waterfront: jeder für sich - ein bisschen Kunst shoppen, dann ein frisch gezapftes hiesiges Ale und dazu Springbock-Medaillons – wenn das nichts ist… Gegen 19.00 Uhr als wir wie verabredet nach Malmesbury zurückfahren ist es schon stockfinster. (Wie hatte man sich schon an die langen lauen Abende daheim gewöhnt…) Chris fährt uns bis zur Talstation der Tafelbergseilbahn hinauf und beschert uns damit einen wunderbaren Blick über das Lichtermeer Kapstadt.

Im Gästehaus Abendbesprechung, einstimmen auf das Programm der nächsten Tage. Und das hat es in sich, ist prallvoll, wie wir nun zum ersten Mal definitiv erfahren. Aber mit einem Gläschen Swartland Shiraz klingt das alles recht interessant.

2010: Saintes-Maries de la Mer. Kein Zweifel:  in der Krypta der camargueschen Wallfahrtkirche zwinkert mir die Heilige Sara, Patronin der Rastlosen, der Fahrenden, bei Gitarrenklang zu. Kann ich also noch `n Weilchen zigeunern, oder?

2012: Nürnberg. Kaum auf Stadtgebiet präjudiziert mir Platzregen, Hagel, Donner Unheilschwangeres. Ja, mir kommt sogar ein längst vergessener Hit in den Sinn: „blitzkrieg over nuremberg.“ Schöne Stadt, keine Frage, Burg, Dürer, Markt… Da es jedoch auf dem Reichsparteitagsgelände weiter grauslich schlost, fällt es mir schwer, mein Urteil zu kassieren.

2016: Limone sul Garda. Pinocchio-Schausteller auf den Plätzen. Hey, da werden die Selfie-Stangen gezückt, aller Nasen lang. Daneben ein Veteran, der versucht ein Telefonino an seinen Krückstück zu pflastern. Und ich erinnere mich, damals, als die Handys aufkamen, faustkeilgroß, Leute gesehen zu haben, die sich Briketts an die Ohren hielten.

2018: Selten, doch immer noch, entdecke ich Neues, dem ich mich öffne, dem ich mich verbunden fühle sogleich, das mich füllt, erhebt, dass mich sehen, das mich denken lässt, Gildenlöw, Chiang, Salgado. Teilen jedoch, vermag ich dieses Hoffen längst nicht mehr, weiß zu sehr um das Grinsen ringsum, kuhäugig, sobald ich nur leise ins Schwärmen verfiel.

2022: Heute hätte eigentlich die „Kalte Sophie“ wirken müssen, von Eisheiligen ist jedoch weit und breit nichts zu spüren. Hochsommer seit Tagen.

2023: Am Vormittag Besuch der Lokalchefin der hiesigen Zeitung. Ich hatte versucht anzuregen, dass dort nach einem Wettbewerbsaufruf wöchentlich oder zumindest monatlich ein „Zauberspruch der Woche“ veröffentlich wird. Aber leider sieht sie Hürden selbst bei der von mir in Aussicht gestellten Prämierung der jeweiligen Gewinner mit je einem meiner Bücher. Immerhin verständigen wir uns darauf, dass fortan in jeder ersten Woche des Monats eine „Babelei“ erscheint.

 

Markierung

für

Rainer Basedow / Albert Bassermann / Javier Valdez Cardenás / Jackie Curtis / Hendrick de Kayser / Emily Elizabeth Dickinson / Franz von Dingelstedt / Wiglaf Droste / Ralph Erwin / Eberhard Esche / Klaus Feldmann / Paul Flora / Carlos Fuentes / Walter Otto Grimm / Willy Hagara / Harro Harring / Javier Heraud / Edward Hopper / Norbert Jacques / Sorodschon Michailowna Jussufowa / Georg Christian Lehms / Arno Lustiger / Len Lye / Maria Mies / Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch / Phil May / Geo Milew / Daniel O’Connell / Adria Francis Rollini / Said / Gottfried Semper / Austin Osman Spare / Rahel Staus / Bernward Vesper / Saadallah Wannous / Carl Friedrich Zelter

 

Da sahen wir einschneidende Markierungen:

1525: vollständige Niederlage der aufständischen Bauern in der Schlacht bei Frankenhausen, mindestens 6.000 Tote / Lüda, 1904: der japanische Kreuzer „Yoshino“ sinkt nach einer Kollision mit dem japanischen Panzerkreuzer „Kasuga“, 319 Seeleute kommen ums Leben / 1948: Beginn des Arabisch.Israelischen Krieges / Kiribati-Atoll, 1957: Großbritannien zündet erstmals eine Wasserstoffbombe / Leipzig, 1960: Zugunglück, 54 Tote / Ma’alot, 1974, palästinensische Terroristen überfallen eine israelische Schule und nehmen Geiseln, 21 Schüler sterben bei der Befreiungsaktion.

 

 

16. MAI

 

Orgelwerk

mit

Helena Este Adler / Ottomar Anschütz / Karl Heinz Beckurts / Nathan Birnbaum / Bobbejaan / Hana „Hanička” Brady / Alexander Burnes / Juan Morel Campos / Martine Carol / Betty Carter / Ludwig Eckart / Henry Fonda / Friedrich Gulda / Tamme Hanken / Hannes Hegen / Woody Herman / Walter Hollitscher / Dawda Jawara / Liberace / Johann von Mikulicz / Mario Monicelli / Hans Joachim Nauschütz / Dinah Nelken / Nancy Roman / Friedrich Rückert / Juan Rulfo / Bruno Schönlank / Andreas Silbermann / Otmar Suitner / Richard Tauber / Studs Terkel / Gisela Uhlen / Arturo Uslar Petri / Jakob van Hoddis

 

An diesem Tage hörten wir’s jubilieren:

Lichterfelde, 1881: die erste elektrische Straßenbahn der Welt nimmt den Betrieb auf / Washington D.C., 1887: Emil Berliner präsentiert erstmals das von ihm erfundene Grammophon und damit abzuspielende Schallplatten / Hollywood, 1929: erste Verleihung von Academy Awards, „Oscars“ / 1960: Fertigstellung des ersten Lasers / 1975 tritt das Königreich Sikkim Indien bei / Sri Lanka, 2009: Ende des Bürgerkrieges.

 

Ich notierte:

1974: Nach der Arbeit kaufe ich Gardinenstangen, nicht so einfach, diese überlangen Dinger mit dem Fahrrad zu transportieren.

1980: Wie verabredet erscheint zur Mugge in Wittenberg ein Kollege, der meinen Marshall-Verstärker kaufen will. Jahrelang hatte der mir treu gedient, aber nun brauche ich den nicht mehr, der ist viel zu stark, zu laut. Und der Kunde kauft wirklich, hat auch die Knete dabei (6.300 Märker)  – Mann, nun bin ich wieder flüssig!

1999: Grande Gaube. Gegen Mittag zieht vom Südosten, aus der Passatwindrichtung, eine Regenfront heran, und es beginnt tatsächlich zu regnen, herrlich warmer, tropischer Regen, mal fein, sprühend, mal tröpfelnd - eine angenehme Süßwasserdusche unter der wir kurz entschlossen ins Dorf spazieren. Männer sitzen unter den breit ausladenden Mango- und indischen Mandelbäumen, trinken Bier, grüßen lässig-freundlich herüber. Im Regen scheinen die Blüten neue Farben anzunehmen: Was für ein leuchtendes Rot, Weiß, Orange, Lila der Bougainvilleas! An der örtlichen Polizeistation wuchert eine Passionsfruchthecke, große weiß-violette Blüten. Woanders ein sattes Gelb, dort ein zartes Rosa... Und dazu feuchtes Grün in allen erdenklichen (und nie gesehenen) Schattierungen.

Nachmittag auf dem Hotel-Balkon. Und dann klopft es, und der Zimmerboy bringt die schriftliche Einladung zum Hochzeitsdinner für den heutigen Abend und dazu eine frische Anthurie (die als Erkennungszeichen bitteschön zum Dinner mitzubringen ist!). Na bitte, klappt nun offenbar auch das. Und wie es klappt: Für uns beide Silberpaare ist der Tisch mit rotem Tuch gedeckt, für jeden liegt eine persönliche Speisekarte bereit. Mr. Jurgen Jankofsky speist (wie auch Mrs. Jeanette): Blue Marlin gedünstet mit Millionärssalat (Palmenherzen), eine Basilikumsuppe, Champagnersorbet, einen Riesencrevetten-Spieß, Passionsfruchtmoussee, Kaffe mit frischen Pralinen - und wie zur Entschuldigung für den neulich verpatzten Abend steht am Ende das halbe Kellnerteam neben unserem Tisch, das Licht geht aus, Torten mit aufgesteckten, sprühenden Wunderkerzen werden kredenzt, die Kellner applaudieren uns... So muss es sein. Zudem lässt es sich Olaf nicht nehmen, eine Flasche vom teuersten vorrätigen Champagner auszugeben, Preis: 1960 Rupien. Drei Stunden dinieren wir heute Abend. Dann geht’s auf die Pool-Terrasse, zum Konzert einer Creole Jazz Band, die sogar Titel auf Zuruf spielen. Ich wünsche mir den „Tiger-Rag“. Logisch...

2000: Am Nachmittag Projektverhandlungen mit dem Spergauer Bürgermeister. Als ich dann gegen 16.00 Uhr aufs Thermometer in unserem Hausgarten (das da allerdings in der prallen Sonne steht) blicke, glaube ich meinen Augen nicht trauen zu dürfen: 48°C! Laut Wetterbericht soll diese unglaubliche Hochsommerphase morgen aber zu Ende gehen.

2005: Malmesbury. Und wir werden nun schon in der Highschool erwartet In der Aula werden wir auf der Bühne platziert, erleben eine Art Morgenappell: Nationalhymne, Gedicht, Ansprache, bericht von den Sportwettkämpfen des Wochenendes, Auszeichnung, Schulhymne. Auf, nieder, auf, nieder – wie in der Kirche. Ebenso die gläubige Aufmerksamkeit der Schüler (alle zwar in blauer Schuluniform jedoch streng Geschlechtern getrennt). Und mit Erstaunen entdecke ich, dass etliche an ihren Uniformen sogar so etwas wie Rangabzeichen tragen. Hier an dieser ursprünglich und offenbar immer noch vor allem „weißen Schule“ hallen offensichtlich diverse alte Strukturen nach… Weiter zur nächsten Bildungseinrichtung, nun eine Sekundarschule und überwiegend für Farbige und Schwarze. Schuluniform: rot-braun. Die Gebäude wesentlich schlichter, Aula im Dauerbauzustand. Aber was für ein begeisterndes Programm bekommen wir hier geboten! Stimmgewaltige Sängerinnen, agile Tänzer, eine fast professionelle Theatergruppe. Und schon die nächste Überraschung: Hi-Tech-Unterricht. Keine Tafel mehr: der Lehrer schreibt und erklärt mittels eines großen Touchscreen-Bildschirms, eine Computerassistentin spielt auf Zeichen Lernroutinen ein. In der folgenden Lerneinheit üben die Schüler dann im Nebenraum das Gelernte an Computerstationen. Große Aufmerksamkeit und Disziplin, ja Ehrfurcht der Lernenden. Hier wollen Schüler etwas, hier scheint jungen Menschen bewusst zu sein, was es für ihr Leben bedeutet, Bildung zu erwerben. Keine Frustiertheit und Sattheit wie an unseren Schulen so häufig zu erleben, sondern Bildungshunger. Übersättigte Gesellschaft passt auf – hier wächst Zukunft heran!

Im Rathaus dürfen/sollen wir an einer Sitzung des Jugendparlaments teilnehmen. Jede der hiesigen Schulen (sechs insgesamt) dürfen je zwei Vertreter ins Jugendparlament entsenden. Die wählen einen Junior Bürgermeister, und der amtiert hier nun richtig mit Amtskette und so (ist natürlich sichtlich nervös). Doch auch der „richtige“ Bürgermeister und einige seiner Mitarbeiter nehmen an dieser besonderen Ratssitzung teil. Und dieses Jugendparlament fasst sogar Beschlüsse für die Jugendarbeit der Stadt! Neuerliches Beispiel dafür, dass hier (in einer sich nach dem Ende der Apartheid offenkundig rasant wandelnden Gesellschaft) Jugend, will sagen Zukunft ernst genommen wird. Schließlich fahren zwei Streifenwagen vor und bringen uns zum Abendessen in den Pub (und selbstredend auch wieder heil retour).

2022: Durch mit „Figuricon“.

 

Off

für

William Adams / James Agee / Artur Becker / Madan Kumar Bhandari / Dobroslav Chrobák / Sammy Davis Jr. / Ronnie James Dio / Kurt Felix / Joseph Fourier / James Maury „Jim“ Henson / Frederick Gowland Hopkins / Ieoh Ming Pei / Prince Ital Joe / Hank Jones / Modibo Keïta / Arne Leonhardt / John Henry Mackay / Bronisław Kasper Malinowski / Ōta Nampo / Oleg Wladimirowitsch Penkowski / Charles Perrault / Dean Spalding Potter / Teobaldo Power y Lugo-Viña / Jean „Django” Reinhardt / Marika Rökk / Irwin Shaw / Andrzej Szcypiorski

 

Da wähnten wir uns im Off:

Golf von Aden, 1932: auf dem französischen Luxusdampfer „Georges Philippar“ bricht ein Brand aus, 54 Passagiere sterben / 1943: Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Getto, bei dem 12.000 Menschen ums Leben kamen, danach weitere 30.000 Aufständische erschossen und 7.000 in Vernichtungslager deportiert wurden / Casablanca, 2003: Selbstmordanschläge auf jüdische Einrichtungen, mehr als 40 Tote.

 

 

17. MAI

 

Empfang

mit

Henri Barbusse / Philippe Boesmans / Pierre Clastres / Solomon Dodaschwili / Werner Egk / Nataly von Eschstruth / Marc Fosset / Jean Gabin / Hans Grade / Lars Gustafsson / Johannes Hiob / Matthias BAADER Holst / Dennis Hopper / Edward Jenner / Jien / Sebastian Kneipp / Renate Krößner / Ján Kuciak / Joseph Norman Lockyer / Julian Balthasar Marchlewski / Abbas Maroufi / Maxime Maufra / Aquiles Nazoa / Birgit Nilsson / Maureen O’Sullivan / Bjarni Pálsson / Dewey Redman / Dororthy Richardson / Erik Satie / Magda Schneider / Dietmar Schönherr / Tony Schumacher / Fadwa Soliman / Galina Wassiljewna Starowoitowa / Felix Stiemer / Ambrosius Stub / Peter Trunk / Jacint Verdaguer / Karl Vesper / Ursula Werner-Böhnke / Georg Wulf / Carl Friedrich Zöllner

 

Daran nahmen wir gern teil:

Philippopolis (Plowdiw), 1620: erstmals wird ein Kinderkarussell betrieben / 1642: Gründung von Montreal / 1861: Organisation der ersten Pauschalreise für Arbeiter durch Thomas Cook / 1861: Präsentation des ersten Farbfotos durch James Clerk Maxwell / 1954 verbietet der Oberste Gerichtshof der USA die Rassentrennung an Schulen.

 

Ich notierte:

1974: Auf dem Weg zur Arbeit (mal wieder mit Moped) kommt mir der Gedanke, dass wir heute in einer Woche schon verpoltert sein werden. Ja, dann liegen ¾ unseres Familienweges hinter uns – Verlobung, Hummels Geburtstag und eben der Polterabend – und das letzte Viertel, die Hochzeit, folgt dann als nächsten Sonnabend. Hoffentlich wird’s ein Ganzes. Nach der Arbeit Einkaufen für die Wohnung, rasch sind Jeanny und ich mit diversen Utensilien bepackt: Lampen, Tauchsieder und dergleichen. Auf der Rückfahrt schauen wir bei Seni vorbei. Er Post von Hedler, vom Rat des Kreises: „… sehen wir keinen Grund, Ihr Spielverbot aufzuheben… wiederholt gegen Anordnungen verstoßen… Empfehle im Dezember in der Anteilung Kultur vorzusprechen… dann vielleicht vorläufige Spielerlaubnis für 1975…“ Obwohl ich dieses Resultat erwartet hatte, haut mich die Unverschämtheit dieser Ignoranz aus dem Sessel. Kein Terminvorschlag für eine Aussprache, eine Klärung, nichts, einfach nichts. Wir versuchen uns mögliche nächste Schritte auszudenken, aber so recht will uns nichts einfallen, wir sind schockiert, sind wie paralysiert.

1989: Auf nach Berlin, Übernahme des Juryvorsitzes des Zentralen Schülerschreibwettbewerbs von Siegfried Schumacher. Herrlicher Sonnenschein, doch wieder drei Tage Tagungen…

1999: Wir fahren nach Triolet, zu den dortigen Hindu-Tempeln. Eine große Anlage mit mehreren, jeweils anderen Gottheiten geweihten, sehr farbenfrohen Sakralbauten. Wir beobachten, wie im Shiva-Tempel Frauen Opfer darbringen, Betelblätter auf dem Altar übereinander schichten und zusammen mit Kampfer verbrennen. Betörender Rauch steigt auf, Jeanny wird es fast schwarz vor Augen. Als Olaf und ich uns dann auf ein knallrotes Hakenkreuz, ein hinduistisches Sonnenzeichen also, an einer der Tempelfassaden aufmerksam machen und das Mam, unser heutiger Fahrer bemerkt und nachfragt, merken wir, dass er noch nie gehört hat, dass in Deutschland unter diesem Zeichen vor nicht allzu langer Zeit schwerstes Unrecht geschah. Von einem Herrn Hitler hat Mam noch nie gehört. Dabei studiert er Architektur, fährt nur nebenher Taxi, um nach dem Tod seines Vaters sein Studium finanzieren und die Familie ernähren zu können. Weiter nach Trou aux Biches, an den weit geschwungenen, schönen Sandstrand der Nordwestküste, dann durch Pointe aux Canonniers nach Grand Baie, dem Hauptbadeort der Insel. Die Frauen wollen durch die Boutiquen ziehen, Olaf und ich trinken am Hafen Bier. Weiter durch Péreybère zum Cap Malheureux, dem Unglückskap, wo angeblich die St. Geran mit Virginie an Bord in Seenot geriet, wo aber verbürgterweise Jahrzehnte später (1810) die Engländer landeten und Mauritius den Franzosen abspenstig machten. An der Stelle der Landung steht eine sehenswerte weiß-rote Kapelle. Was für ein Farbkontrast zu dem schwerblauen Himmel, der türkisfarbenen See, den sattgrünen Bäumen. Zur Erfrischung an diesem schwül-heißen mauritianischen Wintertag essen wir frische Guaven, die hier ein fliegender Händler anbietet. Köstlich.

Am Abend wird im Hotel die Essen- und Tanzkultur eines weiteren mauritianischen Bevölkerungsteiles gewürdigt: chinesisches Büfett mit anschließendem Drachentanz. In der Nacht dann absolute Windstille, noch immer schwül-warme, seidige Luft, das Wasser des Meeres liegt völlig unbewegt, keine Welle, nichts, spiegelglatte Oberfläche, aus der von Zeit zu Zeit Fische springen. Und darüber spannt sich ein unglaublich sternklarer Himmel, das weite Band der Milchstraße zum Greifen nahe, Großer Wagen und Kleiner Wagen verkehrt herum, Wasserschlange und natürlich das Kreuz des Südens.

2000: Um sechs los gen Magdeburg. Eröffnung der Filmtage im Rahmen des Bücherfrühlings im Literaturhaus Magdeburg. Ich treffe seit einiger Zeit mal wieder Rolf Losansky, da u.a. auch unser Münchhausen-Film auf dem Programm steht. Anschließend verhandele ich im Hause mit Erich-Günther Sasse über das geplante gemeinsame EU-Projekt. Und schließlich weiter nach Zielitz, wo der hiesigen Theaterverein Unterstützung vom Bödecker-Kreis möchte.

2005: Darling. Besichtigung des Heimatmuseums und sogar Pieter-Dirk Uys’, des wohl bekanntesten Komiker Südafrikas, verrücktes Theater „Evita se Perron“ (schönes Wortspiel, da Uys den alten Darlinger Bahnhof kaufte und zum Spiel- und Ausstellungsort umfunktionierte). Riesige Sammlung von „Buren-Kitsch“ (Gemälde, Nippes etc.), der in der Menge fast wieder eine Ästhetik entwickelt. Ging Uys früher Apartheid-Regierenden in seinen Programmen an, scheint er nun auch Angriffsflächen in den heute Mächtigen zu finden. Immerhin heißt laut Spielplan sein aktuellstes Programm: „The ultimative Anagramm: Thabo/Botha!“ Am Abend zur Versammlung des Unternehmervereins. Bis auf zwei, drei Ausnahmen nur Weiße. Nach Begrüßung und Ansprachen steht eine Whisky-Verkostung auf dem Programm. Schau an, so lässt sich tagen. Und danach komme ich endlich mit ein paar Leutchen ungezwungen ins Gespräch und erfahre alsbald bestätigt, was ich vermutete: Ja, da ist eine Verunsicherung unter den Weißen, wie’s hier weitergeht. Nicht zuletzt angesichts der Entwicklung im nahen Zimbabwe, des schwarzen Rassismus. Ja, nicht wenige junge weiße Südafrikaner wandern aus, nach Australien, Neuseeland, Kanada vor allem. Und dennoch wollen die meisten der Alten unbedingt bleiben und nach besten Kräften zur Konsolidierung der neuen südafrikanischen Gesellschaft beitragen. Es ist auch ihre Heimat, wird immer wieder stolz betont, nicht nur die der Schwarzen und Farbigen. Interessant zu hören, dass bei der Überwindung der Apartheid-Gesellschaft auch der Fall der Berliner Mauer eine Rolle spielte: Viele weiße Südafrikaner hatten einen Horror vorm Kommunismus, verbanden damit auch ANC-Ansichten. Als dieses Weltsystem jedoch wie ein Kartenhaus zusammenbrach, sahen sie die Chance, hier eine völlig neue Gesellschaft aufzubauen.

2010: Andorra. Frisch ist’s im Bergzwergland (nach der Schwüle des Roussillon). Und auf den ersten Blick gibt’s vor allem Tankstellen, Fels und Hotels. Dann erfahre ich jedoch: nur hier noch auf der Welt gilt Gewohnheitsrecht. Und flugs bemühe ich mich, nett, verständig und großmütig zu sein.

2012: Vierzehnheiligen zu Himmelfahrt: Gern würde ich hier (und zumal heute) mehr als ein paar Stunden opfern, ja, könnte ich denn noch glauben, dass Nothelfer, Achatius, Blasius, Eustachius usw., aus Nöten (universellen zumal) hülfen, Ägidius, Barbara, Panthaleon usf. (zugegeben: die Wallfahrtskirche lag auf dem Weg).

2013: Schwarze Pumpe. Fantasieöffnender Lausitzrundumblick vom Dach des Braunkohlenkraftwerks, doch eine Öffentlichkeitstante, die uns Scheuklappen anzulegen versucht. Ach, wenn die Welt (schon) so wäre, wie sie sich (Energie)Konzerne wünschen.

2018: Mittlerweile war ich in allen Staaten Europas, nur in einem noch nicht: Kosovo. Und just aus dem Kosovo flatterte mir nun eine Einladung ins Haus, Gast eines Literaturfestivals in Pristina, der Hauptstadt dieses noch jungen Staates, zu sein. Als großzügig und modern erweist sich der Flughafen von Pristina, doch es landete heute gerade mal ein Flieger aus Luton hier und nach uns wohl nur noch zwei/drei. That’s all. (Was müssen Kosovaren denken, wenn sie derzeit in Berlin landeten?) Um ins Zentrum der Hauptstadt zu gelangen, kurvt man endlos durch Gewerbegebiete, dann durch Siedlungen mit alten und neuen Betonblöcken, völlig gesichtslos, bis man urplötzlich in verstopften, basarähnlichen Straßen ankommt. Zumindest mein Hotel steht in einer solchen. Und zur Begrüßung jodelt auch gleich der Muezzin von einem nahen Minarett herunter. Seit gestern herrscht hier Ramadan. Gulasch zum Mittag (mit Cola – Ramadan!): 2 Euro (ja, der Euro ist offizielles Zahlungsmittel im Kosovo, obwohl dieser Staat weder in der EU, geschweige denn zur Euro-Zone gehört). Doch freundlich wie die Preise scheinen auch die Menschen hier. Mit einem Händler beispielsweise komme ich sofort ins Gespräch, als er fragt, woher ich komme, und ich sage: near Leipzig und er darauf von Leipzig und Naumburg schwärmt (auf Deutsch), wo er ein Jahr lang als Asylbewerber lebte. Dann zwar abgeschoben wurde, aber immerhin. Und für ’nen Souvenirladen (wo ich ein wunderbares Kosovo-Basecape erhandele) hat’s allemal gereicht. Also gebe ich doch glatt noch ’n Trinkgeld – und bekomme postwendend ’nen Kugelschreiber geschenkt… Stadtbummel: diverse Moscheen, Boulevard mit Rugova-, Skenderbeg- und Mutter-Theresa-Denkmal. Allenthalben bettelnde Kinder, Roma offenbar, die ihrer Forderung trommeln Nachdruck verleihen. Und noch menschenleerer als der Flughafen: die riesige, neue Mutter-Theresa.Kathedrale (deren Turm das höchste Minarett dieser moslemischen Stadt überragt…)

 

Exit

für

Béla Balász / Mario Benedetti / Bobbejaan / Sandro Botticelli / Louis Brassin / René Caillié / Kelso Cochran / Marjorie Courtenay-Latimer / Dorothea Flock / Nicolás Gómez Dávila / Ota Hofman / Milena Jesenská / Carl Koldewey / Lucia Moholy / Gunnar Myrdal / Ademola Okulaja / Mary Pix / Shin Saimdang / Werner Sellhorn / Nachum Sokolow / Donna Summer / Robert Tannahill / Domenico Tintoretto / Max Valier / Vangelis / Johnny „Guitar“ Watson / Armin T. Wegner / Joshua „Josh“ Daniel White / Herman Wouk

 

An diesem Tage glaubten wir am Ende zu sein:

Merseburg, 1549 „hat mann zu abends bey dem Mond zwey Schwerdter gegen einander gericht gesehen“ / St. Louis, Missouri, 1849 fallen große Teile der Stadt sowei zahlreiche Mississippi-Dampfschiffe einem Brand zum Opfer, 3 Tote / 1992 brechen in Bangkok dreitägige Unruhen aus, bei denen mehr als 50 Demonstranten erschossen werden.

 

 

18. MAI

 

Option

mit

Grigori Borissowitsch Adamow / Big Joe Turner / Rugjer Josip Bošković / Mathew B. Brady / Richard Brooks / Dominik Brunner / Frank Capra / Rudolf Carnap / Omar Chayyām / Perry Como / Conrad Dietrich / Rudolf Drößler / Tore Eikeland / Giovanni Falcone / Margot Fonteyn / Nicolás Gómez Dávila / Walter Gropius / Gunnar Gunnarsson / Johann Peter Hasenclever / Wolfgang Heinz / Adrian Hoven / Sorodschon Michailowna Jussufowa / Gertrude Käsebier / Konstantin VII. / Ludwig Adolf Wilhelm Freiherr zu Lützow / Günther Messner / Karl Peglau / Jizchok Leib Perez / Georg Wilhelm Pertz / Joey Ramone / Fanny Gräfin zu Reventlow / Bertrand Russell / Augusto César Sandino / Ingo Schwichtenberg / Winfried Georg (W. G.) Sebald / Walter Sisulu / Ernst Wiechert / William Wilson

 

Das, meinten wir, sei eine gute Option:

Merseburg, 1015: Grundsteinlegung für den Dom / Akkon, 1291: Mamlucken erobern die letzte Kreuzfahrerbastion / Teusina, 1595: Friedensschluss im Russisch-Schwedischen Krieg / 1830 wird in England der erste Rasenmäher produziert / Frankfurt am Main, 1848: Erste Zusammenkunft des ersten demokratisch gewählten Parlaments Deutschlands, der Nationalversammlung / 1899: Beginn der ersten Haager Friedenskonferenz / Hot Springs, Virginia, 1943: Erste internationale Konferenz zu Fragen der Welternährung.

 

Ich notierte:

1974: Großeinsatz Wohnung! Schon früh fahre ich mit Jeannys und meinem Vater los. Später kommt auch Jeanny, dann sogar noch Wim. Emil zieht es mal wieder vor, sich herauszuhalten. Er sonnt sich lieber im Garten. Trotzdem kommen wir heute gut voran, der Einzugstermin rückt näher. Zur Not wäre die Wohnung schon bewohnbar, doch im Schlafzimmer fehlen noch alle Möbel, in der Küche der Ofen, das Bad wartet noch immer auf den Klempner, einige Wände auf Tapeten… Immerhin essen wir heute zum ersten Mal Abendbrot hier.

1990: Wahlhausen. Wiedereinreise, und kein Grenzer will mehr meinen neuen Pass sehen. Ich aber sehe noch jene Einschüsse des vergangenen Sommers, Sender Gleiwitz Zwo? Im Radio kratzen die Federn beider deutscher Finanzminister übers Vertragspapier: Wiedervereinigung.

2000: Gegen sieben und erstaunlicherweise ziemlich ausgeschlafen schon wieder am Computer, diverse Planungen, Briefe etc. Dann nach Merseburg ins Landratsamt, Gespräch mit Frank Bannert, dem Kulturdezernenten. Man kennt sich seit Jahrzehnten, so ist’s eine gute Mischung von Persönlichem und Dienstlichem, wichtig vor allem: ich kann ihn dafür gewinnen, dass sich der Landkreis für die Landesliteraturtage 2004, wenn der 100. Geburtstag Walter Bauers entstehen wird, bewerben könnte. Weiter ins Rathaus Leuna, Gespräch über ein Vorwort, das ich für ein Leuna-Buch schreiben soll.

2005: Saukälte in Südfarika. Es regnet noch immer. Und heute steht „Landwirtschaft“ auf dem Programm. Wir werden zu einer Milchfarm gefahren. Dann ins Riebeek-Tal, benannt nach Jan van Riebeek, der im 17. Jahrhundert die Kapprovinz für die Holländische Handelskompanie in Besitz nahm und in diesem malerischen Tal siedelte, das klassische weiße Ackerbauland sozusagen. Vor dem Städtchen Riebeek-West vorbei an der Farm Allesverloorn, von der Malan, der Premierminister, der die Apartheid einleitete, stammte. Und nur wenige Kilometer weiter dann das Geburtshaus von Jan Smuts, seinem Vorgänger im Amt und Gegenspieler, das nun Gedenkstätte und Museum ist. Ich beobachte, dass selbst unsere schwarzen Polizisten respektvoll die Büste dieses Premiers betrachten. Mittag in einer Weinkellerei, vor der angekündigten Verkostung jedoch noch diverse Vorträge über das Thema des Tages, über Landwirtschaft also. Das von der Frau des Hauses gekochte Essen und die köstliche Weine (mir hat’s besonders der hiesige Chardonney angetan) lassen die trockenen Ausführungen schnell vergessen. Wir sind vom Chef des Hauses eingeladen. Und nachdem ich ihn fragte, seit wann seine Familie hier siedelt, stehe ich mit ihm auf der Veranda und er weist mir mit großer Geste sein Land, so gut wie alles, was hier zu sehen ist, ca. 800 Hektar. Ja, seine Vorfahren begannen hier um 1780. Auf seiner Farm hält er sogar Springböcke, Kudus und Onyx-Antilopen. Eine Onyx, erzählt er, habe er per Hand aufgezogen, nachdem er sie von der Herde verlassen im Gelände fand, und Libby genannt. Libby von Liberty. Neugierig beäugt mich die handzahme Libby mit ihren großen, samtenen Kuhaugen, vor ihren halbmeterlangen, spitzen Hörnern habe ich jedoch Respekt. Für den Abend hatten sich zwei „unserer“ Police-Officers angeboten, mit uns privat nach Kapstadt zu fahren. Kapstadt bei Nacht, why not. Quirliges Leben in der Long Street: Musikkneipe an Musikkneipe. Wir landen im „Mama Africa“, gute Marimba-live-Musik und mal wieder „einheimische“ Kost. Heute probiere ich kurz entschlossen Krokodil.

2007: Brunnenburg, Dorf Tirol. Ezra Pounds Einsiedelei, Familien-Idyll, letztes Cantus-Refugium: Großmächtiger Blick auf Niederungen, in Schluchten, über Plateaus und Pässe zu ewigen Gipfeln. Eisiges Gleißen, Firn. Finito. Allein die Aussicht auf alltäglich höchsten Anspruch wie sichtbare Angründe lockte mich allerdings auch.

2010: Carcassonne. Koeppen spottete zwar: „Wenn man allein vor den festen Türmen steht, mag man sich als Troubadour fühlen, auch an Rapunzel denken, dass sie ihr Haar herunterlasse.“ Doch ich denke, leise zumindest hat selbst er hier das Rolandslied gehört.

2015: Bleiburg. Durchs Werner-Berg-Museum führt mich die jüngste Tochter des hochgeehrten Kärntner Malers, deren Taufpate der Mann war, den ich mir als Paten gewünscht hätte: Walter Bauer. Künstlerfreunde waren Bauer und Berg, W.B. und W.B., beide Jahrgang nullvier. Und angesichts eines Gemäldes des Rutarhofes, Annette M.s Vaterhauses, überrascht es mich dann nicht zu hören, sie erinnere sich, hier auf dem Schoß Onkel Walters gesessen zu haben, ja, als der fünfundvierzig aus dem Lager bei Graz eines Tages samt englischer Bewachung zu Besuch kam. Tatsächlich hatte ich von Sonderwegen des Kriegsgefangenen Bauer längst gelesen, die jedoch schlicht ins Reich der Legende verwiesen. Erstaunlich, was Kunst glaubhaft vermittelt.

2018: 24 Stunden nachdem ich in Pristina landete, erhalte ich im Hotel erstes Material zum Festival, das offiziell heute Abend beginnen soll. Und nach Telefonaten mit der Festivalleitung erreiche ich sogar, dass ich zur Eröffnung im Hotel abgeholt werde.  Aller Groll verfliegt jedoch schnell, als ich die Räumlichkeiten der Festivalorganisatoren sehe: einstige Wohnräume in einer Vorstadt-Blockbausiedlung, und alle Arbeit scheint hier ehrenamtlich geleistet zu werden. Umso erstaunlicher, dass zur Eröffnung sogar der österreichische Kulturattaché vorgefahren kommt, und dieser Auftakt überhaupt sehr gut besucht ist. Aus Deutschland Clemens Meyer und Peter Wawerzynek, aus Österreich Ann Cotton (der ich in Sachsen-Anhalt vor Jahren zum Klopstock-Preis gratulieren konnte). Gute Gespräche – nicht zuletzt mit dem Festivaldirektor Jeton Neziraj – interessanter Dramatiker: „Peer Gynt from Kosovo“… Gutes Musikprogramm auch – erstaunlich immer wieder, die hohe Professionalität balkanischer Musiker.

2023: Zu Himmelfahrt in den Merseburger Dom. Ausstellungseröffnung zum Leben und Tod Otto des Großen, der wenige Tage, bevor er vor 1050 Jahren im nahen Memleben starb, hier noch weilte.

 

Obsession

für

Isaac Manuel Francisco Albéniz / Bridgette Andersen / Arakama Shūsaku / Alexei Oktjabrinowitsch Balabanow / Helmut Berger / Heðin Brú / Chen Qimei / Eli Cohen / Christopher John „Chris“ Cornell / Ian Kevin Curtis / Pierre Augustin Caron de Beaumarchais / Hans-Peter Dürr / Dietrich Fischer-Dieskau / Jacque Fresco / David Alexander Johnston / Elvin Jones / Ernst Klee / Detlef Kobjela / Walter Kohut / Toivo Kuula / Alphonse Laveran / Louis Leitz / Gustav Mahler / Jacques Marquette / Mary McLeod Bethune / Friedrich Christoph Perthes / Pietro Pompanazzi / Hiamnsu Rai / Saitō Tetsu / Edoardo Sanguinetti / William Saroyan / Hippolyt August Schaufert / Fritz Stern / Tomasa Tito Condemayta / Aníbal Troilo / Tupac Amaru II. / Tor Ulven

 

Da glaubten wir Übermächtigem nicht widerstehen zu können:

Brügge, 1302: aufständische Flamen massakrieren französische Besatzer/ Merseburg, 1412 „ist ein grausahmes Regenwetter entstanden, u. seynd in demselben schloßen wie Hüner Eyer groß gefallen“ / Heidelberg, 1693: französische Truppen sprengen das Schloss / 1757: erobern Birmanen Hongsawadi, die Hauptstadt des Pegu und töten Zehntausende Einwohner / Bath, Michigan, 1927 bei einem Schulmassaker sterben 45 Menschen / 1974 führt Indien seinen ersten Atombombentest durch / Gwanju, Südkorea, Beginn eines neuntägigen Aufstandes, bei dem 154 Demonstranten ums Leben kommen und mehr als 4.000 verletzt werden / Washington, 1980: Ausbruch des Vulkans Mount St. Helens, 57 Todesopfer / 2023 kommen bei Unwettern in Norditalien mindestens 14 Menschen ums Leben.

 

 

19. MAI

 

Befreiung

mit

Alexandra / Moisés da Costa Amaral / Mário de Sá-Carneiro / Max Clarenbach / Alma Cogan / Júlio Dantas / Gottfried Duden / Johann Gottlieb Fichte / John Fletcher / Fritz Rudolf Fries / Lorraine Hansberry / Walter Heymann / Dusty Hill / Ho Chí Minh / Yusuf Idris / Jacob Jordaens / Mustafa Kemal Atatürk / Julius Leopold Frederik Krohn / Malcolm X / Rudolf Nehmer / Joey Ramone / Kurt Scheele / Francis Richard „Dick“ Scobee / Ahmad Danish Siddiqui / Tomasz Sikorski / Charles Sorley / Rahel Varnhagen von Ense / Anny Wottitz / Peter Zadek

 

An diesem Tage spürten wir Freiheiten:

931 wird am Himmelfahrtstage die erste steinerne Kirche Merseburg, wahrscheinlich im Beisein König Heinrich I., eingeweiht: St. Johannis baptistae / 1547 endet der Schmalkaldische Krieg / Frankfurt am Main, 1872: Inbetriebnahme der Straßenbahn als Pferdebahnlinie/ Brig, 1906: Einweihung des Simplon-Tunnels / London, 1919: Gründung des Kinderhilfswerks „Save the Children“.

 

Ich notierte:

1974: Wahlsonntag und Mutter scheucht uns früh aus den Betten. Sie sieht es als Pflicht und Ehre an, möglichst zeitig wählen zu gehen. Die Klepzig-Familie geht also wählen, ich bleibe bei der Hummel. Da ich ja noch in Meuschau registriert bin und dann auch dort wählen muss. Also fahren wir nach Meuschau, packen meine Möbel und Sachen ein und ich husche schnell zur Wahl, vermute, dass die hier im Kaffeehaus vonstatten geht. Doch gefehlt und kein Hinwies darauf, wo das Wahllokal ist. Ich versuch’s in der Gaststätte, doch auch hier nichts. Dann höre ich aus einem Raum, dessen Eingangstür unter der Treppe liegt, scheppernde Geräusche. Ich klopfe an und trete ein – und habe tatsächlich das Meuschauer Wahllokal gefunden. An einem langen Tisch sitzen die Wahlhelfer, an der Stirnseite steht die Wahlurne. Jeder Wahlhelfer hat vor sich ein Bier- und ein Schnapsglas stehen. Daher also wohl das scheppernde Geräusch, da war wohl beim Nachgießen was zu Bruch gegangen. Ich gab meine Wahlbenachrichtung ab. Einer sagte: „Einhundertsechundsiebzig“, der nächste drückte mir einen blauen und einen weißen Bogen in die Hand. Die Wählerlisten. „Hätten sie bitte mal einen Bleistift?“ frage ich. „Warum denn das?“ „Ich möchte jemanden ankreuzen.“ „Ankreuzen, warum denn das? – Wenn Sie einverstanden sind, stecken sie ihre Zettel einfach in die Urne.“ Und ich kam mir plötzlich wie vor einem Tribunal vor, nur war mir vollkommen unklar, was ich verbrochen haben sollte. Sie lauerten noch immer. „Na, wird’s?“ Schon lief ich zur Stirnseite und versenkte meine Stimmen in der Urne. Ich habe also mal wieder gewählt.

1988: Wann schon aß ich genüsslicher Hamburger Schnitzel als in der MITROPA-Gaststätte zu Prenzlau? Elend kalter Fraß, zäh, stinkige Eier, halbrohe Kartoffeln, matschiger Bohnensalat. Tischdecke mit Speiseresten der Woche, Speisenkarte überflüssig. Und die MITROPA-Typen eben. Und doch, was für ein tief befriedigendes Abendessen, das mir nach hektisch langem Veranstaltungstag gleichzeitig Frühstück und Mittag zu sein hatte, und vor einer sicher entsetzlich langen Nacht, einsam im preußisch-spartanischen Gästezimmer des Kreiskulturhauses. Oh Prenzlau, Perle der Uckermark, was wäre ich so Fremder hier ohne deine MITROPA!

1999:Mauritius.  Erste Station unseres heutigen Trips ist das Grand Bassin, bedeutendste Hindu-Pilgerstätte außerhalb Indiens. Alljährlich im Februar, wenn Maha Shivaratree gefeiert wird, versammeln sich hier bis zu 400.000 Gläubige! Vom Grand Bassin weiter zur Teeplantage und Teefabrik von Bois Chéri. Die Teepflückerinnen winken uns freundlich zu, als wir aus dem Bus heraus fotografieren. (Erstaunlich, wenn man erfährt, dass sie für 1 Kilo gepflückter Teeblätter 3 Rupien erhalten!) Auf einem Hügel oberhalb der Teefabrik werden wir in einem Pavillon mit weiter Aussicht auf den Süden der Insel zu einer Teeprobe gebeten. Natürlich kosten Jeanny und ich die Sorte „Paul et Virginie“, aber auch eine Sorte mit Vanille-Beimischung. (Und siehe da, Jeanny, der es heute bislang nicht so gut ging, geht’s gleich besser...) Durch schier endlose Zuckerrohrfelder (wobei wir plötzlich ein hinduistisches Krematorium passieren, eine Art offener Betonsilo mit zwei Betontischen, weißgott, und Unmengen aufgestapelter alter Autoreifen...) weiter bis zum Cap Gris Gris. Nach dem nördlichsten Punkt der Insel, dem Cap Malheureux, sehen wir somit auch den südlichsten Punkt. Doch was für ein Unterschied! Hier ist die Küste durch kein Riff geschützt. Ungehemmt rollen an die Steilküste Wogen aus den Weiten des Indischen Ozeans an. Gewaltige Brecher, die Luft von feiner Gischt so gesättigt, dass Brillen und Objektive beschlagen. Wie muss es hier erst sein, wenn im Januar, Februar Zyklone aufprallen?

Im alten Farmhaus St. Auban, hochelegant im Kolonialstil, speisen wir, alles vom Feinsten, versteht sich. Dann ein Verdauungsspaziergang durch den sehenswerten Garten der Villa hin zu einer Anthurien- und Vanillezucht. Und schließlich als Höhepunkt des Trips La Vanille Crocodile Farm, angelegt in einem engen, dicht bewachsenen Tal. Schwül-heißes Mikroklima, mückendurchsirrt, das den klimatischen Verhältnissen der Insel vor der Besiedlung entsprechen soll. Neben einer Krokodilzucht zu kommerziellen Zwecken sind hier auch zooartig andere exotische Tiere zu bestaunen: Geckos, Chamäleons, Leguane, Seychellen-Schildkröten, Fliegende Hunde, Makaken. Und was für eine üppige Fauna, was für eine Formen-, was für eine Farbenpracht!

2005: Swartland. Heute Vormittag besichtigen wir eine Straußen- und eine Orchideen-Farm. Die Besitzer der Straußenfarm sind Bayern, ein Ehepaar, vor acht Jahren eingewandert, und nennen nun sichtlich stolz 1100 Hektar ihr Eigen. Beim Kaffee im Herrenhaus muss man über politische Ansichten nicht lange nachfragen: neben der bayerischen hängt die Reichskriegsflagge an der Wand. Mir fällt ein Satz ein, den ich bei meinen Reise-Vorbereitungen bei Herbert L. Shore gelesen hatte: “By attempting to herd the Africans into ghettoes, South African whites have shut themselves into a ghetto too – a ghetto of the mind and soul.”

Zwischen den beiden Farmbesuchen bleibt Zeit für einen kurzen Abstecher nach Yzerfontain, Nobelbadeort an der Atlantikküste. Mittagessen in einer herrschaftlichen Lodge, dann Kontrastprogramm: Die farbigen Kids von Mooreesburg spielen uns in ihrem Kulturcenter Theaterstücke vor. Die meisten Kinder sind barfuss und nicht wenige plagt ein hartnäckiger Husten, allenthalben lugt hier die Armut um die Ecken…

Während der Rückfahrt nach Malmesbury öffnen sich uns im rötlichen Streiflicht der untergehenden Sonne wunderbare Aussichten auf die Hügelketten der Region, Brauntöne mit grünen Inseln. Und in der Ferne ist heute zum ersten Mal sogar der blanke Tafelberg zu sehen. Hoffen wir, dass dieses ruhigere Wetter noch zwei Tage hält und wir am Sonnabend, unserem zweiten und letzten offiziell programmfreien Tag, doch noch auf dieses weltberühmte Massiv gelangen. Weiter zum Gut Lammershoek. Rundgang durch den Weinkeller, der Kellermeister zieht uns aus Fässern Proben neuer Weine: Chenin Blanc, Shiraz, Pinotage. Dann gibt’s rustikal an langen Tischen in der Verpackungshalle köstlichen Snoek, hiesigen Fisch in verschiedenen Variationen. Und schließlich ist der Nachthimmel so klar, dass ich das Kreuz des Südens entdecke.

2010: Lascoux. Kopiert die Höhle aus Eiszeitzeiten (um das Unikat zu retten, zu bewahren all die Urgemälde), komplett unverständliches Englisch (des französischen Führers), quaddernde Japaner (in Scharen), und dennoch: kalter Schauer.

2018: Am zweiten Festivalabend lese ich dann in einem Jazz-Club. Gute Atmosphäre, junge Leute vor allem. Nach der Lesung legt allerdings ein DJ auf. Und es wird gequalmt. Nix wie weg also.

Der Taxifahrer spricht deutsch, da er eine zeitlang in Duisburg lebte (wohin er auch versuchen wird, im nächsten Jahr zurückzukehren, wie er mir versicherte…). Und er hat erstaunliche Theorien, so hörte er von seinen Landsleuten immer wieder, dass Kanzlerin Merkel eine Tochter Hitlers sei – anders wären die meisten ihrer Entscheidungen doch nicht zu verstehen!... Bei allen Gesprächen, die ich im Lauf des Festivals mit Kosovaren führen konnte, favorisierte niemand die (von Politkern immer wieder ins Verhandlungs-Spiel gebrachte) großalbanische Lösung des Kosovo-Problems (also Albanien plus Kosovo plus albanisch stämmige Gebiete in Mazedonien und Griechenland). Klar scheint: ohne Europa würde hier nichts gehen. Und denkbar sei eigentlich nur eine föderative Lösung, ein Europa der Regionen also, nicht von erstarkenden Nationalstaaten.

2021: In der Nacht mal wieder der Alptraum, nach langer, langer Zeit mal wieder eine Mugge zu haben, doch nicht hinzukommen: In Leuna soll die stattfinden, in der Bibliothek, an einem Sonntagmorgen um acht. Irgendwie sind Jeanny und ich am Vorabend aber in Halle versackt, sitzen am Morgen an der Straßenbahnhaltestelle, keine Bahn kommt, wir haben auch kein Handy, und Autos, die man anhalten könnte, sind auch nicht auf der Straße…

2023: Nachdem ich im Fernsehen ein Interview mit John Irving zu seinem neuesten Buch gesehen habe, greife ich mir erstmal sein „Gottes Werk und Teufels Beitrag“. Und nachdem ich das nun ausgelesen habe, gucke ich mir bei Netflix heute die Verfilmung dieses Romans an – und bin erstaunt. Obwohl John Irving auch das Drehbuch schrieb, hat der Film mit dem Buch bestenfalls oberflächlich was zu tun: Handlungsstränge sind verkürzt oder merkwürdig verknüpft oder fehlen ganz. Die epische Breite ist weg, ja, es fehlt eigentlich sogar jeglicher Tiefgang. Wer den Film sieht, ohne das Buch zu kennen, lässt sich vielleicht von den durchaus schönen (Landschafts)Bildern, manchen Schauspielerleistungen oder sogar dem Plot anrühren. Ich sehe den Film als Lehrstück dafür, wie Hollywood die Welt versimpelt, verhunzt.

 

Brüskierung

für

Alkuin / Martin Amis / Ang Duong / Isaac Beeckman / John Betjeman / Anne Boleyn / James Boswell / Pete Brown / Joseph Jelačić von Bužim / Coelestin V. / Maria Dąbrowska / Henri de Saint-Simon / Jan Długosz / Helmuth Viking Eggeling / Johann Friedrich Gustav von Eschscholtz / Eva Forest / Batya Gur / Coleman Hawkins / Nathaniel Hawthorne / Ferdinand Hodler / St. Elmo Sylvester „Mo“ Hope / Michael Hummelberger / Robert Indiana / Charles Ives / Friedgard Kurze / Herbert Lange / Thomas Edward „T.E.” Lawrence / José Martí / Hans Mayer / Gabriele Münter / Luis Ocaña / Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow / Hans Posegga / Bolesław Prus / Karl Radek / Elvio Romero / Andy Rourke / Max Ferdinand Scheler / Lutz Schreyer / Fernanda Seno / Joseph Anton Stranitzky / James Tiptree junior / Mary Turner / Sebastian Vrancx / Heinrich Zollinger

 

Da fühlten wir uns brüskiert:

1314 brennt Visby vollständig ab / 1690 „hat es um Franckleben, Runstädt, Merseburg, Spergau und Kirchdorff Schweffel geregnet“ / Medellin, 1993: prallt eine Boeing 727 gegen einen Berg, alle 133 Insassen sterben / Bangladesh; 1997: durch einen Wirbelsturm kommen mindestens 500 Menschen ums Leben.

 

 

20. MAI

 

Vorspiel

mit

Emma Adler / Karl M. Baer / Rainer Basedow / Pietro Bembo / Emil Berliner / Wolfgang Borchert / Honoré de Balzac / Canaletto / Bedros Dourian / Otokar Fischer / Otto Häuser / Margret Hofheinz-Döring / Injannasi / Franz Jägerstatter / Israel „Iz“ Ka’ano’i Kamakawiwo’ole / Arthur Korn / Astrid Kirchherr / Hector Malot / John Stuart Mill / Albert Niemann / Frédéric Passy / Elisa von der Recke / Johann Gottfried Schadow / James Stewart / François-Dominique Toussaint Louverture / Andrei Andrejewitsch Tupolew/ Dieter Waldmann / Hedda Zinner

 

Das, glaubten wir, sei ein gutes Vorspiel:

325: Beginn des Ersten Konzils von Nicäa / Calicut, 1498: Vasco da Gama erreicht Indien / 1503 entdeckt Afonso de Albuquerque im Südtatlantik die Insel Ascension / Antwerpen, 1570: Veröffentlichung des ersten modernen Atlas / 1875 beschließen 17 Staaten mit der Meterkonvention die Übernahme des Urmeters und des Urkilogramms / 1902 wird Kuba unabhängig / 1934 endet der Saudi-Jemenitsche Krieg mit dem Frieden von Taif / 2002 wird Osttimor unabhängig / 2019 tritt eine grundlegende Reform des Internationalen Einheitensystems in Kraft.

 

Ich notierte:

2005: Fahrt  nach Paarl, hoch über dem Städtchen erleben wir einen herrlichen Sonnenuntergang beim Afrikanse Taal Monument, dem Denkmal für die Entstehung der Sprache Afrikaans. Weiter nach Stellenbosch, Rundgang über den Universitätscampus, alles beeindruckend großzügig, sauber, gepflegt, im Zentrum der Stadt sehenswerte Häuser im Kolonialstil. Abendessen in einem vorzüglichen Fischrestaurant.

2007 St. Leonhard im Passaiertal, Sandhof. Ist gar nicht so lange her, da trank ich mit Typen, die dem vormaligen Wirt, dem Hofer Andi, gefolgt sein könnten (bis in den Tod), hier noch den einen und anderen Roten. Wohlsein! Nun nippen Cabriofuzzies gelangweilt Espresso. Allerweltsgesäusel, Handygewäsch. Und für die Bedienung scheint unsereins Luft. (Obwohl ich dem Hofer Andi doch fast wie ein Zwillingsbruder gliche – oder weil?) Tja, so geht sich das wohl stets aus mit den Revolten.

2018: Fahrt nach Prizren. Ich habe eine Lesung in der deutschen Schule, dem Loyola-Gymnasium, betrieben von Jesuiten. Der Direktor also ein Padre (SJ). Freundlicher Empfang, interessante Erklärungen: die Matura dieser Schule sei beispielsweise seit diesem Jahr auch in Deutschland anerkannt. Absolventen könnten ergo sofort in Deutschland studieren. Dass es eine deutsche Schule in Prizren gibt, dürfte kein Zufall sein. Seit Ende des Kosovo-Krieges ist hier das deutsche Kontingent der UNO-Friedenstruppe KFOR stationiert. Nun aber nur noch bis Jahresende, dann ziehen rund 400 Soldaten zurück nach Deutschland, das Feldlager soll als Industriepark nachgenutzt werden. Etwa 60 deutsche Soldaten führen die KFOR-Mission in Verwaltungen in Pristina weiter.

Gut 700 Kosovaren werden jedoch weiter die deutsche Schule in Prizren besuchen können (Schulgeld: 100 Euro pro Monat – das erscheint auf den ersten Blick erschwinglich, doch haben Kosovaren nach wie vor große Familien, viele Kinder also…) Ich lese vor 100 Achtklässlern in der Aula. Verkehrssprache: Deutsch! Aber rasch merke ich, dass es besser ist, auch schnell mal ins Englische zu switchen. Und eine Lehrerin übersetzt auch gleich mal eine ganze Textpassage „zum besseren Verständnis“ ins Albanische. Prizren, mehr als 2000 Jahre alt, hat eine schöne Altstadt, Festung, Moscheen, Flusspromenade und wunderbare Grill-Restaurants – ja, da schmecken kosovarische Kebap unvergesslich gut.

Rückfahrt übers Amselfeld, dem Kosovo Polje, Halt an Gazimestan, der Gedenkstätte der Serben für die legendäre Schlacht des Jahres 1389. Zwar verloren die Serben gegen die Osmanen, was deren fünfhundertjähriger Vorherrschaft auf dem Balkan den Weg ebnete, nichts desto Trotz wurde diese Schlacht immer wieder mystifiziert, zuletzt von Milosevic, der hier fast vor genau vor 20 Jahren die Rede hielt, die letztlich zu den schrecklichen Jugoslawien-Kriegen führte, bis hin zum Kosovo-Krieg und zu dem, was heute ist. Verwahrlost das Denkmal heute, dennoch ist das Gelände abgesperrt. Pass-Kontrolle. Mein Fahrer meint, ohne Kontrollen wäre dieser Klotz längst von jungen Albanern in die Luft gesprengt. Tja, dem ist dann wohl erstmal nichts hinzuzufügen.

 

Vorahnung

für

John Robert „Joe“ Cocker / Christiane von Sachsen-Merseburg / Jacob Christian Hansen Ellehammer / Antje Garden / Robin Gibb / Johann Georg Gmelin / Lucy Gordon / Steven Jay Gould / Henri Grégoire / Charlotta Grisi / Hector Guimard / Werner von Heidenstam / Barbara Hepworth / Walter Höllerer / Oleg Iwanowitsch Jankowski / Christoph Kolumbus / Richard Leising / André Léo / Waltraud Lewin / Karl Lyncker / Ray Manzarek / James „Bubber“ Miley / Paul Ricœr / Clara Schumann / Paul Termos / Sigrid Undset / Jan Wornar

 

Das erschien uns wie eine böse Vorahnung:

Antiochia und Syrien, 526, Erdbeben vermutlich bis zu 250.000 Todesopfer / 1202 kommen bei einem Erdbeben im östlichen Mittelmeerraum und dem Nahen Osten bis zu 100.000 Menschen ums Leben / Magdeburg, 1631: kaiserliche Truppen erobern die Stadt und massakrieren etwa 20.000 Einwohner / 1654 kolonisiert das baltische Herzogtum Kurland und Semgallen die Karibikinsel Tobago / Hamburg, 1928: Chemieunfall, 10 Tote / 1940 treffen erste Häftlinge im KZ Auschwitz ein / Kairo, 1965: eine Boeing 720 stürzt beim Landeanflug ab, 121 Tote / 2015 erobert, plündert und zerstört der IS das antike Palmyra / 2023, El Salvador: Massenpanik bei einem Fußballspiel, mindestens 13 Tote.

 

 

21. MAI

 

Holzschnitt

mit

Tudor Arghezi / Arno / May Aufderheide / Hans Berger / John Peale Bishop / Günter Blobel / Karl Boda / Léon Bourgeois / Mary Boyle / Marcel Breuer / Raymond Burr / Tommy Bryant / Vincent Crane / Glenn Hammond Curtiss / Albrecht Dürer / Willem Einthoven / Barker Fairley /  Conrad Felixmüller / Elizabeth Fry / Albert Gobat / Heorhij Gongadse / Max Levien / Robert Montgomery / Notorious B.I.G./ Helga Paris / Alexander Pope / Louis Renault / Niklaus Riggenbach / Henri Rousseau / Andrei Dmitrijewitsch Sacharow/ Tony Sheridan / Woodbridge Strong Van Dyke II. / Émile Verhaeren / Thomas Wright „Fats” Waller / Georg Wedding / Heinz Heinrich Wehner / Urs Widmer / Gabriele Wohmann

 

Das erschien uns vorzüglich geschnitten:

1358: Beginn des Bauernaufstandes in Compiègne / Köln, 1388: Gründung der Universität / 1502 entdeckt João da Nova im Südatlantik die Insel St. Helena / 1626: Beginn des Oberösterreichischen Bauernkrieges gegen die bayerische Besetzung / 1840 wird Neuseeland als souverän von der britischen Krone erklärt / Vitznau, 1871: die erste Zahnradbahn Europas, die Riglbahn, nimmt den Betrieb auf / 1894: Eröffnung des Manchester Ship Canals / 1927: landet Charles Lindbergh nach der ersten Atlantik-Überquerung auf dem Pariser Flughafen Le Bourget / 1952: Inbetriebnahme des Amsterdam-Rhein-Kanals / 2006 entscheidet sich Montenegro durch eine Volksabstimmung für die Unabhängigkeit von Serbien.

 

Ich notierte:

1974: Das Moped streikt mal wieder, also zur Straßenbahn. Zum Glück begegnet mir Lotte mit dem Konsum-Barkas, nimmt mich mit. Nach Feierabend holt Ingo mit dem Laster meine Möbel in Meuschau ab, bringt nebenher auch noch mein Moped wieder zum Laufen. Ich fahre also voraus, gabele noch Othello auf. Der hilft dann beim Abladen. Und alsbald ist mein Umzug vollzogen. Schließlich verspricht mir Klempner-Emil zudem, noch in dieser Woche das Bad zu installieren.

1979: Seit Tage Schwüle, mehr als ungewöhnlich für den Mai. In einer Plastiktüte trage ich den Entwurf für mein Deubener Auftragswerk bei mir. Original und zwei Durchschläge, einen Durchschlag habe ich gestern Abend noch an meinen Mentor Gerhard Rothbauer – mit der Bitte um Meinungsäußerung geschickt – ein weiterer liegt daheim. Ist die hauptsächliche Textarbeit nun beendet? Ich verdammt unruhig. Sind manche Passagen nicht zu kritisch? Das ist ja ein Auftragswerk… Riedel nimmt die Blätter und fängt gleich an zu lesen, liest und liest… ich sitze auf meinem Stühlchen… Dann fragt er plötzlich, wie ich mir die Umsetzung, wie ich mir das Ganze vorstelle. Ich erkläre es ihm. Er wiegt das Kopf – ob das nicht vielleicht zu kompliziert sei? Überhaupt scheint die Arbeit nun erst richtig loszugehen. Auf meine Frage, wann ich einmal die Leiter des Chores und des Blasorchesters (die die dazugehörige Musik ja umsetzen sollen) sprechen könnte, um zumindest etwas über die Besetzungen und das Vermögen dieser Ensemble zu erfahren, kommt die Gegenfrage, ob die Musik denn wohl sehr unmelodisch würde! Ich staune – hä? Dann versichere ich ihm: natürlich nicht! Und im weiteren Gespräch begreife ich dann, daß er in Sorge ist, ich könnte was komponieren, was seine Laiengruppen partout nicht umsetzen können…

1980: Am Klavier komme ich heute mit meinen Vertonungen von Texten Theodor Kramers gut voran.

1981: Zum vorletzten Mal zum Studium nach Leipzig. Dann wird es nur noch eine Werkstatt und die Diplom-Verleihung geben. Am Montag hatte ich in Pol.Ök bestanden, so scheint alles überstanden.

1982: Da habe ich wohl mal wieder einen rabenschwarzen Tag erwischt: Um mich besser konzentrieren zu können, fahre ich erst einmal einkaufen. Doch das hätte ich wohl besser nicht tun sollen. Beim Bäcker ist das Brot noch im Ofen. Es gibt nirgendwo A4-Umschläge, keine Kordel für den neuen Vorhang für Jeanny, keine Kinderschaukel für Cathi, keine Boxenkabel… nichts, einfach nichts nirgendwo. So geht der Tag auch rum. Und als ich aus Merseburg wieder in Leuna bin, hat der Bäcker zu. Und da sitze ich nun vor der Schreibmaschine…

1990: Die Gewerkschaftsleitung der Technischen Hochschule Leuna-Merseburg hat zu einer Protestdemonstration in der Kreisstadt aufgerufen. Drohender Sozialabbau wird angeprangert und nicht weniger deutlich und endlich auch für unsere Region auch der Begriff Umweltnotstandsgebiet geprägt. Zahlreiche Merseburger und wohl auch Leunaer geben dem Gesagten durch ihr Erscheinen Gewicht. Ein Vorschlag sei hier hinzugefügt: Vorausgesetzt, die Wirtschaftlichkeit der Chemieriesen bleibt ohne Sozialabbau erhalten, müssten deren Gewinne ausschließlich zugunsten der Standortkommunen genutzt werden können. Verursacherprinzip mal positiv ausgelegt. Das Gegenbeispiel wurde während einer der so genannten Dialogveranstaltungen im Kulturhaus Leuna angeprangert: Jahre zuvor hatte es ein Übereinkommen zwischen der ehemaligen Kombinatsleitung und ehemaligen Kommunalpolitikern gegeben, in die Stadt Leuna nicht mehr als dringenst nötig zu investieren, die Stadt letztendlich also zu „zerwohnen“! Die Folgen dieser geheimen Übereinkunft sind trotz erster zaghafter Sanierungsansätze überdeutlich: Verfall wohin man blickt… Und ist es ein Hoffnungsschimmer, dass die jetzige Direktionsmannschaft in Leuna nicht nur arbeitet, sondern auch wohnt, nicht jeweils nach Dienstschluss das Weite sucht?

1999: Noch einmal (und leider zum letzten Mal) auf Taxi-Trip in Mauritius: Heute in den Südwesten der Insel. Da sich unser Driver verfährt (oder nicht richtig verstanden hatte, wohin wir wollen, da er offenkundig nur schlecht englisch und französisch spricht) kommen wir auf einem kleinen Umweg durch Quatre Bornes, eine weitere Stadt im Hochland, wo die meisten der Leute, die in Port Louis arbeiten, aufgrund des etwas kühleren Klimas wohnen. Foto vom Denkmal für Paul und Virginie beim hiesigen Theater. Und auf zum Casela Bird Park. Landschaftlich sehr schön gelegen, weiter Blick auf die Westküste, die Tierhaltung hier erweist sich jedoch alles andere als artgerecht. Dabei verlangt man reichlich Eintritt... Durch Zuckerrohrfelder vorbei an den bizarren Felsformationen der Trois Mamelles nach Tamarin. Besichtigung der Meersalzgewinnung. Höchst einfache Methode: in weite, flache Becken wird Meerwasser gepumpt, das unter der prallen Sonne verdunstet und grobkörniges Salz bleibt zurück, braucht nur noch aufgeschaufelt zu werden. Wir überqueren den Riviere Noire und kurven ins Gebirge hinauf. Phantastische Aussicht auf die Ile aux Bénitiers und die Felsen der Halbinsel Le Morne Brabant, Lagune wie man sie eigentlich nur in der Südsee erwartet... Völlig andere Farben dann in Chamarel, fette rotbraune Erde, üppig schweres Grün., riesige Bananenstauden und Wandererpalmen, sehenswert der 90 Meter in einen Krater stürzende Wasserfall von Chamarel, und als absolute Besonderheit gilt Terre de Coleurs, wunderliches Naturphänomen: siebenfarbige Erde, deren Entstehen sich die Wissenschaft wohl noch nicht so recht erklären kann, Ocker über Braunrot bis Schwarzbraun. Schließlich fahren wir noch weiter hinauf, erreichen das atemberaubend gelegene Restaurant Varange sur Morne. Für die Damen einen Cocktail, für die Herren ein Bier. Und vorbei am Grand Bassin durch Curepipe und Abstecher zum erloschenen Vulkankrater Trou aux Cerfs nach Floréal, wo alle möglichen Markentextilien produziert und preiswert in Fabrikläden verkauft werden. Dann durch den Rushhour-Smog von Port Louis zurück ins Hotel. Baden und ans Büfett, letztmals mauritianisch heute. Na denn! Und zu guter Letzt nochmals Sega.

2000: Ich arbeite mich durch das Manuskript von Dr. Peters aus Weißenfels, der seine Jugend im Gulag beschreibt. Ich hatte Konrad vorgeschlagen, diesen Bericht in unserer „Zeitzeugen-Reihe“ zu veröffentlichen. Allerdings muss er überarbeitet und gekürzt werden. Im Fernsehen heute die Nachricht, dass sich die fünf offiziellen Atommächte USA, Russland, Frankreich, England und China in der UNO verpflichtet haben, ihre Atomwaffen vollständig abzuschaffen. Hoffentlich mal nicht nur ein taktisches Spielchen, sondern wenigstens ein bisschen Hoffnung für diese Welt...

2005: Das Wetter bleibt schön, also nichts wie zum Tafelberg. Auffahrt mit der Seilbahn. Und tatsächlich bietet sich eine grandiose Aussicht:  zur Wolkenfreiheit gibt’s Fernsicht gratis.

Im Zentrum Kapstadts dann auf dem Afrikanischen Markt beim Green Market Einkauf diverser Souvenirs. Freundliche Atmosphäre, es muss zwar gehandelt werden, aber nicht so verbissen wie in arabischen Ländern. Weiter zum Kap der Guten Hoffnung. Allein schon die Anfahrt über die malerische Küstenstraße wäre eine Reise wert. Seltsame (endemische) Vegetation im Cape Point Nationalpark. Direkt am Kap sehe ich hoch oben vom Fuße des Leuchtturms tief unten im Wasser eine große Schule Delphine. Chris hat sich etwas Besonderes ausgedacht, überreicht jedem von uns eine Urkunde, mit der Bestätigung: „We hereby proclaim that Mr./Mrs.… did witness the meeting of the Atlantic and Indian Oceans at The Cape of Good Hope, the fairest Cape in all the circumference of the globe.”

Auf der Rückfahrt, vorbei an den Gedenkkreuzen für Bartholomeo Diaz und Vasco da Gama erleben wir einmal mehr die einzigarti­gen Farbspiele des hiesigen Sonnenuntergangs. Auf dem Meer braut sich zudem eine Nebelbank zusammen. Sollte nun etwa auch noch der Fliegende Holländer auftauchen, dessen Schiff hier irgendwo ja tatsächlich verschwand? Zum Abendessen noch einmal zur Waterfront. Nun komme ich so­gar noch in den Genuss eines Kudu-Steaks… Und ein letztes Mal zurück nach Malmesbury. Kofferpacken, kurz hinlegen.

2009: Walhalla zu Himmelfahrt. Schrebergärten, akkurat parzelliert, knatterndes Schwarzrotgold über Einheitslauben in den Donauauen angesichts der Ruhmeshalle der Deutschen. Grandiose Installation! Beeindruckend, berührend… Doch kein Wort darüber im Prospekt, nichts über den Inspirator, den Mäzen, nichts über den Gestalter. Wahre Kunst spricht scheints für sich.

2011: Prag. Stinkige Speisen selbst da, wo ich einst aß vom Feinsten, wieder und wieder lustlos routinierter Nepp, Beschiss beim Geldtausch (sogar mit Quittung), Dracula- und Hitler- und Bush-Masken allenthalben als Souvenirs. Warum also sollte mich wundern, dass ein Typ (Ami der Sprache nach) barfuss ohne Hemd und ohne Hose (in schmuddlig knappen Shorts) mit den Touristenströmen den Veits-Dom erreicht? Und niemand scheint dies als Sakrileg zu sehen, geschweige denn ausrasten zu wollen. Nein, das ist es nicht, was wir Freiheit nannten.

2012: Budva. Eindringlich warnt ein Idiom: to twist a Montenegrian by the moustache. Zoff allerdings ließe sich hier übermütig einfacher finden, zumal ich augenscheinlich weit und breit der einzige ehrpuzzlige (Schnurr)Bartträger bin. Oder Vorsicht: hieß es vielleicht: don’t twist a man in Montenegro by the moustache? Irgendwas müssen sich glatte Engländer doch dabei gedacht haben.

 

Letzter Stich

für

Jane Addams / George Habib Antonius / Friedrich Bischoff / Trevor Bolder / Tommaso Campanella / Barbara Cartland / Geoffrey de Havilland / Niki de Saint Phalle / Hugo de Vries / Katherine Dunham / Girolamo Fabrizio / Williamina Paton Stevens Fleming / James Franck / Carlo Emilio Gadda / Phineas Gage / Rajiv Gandhi / John Gielgud / Otto von Guericke / Johann Christoph Friedrich GutsMuths / Nasar Michaylowytsch Hontschar / Maria Jankofsky / Ida Kamińska / Klaus Mann / Richard Allen „Blue” Mitchell / William Nicholson / Hans Paasche / Raymond Louis Gaston Planté / Arturo Prat / Carl Wilhelm Scheele / Ray Stevenson /Franz von Suppè / Tambo no Yasuyori / Sultanmachmut Toraighyrow / Kenneth Binyavanga Wainaina / Ernst Zermelo

 

An diesem Tage meinten wir, es sei kein Stich mehr zu machen:

Valladolid, 1559: in einem Autodafé werden 14 Protestanten verbrannt / 1792: nach dem Ausbruch des Vulkans Unzen auf der japanischen Shimabara-Halbinsel kommen durch einen Tsunami 15.000 Menschen ums Leben / 1996 kentert auf dem Victoria-See die Faähre „Bukoba“, bis zu 1.000 Passagiere sterben / 2003: Erdbeben vor der Küste Algeriens, 2.266 Tote.

 

22. MAI

 

Casting

mit

Emerich Ambros / Charles Aznavour / Johannes R. Becher / Curt Martin Becker / Israel ben Elieser / Arthur Cravan / Gérard de Nerval / Arthur Conan Doyle / Alexander Fesca / Thomas Gold / Lucy Gordon / Eva Gore-Booth / Albrecht von Graefe / Hergé / Kanō Sadanobu / Anton Kippenberg / Marisol / Giacomo Matteotti / Peter Matthiessen / Meri Te Tai Mangakāhia / Harvey Bernard Milk / Robert Neumann / Laurence Olivier / Otto Pick / Naftali von Ropschütz / Anders Wilhelm Sandberg / Marin Sanudo / Benno Schmidt / Marco Siffredi / William Sturgeon / Sun Ra /Jean Tinguely /  Richard Wagner / Betty Williams

 

An diesem Tage glaubten an gute Besetzungen:

Schiras, 1844: Gründung der Bahai-Religion / Berlin, 1848: die Preußische Nationalversammlung tritt erstmals zusammen / Bayreuth, 1872: Grundsteinlegung für das Festspielhaus / Gotha, 1875: Beginn des Gründungsparteitags der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands / 1882: Eröffnung des Gotthardtunnels / New London, Connecticut: 1891 wird erstmals Zahnpasta aus der Tube verkauft / London, 1897: Inbetriebnahme des Blackwall-Tunnels, damals des längsten Unterwassertunnels der Welt / 1972 wird aus Ceylon Sri Lanka / 2010 erfolgt die erste Bitcoin-Transaktion / 2012: Eröffnung des Tokyo Skytrees.

 

Ich notierte:

1974: Nach Feierabend nach Meuschau. Die Polterabend-Vorbereitungen laufen auf vollen Touren. Meine Mutter wäscht Gläser ab, Oma rührt im Kartoffelsalat. Schon den ganzen Tag über, fühlte ich mich aber wie zerschlagen, bin apathisch müde, fahre nach Leuna und gehe schon gegen acht ins Bett. Mein Gott, das habe ich wohl seit meiner Kindheit nicht mehr gemacht.

1981: Will man über die Zeit unserer faschistischen Vergangenheit, über den Krieg, schreiben, hat man sich der Gefühle, die man beschreibt und erweckt, äußerst bewusst zu sein. Erstens ist damit mehr als genug Schindluder getrieben worden, auf beiden Seiten, drüben wie hier (Frau Professor Schmidt sagte mir gestern: „Die Menschen, die zugleich Opfer und Schuldige sind, sind zu beschreiben!“), zweitens leben Augen- (oder besser: Gefühls-)Zeugen dieser Zeit unter uns, die Schmerz und Hass (wohin der sich auch immer richtete) kaum vergessen haben dürften. In einer Diskussion am Dienstag sagte ich, etwas ganz anderes sei es, über die ferne Vergangenheit, den Bauernkrieg beispielsweise zu schreiben, da kannst du letztens machen was du willst… Ich meine das Zeitgefühl, das was ein Nachgeborener nicht erahnen, kaum einfangen kann. Da muss man sehr präzise arbeiten, um zu sensibilisieren. Am Abend „Draußen vor der Tür“ im Fernsehen. Und mir wird klarer, weshalb ich in letzter Zeit, auch heute wieder, auf Friedhöfen herumsuche: Borcherts Beckmann (der wie der Autor zwar Überlebenden sowie Opfer dieses Krieges war) ist etwa so alt, wie ich es heute bin. Und schon gibt es Verständigungen über Zeiten, über Zeitgeiste, über Generationen hinweg – falls es ein Erwachen aus milchigem Lebensschlaf gibt, der jeden Krieg erst möglich machte, und nun wieder den dann wohl letzten Weltkrieg möglich erscheinen lässt. Warm warum nur immer wieder? Warum, warum nur lässt sich nicht lernen aus den Qualen, den Schmerzen, den Verzweiflungen, all den Ängsten? Warum glaubt ein jeder der Friedensgeneration dem Kriegstod entgehen zu können? Sehnsucht nach Aufputschung der vom Frieden erschlafften Sinne? Mord, um der Langeweile eines unerfüllten Daseins entgehen zu können? Bringt das all diese friedlich blökenden Herden hervor? Die man treiben kann, wohin man will? Schizophren fast zu begreifen, dass man Frieden mit Waffen erzwingen will. Ich versuche also zu glauben, also zu hoffen, ich muss… Allein schon, um eigenen Ängsten begegnen zu können? Doch ist an unseren Schulen humanes Denken nicht zerredet worden? Wird Falschheit, Verlogenheit, einseitiges Betrachten letztlich Frieden unmöglich machen? Wird nicht begriffen, noch immer nicht, dass wir alle ohne Frieden nicht existent wären? Wächst erst aus der Verzweiflung die Kraft, wirklich Großes zu vollbringen? Ja, was für ein Mensch lebt mit Beckmann, dank Borchert, unter uns!

2000: Scheußliches Wetter, 10°C und Regen. Dennoch muss ich in den Harz, nach Molmerswende. Ingrid Hinze bat mich, ihre Klasse, im Gottfried-August-Bürger-Museum zu treffen und über Münchhausen zu erzählen. Klar, dass ich ihr sofort zusagte, als sie anfragte. Sie ist noch eine von den Lehrerinnen, die sich im besten Sinne um ihre Schüler kümmern, ihnen nicht nur Wissen, sondern Haltungen und Werte zu vermitteln sucht. Dafür muss sie nach diesem Schuljahr in den Vorruhestand. Das ist heute also so etwas wie ihre Abschiedsveranstaltung. Im Fernsehen am Abend die Nachricht, dass der NATO-Rat tagte und beschlossen hat, auf dem atomaren Erstschlag zu beharren, sogar gegen Nichtatom-Staaten. Das ist hirnrissig, treffen diese Entscheidung auch die USA und Großbritannien, die gestern in der UNO noch das Gegenteil sagten... Verrückt, einfach verrückt diese Welt.

2008: Makadi Bay. Am Pool mit einem Auge nach der schwerbrüstigen Schönen schielend, mit dem anderen Ibn al-Muqaffa lesend: „Wisse, dass die Leidenschaft für die Frauen zu den Dingen gehört, die in der Religion oft umstritten sind, den Körper schwächen, den Besitz ruinieren, den Verstand töten, die Mannhaftigkeit verderben und Erhabenheit und Würde schnell verschwinden lassen…“ rutscht mit die Brille von der Nase (Sonnencreme, Lichtschutzfaktor 50), zersplittern die Gläser – Schemen, Wrasen, Schliff! Und was sagt mir das?

2021: Am Vormittag habe ich die Ehre, in Halle für MDR Kultur interviewt zu werden, bin zur besten Sendezeit (um 11) eine Stunde lang live auf Sendung. Das tut gut.

 

Credo

für

Joseph Aub / Baal Schem Tov / Edward Bellamy / Adolf Born / Laskarina Bouboulina / Carlfriedrich Claus / Maria Edgeworth / Teodors Hofmanis / Langston Hughes / Victor Hugo / Kurt Jooss / Mory Kanté / Judith Kerr / Marion von Klot / Otto Knöpfer / Konstantin der Große / Antonín Macek / Alessandro Manzoni / Claude McKay / Albert Memmi / Julius Plücker / Jules Renard / Philip Roth / Margaret Rutherford / Ludwig Schumann / Klaus Selmke / Sæmundur Sigfússon / Theodors Taube / Ernst Toller / Daniel Wilhelm Triller

 

Davon hörten wir als Bekenntnis zum Teuflischen:

1088 gab es in Merseburg ein Erdbeben / St. Albans, 1455: Beginn der Rosenkriege / Quintillshill, 1915: Eisenbahnunglück, 230 Tote / Quinghaiu, 1927: Erdbeben, bis zu 200.000 Menschen kommen ums Leben / Valdivia, Chile, 1960: stärkstes bis dato aufgezeichnetes Erdbeben mit 9,5 auf der Richterskala, bis zu 5.000 Tote / Brüssel, 1967: bei einem Kaufhausbrand kommen 322 Menschen ums Leben / 1968 sinkt das amerikanische Atom-U-Boot „Scorpion“ bei den Azoren mit 99 Mann an Bord / Bingöl, Anatolien, 1971: Erdbeben, 1.000 Tote / Bolivien, 1998: Erdbeben, 105 Tote / Mangaluru, Indien, 2010: eine Boeing 737 rast über die Landebahn hinaus, 158 Menschen kommen ums Leben / Karatschi, 2020: ein Airbus A320 verunglückt kurz vor der Landung, 97 Tote / Manchester, 2017: Terroranschlag während eines Pop-Konzertes, 23 Todesopfer.

 

 

23. MAI

 

Luftsprünge

mit

Abdul-Bahā’ / Friedrich Achleitner / Luca Attanasio / Leo Baeck / John Bardeen / Charles Barry / Léona Hélène Boucher / Rosemary Clooney / Camille Ghislaine Delcourt / Jules Dumont d’Urville / Käte Duncker / Douglas Fairbanks sen. / Ludwig Frank / Sarah Margaret Fuller / Gustaw Gwodecki / Max Herrmann-Neiße / Dieter Hildebrandt / Ulla Mai Jacobsson / Heinrich Kämpchen / Harry Graf Kessler / Pär Lagerkvist / Karl Wilhelm Otto Lilienthal / Carl von Linné / Robert Moog / Ernst Niekisch / Frida Poeschke / Annemarie Schwarzenbach / Artie Shaw / Albert Thoralf Skolem / Ceija Stojka / Agathe Uwilingiyimana / Walther Karl Waßermyer

 

Da wollten wir wie befreit aufspringen:

Heiligerlee, 1568: Beginn des Achtzigjährigen Krieges, des Befreiungskampfes der Niederlande gegen die spanische Herrschaft / Wien, 1829: Cyrill Demian erhält das Patent für das von ihm erfundene Akkordeon / Leipzig, 1863: Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, aus dem die SPD erwächst / Flensburg-Mürwik, 1945: Absetzung und Verhaftung der Regierung Dönitz durch die Alliierten, Ende des Dritten Reiches / 1949. Verkündigung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland / Brasilia, 2005: Gründung der Union Südamerikanischer Nationen.

 

Ich notierte:

1974: Ausgeschlafen auf Arbeit, gegen Mittag habe ich alle anfallenden Arbeiten erledigt und sogar noch Vorbereitungen für die Tage meines Urlaubs getroffen. So wird meinem Wusch entsprochen, heute schon vorzeitig Feierabend zu machen. Jeanny freut sich, dass ich schon komme. In der Wohnung sind tatsächlich die Klempner bei der Arbeit. Das Bad ist fast badefertig. Unglaublich. Unsere Polterbereitschaft nimmt zu, Jeanny und ich fahren nach Merseburg, kaufen noch einige Kleinigkeiten ein und holen Petra, Jeannys Freundin, vom Bahnhof ab. In Meuschau sitzen schon etliche Tanten vor aufgeschnittenen Brötchen. Die jungen Tanten Jeanny und Petra helfen, Wurst hineinzulegen und zuzuklappen. Ich beschäftige mich mit dem Bier. Und nach einigen Versuchen gelingt es mir, das Fass anzuschließen. Der erste Trunk auf die kurz bevorstehende dritte Ehe-Etappe wird kredenzt. Und das Warten setzt ein. Einige Kinder beginnen vorm Haus Blumentöppe zu zerdeppern, Doch endlich fährt die erste Taxe vor. Christian steigt mit einer sichtlich schweren Kiste heraus. Der Polterreigen setzt ein. Nach und nach füllt sich das Haus mit Gästen und die kleine Brücke vor dem Haus mit Scherben. Spreng kommt mit einem Handwagen voller ausrangierter Musikinstrumente. Der große Polterabend nimmt seinen Lauf. Manche, die ich erwartet hatte, erscheinen nicht, doch scheinen nicht Erwartete geschickt zu haben. Der Reigen wird toller und lauter. Gegen Mittagnacht tauchen weitere Musikanten auf, das Stimmungsrad dreht sich immer schneller, Opa schallert und schallert mit seiner Mundharmonika, alle singen mit, wir feiern bis in die Morgendämmerung hinein…

1980: Weiter mit den Kramer-Vertonungen. Vielleicht kann ich die für die nächste Session gebrauchen? Oder gebe ich die Lieder besser Olaf für sein Repertoire? Leo hat mir Reifen für den Trabi besorgt, bringt die vorbei. Sollte die alte Kiste doch noch mal fahrtüchtig werden?

1981: Tagebuch nicht wegen einer (scheinbaren) Chronologie, sondern als Sammlung wie Motivation verschiedner Schreibstimmungen und –ansätze, Puzzleteile, die letztlich im Kopf des Lesers zu einem Ganzen gefügt werden könnten.

Im Literaturzentrum Halle Diskussion unter dem Dreigestirn Sachs, Korall, Jendryschik – wobei Jendryschik eindeutig das Sagen hat (er soll wohl auch neuer Vorsitzender des Bezirksverbandes werden). Doch ich finde einmal mehr keinen Zugang zu ihm. Die Texte, die ich ihm für eine Anthologie geschickt hatte, lässt er mich vorlesen, doch bleibt in der Diskussion darüber nichtssagend. Sachs und Korall sagen mir dann, dass sie meine Abschlussarbeit „Sprachlos“ zum laufenden Literatur-Wettbewerb des FDGB eingereicht hätten. Trostpflästerchen?

1983: Irgendwie das Gefühl, dass es noch eine ganz andere, viel interessantere, aufregende Welt gäbe – außerhalb von Erreichbarkeiten, unerreichbar also? Vorboten einer Midlife crisis (da man Dreißig wird) verdammt, oder Zweifel an den eigenen Erfahrungen, den alltäglichen Sicherheiten? Sucht nach dem Außergewöhnlichen, dem Tollen, Furcht, was zu verpassen? Und eigentlich glaubte ich mir schon eine Antwort gegeben zu haben, glaubte zu wissen, wie ich „funktioniere“, wie Treibsand ins Getriebe kommt…

2000: Heute hatte ich einen Termin zur Planung des Projektes „Unser Dorf liest“ in Bad Bibra, aber die Bibliothekarin ruft in aller Herrgottsfrühe an und sagt den Termin ab. Immerhin bereden wir zumindest das Wichtigste am Telefon. So baue ich denn den Tag um, fahre nach einigen Büroarbeiten ins Merseburger Stadtarchiv, wühle mich durch etliche Sparkassenakten für die Sparkassenchronik. Am Nachmittag weiter mit Büroarbeiten und am Abend Generalprobe in der Ölgrube für unseren nächsten Oldie-Abend.

2012: Becici. Leichtfertig hatte ich versprochen, in Montenegro Ansichtskarten zu verschicken. Die gibt’s zwar auf Schritt und Tritt und in allen Formaten und Qualitäten, Briefmarken jedoch ausschließlich auf dem Postamt. Endlich entdeckt, hat das am Montag aber geschlossen (Unabhängigkeitstag). Und am Dienstag muss offenbar nachgefeiert werden (man ist ja erst seit sechs Jahren unabhängig). Am Mittwoch schließlich scheint man dann wohl der Meinung, dass es nun für den Rest der Woche eh nicht mehr zu öffnen lohnt. Verdächtig allerdings, dass vor mir ein riesiger Kerl mit Sense in der Hand an der Postamtklinke rüttelt.

 

Lebewohl

für

Louis Artan / Olga Beanrio-Prestes / Moritz August Benjowski / Jonas Breitenstein / Eric Carle / Georges Claude / Jarosław Dąbrowski / Luis de Góngora / Giovanni Falcone / Peter Göring / Sterling Hayden / Josef Hoop / Henrik Ibsen / Wilhelm Kempff / Karl Koch / Hans Koessler / Aleko Konstadinow / Louis Le Nain / Maxime Maufra / Arno Mohr / Roger Moore / Georges Moustaki / John Forbes Nash Jr. / Franz Ernst Neumann / Ernst Niekisch / Paul Nizan / Joe Pass / Georges Politzer / Charles Ferdinand Ramuz / Leopold von Ranke / Jules Renard / John D. Rockfeller Sr. / Barbara Rudnik / Girolamo Savonarola / Hans Scheibner / Scheikh Yusuf / Klaus Seehafer / Altiero Spinelli / Sophie Eleonore Walther / Yanji I / Atahualpa Yupanqui

 

Das erschien uns wie ein Abschied:

1618: Fenstersturz zu Prag, Beginn des Böhmischen Ständeaufstandes und sukzessive des Dreißigjährigen Krieges.

 

 

24. MAI

 

Stabilisierung

mit

Demetrio Aguilera Malta / Johannes Ilmani Auerbach / Johann Gottfried Borlach / Joseph Brodsky / Rodrigo Alejandro Bueno / Jacopo da Pontormo / Georg Raphael Donner / Daniel Gabriel Fahrenheit / Louis Fürnberg / Abraham Geiger / William Gilbert / Marie Goegg-Pouchoulin / Arvid Harnack / Dietrich Herfurth / Hu Xiansu / Marcel Janco / Jakon Friedrich Kammerer / Friedrich Karl Klausing / Johann Kravogl / Emanuel Gottlieb Leutze / Jean Paul Marat / Gina Paine / Lilli Palmer / Jean-Baptiste Pillement / George Tabori / William Trevor / Victoria / Arnold Wesker

 

An diesem Tage glaubten wir an Stabilisierungen:

Stralsund, 1370: Ende des Zweiten Waldemarkrieges zwischen Dänemark und der Hanse / 1681 wird in Südfrankreich der Canal du Midi eröffnet / 1791: Gründung der Sing-Akademie zu Berlin / Dublin, 1798: Beginn der Irischen Rebellion gegen britische Fremdherrschaft / Schweden, 1810: Baubeginn des Göta-Kanals / Washington D.C., 1844: Samuel Morse sendet das erste Telegramm / New York, 1883: Inbetriebnahme der Brooklyn Bridge / 1899 beschließt der Deutsche Reichstag das Gesetz zur Alters- und Invaliditätsversicherung / 1950: Proklamation des Königreiches Jordanien / 1993 erklärt Eritrea seine Unabhängigkeit von Äthiopien.

 

Ich notierte:

1974: Als ich erwache liege ich angezogen auf Großmutters altem Ehebett in der Abstellkammer. Neben mir rekelt sich Jeanny. Mein Kopf könnte eine Mütze aus Bandeisen vertragen. Als wir dann  aufstehen, sitzen nebenan, in meinem alten Zimmer, etliche Zecher schon wieder (oder noch immer?) beim Bier: Wim, Lotte, Christian, Seni und Emil. Und irgendjemand muss den Einfall gehabt haben, Opas Karnickel aus den Ställen zu holen. Die Biester hoppeln im Zimmer herum und lassen munter ihre Murmeln fallen. Doch niemand scheint’s zu stören. Dann müssen die Reste des Polterabends vertilgt werden, was gut gelingt, obwohl Meister Zech schon graue Ringe unter unsere Augen und rote Fädchen in unsere Augen gemalt hat. Gegen Mittag fahren Jeanny und Emil nach Leuna, ich verspreche abends nachzukommen. Vater fährt mich dann mit den Geschenken und allerlei Krimskrams für die morgige Hochzeit nach Leuna. Und es wird kräftig nachgepoltert.

1996: Mailand. Schlendern vom Duomo zum Castello Sforzesco. Plötzlich aber fallen mich Kinder an. Eines versucht mich durch Wedeln mit einer Tageszeitung, ein anderes durch Kneifen in meinen Arm abzu­lenken, ein drittes müht sich derweil, Finger in meine Hosentaschen zu zwängen. Ohne Erfolg letztlich zwar, doch sah ich als Tourist hier wirklich so reich oder blöd aus, daß sie diesen Angriff wagten?

1999: Nach zehn Stunden Direktflug via Mahé landen wir kurz vor acht in Frankfurt. Bis zum Weiterflug nach Leipzig bleiben uns jedoch noch 5 Stunden (Pfingstmontag fliegt die Morgenmaschine nicht). Also ab mit der S-Bahn in die Innenstadt. Paulskirche, Römer, Kaiserdom. Und vorm Hochhaus der Deutschen Bank (wirklich genau da!) passiert uns, was uns die ganze Zeit in Afrika nicht passiert war: Wir werden angebettelt. „Eh, haste mal ‘ne Mark...“ Beim Anflug auf Leipzig überqueren wir bei guter Sicht Leuna, sehen tief unten unverkennbar das Werk, die Stadt, entdecken sogar unser Haus. „Hey, we’re coming back!“

2000: Am Morgen schreibe ich am Vorwort für das Leuna-Buch, dann nach Halle in die Saalkreis-Bibliothek zum „langen Bibliothekstag“. Schöne Tradition um Kinder ans Lesen heranzuführen. Gegen Mittag bin ich in Querfurt im Stadtarchiv, wo ich einige Unterlagen für die Sparkassenchronik einsehe, dann nach Hause. Nachmittags und abends Büroarbeiten.

Nachrichten: Am Morgen hat der letzte israelische Soldat nach 22jähriger Okkupation den Süd-Libanon verlassen. Ein mutiger Schritt hin zum Frieden im Nahen Osten (hoffe ich zumindest).

2020: Weltweit sind mittlerweile 5,3 Millionen Corona-Infizierte und 342.000 Todesfälle gemeldet. Am schlimmsten wütet die Seuche dort, wo Populisten, wo Zerstörer regieren: USA, Brasilien, Großbritannien… Zufall? In Deutschland werden die Beschränkungen nach und nach gelockert, Thüringen will zum 6.6. sogar alles aufheben, sogar die Regel, mindestens 1,5 Meter Abstand zu halten. Der Druck von Protestlern, von Verschwörungstheorikern wird immer stärker, gelenkt von der populistischen AfD. Absurd, diese Instrumentalisierungen einer Pandemie, krank, einfach krank.

2023: Die Menschenrechtsorganisation „Walk Free“ schätzt in einer Studie, dass aktuell etwa 50 Millionen Menschen in moderner Sklaverei gefangen sind – 10 Millionen mehr, als vor 5 Jahren…

 

Stillstand

für

Kalcidon Agius / Lourdes Alves Araújo / Carl Amery / Heinrich Apel / Zacharie Astruc / Gene Clark / John Condon / Matteo da Campione / Denzil DaCosta Best / Annette von Droste-Hülshoff / Wiktor Isidores dse Dolidse / Duke Ellington / William Lloyd Garrison / Erich Giersberg / Gotthard Graubner / Paul Dedrick Gray / Wolfgang Hellmert / Hiratsuka Raichō / Elmore James / Karl-Heinz Jankofsky / Denis Johnson / Elisabeth Käsemann / Rob Knox / Nikolaus Kopernikus / Lucien Lévy / Amado Nervo / Georg von Neumayer / Juan Jesús Posadas Ocampo / Pylyp Orlyk / Marcel Renault / Wladimir Petrowitsch Resizki / Jaime Roldós Aguilera / Anneliese Rothenberger / Eugen von Schlechtendahl / Julius Schnorr von Carolsfeld / Gunhild Tegen / Tina Turner / Michail Alexandrowitsch Scholochow / Stanko Vraz / Georg Waitz

 

Da kam uns alles zum Stillstand:

1571: brandschatzen die Krimtataren Moskau / Merseburg, 1627 „abends um 5 uhr erhub sich ein groß Donnerwetter, es warff Schloßen wie die Hände groß, es that alhier in den Dächern u. Fenstern großen schaden und schlug in 14 Dörffern alles Getreidigt darnieder“ / 1667: Beginn des ersten Reunionskrieges zwischen Frankreich und Spanien / Lima, 1964 kommt es bei einem Fußballspiel zu einer Massenpanik, 328 Menschen kommen ums Leben.

 

 

25. MAI

 

Gründung

mit

Sudirman bin Arshad / Jorge Barbosa / Jürgen Borchert / Jacob Burckhardt / Raymond Carver / Rosario Catellanos Figueroa / Haraldo Conti / Ralph Waldo Emerson / Karlhans Frank / Naim Frashëri / Paul Frischauer / Johann Gorgias / Anne Heche / Louis-Sébastien Lenormand / Robert Ludlum / Sugar Minott / Karl Wolfgang Franz Motesiczky / Billy Murray / Ain Rannaleet / Gustav Regler / Wilhelm Rüstow / Rafael Schächter / Igor Iwanowitsch Sikorski / Mamie Smith / Jack Steinberger / Ray Stevenson / Georg Christian Unger / Max von der Grün / Lizzi Waldmüller / Christian Weiß

 

Da hielten wir für zukunftsweisend:

1013: Kaiser Heinrich II. besiegelt mit Boleslav von Polen den Frieden von Merseburg / 1810 wird Argentinien unabhängig / Wien, 1869: Eröffnung des Neuen Opernhauses am Ring / 1916: Erster Spatenstich für das Ammoniakwerk Merseburg, die späteren Leuna-Werke / Addis Abeba, 1963: Gründung der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) / Kuwait, 1981: Gründung des Golf-Kooperationsrates / Tadschikistan, 2004: Eröffnung des Kulma-Passes / 2011 wird die Rinderpest für ausgerottet erklärt.

 

Ich notierte:

1974: Hochzeit. Aus meinem Unterbewusstsein drängt eine kribbelnde Nervosität auf. Jeanny sitzt vorm Spiegel und ist mit dem Make-up, dem Aufstecken der Haare und wasweißich noch allem beschäftigt. Ab und zu wirft sie einen Blick aus ihren Spiegelaugen auf mich, der sich in den Hochzeitsanzug hineinquält. Dabei hätten es doch für das formale JA auch Jeans getan. Doch soll das alles ja mehr sein, soll die Erinnerung daran auch noch in Jahren was Besonderes sein, hoffentlich… Präpariert laufe ich im Wohnzimmer auf und ab, der Teppich scheint kein Ende zu nehmen. Glückwunschkarten werden in den Briefkasten eingeworfen. Evi kommt mit Falk und den Kindern. Marianna und Martin putzen sich zu Standesamt-Gaffern heraus. Endlich kommt die Hochzeitstaxe. Der erste Schub fährt dem Brautpaar voraus. Dann steigen auch wir hoch zeremoniell ein. Und alles, was nun kommt, spult sich mir ab, wie ein traumhafter Kurzfilm. Im Rathaus weicht das Kribbeln und Ruhe zieht ein: wir sitzen auf breit ausladenden, hoffentlich nicht omenträchtigen, grauen Sesseln. Hinter uns die Gefolgschaft. Festlich kitschige Musik mischt sich mit „ergreifenden“ Worten und Schluchzen und Tränenflüssen. Schon sind die Ringe getauscht, doch den Kuss haben wir vergessen. Aufstehen und wieder setzen und küssen bitte! Großes Aufatmen. Der letzte Ton verklingt und es darf gratuliert werden. Mütter, Väter, Oma und Opa, Marianna und Martin und und und pressen uns je nach Empfinden Hände, Schultern oder Gesichter. Die Taxe fährt das junge Paar zum Fotografen nach Merseburg. Diese ganze Festlichkeit haftet noch dermaßen an mir, dass ich mich nicht getraue, eine Zigarette zu rauchen. Beim Fotografen steht dann ein Paar, das auf Kommando lächelt, vor der Linse. Und selbst diese Formalität kriegen wir hin, werden nach Leuna zurückgefahren. Im Häuschen sind mittlerweile all die lieben Onkels und Tanten aus Berlin eingetrudelt. Ich bin ihnen ja noch unbekannt, doch nachdem sie mich als Bräutigam identifiziert haben, werden wir mit guten Wünschen und Geschenken überhäuft. Dann sind Dankesworte gesprochen und wurde Freude gezeigt. Ich erwische Jeanny flüchtig mit den Augen, zwinkere ihr zu. Sie zwinkert zurück. Wir machen uns aus dem Staub. Ein Onkel fährt uns in die Feierhallen, fährt uns ins Jugendklubhaus. Hier warten nun all die Onkels und Tanten meiner Sippschaft… Meine Mutter steht mit Brot, Salz und Wasser vor der Tür. Weitere Hände und Geschenke. Die festlich gedeckte Tafel setzt mich in Erstaunen, so was hatte ich hier nicht erwartet. Jeanny scheint es aber als normal zu empfinden. Bis zum Mittagessen bleibt noch Zeit, zumal die Klepzig-Gefolgschaft noch komplett auf sich warten lässt. Wir plaudern anständig mit diesem und jenem und schlagen uns endlich zu meinen Musikern, denen ja die Teilnahme verwehrt werden sollte, durch. Es tut mal für ein paar Minuten keine Floskeln und Höflichkeiten sprudeln, keine wie auch immer geartete Rücksicht nehmen zu müssen.

Dann treffen die Klepzigs ein, bald ist der Saal mit Menschen im Stimmengewirr dicht versponnen. Und als es dann an die Tafel geht sehe ich von meinem Ehrenplatz an der Stirnseite aus, dass nicht alle Platz finden. Mutter zischelt mir zu: „Hättest du nur nicht diese blöden Musiker…“ „Ja, schon gut!“ This day will be a happy day! Und selbst dieses Problem lost sich rasch, Walter, der Gastwirt, verlängert die T-förmige Tafel einfach um einen Tisch. Und der ist schnell eingedeckt. Das Essen kann beginnen.

Neben mir erhebt sich der Keketsch, klopft ans Glas, räuspert sich und schwingt die Brautvaterrede. Alles erhebt sich, um auf das junge Glück anzustoßen. Zum Wohl! Ich sehe im Augenwinkel, wie Martin den Musikanten durch Gesten vorschreiben will, sitzen zu bleiben, sie gehörten hier nicht dazu. Das wird mir nun langsam zu ärgerlich und peinlich, doch lässt sich meine Band davon – Gott sei dank – nicht beeinflussen. Und endlich kann die Mahlzeit wirklich beginnen. Überall sehe ich zufrieden schmatzende Mäuler. Das Essen ist wirklich gut. Dann kringelt sich der Rauch der ersten Nachessenszigaretten zur Saaldecke auf, die starre Festlichkeit löst sich auf. Die bis hierhin schleppend verstreichende Zeit beginnt zu rasen. Unterhaltungen, Zuprostereien, Fotogrinsen. Der Diskjockey erscheint. Die Musik setzt ein und parzelliert die Szene in ständig wechselnde Gruppierungen von Tänzern, Diskutierern, Schweigern und Trinkern. Umrahmt wird das Ganze von quirlig jauchzenden Kindern. Zum zweiten Mal wird die Tafel eingedeckt. Kaffeezeit. Aber das ist nichts für mich. In einer Pseudorede gebe ich Dankesworte und Entschuldigungen zugleich ab. Man hört mir zu oder schmunzelt in sein Bierglas an der Kaffeetafel. Kaum sind die letzten Tortestückchen verschlungen, als die Mutter der Mutter, Jeannys Oma also, uns befehlend bittet, doch mal mit ihr kurz nach Hause zu fahren. Wir hätten heute Vormittag ihre Geschenke nicht gebührend gesehen und gewürdigt. Also lassen wir uns in Vaters Auto zwängen und ich stelle Schwiegergroßmutter zufriedne. Im Festsaal hat sich mittlerweile ein gemischter Männerchor gebildet. Die Musiker, der Keketsch, mein Opa, Martin und einige Onkels stehen vom Alkohol vereint mit weitschwingenden Stimmbändern vor der Diskothek. Diese beachtliche Formation löst sich in fliegenden Wechseln mal auf, bildet Diskutiergruppen und findet sich neu zusammen. Ich stehe mal hier, mal da, mal mit, mal ohne Jeanny, mal mit, mal ohne Bier… Und inzwischen hat Walter in der Bar das kalte Büffet angerichtet. Und mit vielen Oohs und Aahs macht sich die Hochzeitsgesellschaft nun darüber her – der letzte gemeinsame zeremonielle Akt des Tages. Und alsbald beginnen die ersten aufzubrechen. Verwundert blicke ich zu Jeanny, dann zur Uhr. Es ist tatsächlich schon 24.00 Uhr! Bald sind wir mit den Musikanten und meinen Eltern allein. Walter scharrt emsig Reste zusammen. Dann fährt nochmals eine Taxe vor und bringt uns in unsere Wohnung. Da wir noch immer keine Schlafzimmermöbel haben, bereitet mir Jeanny aus Decken und Mänteln ein Lager auf dem Küchenboden. Sie selbst schläft bald auf unserer schmalen Chaiselonge. Und auch mich umhüllt schließlich der gesunde Hochzeitsnachtsschlaf.

1999: Silberhochzeit nun also heute. Halbwegs scheinen wir uns nach reichlich Schlaf in die hiesigen Zeitabläufe schon wieder eingepasst zu haben, sind zumindest längst nicht so „innerlich verwirrt“ wie nach unseren Canada-Trips, spüren keinen Jetleg. Gewöhnungsbedürftig hingegen sind für Leute, die soeben von der südlichen, von der Winterhalbkugel sozusagen einflogen, die späten Sonnenunter- und frühen Sonnenaufgänge. Und mir fehlt irgendwie die Geräuschkulisse des tropischen, mauritianischen Vogelgeschreis...

Am frühen Nachmittag erscheinen Martin und Dettel, Jeannys Brüder, als erste Hochzeitsgäste. Ein erstes Bierchen im Garten. Und dann ins Kostüm (neuer Anzug, neues Hemd, neue Fliege, neue Schuhe) und ab nach Spergau, in die „Linde“, wohin wir unsere Gäste geladen hatten. Und nach und nach trudeln auch tatsächlich alle ein: Freunde, Familienangehörige und meine alte Band spielt auf. Cathi und Jens haben in mühevoller Puzzlearbeit aus Familienfotos eine Hochzeitszeitung zusammengestellt, Cathi hält bei der Übergabe sogar eine Rede. Und dann spricht zu unser aller Überraschung mein Vater (sogar die Mutter hatte er nicht eingeweiht). Und er rekapituliert unsere 25 Jahre aus seiner Sicht, eine anrührende Rede. Am Ende umarme ich meinen Vater spontan und auch Jeanny reagiert so. Das ist wohl schon eine ganze Weile nicht mehr vorgekommen, denn von gewissen Spannungen war unser Verhältnis immer geprägt, obwohl sich das mit dem Altern meines Vaters zunehmend entschärfte.

Mine singt und tanzt spontan, der Dicke verblüfft mich mit einer CD unserer alten Band-Titel (dass ich jemals noch eine CD in der Hand halte, auf der ich als Textautor und Musiker stehe hätte ich wohl nicht erwartet). Spergaus Bürgermeister überreicht eine Art Ehrentafel für Jeanny und mich (und bezirzt mich den Abend lang, eine Job in Spergau anzunehmen, er hätte da noch einiges vor...). Klar, dass schließlich auch ich rede, mich bedanke, für die Geschenke, die Hochzeits-Stimmung und überhaupt. Und dann tanzt Cathi nochmals, hat eigens für uns einen Tanz einstudiert. Jeanny und ich strahlen wie Kinder, halten uns an den Händen. Ich tanze sogar und freiwillig. Was für schöne Überraschungen, was für ein Schwebegefühl, was für ein toller Abend, was für ein wichtiger, bedeutsamer Tag für unsere Beziehung, für Jeanny und mich! Alles wirkt heute wie spielerisch. Klar, dass ich mit meiner Band spiele, wie selbstverständlich den Bass umschnalle. Für Hochstimmung sorgt auch, was die Spergauer Gastronomie so alles bietet. Alles, schlichtweg alles scheint heute perfekt, ermutigend, hoffnungsvoll. So sehr mir auch bewusst ist, dass schlichtweg 25 Jahre vergangen, wir also längst nicht mehr die ganz Jungen sind, wächst da wieder Lust auf und Kraft für Kommendes.

2001: 27. Hochzeitstag- Und zum ersten Malhaben wir beide im Alltagsstress vergessen, was das für ein Tag ist. Erst am Abend ruft Jeanny plötzlich von der Arbeit, aus dem Heim, an und fragt, ob wir vielleicht was vergessen hätten… Immerhin haben die Kinder daran gedacht, haben eine Flasche Sekt kalt gestellt, die wir, als Jeanny gegen Neuen von Schicht kommt, gemeinsam leeren.

2012: Albanien. Einen ersten der rund 700.000 kleinen, kuppligen Bunker, die Enver Hoxha bauen ließ, da er paranoid Angriffe der Jugoslawen, der Griechen, der Italiener, wohl der ganzen restlichen Welt fürchtete, deshalb auch albanische Straßen so kurvenreich anzulegen befahl, dass darauf kein feindliches Flugzeug landen kann, einen ersten Bunker also entdecke ich gleich hinter der Grenze, weitere dann auf dem Weg nach Shkodra. In den Städten seien diese Betonrelikte gut 20 Jahre nach der albanischen Wende, der Entmachtung Hoxhas, weitestgehend beseitigt, da dies aber kostspieliger sei, als es das heimwerkelnde Errichten einst war, ließe man auf dem Lande einfach Gras drüber wachsen, Efeu, Weinranken, Wicken… Und dass Albanien nicht mehr das hermetisch isolierte Armenhaus Europas ist, lassen schon die ersten durchfahrenen Dörfer erahnen. Selbst hier hat nun die Konsummoderne mit all ihrer Werbung und ihren Läden Einzug gehalten. Und es kurven reichlich Autos herum: Mercedes, Mercedes, Mercedes (wobei auffällt, dass zahlreiche Prunkkarossen Rechtslenkung haben, also wohl und wie auch immer aus Großbritannien hierher kamen). Und in der alten Landeshauptstadt Shkodra sind dann Neubauten nicht zu übersehen. Wir besteigen jedoch erst einmal die stolze Festung Rozafa, gegründet womöglich von den Vorvätern der Albaner, den Illyrern. Zumindest bestätigt uns ein deutscher Archäologe, der mit seinem Team in einem der Burghöfe gräbt, dass man auf der Suche nach illyrischen Grundmauern sei. Seines Gleichen suchender Rundumblick vom Burgturm: gen Adria der malerische Zusammenfluss von Drin und Buna, gen Gebirge der größte See des Balkans, der hier Liqeri i Shkodrës und dessen montenegrinischer Teil Skadarsko jezero heißt. Grün, sattes Grün ringsum und schließlich das beige-rote Häusermeer Shkodras. Für ein Land, das von Enver Hoxha in den 1960ern zum ersten atheistischen Staat der Welt proklamiert wurde, wachsen hier nachdenkenswert viele Minarette, aber auch orthodoxe und katholische Kirchtürme gen Himmel. Für ein offenkundig friedliches, tolerantes Zusammenleben der Gläubigen aller Konfessionen könnte sprechen, dass vor der neuen, großen Moschee im Zentrum ein Denkmal für Mutter Theresa (die in Shkodra zur Schule ging) steht, Blumensträuße auf dem Sockel. Unverändert seit Enver Hoxhas Zeiten scheinen jedoch albanische Fahrräder. Und irgendwie ist hier noch nicht angekommen, dass man die Sattelhöhe verstellen kann. Jedermann (und –frau) sitzt de facto direkt auf dem Rahmen und strampelt sich in grotesken Verrenkungen ab. Aber ansonsten, wie gesagt, augenscheinlich ein Land im Aufbruch.

2019: Am Tag unserer Messing-Hochzeit suchen wir imFreyburger Friedwald nach einem Grabbaum – für dereinst, gemeinsam… Allerdings humpele ich, da mich die von meinem Vater ererbte Gicht plagt.

2021: Jeanny und ich begehen unseren 47. Hochzeitstag: nach wie vor Corona, nach wie vor Mistwetter, ich hole uns am Abend was vom Italiener und wir gucken von DVD Claptons letztes Blues-Festival.

 

Gebet

für

Charles à Court / Aldhelm von Sherborne / Ab dar-Rahman as-Sufi / Maksim Bahdanowitsch / Pedro Caldéron de la Barca / Roy Brown / Robert Capa / Andreas Dahl / Júlio Dantas / Marie-Madeleine de La Fayette / Desmond Dekker / Willi Fährmann / Emanuel Feuermann / George Perry Floyd / Gemma Rainer Frisius / Eric J. Gale / Wardell Gray / Gustav Theodore Holst / Herb Jeffries / Kishida Tomiko / Renate Krößner / Wilhelm Georg Alexander von Kügelgen / Bruno Manser / Herbert Nachbar / Johann Nestroy / Asta Nielsen / Bradley James „Brad“ Nowell / Witold Pilecki / Ljobow Sergejewna Popowa / Helga Raumer / Fred Rodrian / Warren Harding „Sonny“ Sharrock / Steinn Stanarr / Bronwen Wallace / Sunny Boy Williamson II. / Karl August Wittfogel / Eva Zippel

 

An diesem Tage schien uns nur noch Beten weiterzubringen:

Mobile, Alabama, 1865: Explosion eines Munitionslagers, 300 Tote / Iran, 1923: 2.200 Todesopfer / Chicago, 1979: eine DC-10 stürzt beim Start ab, 273 Menschen sterben / Bangladecsh, 1985 kommen bei einem Zyklon mit Sturmflut bis zu 40.000 Menschen ums Leben / 2002 richt eine Boeing 747 über der Formosastraße auseinander, 225 Tote.

 

 

26. MAI

 

Puppenspiel

mit

Alexei Nikolajewitsch Arbusow / Frank Beyer / Black / Maxwell Bodenheim / Richard Christopher Carrington / Emmie Takomana Chanika /Miles Davis / Edmond de Goncourt / Semra Ertan / Heinrich Geißler / Rubén Gonzáles Fontanills / Olaf Gulbransson / Levon Helm / Joseph Horovitz / Kurt Ihlenfeld / Al Jolson / Jack Kevorkian / Karlheinz Klimt / August Kopisch / Merab Kostawa / Friedgard Kurze / Dorothea Lange / Jaki Liebezeit / Mary Wortley Montagu / Montanus / Robert Morley / Vítěslav Nezval / Friedrich Carl Petit / Kristen Pfaff / Hugo Raes / Mick Ronson / Mamie Smith / Horst Tappert / Bronwen Wallace / John Wayne / Nikolaus Ludwig Graf von Zinsendorf und Pottendorf

 

An diesem Tage kam uns alles spielerisch leicht vor:

London, 1851: Beginn des ersten internationalen Schachturniers / 1879 beendet der Vertrag von Gandamak die erste Phase des Zweiten Anglo-Afghanischen Krieges / 1966 wird Guyana unabhängig von Großbritannien / München, 1972: Eröffnung des Olympia-Stadions / 1972: Unterzeichnung des ABM-Vertrages zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen, des ersten Abkommens zur Rüstungskontrolle zwischen der Sowjetunion und der USA.

 

Ich notierte:

1974: Verwundert wache ich in der dunklen Küche auf meinem harten Lager auf. Schon schießt mir aber die Erinnerung wie die Flut ins Hirn – natürlich, gestern war ja Hochzeit! Also muss meine Frau auch hier sein. Doch komme ich nicht dazu, den Gedanken auszuspinnen, da das Ende der Gedankenkette von Jeanny vorweggenommen wird. Sie schien nur auf mein Erwachen gewartet zu haben, muss selbst schon munter gewesen sein, schmiegt sich nun an mich. Hochzeitsnacht am Nachhochzeitsmorgen. Dann stellen wir fest, dass wir noch keine Wohnungsuhr haben. Wie spät mag es sein? Wie sind vollkommen zeitlos, unsere knurrenden Mägen lassen aber wohl Mittag vermuten. Rein also in Hochzeitskleid und Hochzeitsanzug und unter gaffenden Blicken über die Wiesen ins Häuschen getanzt. Hier sind wir dann recht erstaunt: weder ist es schon so spät, wie wir vermuteten, noch werden wir erwartet. Aber dem Tisch stehen aber reichlich Gläser, und bevor wir etwas essen können, stoßen wir schon wieder an, und nicht nur einmal: Sekt. Süßer, Klarer, Sekt, Bier… Nun ja, langsam kommen wir wieder auf den Geschmack. Das trifft sich insofern gut, da das junge Paar sich ja bei den Nachbarn bedanken gehen muss. In einen Tragekorn stellen wir vier Gläser und zwei Flaschen und ziehen los. Als wir von der Nachbarsrunde zurückkommen waren die Flaschen leer und wir… Martin brachte es dennoch fertig uns mit zu Böhms zu schleifen. Zum essen! Am Ende saßen wir singend auf der Straße. Das also war der erste, nein, schon der zweite Tag unserer Ehe.

1981: Nun habe ich ein Gebiss, eine glatte erste Prothese, ja, das ist nun  das erste körperlich Künstliche, was ich fortan zum Leben benötige. Ein höchst eigenartiges Gefühl, solch ein Ding im Mund zu haben. Ein Stück Alter trage ich nun ständig in mir.

1999: Ich muss nach Rastatt zu einer Tagung der Robert Bosch Stiftung, meinem offenkundigen Hauptgeldgeber für die nächste Zeit. Bevor das eigentliche Tagungsprogramm losgeht, soll heute in kleiner Runde schon mal mein neues Aufgabengebiet abgesteckt werden, soll das Arbeitsteam sich kennenlernen. Doch damit’s nicht gleich allzu sehr wie Arbeit, sondern noch wie Nach-Urlaub wirkt, konnte ich absprechen, dass mich Jeanny begleiten darf. Gegen elf fahren wir los, kommen ohne große Staus durch, sind gegen 16.00 Uhr in Rastatt, im Holiday Inn, dem Tagungszentrum. Kaffeetrinken, Duschen und erstmal ein paar Minuten hinlegen, denn die Anstrengungen der letzten Tage werden doch langsam spürbar (zumal hier fast Mauritius-Temperaturen herrschen). Kein Wunder insofern, dass mir beim Kurzschlaf im Traum die Silhouette der Coin de Mire, eine der Mauritius vorgelagerten Inseln, die wir vom dortigen Hotelfenster aus sehen konnten, erscheint. Erste Wehmut über diese verlorene Ferne? Gut möglich. Abendessen (köstliche badische Küche) im Hotel, dabei erste Gesprächsrunden mit den Berliner Museumsleuten Prof. Gross und Dr. Graf sowie Rüdiger, dem Koordinator der Ost-Projekte der Bosch Stiftung, dem ich letztlich wohl diesen neuen Job zu verdanken habe. Lockere, anregende Atmosphäre, die auf eine gute Zusammenarbeit hoffen lässt.

 

Perspektivlosigkeit

für

Abd el-Kader / Manfred von Ardenne / Beda Venerabilis / Antonio de Cabezón / Francis Carco / Kevin Alexander Clark / Adolfo Costa du Rels / Lincoln Elsworth / Hedy Epstein / Semra Ertan / Caroline Auguste Fischer / Andrew Fletcher / Jónas Hallgrímsson / Martin Heidegger / Irm Hermann / Johannes Hettlinger / Jorge Icaza / Hugo Klein / Alice Elizabeth Kober / Alberto Korda / Hildegard Krekel / Ruth Laredo / Emil Lask / Ray Liotta / Karl Löwith / Kate Marsden / Otto Muehl / Phineas Newborn Jr. / Roden Noel / František Palacký / Samuel Pepys / Franz Pfemfert / Sydney Pollack / Jean “Django” Reinhardt / Jimmie Rodgers / Ruth Smith-Nielsen / Samuel Pepys / Charles Sealsfield / Xaõ Seffcheque / Ernest Solvay / Thusnelda / Vincent Voiture / Alan White

 

Da erfasste uns eine große Perspektivlosigkeit:

Merseburg, 1342 „seynd die waßer an allen orthen sehr groß gewesen, viel Brücken, Häußer und Scheunen seynd hinweg geführer worden, die Sala und Unstrut haben zumahl schrecklichen schaden gethan, es seynd Menschen und allerhand viehe darinnen umbkommen“ / 1637 stecken englische Kolonisten ein Dorf der Pequot am Mystic River in Brand, 700 Menschen kommen ums Leben / Grue, Norwegen, 1822: Brand der Stabkirche, 113 Todesopfer / 1917 sterben bei einem Tornado in Illinois 151 Menschen / Bangkok, 1991: Absturz einer Boeing 767 beim Start, alle 223 Insassen sterben / 1999: Beginn des Kargil-Krieges um Kaschmir zwischen Indien und Pakistan / Hula, 2012: bei einem Massaker während des syrischen Bürgerkrieges werden 108 Menschen getötet.

 

 

27. MAI

 

Konsens

mit

Bernhard Adelmann zu Adelmannsfelden / Michael Altenburg / Alexander Nikolajewitsch Baschlatschow / Andrei Georgijewitsch Bitow / Cilla Black / Louis-Hyacinthe Bouilhet / Hans Brausewetter / Max Brod / Rachel Carson / Louis-Ferdinand Céline / Anna Celli-Fraentzel / John Cheever / Chimalpahin / Frans Cornelis Donders / Angela Isidora Duncan / Harlan Ellison / Mal Evans / Uwe Friedrichsen / Dashiell Hammett / Ibn Chaldūn / Iwan Iwanowitsch Katajew / Henry Kissinger /  Christopher Lee / Ramsey Lewis / Lisa Nicole Lopes / Niels-Henning Ørsted Pedersen / William Petty / Oskar Picht / Vincent Price / Joachim Raff / Bud Shank / Said / Don Williams / Wols / Herman Wouk

 

Das hielten wir für konsensfähig:

1703: Grundsteinlegung für die Peter-und-Pauls-Festung und somit für Sankt Petersburg / 1832 beginnt das Hambacher Fest / 1930 erhält Richard Gurley Drew ein Patent auf das von ihm erfundenen Klebeband / San Franciosco, 1937: die Golden Gate Bridge wird für den Fußgängerverkehr freigegeben / Tübingen, 1968: Inbetriebnahme des ersten Geldautomaten in Deutschland.

 

Ich notierte:

1974: Mehr oder weniger ausgeschlafen stehe ich beizeiten auf, obwohl ich Urlaub habe. Aber heute wollen unsere Möbel gekauft werden. Das treibt mich hoch, wie stets alles Neue.

Jeanny und ich fahren zur Sparkasse und lassen uns den zinslosen Ehekredit als Scheck in Höhe von 5000 Mark aushändigen. Eine feine Starthilfe. In Merseburg setzt dann das große Kaufen ein. Ein Schlafzimmer, ein Bücherschrank, eine Couch, Gardinen und eine Waschmaschine – in zwei Stunden ist die feie Sache verpulvert. Es bleiben uns 5 Mark und 46 Pfennige. Wir essen in Meuschau Mittag und fahren zurück nach Leuna. Während Jeanny sich mit Cathrin beschäftigt, gebe ich unserem Heim den vorletzten Schliff. Wenn in zwei, drei Tagen dann die Möbel kommen soll möglichst alles fertig sein. Wenn doch endlich die Klempner ihre Versprechen einlösen würden!

1980: Session in Leuna. Immerhin kam mein Freund Dieter Ehrhard aus Berlin und wir spielten seit der Fahne mal wieder zusammen. Er ist einfach ein genialer Drummer. Auch Alma kam, stieg gut mit ein.

2021: Gestern im Fernsehen eine Bericht über eine Pressekonferenz zur Einreichung der Merseburger Zaubersprüche als UNESCO-Weltdokumentenerbe. Betont wurde dabei, es sei wichtig gewesen nachzuweisen, dass diese germanischen Zaubersprüche von globaler Bedeutung seien, wobei neueste Erkenntnisse hilfreich waren, dass es Bezüge zum altindischen Atharvaveda gebe. Das (und über weitere Bezüge zur Edda beispielsweise) hatte ich allerdings bereits vor 30 Jahren, in der ersten Fassung meiner „Merseburger Persönlichkeiten“ beim Text über Jacob Grimm geschrieben… Als ich heute den Domarchivar anrufe, eiert er herum und meint, das hätten die Reporter wohl falsch verstanden oder gesagt.

1999. Rastatt: Nach dem Frühstück ruft uns Cathi von zu Hause an und berichtet, dass gestern plötzlich eine Abordnung der Spergauer Lichtmeßgesellschaft vor der Tür stand und nachträglich zu Silberhochzeit gratulieren wollte, große Blumenschale und so. Das berührt mich, dass da offenbar Leute meinen Einsatz, mein Engagement für ihre Sache zu schätzen wissen, und dies im Gegensatz zum Künstlerhaus, aus dem offiziell nicht mal eine Glückwunschkarte kam... (Faxe von „meinen“ Kreativ-Büro Damen und von Dieter Bähtz aber immerhin, über die ich mich nicht zuletzt aufgrund der Ignoranz der anderen sehr freute.) Dann erster Stadtrundgang in Rastatt. Am Nachmittag Empfang beim Oberbürgermeister im Rathaus. Gang zur Gedenkstätte der Revolutionsopfer, Busfahrt zu einigen Schauplätzen der Ereignisse von 1849, Besichtigung des Schlosses Favorite, dann der Rastatter Kasematten. Beeindruckend diese kellerfeuchten Wehranlagen mit den schier endlosen unterirdischen Gängen. Abendessen schließlich im „Brauhaus Hopfenschlingel“, Flammenküchle und a Maass... Doch im Hotel muss ich zu guter Letzt nochmals arbeiten: Diskussion über die Ausstellungs-Organisation in der Arbeitsgruppe, zu der ich nun also definitiv gehöre.

2000: Halb acht auf nach Italien, nach Limone am Gardasee. Mine hatte schon vor Tagen ihren Koffer gepackt, konnte es kaum erwarten, dass wir endlich starten. Unterwegs einige Staus, dennoch kommen wir recht zügig voran, sind gegen 17.00 Uhr im Ort, finden unsere Ferienwohnung inmitten von Olivenhainen oberhalb der malerischen Altstadt, phantastischer Blick auf den See. Natürlich müssen wir im Haus-Pool gleich anbaden. Dann zum Seeufer hinunter, zur Promenade zum ersten großen Pizzaessen.

 

Klage

für

Gregg Allman / Françoise Noël Babeuf / Oswald Baer / Alexander Gottlieb Baumgarten / Luciano Berio / Johannes Calvin / Mose ben Jakob Cordovero / Augustin Alexandre Darthé / Wilhelm Daene / Tilly Edinger / Carla Fracci / Fujiwara no Tameie / Hasegawa Machiko / Paul Henckels / Jeffrey Hunter / Ilja Iossilowitsch Kabakow / Robert Koch / Larry Kramer / Grigoris Lambrakis / Kalonymos ben Meschullam / Prentice Mulford / Thomas Müntzer / Jawaharlal Nehru / John Howard Northrop / Richard Oleze / Niccolò Paganini / Heinrich Pfeiffer / Iwan Iwanowitsch Polsunow / Joseph Roth / Ernst Ruska / Gil Scott-Heron / Jedediah Strong Smith / Franziska von Stengel / Werner Stocker / Werner Tübke / Zard

 

Da war uns nur nach Klagen zumute:

Kamakura, 1293: Erdbeben, mehr als 23.000 Tote / St.Louis und EAST Saint Louis, 1896: in einem Tornado sterben mindstens 255 Menscehn / 1915 explodieren im Hafen von Sheerness Seeminen auf dem britischen Minenleger „Princess“, 400 Todesopfer / 1918: Nachricht, dass der spanische König an Grippe erkrankt sei, wonach sich zunehmend der Begriff „Spanische Grippe“ einbürgerte, der mehr Menschen als im Ersten Weltkrieg zum Opfer fielen, bis zu 50 Millionen weltweit / 1926 zerschlagen französisch-spanische Truppen die Rif-Republik / Le Paradis, 1940: SS-Truppen massakrieren 97 britische Kriegsgefangene / 1941 versenkt die Royal Navy das deutsche Schlachtschiff „Bismarck“ im Nordatlantik, 2.104 Matrosen sterben / 1960 putscht sich in der Türkei das Militär an die Macht / 1980 schlägt die südkoreanische Armee den Gwangju-Aufstand, bei dem bis zu 2.300 Menschen ums Leben kamen / Java, 2006, Erdbeben, bis zu 5.000 Tote.

 

 

28. MAI

 

Erbauung

mit

Eddi Arent / Rosa Maria Assing / Alexandre de Beauharnais / Maeve Binchy / Cameron Boyce / Frank Drake / Dietrich Fischer-Dieskau / Theodor Fischer / Ian Lancaster Fleming / Reginald Foresythe / Alfred Frank / Heinz. G. Konsalik / Thomas J. „Tommy“ Ladnier / Györgi Ligeti / Han Makart / Marguerite Monnot / Thomas Moore / Johann Ohnefurcht / Vera Skoronel / Steve Strange / T-Bone Walker / Georg Friedrich Teubner / Guntram Vesper / Patrick White / Wendy Orlean Williams / Mina Witkojc / Maximilian Alexandrowitsch Woloschin

 

Da fühlten wir uns erbaut:

1812: der Friede von Bukarest beendet den sechsten Russisch-Türkischen Krieg / Oranienburg, 1883: Gründung der ersten vegetarischen Siedlung Deutschlands / Isle of Man, 1907: Start der ersten „Tourist Trophy“ / 1961 ruft Peter Benenson im britischen „Observer“ zur Freilassung politischer Gefangener auf, woraus sich Amnesty International entwickelt / Lagos, 1975: Gründung der Westafrikanischen Wirtschaftsunion / 2008 wird in Nepal die Monarchie abgeschafft.

 

Ich notierte:

1974: Mit dem Moped klapperte ich dieses und jenes Geschäft ab, um noch fehlende Kleinigkeiten für die Wohnung aufzutreiben. Im Haushaltwarengeschäft in Leuna schlage ich Krach, da der uns seit langem versprochene Gasherd noch immer nicht geliefert wurde. Neuerliche Versprechen. Und am Nachmittag glaube ich meinen Augen nicht trauen zu können, kurz nacheinander fahren zwei Autos vor und die Waschmaschine und der Gasherd werden geliefert! Dann zu Seni. Er hat ein Schreiben aufgesetzt in dem er mitteilt, dass er sich für die Zeit seines Verbots von der Kapelle zurückzieht und ich die Funktion des Kapellenleiters übernehme. Lotte fährt mich mit dem Dienst-Barkas zur Kultur. Herr Bach gibt sich sehr freundlich, vielleicht ein bisschen zu freundlich. Jedenfalls stehe nun einer neuen Einstufung nichts mehr im Wege. „Warum sind sie denn nicht schon eher darauf gekommen?“ Tja, was soll man wohl auf solch eine Unverschämtheit antworten. Ich schweige also und so wird der Termin der Einstufung auf den 7. oder 11. Juni festgelegt. Wir sollen uns um einen geeigneten Raum kümmern und dann endgültig Bescheid geben. Oh Mann, spätestens in 14 Tagen wird also Einstufung sein – und in drei Wochen vielleicht schon wieder gemuggt!

Lotte hat noch einiges wegen seiner Alimentenzahlung zu erledigen, doch fährt mich zuvor nach Meuschau. Mutter hatte mir versprochen, Jeanny und mir 500 Mark zu leihen, da wir sehr günstig zwei Polstersessel erstehen könnten. Als ich die Küchentür öffne, starrt mich ein schmuddliges Durcheinander von schmutzigem Geschirr, Speiseresten und allenthalben herumkrabbelnden Ameisen an. So etwas habe ich hier noch nie gesehen. Verwundert drehe ich mich zu meiner Mutter um, die soeben eintritt. Opa musste mit Blinddarmentzündung ins Krankenhaus, dürfte jetzt gerade operiert werden. Wenn doch wenigstens dein Vater zu Hause wäre, schluchzt sie, aber der sei ja diese Woche in Schwedt zur Buchprüfung. Ausgerechnet diese Woche! Ich verspreche meiner Mutter, mich morgen gleich um Opa zu kümmern. „Und Kohlen kommen morgen auch noch!“ sagt meine Mutter. Obwohl mir das alles langsam über den Kopf wächst, verspreche ich ihr auch noch, die Kohlen reinzuschippen. Wenn was kommt, kommt es eben immer gleich zuhauf. Trotz allen Trubels hat meine Mutter die 500 Mark aber besorgt, gibt sie mir. Mit Ingo fahre ich nach Ha-Neu, sogleich die Sessel holen. Und nachdem wir die in Leuna angeliefert haben, setzt er mich vorm Probenkeller ab. Natürlich diskutieren wir vor allem über die Einstufung, legen fest, so oft wie möglich, am besten an jedem Wochentag zu proben.

1985: Seit Tagen tropische Temperaturen. Wahrhaft ein verrücktes Jahr. Seit der Schreib-Werkstatt in Wittenberg (20.-23.5.) ist mir klar, dass ich so schnell wie möglich von meinem Posten weg muss. Nicht allein die neue Chefin, die offenbar alles ganz anders gruppieren wird, so wohl wieder alles in den alten Konfrontationsstatus zurückdreht, nicht so administrieren wird, wie sie auch administrieren würde, wenn sie in die Abteilung Kommunalwirtschaft oder ins Sportbüro versetzt worden wäre, nein, von der Bezirksleitung der Partei, die von keinem Geringerem als dem Kulturchef persönlich, von Klaus Bernhardt, repräsentiert wurde, hörte ich die Bemerkung, dass ein Küken nicht die Glucken beurteilen oder sogar reglementieren könne. Ah ja, logisch, dass das Literaturzentrum neue Aufgaben gestellt bekommt. Wir haben uns schlichtweg nicht mehr in die Arbeit des Bezirksverbandes oder des Mitteldeutschen Verlages oder der Uni einzumischen. Zu gut Deutsch: die Alten haben es verstanden, ihre Pfründe zu sichern. Das was ich versuchte, die Jungen voran und ins Geschäft zu bringen, kann ich vergessen. Back to the roots! Da wird dann wohl die nächste Generation junger Schreiber in die Frustration getrieben. Gut, es gilt also, Kapitulationsbedingungen auszuhandeln. Die Aasgeier kreisen schon.

1989: Noch immer, wie seit 14 Tagen, brütende Hitze. Und vorige Woche war ich dazu in Mecklenburg auf Lese-Tournee. Also langsam wieder cool werden, weiter schreiben.

1999: Marsch zum Rastatter Schloss. Vorträge und Führungen. Alles hochinteressant. Am Abend Empfang im Innenhof des Schlosses. Freiheitsbier und Revolutionsbrot (Schmalz- und Mettstullen). Da darf selbstredend nichts übrig bleiben...

2009: Rosengarten. Schilder: Pilze pflücken verboten! allenthalben. Und selbst wenn es jetzt Trüffel gäbe, würde ich dem wahrscheinlich nicht zuwider handeln, nicht mal an verschwiegensten, heimlichsten Plätzen - weiß unsereins doch um die Allgegenwart alter Geschichten: Zack, hieb’s Schreibhand und Standbein weg. Nee. Laurin, das wäre zu blöd. Denn selbstredend stehe ich bei denen, die verzwergt werden, unermüdlich verzwergt von den Diskriminierern, den Machtprotzen, den Unersättlichen – zu offenkundig die Gründe der angehängten Unterentwicklungen allezeit. Keinesfalls also würde ich provozieren wollen! Wir dürfen einander nicht missverstehen, nicht verletzen, das stärkte, das erhöbe die wirklichen Gnome. Obgleich ich nicht verstehe, weshalb gemeine Maronen hier nun Edelsteinen gleichkommen. Oder sollte das Tarnung sein? Dann könnte ich wohl sogar hoffen Dich, Bruder Laurin, ungebrochen, unverzagt in der enrosadüra, im Alpenglühen auf weißem Hirschlein gegen die Gierschlunde, die Globalkolonialisierer anstürmen zu sehen? Keine Frage, das wäre mir mehr als einen Pfifferling wert, und meinen Eid drauf, dass ich’s glaubhaft verkündete.

 

Elend

für

Johannes Aal / Aamir Ageeb / Maya Angelou / Pitseolak Ashoona / Tony Ashton / Pál Békés / Hans Bender / Luigi Boccherini / Anne Brontë / Gary Coleman / Donald Watts Davies / Eric Emerson / Iwan Franko / Charles Girod / Ali Haurand / Jörg Immendorff / Batscho Kiro / Adolf Kußmaul / Tobias Lagenstein / Charles Ludlam / Lew Alexandrowitsch Mei / Leopold Mozart / Heinz Müller / Audie Leon Murphy / Victor Ernst Nessler / Rolf Nevanlinna / Bertha Pappenheim / Ilya Prigogine / Hildegard Maria Rauchfuß / Diego Silang y Andaya / Francisco Javier Varela García / Wilhelm Wagenfeld / Mary Lou Williams / Harald zur Hausen

 

An diesem Tage war uns verdammt elend zumute:

1830: US-Präsident Andrew Jackson unterzeichnet den Indian Removal Act zur zwangsweisen Umsiedlung der Indianer / 1871. Ende der Pariser Kommune, bei den Kämpfen und den nun folgenden Massenexekutionen kommen bis zu 30.000 Menschen ums Leben / 1900 erklärt Großbritannien den Oranje-Freistaat zur Kolonie / 1940 versenkt ein deutsches U-Boot vor der Westküste Portugals das französische Passagierschiff „Brazza“, 379 Tote / Southgate, Kentucky, 1977: bei einem Brand in einem Club kommen 165 Menschen ums Leben / Neftegorsk, Sachalin, 2005: Erdbeben, 2.000 Todesopfer.

 

 

29. MAI

 

Arrangement

mit

Kosta Abrašević / Mu’ādh Safi Yūsif al-Kasāsba / Isaac Manuel Francisco Albéniz / Paul Almásy / Kenneth Arnold / Helmut Berger / Horst Beseler / Maurice Rupert Bishop / André Brink / Gary Brooker / G. K. Chesterton / Maria Cunitz / Harald Döring / Harry Gordon Frankfurt / Lea Goldberg / Johan August Hugo Gyldén / Peter Higgs / Bob Hope / John Fitzgerald „Jack“ Kennedy / Erich Wolfgang Korngold / Fredy Knie sen. / Erich Wolfgang Korngold / Philippe Lebon d’Humbersin / Johann Heinrich von Mädler / Louise Michel / Mike Porcaro / Ekkehard Schall / Sebastian Shaw / Fela Sowande / Josef von Sternberg / Alfonina Storni / Johannes Winkler / Iannis Xenakis

 

Das hielten wir für ein zukunftsweisendes Arrangement:

Amasya, 1555: Friedensschluss im Osmanisch-Safawidischen Krieg / Kiel, 1865: Gründung der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger / Wuppertal, 1934: Gründung der Bekennenden Kirche / 1953: Edmund Hillary und Tenzing Norgay gelingt die Erstbesteigung des Mount Everest/ 1958 endet in der DDR die Lebensmittelrationierung infolge des Zweiten Weltkrieges / Oslo, 1963: Eröffnung des Munch-Museums / Paris, 2023: Beginn einer UNO-Konferenz zur Verhinderung von Plastikmüll.

 

Ich notierte:

1974: Die Nacht über plagten mich Alpträume von brennenden Werken, in deren flackernder Silhouette ich zwischen hysterischen Mensche umherlief. Ich muss wieder auf Arbeit. Nach der Arbeit staune ich: die noch fehlenden Teile unserer Wohnungseinrichtung wurden angeliefert. Allerdings besteht unser künftiges Schlafzimmer erst einmal aus einer Menge Brettern und Unmengen von Nägeln, Schrauben, Muttern und dergleichen. Das wird ein schöner Spaß werden. Ich greife meinen Bademantel und fahre zu Opa ins Krankenhaus. Nach einiger Suche stehe ich schließlich an seinem Bett. Blass und eingefallen sieht er aus und etwas beunruhigt mich: um seine Mundwinkel spielen Züge offener Todesangst. Das verwundert, nein, erschreckt mich umso mehr, da ich doch bei ihm, de, lebenslustigen, in allen Lagen singenden und lachenden Herrmann, so etwas noch nie bemerkt hatte. Natürlich rede ich davon, dass er sicher bald entlassen werde und ich bis dahin daheim seine Rolle so gut es geht übernehmen werde. Das wieder erwachende Gefühl gebraucht zu werden, lässt ihn unter Schmerzen lächeln. Was doch so ein vertracktes, unnützes Ding wie der Blinddarm den Menschen doch für Schmerzen und Scherereien bereiten kann, zumal in Opas Alter. Eine Weile plaudern wir noch, dann muss ich zur Probe. Als ich gehe, gehe ich in der Gewissheit ihn alsbald wieder Zuhause zu sehen, er wird schon diese ihm völlig ungewohnte, fremde Krankenhausumgebung überwinden und so seine Genesung beschleunigen.

1980: mit Jeanny im Trabi nach Berlin, ich will einen Kofferverstärker kaufen, Emil hat’s vermittelt. Doch vor Niemegk haben wir einen Platten. Irgendwie kommen wir aber noch rechtzeitig ins Palast-Hotel, der Bulgi, der verkaufen will, lässt jedoch nicht mit sich handeln, vielleicht merkt er, dass ich die Kiste unbedingt brauche, und ich will diese Tour auch nicht für nothing gemacht haben. Nun gut, sei’s drum. Zu Hause merke ich, dass das Rad, das ich gewechselt hatte, verdammt heiß ist und dass der Trabi unheimlich viel Sprit verbraucht hat. Was ist das nun schon wieder? Neue Abzocke voraus?

1996: Mit der Stubaitaler-Gletscherbahn bis auf ewiges Eis. Gleißende Sonne aus endlosem Azur. Stille. Nach einer kleinen Gefälligkeit aber: Bitte nach Ihnen! spricht uns einer der futuristisch gestylten Ski-Touristen an. Und teilt uns vordringlich mit, dass er höherer Beamter sei, Lehrer nämlich, und legt uns ausführlich seine Vermögensverhältnis dar. Und als er hört, daß wir aus den auch von ihn sogenannten neuen Bundesländern kommen, erklärt er zudem für die CDU in seinem Dorfparlament zu sitzen und dann, dass Karl Marx so übel eigentlich nicht gewesen sei - soziale Gerechtigkeit und so. Ich frage mich, ob Gletscher Utopien begünstigen und kriege langsam kalte Füße.

2019: Druxberge. „Wir kennen uns aus dem Knast“, näherte sich mir eine igelschnittige Lesbe nachdem wir nacheinander dreimal Erde in Ludwigs Schumanns offenes Grab geworfen hatten. „Ich weiß“, murmelte ich erschrocken, waren unter den Trauergästen doch auch Kollegen, die mich scheel beäugten und wohl am besten hinter Gittern sehen möchten. Dabei dämmerte es mir leise, sehr leise, mit Ludwig mal gemeinsam für Gefangene gelesen zu haben. „Ich weiß“, bekräftigte ich also, obwohl ich eigentlich nichts wusste, und sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Zum Glück begann der Küster auf dem Friedhofsharmonium Let it be so himmelerweichend falsch zu intonieren, wie ich es mir allein kaum hätte vorstellen können.

1999: Rastatt. Nach dem Frühstück nochmals Tagung. Heute Vorstellung und Diskussion des Bosch-Ausstellungsprojektes, u. a. mit Prof. Schäfer, dem Direktor des Hauses der Deutschen Geschichte in Bonn, wo die Ausstellung, die also auch mir Brot geben wird, im nächsten Frühjahr eröffnet werden soll. Langsam werden Strukturen deutlich und ich begreife auch langsam, welche Rolle mir dabei, vor allem in der Koordination der Medien zukommen wird.

2000: Mit dem Schiff fahren wir heute quer über den Gardasee nach Malcesine. Mine ist ganz aufgeregt, juchzt vor Freude. In Malcesine steigen wir an dem Haus, in dem Goethe auf seiner Italienreise nächtigte, zur Talstation der Seilbahn auf, fahren zum Gipfel des den See überragenden Monte Baldo. Auch das ist natürlich neu für Mine, neuerliches Juchzen als wir auf dem Gipfel in Wolken eintauchen. Ab und zu reißt die Wolkendecke jedoch auf und wir haben einen grandiosen Blick über den Gardasee. Dazu unglaublich satte Bergwiesen voller Enzian und Trollblumen. Wieder in Malcesine finden wir direkt am Seeufer auf einem zauberhaften Platz ein gutes Restaurant, köstlich hausgemachte Spaghetti und Gnocchi. Schließlich Stadtrundgang und mit dem Schiff zurück nach Limone. Mittagsschläfchen und Pool-Nachmittag. Am Abend wieder in „unsere“ Pizzeria, höchst angenehmes „Pflichtprogramm“.

 

Adieu

für

Hermann Abendroth / Mary Anderson / Bahā’ullāh / Mili Alexejewitsch Balakirew / John Barrymore / Fanny Brice / Oscar Brown Jr. / Jeffrey Scott Buckley / Onelio Jorge Cardoso / John Cipollina / Humphry Davy / Bartolomeu Dias / Sergio Frusoni / Saime Genç / Karin Gittel / Eva Hesse / Bernhard Heinrich Gustav Hohbach / Dennis Hopper / Juan Ramón Jiménez / Dani Karavan / Alfred Kolleritsch / Konstantinos XI. Palaiologos / Omar Khorshid / Dany Mann / Alfred Meißner / Mulgrew Miller / Walter Mossmann / Hamilton Naki / Georg Wilhelm Pabst / Moritz Eduard Pechuël-Loesche / Mary Pickford / Giuseppe Porsile / John Penry / Franca Rame / Puteh Ramlee / Pierre Restany / Julius Sachs / Romy Schneider / Mihail Sebastian / Ludmila Šebastová-Bučanová / Ivica Šerfeci / Peter Simonischek / Ali Soilih / Josef Suk / James Whale / May Whitty

 

An diesem Tage sagten wir Adieu:

1453 erobern die Osmanen Konstantinopel, Ende des Byzantinischen Reiches / Thüringen, 1613: Flutkatastrophe nach schweren Gewittern, 2.261 Menschen kommen ums Leben / 1914 sinkt den Passagierdampfer „Empress of Ireland“ nach einem Zusammenstoß mit dem Kohlefrachter „Storstad“ vor der Küste Québecs, über 1.000 Todesopfer / Brüssel, 1985: Massenpanik bei einem Fußballspiel, 39 Tote / 2010 sterben im Grenzgebiet von Guatemala und Mexiko 180 Menschen bei einem Tropensturm / Braunsbach, Bayern, 2016: 4 Einwohner sterben durch eine Schlammlawine.

 

 

30. MAI

 

Fahrt

mit

Abū l-Hasan al-Qābisi / Julius Axelrod / Anton Ažbe / Ottilie Baader / Ernst Emanuel Bachrich / Michail Alexandrowitsch Bakunin / Vizma Belševica / Oskar Brüsewitz / Hilde Coppi / Countee Cullen / Peter Carl Fabergé / Walter Felsenstein / Karl Wilhelm Feuerbach / Marie Fredriksson / Eduard Goldstücker / Benny Goodman / Hjalmar Gullberg / Howard Hawks / Gladys Horton / Christine Jorgenson / Pia Juul / Dietrich Kittner / Hermine Körner / Peter James Lenz / Alexei Archipowitsch Leonow / Inge Meysel / Sophie Petersen / Georg von Peuerbach / Giulio Cesare Procaccini / Hugo Alfredo Santillan / Irving Thalberg / Frank „Tram“ Trumbauer / Agnès Varda

 

So wären wir gern weitergefahren:

Lipan, Böhmen, 1434: Ende der Hussitenkriege / 1631 erscheint die erste französische Zeitung „La Gazette“ / Paris, 1784: Friedenschluss im vierten Französisch-Niederländischen Seekrieg / Paris, 1814: Ende der Napoleonischen Befreiungskriege / 1913 wird Albanien unabhängig vom Osmanischen Reich / Coventry, 1961: Einweihung der neuen Kathedrale / 1975: Gründung der Europäischen Weltraumorganisation (ESA).

 

Ich notierte:

1974: Heute fahre ich nach der Arbeit zu Seni und mit ihm zum Leiter der Merseburger Musikschule, zu Herrn Gäbler, dem wir versuchen über unsere Lage zu informieren. Im Gespräch taucht dann ein interessanter Fakt auf, denn Senis und somit auch unsere Misere begann eigentlich damit, dass er vergangenes Jahr nicht zur Berufsmusikerprüfung, für die er sich beworben hatte, zugelassen wurde, und dann Versprechungen glaubte, er würde einen vorläufigen Berufsausweis erhalten. Er ging nicht mehr arbeiten, machte „nur“ noch Musik und bekam dafür prompt die Quittung. Herr Gäbler versichert uns, dass es Frau Schröter gewesen sei, die Senis Anmeldung hatte unter den Tisch fallen lassen. Keiner wusste warum. Keiner weiß warum. Keine Frage, dass das Ganze immer mehr nach einer Intrige aussieht, und wir tapsten in diese Falle blind hinein. Mittlerweile ist Frau Schröter zwar wegen einer Affäre mit einem Mitarbeiter aus dem Dienst entlassen, so könnte Seni ja rehabilitiert werden, doch hat sie Senis Verbot nicht als Privatperson, die offenkundig Antipathien hatte, sondern im Namen des Rates des Kreises ausgesprochen. Und da kann eine Leiterin so infam und intrigant sein wie sie will – eine Abteilung irrt sich nie! Und so wird auch Senis Verbot aufrecht erhalten bleiben, sonst müsste man ja einen Fehler eingestehen. Herr Gäbler verspricht, sich für uns einzusetzen – so gut es ihm möglich ist. Wir fahren mit heißen Köpfen zurück.

Dann muss ich nach Meuschau, die Kohlen rufen. Kohlenschaufeln, eine Arbeit, der ich lieber immer möglichst aus dem Wege ging. Heute hilft mir Othello, den ich aufgabelte, als ich Seni absetzte. Gemeinsam lassen wir den riesigen Brikettberg rasch zusammenschrumpfen, fahren dann wieder in den Probenkeller. Und danach beginne ich mit Jeanny unser Schlafzimmer zusammenzubauen. Die rudimentäre Bauanleitung treibt mich schier zur Verzweiflung. Braucht man einen akademischen Grad um dieses Ding verstehen zu können? Oder der Schreiber kommt aus der Klapsmühle. Gut eine Stunde brauche ich, um mir die Funktionsweise eines Exzenters mit Exzenterschraube klarzumachen – die beide in der Anleitung überhaupt nicht vorkommen. Doch irgendwie will nichts zusammengehen, nichts passen. Schweren Herzens lasse ich am Ende Bretter Bretter sein und fahre mit ihr ins Häuschen. Eigentlich wollten wir uns jetzt erstmals in unserem Ehebett räkeln…

2000: Limone sul Garda. Ruhiger Morgen, wenn auch bedeckter Himmel. Bad im Pool, dann frische Baguette holen. Frühstück und auf zu einer Spritztour mit dem Auto. Goethe weilte im Übrigen auch in Limone. Notierte diesen Besuch am 13.9.1786 präzise in seinem Tagebuch. Weiterhin waren später auch Ibsen und D. H. Lawrence hier. Wir fahren heute aber zum Vittoriale nach Gardone Riviera, dem ehemaligen Grundstück Gabriele d’Annuncios, das nunmehr auch sein Grabmal ist. Beeindruckend ins Gelände gefügte Anlage, obwohl offensichtlich auch von Pathos und Größenwahn geprägt. In der Nachbarschaft hat sich mittlerweile André Heller mit einem botanischen Garten verewigt. Doch wir fahren weiter nach Saló, Zentrum der faschistischen Rest-Republik von 1943 bis 45. Verschlafenes Städtchen. Der Dom allerdings ist sehenswert.

Schließlich fahren wir vom See hinauf in die Berge. Picknick am Lago d’Idro. Und als ich dann die Passstrasse über den Monte Tremalzo (die als ganz „normale“ Straße in jeder Karte verzeichnet ist) zurückfahren will, ereilt uns ein großes Missgeschick, zum Glück am Ende kein Verhängnis. Denn an einem Punkt, wo keine Umkehr mehr möglich war, man nur noch weiterfahren konnte, irgendwie ins Ungewisse hinein, da die Straße längst zu einem steinigen, engen Bergpfad wurde, Serpentinen, engste Kehren, tiefe Angründe, schlage ich mir in einem schlauchdunklem Tunnel an herabgefallenem Geröll die Ölwanne auf. Ständige Blinken und Warnton der roten Öldrucklampe. Jeanny gerät fast in einen Schockzustand, zittert am ganzen Leibe. Und auch mir ist nicht so recht klar, wie wir hier wieder runterkommen sollen. Der Motor gibt alsbald völlig seinen Geist auf. Ich versuche mit Rollen und Handbremseziehen irgendwie vom Berg zu kommen. Abenteuerlich. Irgendwo kommt uns ein anderes Auto, ein Golf entgegen (somit immerhin Gewissheit, dass dieser Pfad überhaupt irgendwo ein Ende haben muss...), junge Leute, die auch in diese Falle fuhren, denn kein Schild warnte vor dieser „Straße“, geschweige denn sperrte sie. Ich rate ihnen dringend, nicht weiter zu fahren. Irgendwie manövrieren wir aneinander vorbei, irgendwie gelange ich letztlich nach zig Kilometern ins Tal. Die jungen Leute aus Biberach sind sogar so freundlich und schleppen uns vom Bergdorf Tremosine (dem Endpunkt dieses Horrorpfades) bis zum Gardasee hinunter, bis nach Limone.  Selbst diese Abfahrt ist noch halsbrecherisch unter normalen Verhältnissen. Das Abschleppseil reißt in einer engen Kehre, endlose Autoschlangen hinter unserem Gespann, und meine Autobatterie versagt schließlich auch noch den Dienst. Dennoch landen wir zu guter Letzt an einer Werkstatt. Erst mal zumindest unterstellen. Die Werkstattleute versprechen, bis morgen früh nachzusehen, ob der Motor wirklich kaputt ist. In unserer Ferienwohnung telefoniere ich mit meiner Werkstatt zu Hause. Meister Dübner rät mir, den ADAC einzuschalten, den Wagen, wenn der Motor wirklich hinüber sein sollte, nach Deutschland bringen zu lassen. Ich telefoniere mit dem ADAC in München, die geben mir die Nummer der Mailänder Vertretung. Dort eine freundliche Stimme, die zu helfen verspricht. Wenn klar ist, was mit dem Auto ist, soll ich wieder anrufen. Auf diesen Schreck dann erst mal einen Schnaps. Langsam wird mir nun die große Abgründigkeit dieses Nachmittages bewusst... Die jungen Leute, die uns so selbstverständlich halfen, haben wir zum Abendbrot eingeladen, bedanken uns so für ihre Uneigennützigkeit. So wird es noch halbwegs ein tragbarer Tagesabschluss. Gut auch, dass Mine diese schlimme Bedrohung nicht so recht (wenn überhaupt) mitbekam. Ihr Lachen und Scherzen hilft auch. Dennoch schlafe ich sehr schlecht in der Nacht, sehe ständig diesen Steinpfad und die unglaublichen Angründe vor mir, fühle mich auch körperlich schlecht, kriege sogar Zahnschmerzen...

 

Flugblatt

für

Wäinö Aaltonen / Ottomar Anschütz / Bálint Balassa / Françoise Boucher / Mary Boyle / Milton Bradley / Jean-Claude Brialy / Hermann Broch / Miguel Ángel Bustos / Jeanne d’Arc / Jacques Decour / Friedrich Christian Delius / Paul Desmond / Jason Dupasquier / Marcel Dupré / Enrique el Mellizo / Boy Gobert / Claire Goll / Gerd Haucke / Werner Richard Heymann / Hieronymus von Prag / Jindřich Hořejší / William Martin Yeates Hurlstone / Ike no Taiga / John Kahn / Issai Kalistratowitsch Kalaschnikow / Mária Lebstück / Frederic Leclerc-Imhoff / Christopher Marlow / Hanna Maron / Alo Mattiisen / Sanja Milenković / Henry „Hank“ Mobley / Abdul Momin / Eggert Ólafsson / Juan Carlos Onetti / Radu Paladi / Boris Leonidowitsch Pasternak / Günter Pfitzmann / Georgi Walentinowitsch Plechanow / Alexander Pope / Carl Dean Radle / Rama VII. / Peter Paul Rubens / Achmet Kuanowitsch Schubanow / Raden Soetomo / Sun Ra / Leó Szilárd / Voltaire / Mario Wirz / Wilbur Wright / Ziaur Rahman / Walter Zwarg

 

Das hätte uns besser nie erreicht:

Merseburg, 1157 „hat man in Mittage bey einer halben stunden lang einen feuerrothen himmelbaluen Circul umb die Sonne gesehen. 2 Tage hernach ist ein gräulich ungestüm wetter von Hagel und Schloßen kommen, davon die Früchte auff dem Felde und auff den Bäumen trefflichen Schaden genommen“ / Bornholm, 1563: Beginn des Dreikronenkrieges / Kap Agulhas, Südafrika, 1815: die „Arniston“ läuft auf Grund und sinkt, 372 Tote / Moskau, 1896: Massenpanik bei der Krönung von Zar Kinolaus II., 1.389 Todesopfer / Quetta, 1935: Erdbeben, 50.000 Tote / Köln, 1942: 1.000 britische Flugzeuge bombardieren Köln, 469 Menschen sterben, 5.027 werden verwundet, 45.132 obdachlos / 1967 beginnt der Biafra-Krieg / 1998 kommen bei einem Erdbeben in Tadschikistan 4.000 Menschen ums Leben.

 

 

31. MAI

 

Kabarett

mit

Matthias Beltz / John Henry „Bonzo“ Bonham / Johan Brouwer / Matteo da Campione / Chien-Shiung Wu / Edward Dembowski / Rainer Werner Fassbinder / Peter Frankenfeld / Menahehm Golan / Zvi Hecker /  Georg Herwegh / Alter Kacyzne / James Krüss / Leonid Maximowitsch Leonow / Marin Marais / Gisela May / Jay Miner / Alphonse Pénaud / Saint-John Perse / Julius Richard Petri / Hilla von Rebay / Jacob Christian Schäffer / Bernard Schultze / Ludwig Tieck / Alida Valli / Walt Whitman / Rainer Zille

 

An diesem Tage schmunzelten wir:

1381: Beginn des Bauernaufstandes in Essex / Rom, 1578: Wiederentdeckung der Katakomben / Paris, 1578: Grundsteinlegung für die Pont Neuf / Vogtland, 1846: Grundsteinlegung für die Göltzschtalbrücke / Troja, 1873: Heinrich Schliemann gräbt den Schatz des Priamos aus / Berlin, 1879: Werner von Siemens präsentiert die erste praxistaugliche Elektrolokomotive / 1884 lässt John Harvey Kellogg die von ihm erfundenen Cornflakes patentieren / Ulm, 1890: Vollendung des Münsters / Vereeniging, Transvaal, 1902: Ende des Zweiten Burenkrieges / 1910: Gründung der Südafrikanischen Union / Bicesse, Portugal, 1991: die angolanischen Bürgerkriegparteien vereinbaren einen Waffenstillstand und freue Wahlen / Sankt Petersburg, 2003: Einweihung des rekonstruierten Bernsteinzimmers.

 

Ich notierte:

1974: Ja, es ist geschafft – unsere Wohnung ist bezugsfertig! Jeanny holt die Hummel. Ich rauche eine Zigarette, öffne ein Bier. Es ist schon ein seltsames Gefühl im eigenen Schlafzimmer zu sitzen, weißgott.

1980: Halle, Treff im Literaturzentrum. Sachs stellt mich Korall vor, der hat sogar schon was von mir in Händen gehabt, drückt nun Wohlwollen aus. Schau an. Wir verabreden einen Treff im Mitteldeutschen Verlag, wo er ja Lektor ist.

1999: Am Nachmittag zur Vorstandssitzung des Vereins Sachzeugen der Chemischen Industrie nach Merseburg. Wir verständigen uns darauf, dass „mein“ Heimatverein Leuna korporatives Mitglied wird.

2000: Limone sul Garda: Am Morgen gleich zur Werkstatt. Der Mechaniker hat unseren Citroën schon aufgebockt, zeigt mir ein faustgroßes Loch in der Ölwanne. Er will versuchen, das Leck mit einer Spezialpaste zu schließen und dann vorsichtig Öl aufzufüllen, um den Motor zu starten. Mal sehen, ob das geht... Ich soll in zwei Stunden wiederkommen. Um die Spannung etwas zu mildern, unternehmen wir einen kleinen Spaziergang mit Mine, besichtigen ein kleines Kloster. Hier gibt es auch eine Limonaia, einen alten Zitronengarten. Für diese einzigartigen terrassierten Gärten mit ihren typischen Stützpfeilern war Limone einst berühmt: nördlichstes Zitronenanbaugebiet der Welt. In der Werkstatt endlich bange Momente bis das Ölwannenleck abgedichtet, Öl eingefüllt und der Motor vorsichtig gestartet wird. Und ich kann es kaum glauben, nehme es fast als Wunder: es scheint alles in Ordnung! Nach einem Probelauf meint der Meister: „Motorr gutt!“ Er will sogar versuchen, noch eine neue Ölwanne zu besorgen, da wäre die Heimfahrt 100%ig gesichert. Ich kann es irgendwie noch immer nicht so recht fassen, dass sich dieses Riesenproblem so auflöst. Allein der materielle Schaden hätte uns noch schwer treffen können... Glück im Unglück mal wieder wohl. Aber keine Frage, da waren wir mal wieder deutlich an Grenzen gestoßen. Das alles hätte auch ganz anders ausgehen können, wahrlich alptraumhaft... Oder anders: irgendwie ging am Anfang dieses Urlaubs alles so selbstverständlich, so leicht, so unbeschwert, da musste wohl etwas passieren, ein Dämpfer, ein Fingerzeig...

2022: Ich habe mal wieder die Ehre eine Vorlesung an „meiner“ alten Hochschule in Merseburg zu halten. Einmal mehr stelle ich das Anna-Hood-Projekt vor, rege aber auch zur Auseinandersetzung mit den Zaubersprüchen an. Möge es nützen.

 

Kakophonie

für

Mohamed Abdelaziz / Ama Ata Aidoo / Ambrosius Alfinger / Philippe Basiron / Louise Bourgois / Cory Brokken / Christo / Raymond Davis Jr. / Willem Elsschot / Roky Erickson / Amitai Etzioni / Gorch Fock / Francesco Fontebasso / Évariste Galois / Friedrich Wilhelm Christian Gerstäcker / Hermann von Gilm zu Rosenegg / George Green / Joseph Haydn / Lotti Huber / Ibn Yunus / Herbert Junck / Imre Kertész / Timothy Leary / Vatroslav Lisinski / Mario Louis / Christian Otto Josef Wolfgang Morgenstern / Albertino Mussato / Joachim Neander / Rupert Neudeck / Tito Puente / Aníbal Quijano / Ferdinand Baptista von Schill / Balden Singh Rajhans / Manmohandas Soparkar / Volkhard Spielhagen / Michał Sprusiński / William „Billy“ Strayhorn / Jacopo Tintoretto

 

Das dröhnte uns entsetzlich in den Ohren:

Johnstown, Pennsylvania, 1889: Bruch des Soth-Fork-Dammes, mehr als 2.000 Todesopfer / Přibram, Böhmen, 1892: Grubenbrand, 319 tote Bergleute / 1906 sterben bei einem Attentat auf den spanischen König Alfons XIII. mehr als 20 Menschen / Tulsa, Oklahoma, 1921: bei Rassenunruhen kommen 300 Menschen ums Leben / Brünn, 1945: Vertreibung deutscher Einwohner, auf dem Todesmarsch zur österreichischen Grenze sterben 5.200 Menschen / 1946: Erdbeben in der Türkei, 1.200 Tote / 1970: Erdbeben in Peru, 66.000 Todesopfer / 2010 kommen bei der Enterung des Schiffes „Mavi Marmara“ durch die israelische Marine vor Gaza neun Personen ums Leben.

 

 

1. JUNI

 

Interview

mit

Percy Adlon / Carl Bechstein / Frédéric „Fred“ Chichin / Georgi Timojewitsch Dobrowolski / Carlos Duarte / Macedonio Fernández/ Andrea Fay Friedman / Michail Iwanowitsch Glinka / Johann David Hartmann / Jacques Marquette / Marylin Monroe / Georg Muffat / William Nicholson/ Jan Patočka / Ferdinand Jakob Raimund / Nicolas Léonard Sadi Carnot / Helmut Sakowski / Christian Gotthilf Salzmann / Stefanie Ann Sargent / Heinrich Seffner / Peter Sodann / Michiel Sweerts / Christiane Vulpius / Percy William Whitlock

 

Da erfuhren wir Gutes:

1806 wird in Preußen erstmals Papiergeld ausgegeben / 1906: Inbetriebnahme des Simplon-Tunnels / 1961 kommt in Deutschland die Antibabypille auf den Markt / Jerusalem, 1964: Gründung des Palästinensischen Nationalrates / 1973: Griechenland wird Republik / 1979 wird aus Rhodesien Simbabwe / 1998: Gründung der Europäischen Nationalbank / 2016: Eröffnung des Gotthard-Basistunnels.

 

Ich notierte:

1974: So wohlig warm das Bett im eigenen Schlafzimmer auch ist – wir müssen aus den Federn, natürlich schreit Cathrin auch hier. Da der Gasherd noch nicht angeschlossen ist, improvisiert Jeanny zum Mittag eine Suppe auf Mutters geborgter Kochplatte. Das ist wohl die köstlichste Mahlzeit, die ich je aß… Am Nachmittag kommt Vater, er will beim Anbringen der Gardinenstangen helfen. So stehe ich denn auf einem Stuhl wie eine Statue, die Arme steif nach oben gereckt und halte das sperrige Gardinenbrett, damit es angeschraubt werden kann. Plötzlich gibt es einen Knall und ein Luftdrucksturm lässt die Fensterscheiben bedenklich klirren. Cathrin schreckt aus dem Schlaf und beginnt zu schreien. Wir blicken uns verwundert an. Was war das? Kleinere Detonationen sind wir ja von den Flugzeugen der Sowjets gewöhnt, doch das war doch kein Überschallknall. Sollte etwa…? Jemand spricht aus, was wir alle befürchten: Das Werk! Ich reiße das Fenster auf und strecke meinen Kopf so weit es geht hinaus. Und das, was ich nun sehe, lässt ein dumpfes, beklemmendes Unbehagen in mir aufsteigen: eine breite, schwarze Rauchsäule wälzt sich von haushoch schlagenden Flammen verwirbelt in den regenschweren Himmel. „Verdammt, da ist ein Bau in die Luft geflogen!“ Mit Emil, der inzwischen zum Mithelfen kam, fahre ich auf dem Moped langsam die Straße nach Leuna hinein. Unsere Augen blicken wie gebannt zum brennenden Werk hinüber. Am Straßenrand Gruppen von Leuten, manche schweigen, manche diskutieren, manche grinsen. Wir versuchen so weit wie möglich an das Flammenmeer heranzukommen. Von außen natürlich, denn das Werk ist längst hermetisch abgeriegelt. Umso näher wir kommen, flattern mehr und mehr Leute aufgescheucht über die Straßen. Und es brennt und brennt. Die riesige schwarze Rauchsäule steigt immer weiter empor, wird vom kalten Winde erfasst, bis zum östlichen Horizont zieht sich die Brandspur schon hin. Wortfetzen fliegen uns zu: „… etliche Tote…“, „… das Tanklager…“, „… der Kran verschwunden…“. Wir hören nun auch das scharfe Zischen der Löschkanonen. Aber noch bietet das Feuer augenscheinlich Paroli. Gut eine halbe Stunde ist seit der Explosion vergangen, bis endlich die Rauchfahne zu versiegen beginnt. Wie im Todeskampf züngeln noch einmal Flammen hoch, dann bleibt nur noch ein grauer Rauchfaden. Nun entdecken wir auch die Folgen der Druckwelle, überall sind Fensterscheiben zerborsten, Glassplitter über Glassplitter, hier, wo wir stehen, vor der Berufsschule, ist es besonders schlimm, fast kein heiles Fenster mehr, Verwüstungen. Und mittlerweile sind mehr Menschen auf den Straßen als am 1. Mai. Gespenstisch huschen noch immer Lösch- und Krankenwagen durch die Menge. Am Abend hören Jeanny und ich im Fernsehen dann dies: „Heute Nachmittag kam es in den Leuna-Werken zu einer Havarie mit Brandfolge. Dabei wurden 13 Arbeiter verletzt, 3 davon schwer, 6 konnten nach ambulanter Behandlung wieder entlassen werden… Ebenfalls heute Nachmittag ereignete sich im englischen Flixborough ein schweres Explosionsunglück, wobei 28 Menschen ums Leben kamen…“ Seltsames Vokabular, Klassenkampf bis in die Formulierungen hinein. Wir diskutieren noch lange, erinnern uns auch daran, dass es in Bitterfeld vor wenigen Jahren noch mehr Tote gegeben hatte…

2000: Kurz nach sechs raus, da wir für heute eine Bustour nach Venedig gebucht hatten. Vom Südufer des Gardasees erreichen wir die Poebene, fahren auf der Autostrada an Verona, Vicenza und Padua vorbei durch diese schöne, grüne, hügelige Landschaft mit den schier endlosen Weingärten. Gegen elf erreichen wir Mestre und fahren über die Autobrücke nach Venedig hinüber. Gang durch enge Gassen und Gässchen, Zwischenstation in der Scuola grande di San Rocco, Besichtigung der riesigen Tintoretto-Gemälde, weiter zur Rialto-Brücke, schließlich zum Markusplatz. Wir lassen uns von den Menschenmassen treiben, genießen dieses großartige Gebäudeensemble mit Dogenplast und Kampanile, besuchen die Markuskirche mit den prunkvoll goldenen Mosaikdecken. Was für ein Reichtum kam hier an der Nahtstelle des Handels zwischen Orient und Okzident zusammen! Höhepunkt des Tages schließlich eine Bootsfahrt durch die Lagune von Venedig, vorbei an Murano, dem Lido und all den anderen kleinen Laguneninseln. Schlichtweg eine traumhafte Kulisse, die man sich aufgrund der höchst eigenartigen topografischen Lage kaum verstellen kann, wenn man nicht hier gewesen ist. Gut, nun waren wir also auch mal in Venedig, zumindest einen „Schnupper-Tag“ lang. Gutes Gefühl. Schöner Tag. Gegen halb neun zurück in Limone. Ein Erfrischungsbad im Haus-Pool und auf zum Abendessen gleich unterhalb unseres Quartiers. Köstliches Lachs-Carpaccio, riesige Pizza Calzone. Erstaunlich, wie Mine diesen anstrengenden Tag durchgestanden hat, bis zuletzt mit uns lacht, singt und nicht einmal quengelt.

2021: Heute in der Zeitung: Bericht über eine weitere Presse-Aktion im Vorfeld des tausendsten Jahrestages der Merseburger Domweihe. Schätze des Domes werden präsentiert, die großzügigerweise aus Dresden für eine Sonderausstellung ausgeliehen wurden… Ja verdammt, recherchieren diese heutigen Reporter irgendwann auch mal selbst? – Vor langem hatte ich mehrfach auch schon darüber geschrieben, wie nach dem Tod des kinderlosen letzten Merseburger Herzogs ratzbatz Herr von Brühl mit mehreren hundert Dragonern in Merseburg einrückte und das Schloss samt Domschatz plünderte. Nach heutigen Gesichtpunkten müsste man also eigentlich über Raubkunst reden… Ich bin mit Marion, der ehemaligen Merseburger Stadtarchivarin, verabredet, die mich bei der Arbeit an einem neuen Band meiner „Merseburger Persönlichkeiten“ unterstützt. Wir stimmen diverse Details ab. Doch wozu eigentlich? Liest ja offenbar eh keiner.

 

Ideosynkrasie

für

al-Būrīnī / Nicolas Appert / Hans Berger / Birendra / Christo Botew / Daniel Burnham / Margit Carstensen / Christopher Cockerell / Honoré d’Urfé / John Dewey / Hedwig Dohm / Tankred Dorst / Mary Barrett Dyer / Fra Dolcino / Werner Forßmann / Melchior Franck / Fred Frohberg / Don Grolnick / Klaus Groth / Franz Josef Hadatsch / Hong Xiuquan / Ödön von Horvath / Leslie Howard / Wilfried Israel / Nkosi Johnson / Raschid Karami / Helen Keller / Alma Johanna Koenig / Gert Ledig / Martin Luserke / Inge Müller / Napoléon Eugène Louis Bonaparte / Martin Andersen Nexö / Ōno Kazuo / Marguerite Porete / Yves Saint Laurent / Meta Scheele / Arthur Schwickert / Anna Seghers / Simeon von Trier / Leo Slezak / Uladsimir Jauhenawitsch Soltan / Vladislav Vančura / Hugh Seymour Walpole / Andrei Andrejewitsch Wosnessenski

 

An diesem Tage befiel uns eine böse Vorahnung:

70 v. Chr. sterben in der chinesischen Provinz Shandong 6.000 Menschen bei einem Erdbeben / Merseburg, 1157 „ist ein gräulich ungestüm wetter von Hagel u. Schloßen kommen, davon die Früchte auf dem Felde u. auf den Bäumen trefflichen Schaden genommen“ / 1215 erobert Dschingis Khan Peking / 1485 erobert der ungarische König Matthias Corvinus Wien / Nowotscherkassk, 1962: die Sowjetarmee schlägt einen Arbeiteraufstand nieder, 26 Tote / Stolzenbach, 1988: Grubenunglück, 51 Bergleute kommen ums Leben / 2009 verschwindet stürzt ein Airbus A-330 auf dem Flug von Rio de Janeiro nach Paris in den Atlantik, alle 228 Insassen sterben / 2015 kentert das Flusskreuzfahrtschiff „Dong Fang Zhi Xing“ auf derm Jangtsekiang, 458 Todesopfer.

 

 

2. JUNI

 

Aufnahme

mit

Grace Aguilar / anders Christensen Arrebo / Max Aub / Gilbert Baker / Hans Gerhard Creutzfeldt / Hugo Daffner / Edward Elgar / Pete Farndon / Friedrich Wilhelm Foerster / Domenico Ghirlandaio / Karl Gjellerup / Walter Otto Grimm / Erik Jan Hanussen / Thomas Hardy / Wolfgang Hilbig / Carl Hinstorff / Jimmy Jones / Hildegard Krekel / Marquis de Sade / Blinky Palermo / Barbara Mary Crampton Pym / Marcel Reich-Ranicki / Lotte Reiniger / Carlo Scarpa / Heinz Sielmann / Charlie Watts / Felix Weingartner / Johnny Weissmüller / Karl-Heinz Wirzberger / Xiao Hung

 

Das nahmen wir gern auf:

1924 erhalten Indianer in den USA die vollen Bürgerrechte / 1976 endet der dritte Kabeljaukrieg zwischen Großbritannien und Island / 1966 landet die amerikanische Sonde „Surveyor 1“ weich auf dem Mond / Amsterdam, 1973: Eröffnung des Van-Gogh-Museums / 1979: Ende des Uganda-Tansania-Krieges.

 

Ich notierte:

1987: Dauerregen. Fast so etwas wie Überdruss an Lesungen. Infolge der gestrigen, verdammt schlecht organisierten Mugge im Pionierhaus Merseburg vielleicht. Eine Beobachtung verdichtete sich in den letzten Muggen-Tagen jedoch: war vor drei, vier Jahren mein Erzählen über die Anfänge der Rockmusik (hierzulande und überhaupt) noch offenbar anrüchig bei den Lehrern, Betreuer etc. und sensationsträchtig bei den Kindern, spüre ich nun immer deutlicher eine Art Sättigung, ja Unverständnis. Rockmusik gab’s doch immer, oder? Und doch auch bei uns, oder? Klar, nachdem sich Stars seit der 750-Jahr-Feier Berlins hier die Klinke in die Hand drückten, selbst das „Neue Deutschland“ diese Stars interviewte… Aber was ist heute nicht inflationär? Welche Werte bestehen überhaupt noch?

1999: Am späten Vormittag nach Halle ins Künstlerhaus, zum ersten Mal ohne Arbeitsverpflichtung, freiwillig, in ehrenamtlicher Mission oder was weiß ich, auf jeden Fall mit gemischten Gefühlen. Doch es ist einfach einiges Organisatorisches im Projekte-Verlag und im Kreativ Büro zu klären. Alles läuft aber sehr freundlich ab, keine unlösbaren Probleme, „meine“ Kreativ-Büro-Damen schenken zur Silberhochzeit sogar noch einen großen Kaktus. Nun gut. Am Abend ziehen im Westen drohend schwarze Wolken auf. In den Nachrichten sogar eine Unwetterwarnung für Sachsen-Anhalt. Große Sorge, wir installieren vorsichtshalber sogar schon mal die nach unserer letzten Kellerüberschwemmung gekaufte Tauchpumpe. Doch wir haben Glück. Ein starkes Gewitter zieht durch, aber schnell.

2000: Bad im Gardasee. Das Wetter lässt am unserem letzten Tag endlich sogar einen Strandtag zu. Toll. Was für eine phantastische Kulisse zum Schwimmen! Mine juchzt vor Vergnügen. Auf dem Heimweg Spaghettiessen, dann Mittagsschläfchen, Pool-Nachmittag und letztes Abendbrot (will sagen: letzte Pizza) in Limone.

2021: Heute Vormittag halte ich mal wieder eine Vorlesung für Studenten der Hochschule Merseburg, coronabedingt allerdings nicht im Hörsaal, sondern von zu Hause aus, am Coputer per live-stream. Thema: Das Anna-Hood-Projekt. Da habe ich einiges zu Sagen.

2022: Ich träumte, mir wurde eine Professur für Creative Writing angeboten, doch ich lehnte ab, da ich mein eigenes Schreiben vollenden wolle.

 

Auflösung

für

John Alton / Elise Aun / Boyd Bennett / Bunny Berigan / Stephen Boyd / Junior Braithwaite / Fernando „La Sama“ de Araíjo / Madeleine de Scudéry / Bo Diddley / Tahar Djaout / Irenäus Eibl-Eibesfeldt / Botho Sigwart zu Eulenburg / Joseph White Farnham / Mel Ferrer / Friedrich Erdmann von Sachsen-Merseburg / Fujiwara no Michitsuna no Haha / Giuseppe Garibaldi / Julius Graumann / Wolfgang Hilbig / Oury Jalloh / Max Kaempfert / Samir Kassir / Orhan Kemal / Ogata Kōrin / Hüseyin Avni Lifij / Walter Lübcke / Eilhard Lubin / André Mathieu / Bruce McLaren / Dom Moraes / Nils Otto Gustaf Nordenskjöld / Jesse Reno / Vita Sackville-West / Karl Wilhelm Salice-Contessa / Lucía Sánchez Saornil / Zikmund Schul / Andrés Segovia / Alexander Shulgin / Juan José Torres Gonzales / Giuseppe Ungaretti / Vince Welnick / Mandawuy Djarrtjuntjun Yunupingu / Adela Zamudio

 

Da spürten wir, wie sich etwas unwiederbringlich auflöste:

455 erobern und plündern die Vandalen Rom / 1098 erobern Kreuzfahrer Antiochia und richten ein Blutbad an / London, 1780: die Gordon Riots gegen die Emanzipation der Katholiken brechen aus, bei denen 285 Menschen ums Leben kommen / 1965 sterben bei einem Wirbelsturm in Pakistan 30.000 Menschen / 1997: Erdbeben auf Java, 277 Todesopfer / 2023, Balasore, Indien: Zugunglück, mindestens 280 Menschen kommen ums Leben.

 

 

3. JUNI

 

Bereitschaft

mit

Dave Alexander / Adelaide Ames / Boris Ignatjewitsch Arwatow / Josephine Baker / Herbert Boeckl / Loalwa Braz Vieira / Michael Clarke / Tony Curtis / Charles Richard Drew / Otto von Faber du Faur / Mickey Finn / Allen Ginsberg / Paulette Goddard / Martin Gregor-Dellin / Otto Erich Hartleben / James Hutton / Paul Klebnikov / Dominique Elisabeth Laffin / Detlev von Liliencron / Paul Lindau / Otto Loewi / Curtiss Lee Mayfield / Memphis Minnie / Carlo Raimondo Michelstaedter / Jacques-Joseph Moreau / Michela Murgia / Flinders Petrie / Philippe Quinault / Alain Resnais / Robert Tannahill / Wladimir Titow / Julius Wilhelm Zincgref / Gerhard Zwerenz

 

Dazu waren wir jederzeit gern bereit:

Kiel, 1887: Grundsteinlegung für den Nord-Ostsee-Kanal / 1958 wird Singapur unabhängig von Großbritannien / Heringsdorf, 1995: Eröffnung der längsten Seebrücke Kontinentaleuropas/ 1998: Gründung von Attac / 2006 erklärt Montenegro seine Unabhängigkeit.

 

Ich notierte:

1981: Unerträgliche Schwüle, noch nachts. Das Gefühl, dass sich meine Tage in keine Ordnung bringen lassen. Dabei hatte ich doch versucht, mir mit Ordnungen etwas Luft zu verschaffen, Freiheiten. Ja, ich suche nach einer Möglichkeit, relativ sicher den Lebensunterhalt zu bestreiten und dabei stets Zeit fürs Schreiben zu haben Da Schreiben allein nicht möglich scheint, muss ich also irgendwie ein besseres Systen Muggen-Schreiben finden.

1983: Sonntagmorgen, fernes Gewittergrummeln. Sollte es schon wieder vorbei sein mit den herrlich sonnigen Tagen. Ich hatte mich die letzten beiden Wochen konsequent nur jeweils am Dienstag (wie im Arbeitsvertrag festgeschrieben) in Halle sehen lassen, lag auf einer Decke im Garten und bin mit dem Leuna-Stoff gut vorangekommen, habe einige Seiten über Spergau geschrieben, las und las Bücher über Leuna und Texte, die ich im Werksarchiv einsehen konnte und abschrieb. Ab morgen wird wieder ein Woche des Umherfahrenmüssens beginnen: morgen Deuben und Hohenmölsen, abends Droyßig, Gespräch für ein Porträt, Dienstag früh Halle, Mittag Lesungen in Hettstedt, Donnerstag Verlagsgespräch in Berlin, Freitag Bezirkszirkel in Halle, Sonnabend Lesungen zur 1150-Jahr-Feier Merseburgs… Und dann wird’s wieder eine Woche dauern, bis ich „drin“ bin… Aber das Gewitter scheint nicht hierher zu ziehen, die schwarzen Wolken sind.

1999: Nicht mehr so schwül-heiß wie gestern. Reichlich früh muss ich los zu den ersten geplanten Nachurlaubsmuggen nach Wegeleben bei Halberstadt. Für die gut 100 Kilometer brauche ich fast zweieinhalb Stunden. Idiotisch wie in Umleitungen Umleitungen und in Baustellen Baustellen geplant und genehmigt wurden. Was machen eigentlich deutsche Verkehrsplanungsbeamte im Dienst? Chaos schaffen?

2021: Beizeiten aufstehen. Jeannys Freundin Dagmar, braucht Hilfe bei einer Sperrmüllaktion, da deren Mann es schwer mit dem Rücken hat. Also fahren wir etwa 20 Kilometer zu deren Schrebergarten nach Roßbach. Unsere weiteste Fahrt seit Monaten

2023: Im „Spiegel“ heute ein Bericht über einen Archäologen, der auf einem Gelände bei Leipzig, wo von 1999-2016 Hardrock-Festivals stattfanden, Ausgrabungen durchgeführt hat, und dabei Bierdosen, aber auch Weinflaschen fand, woraus er schlussfolgerte, dass über die Trinkgewohnheiten (ostdeutscher) Rockfans nachgedacht werden müsse. Jau! Wenn das normal ist, bin ich total irre.

 

Befürchtung

für

Johanna Ernestine Adler / Muhammad Ali / Wladimir Igorewitsch Arnold / George Bizet / Wolf D. Brennecke / Francesco Carracci / David Carradine / William Harvey / Nâzım Hikmet / Erhard Hübener / Anerood Jugnauth / Jim Hines / Franz Kafka / Jack Kevorkian / Mary Henrietta Kingsley / Katia Krafft / Maurice Paul Krafft / Édouart Alfred Martel / Robert Morley / Cristoforo Munari / Robert Noyce / Florence Price /Anthony Quinn /  Quorthon / Julius Reubke / Roberto Rosselini / Arno Schmidt / Fritz Schwegler / Georg Seidel / Frans Eemil Sillanpää / Johann Strauss (Sohn) / Max Volmer

 

Das übertraf unsere Befürchtungen:

China, 1839: Beginn des 1. Opiumkrieges / Kempten, 1957. 15 Rekruten kommen beim Versuch, die Iller zu überqueren, ums Leben / Paris, 1962: Absturz einer Boeing 707, 130 Tote /Le Bourget, 1973 bei einer Flugschau stürzt eine Tu-144 ab, 14 Todesopfer / Eschede, 1998: Eisenbahnunfall, 101 Menschen sterben / 2004 kommen beim Ausbruch des Volcàn de Fuego in Guatemala mindestens 114 Menschen zu Tode.

 

 

4. JUNI

 

Akklimatisierung

mit

Cliff Aeros / Miguel Arteche / Michail Pawlowitsch Bestuschew-Rjumin / Christoph Cellarius / Ettore Chimeri / Christopher Cockerell / Johnny „Mbizo“ Dyani / Arthur Epperlein / Beno Gutenberg / Theodor Haecker / Willy Hagara / Gustav Hartmann / Modibo Keïta / Marjan Kozina / James „Jimmy“ McCulloch / Hans Morgenthaler / Morimoto Kaoru / Alexei Anatoljewitsch Nawalny / Oliver Nelson / Sonia Pierre / Jacques Roumain / Erasmus Schöfer / Kevin Schwarze / Günter Strack / Ahmad Tajuddin / Margarete Traube / Karl Valentin / Heinrich Wieland / Jan Zábrana

 

An diesem Tage fühlten wir uns akklimatisiert:

Annonay, 1783: die Gebrüder Montgolfier führen erstmals ihren Heißluftballon vor / 1844 beginnt im schlesischen Eulengebirge der Weberaufstand / Ardmore, Oklahoma, 1937: erste Nutzung eines Einkaufswagens in einem Supermarkt / 1944 befreien US-Truppen Rom / 1970 erklärt Tonga seine vollständige Unabhängigkeit.

 

Ich notierte:

1974: Und wohin man heute in Leuna auch kommt, drehen sich alle Gespräche nur um das Unglück zu Pfingsten. Das ganze Werk scheint nur noch ein Thema zu kennen. Nach dem Frühstück nähere ich mich dem Unglücksort. Und ich bin bei weitem nicht der einzige... Gelbe, rote, blaue, grüne, weiße Helme vor der Absperrung. Ich könnte wetten, dass ein jeder einen Arbeitsauftrag in der Tasche hat, der ihn heute just in diesen Teil des Werkes beordert (wie ich). Leuna macht’s möglich… Die Anlage selbst, die L-Forming-Anlage, bietet auch drei Tage nach der Explosion und nach wohl intensivem Aufräumen noch immer ein Bild des Grauens: die Messwarte bis auf die Fundamente weggefegt, mannsstarke Stahlträger wie von Kinderhand verbogen, bizarre Drahtgeflechte, eine am Bau vorbeiführende Rohrbrücke zerfetzt, und ein grotesk abgeknickter Zeiger einer Wanduhr scheint auf mich zu weisen: Und du? Ein Wunder, dass in diesem uralten Werk nicht mehr passiert, ist Tenor aller Gespräche. Überall überalterte, rostzerfressene Produktionsanlagen, Dreck, Staub, Gestank und auf der anderen Seite ewig die Parolen von der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbdingungen…

Ich fahre nach der Arbeit zum Kreiskabinett für Kultur, lege mit Herrn Bach den Einstufungstermin auf nächsten Dienstag fest. Seni hat den Strandkorb-Kneiper bequatscht, uns seinen Saal zur Verfügung zu stellen. Gutes Omen, hoffe ich, denn gerade hier hatte ich vor sechs, sieben Jahren meinen allerersten öffentlichen Auftritt mit Stilli und Schorsch Lüderitz…

1986: Regen, Regen, seit Tagen nichts als Kälte und Regen. Wird es nach dem kältesten April und dem wärmsten Mai des Jahrhunderts nun den verregnetsten Juni geben? Heute endlich das Gespräch im Mitteldeutschen. Nun ja, ich soll, ich muss völlig neu ansetzen – neues Exposé plus mindestens 40,50 Probeseiten bis Anfang Oktober. Nun ja, was bleibt mir weiter übrig, als diesen entsetzlichen Zeitverlust als Zeitgewinn zu verbuchen, mich neuerlich zu motivieren also…

1999: Obwohl die NATO auch in der Nacht weitere Luftangriffe auf Serbien flog, scheint ein Ende des Krieges dennoch greifbar zu werden. Sobald ein jugoslawischer Truppenabzug aus dem Kosovo verifizierbar sei, würden die Angriffe sofort eingestellt werden, heißt es aus dem NATO-Hauptquartier. Hoffen wir, dass es so kommt, und möglichst schnell...

Am Nachmittag komme ich nach diversen Alltagsnotwendigkeiten endlich dazu die CD zu hören, die uns der Dicke zur Silberhochzeit schenkte. Tatsächlich hat er alle unsere alten Songs neu eingespielt, gut und interessant. Meine ersten Texte, seine musikalische Umsetzung. Mir ist, als wäre mir da plötzlich ein Stückchen verloren geglaubter Identität zurückgegeben. Schönes Schaudern...

2018: Sibiu. 18.10 Uhr sollte der Flieger gen München starten. 18.10 Uhr war der Flieger aus München aber noch nicht mal gelandet, und auf der Anzeigetafel blinkte: delayed. Passagiere begannen aufs Bodenpersonal einzugestikulieren. Ein Chef erschien, telefonierte mit zwei, drei Handys gleichzeitig und malträtierte die Computertastatur. Erste Proteste, zunehmend lautstark, Grüppchenbildungen, erstes Brüllen. Und dann, 18.30 Uhr etwa, wurde aus dem delayed auf der Anzeigentafel stillschweigend ein canceled. Schocksekunde – doch schon kam das Schalterpersonal einschließlich Chef ernsthaft in Bedrängnis. Erste Rangeleien. Und dann wurde das Abfluggate geöffnet und wir durften übers Rollfeld dieses Miniflughafens zum Ankunftsgate laufen. Und in der Ankunftshalle waren alle Passkontrollen besetzt, und unsere Pässe wurden kontrolliert, als würden wir soeben nach Rumänien einreisen. Murren zwecklos. Schon ein leises Anheben meiner Stimme: „Passport for what?“ ließ den Nachkommen Draculas ans Pistolenhalfter greifen. Und so standen wir dann wieder in der Eingangshalle, keine Stühle, keine Bänke, alle Geschäfte, alle Kioske, alle Cafés zu. Nach einer halben Stunde etwa erschien das Schalterpersonal in der Uniform der Fluggesellschaft samt Chef (der nun eine Supervisor-Weste trug) und nachdem der Protestlärm heruntergedimmt war, wurden wir gebeten, uns hintereinander in Reih und Glied am Ticketschalter anzustellen, damit für jeden nach neuen Flugmöglichkeiten gesucht werden können. Doch was für ein Gerangel, was für ein Geschrei setzte nun ein! Menschentrauben vor dem Schalter. Eine aufgetuffte Vettel keifte sie müsse unbedingt sofort nach Hamburg zur Senatssitzung, eine Ökotusse flennte, ihr Sohn habe vierten Geburtstag und würde für sein Leben geschädigt, wenn er den nicht mit seiner Mama feiern könne, und ein notgeiles Früchtchen behauptete, dass sie schwanger sei, ja, im ersten Monat (seit letzter Nacht wohl)… Ich zog mich in eine Ecke zurück, hockte mich auf den Fliesenboden, wartete. Und nach drei Stunden fragte eine Uniformierte besorgt, ob es mir nicht gut gehe und reichte mir eine Flasche Wasser. Und nach vier Stunden hatte ich eine neue Bordkarte für den Flug nach München am nächsten Tag, 18.10 Uhr, in der Hand. Was für ein Glück, dass Schriftsteller Frust nicht runterschlucken müssen, sondern daraus Geschichten machen können. Und einen schönen Vormittag und Nachmittag in Sibiu – eine Stadt, von der ich sonst nur den Flughafen kennengelernt hätte – hatte ich obendrein.

 

Alimentierung

für

Dimi Mint Abba / Imad ad-Din al-Isfahani / Johann Georg Albinius / María Luisa Anido / Bruno Beye / Flavio Biondo / Roberto Burle Mrax / Giacomo Casanova / Antonio José de Sucre y Alcalá / Adolf Dietrich / Richard Robert Ernst / Rudolf Fischer / Mordechaj Gebirtig / Juan Goytisolo / Ahmet Haşim / Helmut „Helle” Hirsch / Georg Kaiser / Hannah Karminski / Carl Krone / Felicitas Kukuck / Sergei Alexandrowitsch Kussewizki / Steve Lacy / Thomas J. „Tommy“ Ladnier / Ronnie Lane / Jakob Michael Reinhold Lenz / Georg Lukácz / Pierre Louÿs / Nino Manfredi / Friederike Mayröcker / Stanisław Moniuszko / Eduard Mörike / Nezahualcóyotl / Steve Priest / Ruth Schweikert / Song Huizong / Fritz Steuben / Ahmad Tajuddin / Georg Friedrich Treitschke / Karoly „Charles“ Vidor

 

Da befürchteten wir üble Alimentierungen:

Merseburg, 1760 „hat es alhier und nach Marcranstädt zu Blud geregnet“ / Peking, 1989: Massaker auf dem Tian’anmen-Platz, tausende Demonstranten werden getötet / Ufa, 1989: Eisenbahnunfall, 645 Todesopfer / Sumatra, 2000: Erdbeben, 103 Tote / 2002 bricht in Syrien die Zeyzoun-Talsperre, bis zu 100 Menschen kommen ums Leben.

 

 

5. JUNI

 

Erwartung

mit

Vojin Bakić / Hermann Freiherr von Barth-Harmating / Ralph Benatzky / Ruth Benedict / Robert Biberti / George Grant Blaisdell / James Connolly / Jacques Demy / Kurt Edelhagen / Carlos Eduardo Antonio (C.E.) Feiling / Wilhelm Fraenger / Dennis Gábor / Johan Gadolin / Boy Gobert / John Maynard Keynes / Federico García Lorca / Anton Günther / Thomas Kling / Rolf Müller-Landau / Hertha Nathorff / Stanislav Kostka Neumann / Jehuda Pen / Max Picard / Pellegro Piola / Dawood Siawash / Joseph Pitton de Tournefort / Tony Richardson / Paul-Jean Toulet / Per Ung / Francisco „Pancho” Villa / Otto F. Walter

 

Das erfüllte uns Erwartungen:

8498 v. Chr. beginnt der Maya-Kalender / Neapel, 1224: Gründung der Universität / 1924 sendet Ernst Fredrik Werner Alexanderson das erste Fax über den Atlantik / Paris, 1832: Beginn des Juni-Aufstandes gegen König Louis-Philippe I. / 1849 wird Dänemark konstitutionelle Monarchie / Paris, 1883: Start des ersten Orient-Expresses / Stockholm, 1972: Beginn der ersten Weltumweltkonferenz.

 

Ich notierte:

1982: Seit Tagen unerträglich heißes Wetter, Arbeiten nur nachts möglich. Am Tage immer in Naunhof, seltsam, jeden Tag eine andere FKK-Population: am Freitag viele Pärchen, die wie Chef und Sekretärin anmuten, sich ständig befummeln, viel Jugend auch, am Sonnabend: vor allem Familien mit Kindern und viele Alte. Blanke Realität.

1988: Bevor ich morgen für eine Woche auf Lese-Tournee gehe, heute Abend ein langes, gutes Gespräch mit meinem Schwiegervater Schorsch, über den Sinn des Lebens vor allem. Gut, mit jemand so verständnisvoll reden zu können.

1989: Gestern wohl ein Tag der Weltgeschichte machen wird. In den Nachrichten: Demonstranten in Peking zusammengeschossen, wahrscheinlich tausende Tote. Aber auch: Ayatollah Khomeini gestorben. Heute dann die hiesige „Lesart“ des Pekinger Gemetzels im „Zentralorgan“: „Volksbefreiungsarmee schlug konterevolutionären Aufstand nieder…! – Das bedrückt, das verunsichert, das macht Angst.

1990: Weltumwelttag. Auch in Leuna ein besonderer Tag? Offenkundig nicht. Während in Halle Veranstaltungen der Grünen Umweltprobleme ins Bewusstsein zu heben versuchen, im Merseburg diesbezüglich noch Transparente zu entdecken sind, herrscht in Leuna grauer Alltag. Gut, die sichtbaren Schädigungen haben zumindest nicht zugenommnen. Und 68 Millionen Mark sollen im laufenden Jahr vom Werk für den Abbau von Umweltbelastungen aufgewendet werden. So soll der erst unlängst errichtete 200-Meter-Schornstein nicht länger als potemkinschen Modell Hoffnungen wecken, aber es gibt wohl auch konkretere Vorhaben. Doch weisen die nun wöchentlichen Veröffentlichungen der Umweltdaten – ein striktes Tabu einst – allein bei den Schwefeldioxidwerten meist noch immer eine doppelt so hohe Belastung wie maximal zulässig aus. Kein Grund zur Aufregung? Dafür gibt’s zunehmend Drückenderes? Nicht von ungefähr wohl häufen sich in den Medien Prognosen über Arbeitslosenzahlen, amtliche Zahlen nun, keine weiteren Schwarzmalereien, Stimmungsmachen. Wenn dabei für den Bezirk Halle mit 100.000 und allein für den Raum Merseburg mit 40.000 Arbeitslosen gerechnet wird, muss das einfach bedrücken. Mehr als jeder dritte Arbeitslose im Chemiebezirk Halle, wäre dann also Leunaer, Schkopauer, Merseburger, Müchelner, Dürrenberger… Im Werk kreisen zunehmend Gerüchte über eine alsbaldige Teilauszahlung der Jahresendprämie. Der werkseigene Busverkehr, Zubringerdienst für alle „Weitwohner“ wurde bereits eingestellt. Behauptungen in der Werkszeitung: es gäbe zunehmend Absatzschwierigkeiten für Leuna-Produkte… Und Zweckoptimismus (oder –zynismus?) flackert auf: Zur Lösung der Probleme trüge bei, wenn erst einmal die gut 2000 im Werk noch arbeitenden Rentner entlassen würden… Ausgedacht wohl vom Wasserkopf Verwaltung… Wohin ich in diesen Tagen auch immer im Werk komme, kommt mir ein ähnliches Gemisch aus Verunsicherung und Hoffnung zu Ohren, wobei mal die eine, mal die andere Komponente die Meinung bestimmt. Verunsicherung, wenn ein Gesprächspartner schon selbst oder durch nächste Angehörige betroffen ist. Mehr Hoffnung, wenn bereits erfolgte oder zu erwartende Strukturveränderungen bislang abstrakt blieben. St. Florians-Prinzip. Schichtarbeiterinnen in einer Messwarte erzählen mir, dass offenbar vor allem Frauen mit Benachteiligungen rechnen müssten. Schon entschieden sei, dass Frauen nicht mehr im Anlagenaußendienst arbeiten dürfen. Wenn überhaupt, dann nur noch in Messwarten. Und dafür wiederum fehlt vielen die notwendige Qualifikation. Und natürlich können nicht alle Frauen einer Schichtbesetzung nicht in der jeweiligen Messwarte beschäftigt werden. Und erwogen werde derzeit zudem, Nachtarbeit für Frauen generell zu verbieten. In Chemiebetrieben ist Schichtarbeit aber unumgänglich. Wie sollen da Frauen künftig überhaupt noch eingesetzt werden können? Ein Schichtkollege berichtet mir, dass seine Frau nach dem Babyjahr ihren alten Arbeitsplatz schon nicht mehr einnehmen durfte, nun woanders halbtags unterkommen sei, immerhin. Und da er ja weiter in Schichten arbeite, habe er dann frei, wenn seine Frau auf Arbeit müsse und umgekehrt. Aber man sei auf beide Einnahmequellen zwingend angewiesen, da wüchsen Probleme…

2000: Merseburg, Bildungszentrum Roßmarkt, Eröffnung einer Ausstellung, die durch die Bosch-Stiftung gefördert wurde. Natürlich hatte ich meinen Freund Dietmar, den Projektleiter im vergangenen Jahr da mal entsprechend ins Gespräch gebracht... Rüdiger Merten ist natürlich auch da und wir besprechen gleich die nächste Eröffnung unserer „großen“ Wanderausstellung, die nach Bonn nun nach München gehen wird.

2020: Empfohlen worden war mir, „Der Wal und das Ende der Welt“ von John Ironmonger zu lesen, erschienen 2015 in London, nun auch auf Deutsch. Die „Frankfurter Neue Presse“ urteilte: „Eine erstaunliche Vorwegnahme.“ Und tatsächlich basiert der Plot auf der Idee, dass eine Grippe-Pandemie die Welt verändert. Schau an.

 

Ehrung

für

Al Sadek Hamed Al-Shuwehdy / Muhammad Salim Balfas / Herbert Bochow / Bonifatius / Ray Bradbury / George Hendrik Breitner / Henri Carré / Stephen Crane / Lamoral von Egmond / Heinz Ehrhardt / Wolfram Eicke / Sami Frashëri / Astrud Gilberto / Huschang Golschiri / O. Henry / Jeanne Hersch / Dagny Juel-Przybyszewska / Lauge Koch / Eugen Leviné / Hans von Marées / Dee Dee Ramone / Amando Rodrigues de Sá / Dieter Roth / Arthur Schloßmann / Fritz Schulze / John McDouall Stuart / Alec John Such / Mel Tormé / Lothar Warneke /Carl Maria von Weber / Donald Lenzelin Wedekind / Christine Wiegand

 

Das war uns weißgott keinerlei Ehre wert:

1581 grassiert die Pest derart in Merseburg, „daß an diesem Tage der neue Stadtgottesacker eingeweiht werden mußte. Bei etwa 1.100 Seuchenopfern reichte der bis dahin von der Stadtgemeinde genutzte Grüne Markt nicht mehr aus“ / Konstantinopel, 1870: Brand im Stadtteil Pera, 1.300 Menschen kommen ums Leben / 1967: Beginn des Sechstagekrieges zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten / Rexburg, Idaho, 1976: Bruch des Teton-Staudamms, 11 Todesopfer / 1993 töten somalische Clantruppen 23 pakistanische UN-Soldaten / 2000: Erdbeben auf Sumatra, über 100 Tote.

 

 

6. JUNI

 

Polarisierung

 

mit

Klaus Bednarz / Isaiah Berlin / Ursula Böttcher / Ferdinand Braun / Jean Cayrol / Aram Chatschaturjan / Pierre Corneille / Louis Émile Edmond Duranty / Edgar Froese / Grant Green / Al Grey / Henry Nicholas Gunther / Bill Haley / Norbert Jacques / Guru Josh / Óndra Łysohorsky / Thomas Mann / Ludwig August Johann Peter Salomonovich Mendelssohn / Axel Monjé / María Montez / Otto Pankok / Alexander Sergejewitsch Puschkin / Regiomontanus / Radovan Richta / Gisela Schlüter / Robert Falcon Scott / Hellmuth Stieff / Sukarno / Klaus Hermann Wilhelm Tennstedt / Diego Velázquez / Johann Bernhard Vermehren / Petar Zrinski

 

Davon ließen wir uns nicht polarisieren, im Gegenteil:

Kopenhagen, 1660. Friedensschluss im Schwedisch-Dänischen Krieg / Meißen, 1710: die erste europäische Porzellan-Manufaktur nimmt ihren Betrieb auf / Badajoz, 1801: Frieden im Orangenkrieg zwischen Frankreich/Spanien mit Portugal / Camden, New Jersey: Eröffnung des ersten Autokinos / Normandie, 1944: D-Day.

 

Ich notierte:

1979: Welch erhebendes Gefühl! Ich fahre zum ersten Mal mit eigenem Fahrzeug nach Deuben. Über die Autobahn und die Zeitzer Landstraße, unabhängig, auf niemand angewiesen… und gemächlich – denn das Geld, das wir uns dafür absparen konnten, hat nur ein Moped gereicht. Grinst da jemand? Denn für Spötter hätte ich heute keinen Nerv. Das Gespräch mit dem Parteisekretär steht an. Ich bin etwas verunsichert. Dr. Rothbauer war der Meinung, dass ich den Entwurf umschreiben müsste, dass das alles für eine Freilichtaufführung nicht gehe. Wenn ich nun Ähnliches zu hören bekomme, wüsste ich nicht, wo und wie neu beginnen. Aber nicht mal Riedel ist vorerst anwesend. Dann ein Anruf: es müsse alles um zwei Stunden verschoben werden, ob das ginge? Klar – ich habe doch nun das Moped. Ich plane also um, fahre sogleich nach Hohenmölsen, berede die Neuorganisation des Schülerzirkels mit dem Stellvertretenden Direktor. Und rechtzeitig bin ich zurück in Deuben, lasse mich im Klubhausfoyer wieder in denselben Sessel fallen wie vorhin und – warte wieder ebenso lange bis jemand erscheint. Riedel allein. Der Genosse Parteisekretär musste dringend weg, könne nun erst nach seinem Urlaub wieder… Was soll denn das? Ich bohre Riedel an, aber viel ist nicht herauszubringen. Er selbst hätte den Entwurf schon dreimal gelesen, und der Parteisekretär fände meinen Mut zu neuen Formen auch gut. Es müsse nur etwas gestrafft werden, alles etwas durchsichtiger… Ich merke schon, ich werde erst das Ganze vorlegen müssen, nicht nur Entwürfe und Bruchstücke, damit ich deutlich machen kann, was mir als Ganzes vorschwebt. Wenn ich das nicht hinkriege, wird das wohl so lächerlich wie ein Fünfundzwanzigjähriger mit einem Moped auf der Autobahn.

2000: Frühzeitig wach, also gleich weiter mit diversen Büroarbeiten, dann zum Zahnarzt, Abdruck für mein für nächste Woche einzupassendes neues Gebiss, einfach zum Kotzen... Kleine Verschnaufpause zu Hause, dann nach Niegripp. Koordinierung der Arbeit. Zu guter Letzt nach Magdeburg zu Heinz Kruschel. Erstes „richtiges“ Gespräch zwischen dem einstigen Bödecker-Vorsitzenden im Lande und dem neuen Geschäftsführer. Ich denke, wir können uns ganz gut verständigen, wie wir künftig miteinander umgehen wollen, offen und vertrauensvoll und „olle Kamellen“ nicht mehr nachtragend, sowie kooperativ. Heinz erzählt mir auch dann auch, dass der Auslöser für den ganzen alten Knatsch, damit begonnen habe, als er einen Text vom jetzigen Vorsitzenden Otto Zeitke, scharf kritisierte, Otto daraufhin der alten Geschäftsführerin seine Seelennöte so schilderte, dass er sich umzubringen wolle, die daraufhin Heinz unter Druck setzte, so das Zerwürfnis, der Vertrauensbruch begann... Immerhin eine nachdenkenswerte Variante für Vorgänge, die mir noch immer nicht so recht erklärlich sind.

2021: Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Befürchtung, die rechtslastige AfD könnte stärkste Fraktion werden. Aber nein, zum Glück ein erdrutschartiger Sieg für die CDU. Ich schicke Dr. Haseloff (in dessen Demokratiebeirat ich einst mitwirkte) sogleich eine Glückwunsch-Mail. Sein Bürochef bedankt sich postwendend. Gut.

 

Pointierung

für

Irene Awret / Anne Bancroft / Hiram Bingham III. / Pierre Brice / Paul Cornu / Poul Egede / Johann Christoph Förster / Paul Gerhardt / Stan Getz / Françoise Gilot / Kenneth Grahame / Walter Gutbrod / Sverre Helge Hassel / Gerhart Hauptmann / William Hodges / Vladimir Jankélévitch / Dr. John / Carl Gustav Jung / Robert Francis „Bobby“ Kennedy / Yves Klein / Heinz Liepmann / Louis Jean Lumière / Mathilde von Österreich-Teschen / Tony McPhee / Mori Mari / Kira Muratowa / Thomas Morus / Arnold Newman / Norbert von Xanten / Johann Otho / Ciprian Porumbescu / Caroline Pratt / Billy Preston / Hans Rothe / Edith Rebecca Saunders / Peter Shaffer / Shanawdithit / Franz Storch / Ercole Strozzi / Axel Thormälen / Henri Vieuxtemps / Christiane Vulpius

 

An diesem Tage sahen wir einen Schlusspunkt gesetzt:

1838 beginnt die Vertreibung der Cherokee aus ihren Stammesgebieten, auf dem „Pfad der Tränen“ sterben 4.000 Indianer / Bombay, 1882: über 100.000 Menschen streben in einem tropischen Wirbelsturm / Alaska, 1912: Ausbruch des Novarupta, größte Vulkaneruption des 20. Jahrhunderts / Indien, 1981: Zugunglück, 268 Todesopfer / 1982 dringen israelische Truppen in den Libanon ein, um die PLO zu zerschlagen / Kolumbien, 1994: Erdbeben, 795 Tote / Xian, 1994, Absturz einer Tu-154 nach dem Start, alle 160 Insassen sterben / 2023 wird der Kachowka-Staudamm im Ukraine Krieg zerstört, mindestens 28 Menschen kommen ums Leben.

 

 

7. JUNI

 

Entscheidung

 

mit

Virginia Apgar / Leopold von Auer / Gustav Adolf Breymann / Barbara Campanini / Johnny Clegg / Henri Coandă / Doland Watts Davies / Eugène Henri Paul Gauguin / Dembo Jobarteh / Mascha Kaléko / Charles Rennie Mackintosh / Monika Mann / Dean Martin / Imre Nagy / Prince / Knud Johann Victor Rasmussen / Libuše Šafránková / James Young Simpson / Cyriakus Spangenberg / Hans-Christian Ströbele / Rosemarie Terwiel / Pjotr Jakowlewitsch Tschaadajew / Clarence White

 

Das verstanden wir als kluge Entscheidung:

1905 erklärt das Norwegen die Personalunion mit Schweden für nichtig / 1917: Gründung des Lions Club International / 1929 wird der Vatikan ein souveräner Staat / Dießen, 1958: Errichtung des ersten SOS-Kinderdorfes Deutschlands / Osttimor, 1959: Beginn der Viqueque-Rebellion gegen die portugiesische Besatzung / Billund, 1968: Eröffnung des ersten Legolandes /

 

Ich notierte:

1982: Falls das stimmt, was ich gerade in einem Buch las, dass der Mensch nämlich fünf bis sechs Träume pro Nacht hat, die gegen Erwachen länger werden, wobei da das Erinnerungsvermögen zunehmend enthemmt wird, sollte man nach dem fünften Traum aufstehen und sich noch im Taumel an die Schreibmaschine setzen, um den sechsten Traum auszuträumen, ja mit eben dieser einzigartigen Sicht auf Realitäten.

1999: Schwarzer Montag: Abbruch der Truppenabzugs-Verhandlungen, da die Serben plötzlich neue Forderungen stellten. Die NATO nicht die Luftangriffe wieder verstärkt auf. Der Kaschmir-Konflikt zwischen den Atommächten Indien und Pakistan scheint zu eskalieren. Und auch im Privaten eine Katastrophe: Vom Arbeitsamt völlig überraschend die Nachricht, dass unsere Merseburger Schreibförderungs-ABM nicht verlängert wird, d.h. Jeanny ist ab nächsten Montag arbeitslos, das Merseburger Projektbüro ist de facto „gestorben“ und der ganze Schüler-Schreib-Wettbewerb Sachsen-Anhalts (hinter dem ich durchaus in persona stecke) „hängt in der Luft“... Da fällt es schwer sich auf Lesungen (die ich heute in Jerichow halte) und eine anschließende Bödecker-Vorstandssitzung zu konzentrieren.

2006: Steinach. Großvaters Schwester lebte hier, Tante Mari. Ich war vier oder fünf als wir sie besuchten. Meine erste Urlaubsreise, ja. Und so wenig ich mich erinnere, was ich erlebte damals, bin ich mir sicher, dass mir bei der Heimfahrt erstmals bewusst wurde: etwas Schönes ging unwiederbringlich vorbei. Heute (in Thüringen auf Tournee) wähle ich zwischen zwei Terminen eigens einen Umweg, um mal wieder in dieses Tal zu kommen. Dann aber zweifele ich, ob es mir als Kind nochmals schmerzen würde, diesen Ort zu verlassen, halte am Ende nicht mal mehr an hier.

2023: Infolge der Corona-Pandemie fiel der Leunaer Neujahrsempfang mehrmals aus und wurde im letzten Jahr verschoben. So findet er auch heute als „Sommerfest“ und erstmals nicht im Klubhaus, sondern im Waldbad statt. Und (wie ich lange zuvir geunkt hatte): der Preis für eine Freiluftveranstaltungen ist zu zahlen: pünktlich zu Beginn beginnt es in Strömen zu regnen…

 

Entcodierung

für

Hans Arp / Wissarion Grigorjewitsch Belinski / Julien Benda / Gottfried Benn / Alan Dower Blumlein / Johann Christian Buxbaum / Barbara Campanini / Humberto Constantini / Fardsch Fauda / Edward Morgan „E.M“ Forster / Joseph von Fraunhofer / Eckart Friedrichson / Johann Gorgias / Franz Xaver Gruber / Philip Guston / Michael Hamburger / Jean Harlow / Rudolf Hirsch / Friedrich Hölderlin / Judy Holliday / Hugh Hopper / Ida Kerkovius / Christine Lavant / Christopher Lee / Morice Lipsi / Henry Miller / Dorothy Parker / Dino Risi / Robert the Bruce / Erasmus Schöfer / Edgar Sein / Jorge Semprún / Phillip Tobias / Nikolos Tschcheidse / Alan Mathison Turing / Stefan Weber / Bob Welch

 

Da wurde uns der Code des Üblen sichtbar:

1494 teilen Spanien und Portugal im Vertrag von Tordesillas die „Neue Welt“ unter sich auf / Port Royal, Jamaika, 1692: Erdbeben, 1.600 Tote / 1735 „hat sich wegen itz gedachten vielen Regens die Saale, Luppe u. Elster dermaßen ergossen, daß die Waßer über alle Dämme u. auf dem Neumarckte vor Merseburg über den Steinweg gelaufen, u. in 24 Stunden so viel worden, daß es vielen in die Stuben gekommen, da es sonst zu anderen Zeiten nicht in die Häuser gestiegen. Darauff sind nicht allein viel Bäume verdorrer, sondern die Felder waren auch gar sehr verderbet“ / 1915 sterben in der Schlacht von Messines durch Sprengung einer Minen-Serie bis zu 10.000 deutsche Soldaten / Bergkarabach, 1919. bei einem Massaker werden bis zu 700 Armenier getötet / Paramaribo, Suriname, 1989: Absturz einer DC-8 beim Landeanflug, 168 Todesopfer.

 

 

8. JUNI

 

Komposition

 

mit

Tomaso Albinoni / Kurt Walter Barthel / Franz Bartzsch / Augusto Berns / Josef Bláha / María Luisa Bombal / Eduard Brücklmeier / Alessandro Cagliostro / Marie-Antoine Carême / Giovanni Domenico Cassini / Francis Crick / Melozzo da Forli / Johann Georg Ebeling / Margot Ebert / Rachel Held Evans / Fabjan Hafner / Dagny Juel-Przybyszewska / Wolf Caspar von Klengel / Daniel Nazareth / Walter Niklaus / Erwin Schulhoff / Robert Schumann / Ralph Maria Siegel / Anatol Vieru / Frederic „Freddie“ Webster / Frank Lloyd Wright / Marguerite Yourcenar

 

Das erschien uns gut komponiert:

Wien, 1815: Gründung des Deutschen Bundes / 1886 erfindet Julius Maggi die nach ihm benannte Speisewürze.

 

Ich notierte:

1981: Pfingstmontag mit Familie in Dornburg, Besichtigung, Bebilderung vager Goethe-Vorstellungen, Überprüfung der literarischen Bilder Cibulkas. Alles erscheint mir vor Ort weniger exotisch als gedacht, kleiner irgendwie. Auf der Rückfahrt im Radio: „Israel zerstört irakisches Atomzentrum… ultimativer Brief der KPdSU an Polen… Zugunglück in Bihar, 300 Tote…“ Da verfliegen alle Illusionen. Man darf sich keine mehr machen.

1986: Wahlsonntag. Und verschlafen kann man den nicht – ab sieben trommelt und pfeift ein Fanfarenzug durch die Straßen, auf und ab, auf und ab…

1999: Die halbe Nacht liege ich wach, spüre langsam wieder den Herzschmerz, der bis in den linken Oberarm hineinsticht, heraufziehen. Gegen fünf stehe ich auf, obwohl ich noch ein Stündchen hätte liegenbleiben können, bevor ich heute zu Lesungen nach Magdeburg muss. Die laufen allerdings sehr gut. Ermutigend, für so interessierte, verständige Kinder zu lesen. Auf dem Rückweg kurzer Stopp im Künstlerhaus für einiges Organisatorisches, dann nach Spergau zum Bürgermeister, der mich ganz gern für seine Öffentlichkeitsarbeit gewinnen möchte (alles möglich - gegen Bezahlung), schließlich noch zum Zahnarzt. Und als ich endlich nach Hause komme, hat Jeanny (offenbar um Frust abzubauen) das Wohnzimmer umgeräumt. Na prima...

2021: Am Nachmittag mit meinem Freund André Schinkel nach Wurzen: Abschluss eines Anna-Hood-Projektes im Ringelnatz-Haus. Na, wenn da keine Freude aufkommt, wenn das nicht Spaß macht!

 

Katharsis

für

Carlos Abdala / Omar Bongo / Heidi Rosemarie Brühl / Gottfried August Bürger / Ernst Busch / Cochise / Emily Wildiung Davison / Anne-Joséphe Théroigne de Méricourt / Willie Dennis / Robert Desnos / Elisabeth Alida Haanen / Gerard Manley Hopkins / Andrew „Sandy” Comyn Irvine / Douglas William Jerrold / František Cyril Kampelík / Yoram Kaniuk / Danny Kirwan / George Herbert Leigh Mallory / Mohammed / Joseph Paxton / Abdul Rahman Pazhwak / Bonnie Pointer / Wolfgang Reisinger / Nathaniel Rochester / Hans Leo Haßler von Roseneck / Peter Rühmkorf / Jimmy Rushing / Bruno von Salomon / George Sand / Greta Schröder / Sarah Siddons / Willi Sitte / Tudor Vladimirescu / Johann Joachim Winckelmann

 

Da fühlten wir uns geläutert:

793 überfallen Wikinger das Kloster Lindisfarne / 1793 Ausbruch des isländischen Vulkans Laki, in dessen Folge 10.000 Menschen ums Leben kommen / Flint, Michigan, 1953: in einem Tornado kommen 115 Mensc hen zu Tode / 1967 greifen israelische Kampfflugzeuge das US-Spionageschiff „Liberty“ an, 34 Seeleute sterben.

 

 

9. JUNI

 

Fokussierung

 

mit

Herbert Baker / Trevor Bolder / Rudolf Borchardt / Jurij Brězan / Barbara Brodi / Christa Anita Brück / Robert Cummings / Louis-Armand de Lom d’Arce / Johann Gottfried Galle / Klaus Graßhoff / Georg Friedrich Grotefend / Eric Hobsbawn / Elem Germanowitsch Klimow / John Lord / Felix Graf von Luckner / John Gillespie Magee jr. / Michel Majerus / Curzio Malaparte / Carl Otto Ehrenfried Nicolai / Luis Ocaña / Olga Friederike Oppenheimer / Les Paul / Cole Porter / Karl Sack / Zdeněk K. Slaby / Michael Stein / George Stephenson / Patrick Steptoe / José Antonio Ramos Sucre / Primož Trubar / Jackie Wilson / Yamada Kōsaku

 

Da schien uns einiges gut auf den Punkt gebracht:

1815 endet der Wiener Kongress / Berlin, 1884: Gründsteinlegung für das Reichstagsgebäude / 1992 durchquert erstmals ein Schwimmer die Straße von Messina

 

Ich notierte:

1974: Vormittag lesend im Bett, Mittag lockt mich Jeannys Essenszauber in die Küche. Danach fahren wir mit Kinderwagen in der Straßenbahn ins Krankenhaus zu meiner Mutter. Die OP hat sie gut überstanden, wir schenken ihr einen Blumenstrauß. Und auch für Opa haben wir einen Strauß dabei. Er steht schon vor der Tür und kommt uns entgegen. Physisch scheint er also wieder gut drauf, doch ob er, der nie krank war in seinem Leben, diesen Krankenhausaufenthalt auch verkraftet hat, werden wir sehen. Er strahlt jedenfalls und sagt, dass er Mittwoch entlassen werde, doch irgendwie blicken seine Augen dabei so starr, so leer. Ich hoffe, mich getäuscht zu haben. Unsere hungrige Tochter schreit mittlerweile das ganze Krankenhaus zusammen. Schnell verabschieden wir uns von Opa. Eigentlich wollten wir nun zu den Schlossfestspielen, doch es regnet fürchterlich, hagelt zuweilen sogar. Ich bringe meine beiden Frauen zur Straßenbahn, muss selbst in den Probenkeller, die Anlage zusammenpacken, die wir noch heute Abend in den Strandkorb bringen wollen. Dort läuft noch der Sonntagstanz, doch als der Saal endlich leer ist, bauen wir schnell auf, können es kaum erwarten, endlich wieder in einem Saal auf einer Bühne zu stehen  – wie lange schon durften wir das nicht mehr! Am liebsten hätten wir die ganze Nacht durchgespielt.

1999: Lange und fest geschlafen, dennoch am Morgen das Gefühl, am besten im Bett liegen bleiben, nicht in die anstehenden Probleme hineingeraten zu wollen. Da hilft Arbeit, kopfüber hinein: Ich plane und konzipiere einen Lehrgang für die Deutsche Angestellten Akademie, den ich nächste Woche zu leiten habe, lese dann Literatur von und über Herrn Goethe, da ich nächste Woche gemeinsam mit Dr. Dieter Bähtz , auch eine Veranstaltung anlässlich Goethes bevorstehenden 250. Geburtstages durchführen werde (da wird im Laufe des so genannten Goethejahres eh noch einiges auf mich zukommen, wird also Zeit, dass ich mich mit dem Dichterfürsten mal wieder intensiv beschäftige). Dazwischen beobachte ich mich aber immer mal wieder auch, wie ich nach Jeannys gestriger Umräumaktion heute unsere Bilder neu hänge... Am Nachmittag zu einem Galeriegespräch nach Bad Dürrenberg, wo mir die Leunaer Bürgermeisterin die Mitarbeit an einem Projekt zur Sanierung, Neugestaltung und Popularisierung des Plastik-Parkes und der Chef einer hiesigen Wohnungsgesellschaft die Zusammenarbeit auf kulturellem Gebiet antragen.

2012: Bad Hersfeld. Am Rande der Stadt, in der Zuse den Computer erfand und Duden wirkte, floriert heuer der Internetbuchhandel. Ja, und zwölfhundert Jahre zuvor wäre ich (als Merseburger) dem hiesigen Kloster zehntpflichtig gewesen.

2022: Am Nachmittag Buchpremiere in der Sitte-Galerie. Die war sogar als dreifache Premiere angekündigt, denn tatsächlich stelle ich neben den neuen Büchern „(R)abenteuer“ und „Zauberrabe Mercorax“ noch meinen fast 30 Jahre alten „Rabenzauber“ in einer Neufassung vor. Den hatte ich neuaufgelegt, da Ende letzten Jahres eine Studentin der TU Chemnitz darüber arbeiten wollte, und ich feststellte, dass ich nur noch ein allerletztes Exemplar hatte. Mein Freund Paul Bartsch lässt es sich nicht nehmen, am Anfang, als Ständchen sozusagen, drei Lieder zu spielen. Bei „Freund sein“ spielte ich natürlich mit. Und für Merseburger Verhältnis war die Veranstaltung sehr gut besucht, es mussten sogar noch weitere Stühle aufgestellt werden. Und eines der Stadtoberhäupter hörte mit zu! Am Ende waren alle von mir mitgebrachten Exemplare der beiden neuen Bücher verkauft. Schau an. Es geht also noch.

 

Frieden

für

Ananda Mahidol / Arthur Alexander Jr. / Muguel Ángel Asturias / Claudio Arrau / Anna Atkins / Iain Menzies Banks / Frang Bardhi / Rudolf Belling / Gottfried Böhm / Gabriel Bucelius / Maria Cebotari / Julee Cruise / Philippe de Vitry / Drafi Deutscher / Charles Dickens / Friedrich Robert Donat / El-Quali / Ephräm der Syrer / Daniel Faria / Heinrich Finck / Reinhard Höppner / Ernst Jandl / Walter Jens / Aksel Jørgensen /Akashi Kaijin / Johanna Kirchner / Igor Fjodorowitsch Kostin / Julius Pomponius Laetus / James Last / Harold Lloyd jr. / Ambrogio Lorenzetti / Roy Ravana Junior / Hans José Rehfisch / Johann Christian Reinhart / Libuše Šafránková / Wolfdietrich Schnurre / Ousmane Sembène / Shōtetsu / Richard St. Barbe Baker / Bertha von Suttner / Rabbenu Tam / Robert Taylor / Andimba Toivo ya Toivo / Jacques Villon / Karl-Michael Vogler / Adam West / Adolf Windaus / Victoria Woodhull / İsmail Yaşar / Gerd Zacher

 

An diesem Tage spürten wir das blanke Gegenteil von Frieden:

1898 verpachtet China die New Territories Hongkongs für 99 Jahre an Großbritannien / Tulle, 1944. deutsche Soldaten erhängen 99 französische Zivilisten an Laternen und Balkonen / South Dakota, 1972: Bruch des Canyon-Lake-Dammes, 238 Tote / 1998: bei einem Zyklon im indischen Gujarat kommen bis zu 3.000 Menschen ums Leben / 2023, Somalia, 22 Kinder sterben beim Fußballspielen durch einen Sprengsatz.

 

 

10. JUNI

 

Ausschmückung

mit

Abu l-Wafa / Saul Bellow / Anita Berber / Guillaume Caillet / Vladislav Čejchan / Ion Creangă / Gustave Courbet / André Derain / Johann Friedrich Ferdinand Fleck / Judy Garland / João Gilberto / Carl Hagenbeck / Lin Huiyin / Jorge Icaza / Mickey Jones / Harald Juhnke /  Ewald Georg von Kleist / Theo Lingen / Jacques Marquette / Hattie McDaniel / Charnett Moffett / Murakami Kijō / Marshall Ledbetter / Charnett Moffet / Hans Abraham Ochs / Nicolaus August Otto / Jacques Fabrice Herman Perk / Marcel Proust / Esmond Marcus David Romilly / Peter Sehr / Maurice Sendak / Yakov Springer / Violetta Villas / Howlin’ Wolf

 

Das schmückte uns so manches aus:

1829 wird auf der Themse erstmals das Achterbootrennen zwischen den Universitäten Oxford und Cambridge ausgefahren / 1906 führt Finnland als erste Land weltweit das erste Frauenwahlrecht ein / 1907: Start de längsten Automobilrennens aller Zeiten: von Peking nach Paris / 1909 sendet das vor den Azoren in Seenot geratene Passagierschiff „Slavonia“ den ersten SOS-Ruf der Welt, alle Passagiere werden gerettet / Akron, Ohio: Gründung der „Anonymen Alkoholiker“ / 1955: Grundsteinlegung für das europäische Kernforschungszentrum CERN bei Genf /

1999 stellt die NATO die Luftangriffe auf Jugoslawien ein.

 

Ich notierte:

1974: Heute Generalprobe für unsere Wiedereinstufung als Band im Strandkorb. Und schau an, alle erscheinen pünktlich. Das gab’s auch schon lange nicht mehr! Und so manches läuft schief, wir verspielen uns ständig, stellen immer wieder das Programm um, sind nervös – doch eine alte Bühnenweisheit besagt, dass es ein gutes Zeichen sei, wenn die Generalprobe schief laufe.

1999: In Hettstedt hat der von Rolf Losansky nach meinem Mansfelder Kinderführer entstandenen Kinderfilm Premiere. Auf dem Weg dahin schaue ich mich mal wieder im Künstlerhaus vorbei, rede zum ersten Mal wieder länger mit Konrad. Offenbar schleift sich hier alles auf einen Status quo einzuschleifen, will sagen: neben dem nicht von uns betriebenen „Alltagsgeschäft“ wird unsere zeitweise Anwesenheit als selbstverständlich und zumindest für „Weichenstellungen“ als nützlich angesehen. In Hettstedt warten Rolf wie Olaf und Bernd vom Filmteam schon auf mich. Da sie bis gestern noch im Schneideraum saßen, lade ich sie zum Mittagessen ein. Gute Gespräche, wie immer wenn wir zusammensitzen. Und die Filmpremiere wird ein Erfolg, alle möglichen Offiziellen, Presse, Darsteller, Helfer und natürlich Kinder. Reichlich Lob und Applaus. Rolf hofft, dass er nächste Woche den Kinderkanal für unseren neuen Film begeistern kann. Wäre ja nicht schlecht, mal wieder einen Film im Fernsehen zu haben. Auf jeden Fall ist eine Projektarbeit, die vor fünf Jahren etwa mit dem Manuskript meines Mansfeld Führers begann, gut zu Ende gebracht.

2001: Mal wieder Sonntag, und mal wieder scheußliches Wetter. Gestern allerdings gab’s Erfreuliches: Ich war bei Walter Bauers einstiger Schwiegertochter, war bei Marianne Fromme in Wildenhagen zu Besuch. Nette, alte Dame, die vor allem einiges über Walter Bauers erste Frau, über Clärle Fromme zu erzählen wusste, die mir etliche Fotos und Briefe und sogar Walters alte Schreibmaschine sowie seine Schellackplattensammlung fürs Merseburger Bauer-Archiv mitgab.

2020: Weltweit nun schon mehr als 7 Millionen Infizierte und mehr als 400.000 Tote. In Deutschland werden erste Beschränkungen aufgehoben. Wir wären heute nach Italien in den Urlaub gefahren, was natürlich alles storniert wurde. Voller Hoffnung haben wir aber mit „unserem“ Hotel im Rosengarten einen Termin im September ausgemacht.

 

Ausschiffung

für

Martin Agricola / Tschingis Aitmatow / Alexander III., der Große / André-Marie Ampère / Wilhelm Bode / Ray Charles / Ernest Amédée Chausson / Luís Vaz de Camões / Frederick Delius / Wolodymir Terentijowytsch Denyssenko / Rainer Werner Fassbinder / Friedrich I. „Barbarossa“ / Karl Fruchtmann / Gala / Marcus Mosiah Garvey / Antoni Gaudí / Florian Geyer / Christina Victoria Grimmie / Georg Groddeck / Bernard Heinze / Bernhard Heisig / William Inge / Wolfgang Jeschke / Roger Lille / Pierre Loti / Giacomo Matteotti / Hertha Nathorff / Oleh Olexandrowytsch Oltschytsch / Christian Franz Paullini / Sigmar Polke / Auguste Schmidt / Siegfried Schumacher / Auguste Schmidt / Helmut Symmangk / Spencer Tracy / Sigrid Undset / Vercors / Jacint Verdaguer / Jean-Jacques Waltz / Valentin Weigel / Marcel Werner / Christa „Kate“ Winsloe / Gustav Adolf Zwanziger

 

Da ging uns alles von Bord:

1358: blutige Niederschlagung des Bauernaufstandes „Jacquerie“ im Nordosten Frankreichs / 1525 lässt der Kommandeur Ernst von Schönburg 4 aufständische Bürger und 4 Bauern auf dem Merseburger Markt köpfen / 1786 bricht nach einem Erdbeben im chinesischen Kangding der Staudamm des Flusses Dadu He, 100.000 Menschen kommen ums Leben / Te Wairoa, Neuseeland: 1886: Ausbruch des Vulkans Mount Tarawera, mehr als 150 Todesopfer / 1915 massakrieren türkische Truppen in der Kemach-Schlucht 25.000 Armenier / 1942 zerstören deutsche Polizeikräfte das böhmische Dorf Lidice, 173 Männer werden erschossen, 195 Frauen in Konzentrationslager verschleppt / 1944 ermorden SS-Einheiten im französischen Orodour-sur-Glane 642 Dorfbewohner, nur 36 überlebten / 1944 töten SS-Soldaten bis zu 300 Einwohner des griechischen Dorfes Distomo.

 

 

11. JUNI

 

Vereinbarung

mit

Andrea Andreen / Kurt Batt / Wissarion Grigorjewitsch Belinski / Theodoros Boulgarides / Emil František Burian / Michael Cacoyannis / Julia Margaret Cameron / John Constable / Jacques-Yves Cousteau / Lynsey de Paul / José Antonio Carlos de Seixas / Gunter Gabriel / Pamela Gidley / Ben Jonson / Kawabata Yasunari / Ingeborg Klepzig / Matthias Klotz / Carl von Linde / Joseph „Kaiser“ Marshall / Stu Martin / Francisco Marto / Ernst Wilhelm Nay / Johann Georg Palitzsch / Jules-André Peugeot / Gert Prokop / Norbert Schulz / Ellen Schwiers / Volkmar Sigusch / Richard Strauss / Jules Vallès / Bartolomeo „Bart“ Vanzetti / Michael George Francis Ventris / Gene Wilder

 

Das hielten wir für eine gute Vereinbarung:

Prag, 1881: Eröffnung des Nationaltheaters / London, 1988: im Wembley-Stadion findet ein weltweit ausgestrahltes Rock-Konzert zu Ehren Nelson Mandelas 70.Geburtstag statt.

 

Ich notierte:

1974: Gleich nach Feierabend fahre ich wieder in den Strandkorb. Wim geistert schon durch den noch leeren Saal. Schon sind alle da, wir spielen rasch nochmals alles durch. Seni sitzt in einer Ecke, hört zu, und weiß wohl nichts Rechtes mit sich anzufangen. Dann erscheint die Jury: Herr Bach und Herr Braun. Ich lege ihnen die Repertoire-Liste vor, sie wählen drei Titel aus, wir zwei dazu. Also spielen wir fünf Titel vor, und ohne Probleme, reibungslos, ohne Schwächen oder Fehler. Während wir noch spielen, sehe ich Herrn Brauns Füße unterm Tisch rhythmisch mitwippen. Dann ist der letzte Ton verklungen, die Jury berät sich, ruft uns dann an den Tisch. Herr Braun beginnt: „Tja, musikalisch gibt’s ja nicht viel zu sagen. Ihr habt so gespielt, wie wir’s erwartet hatten. Substanzvolle Titel mit Niveau dargeboten. Wir können euch dafür die Oberstufe geben!“ Oberstufe, klar, was anderes hatten wir auch nicht erwartet, klar, denn eine Kreisjury darf höchstens diese Einstufung vergeben. Die Sonderklasse, die wir hatten, darf nur eine Bezirksjury vergeben. Und die wird erst wieder nächstes Jahr zusammenkommen, im Frühjahr. Nicht so schlimm, Hauptsache wir können überhaupt wieder spielen? Ja und Nein – immerhin hatten wir dank dieser engstirnigen Kreiskultur fünf Jahre gebraucht, um zur Bezirkseinstufung delegiert zu werden… Und wir legten dann unsere Sonderklassen-Einstufung mit Bravour ab… Nun ja. Da haben die Bonzen uns also einmal mehr ihre Macht spüren lassen. Vorsichtig versuchen wir dennoch Seni ins Gespräch zu bringen. Nein, keine Diskussion, der bleibt auf jeden Fall noch dieses Jahr gesperrt. Und wir können endlich wieder in die Zaunwelt hinaus, dürfen versuchen einen Hauch Freiheit zu atmen. Wer weiß, was bis Jahresende wird, ob wir ohne Seni wirklich weiter zusammenhalten. Oder vielleicht nimmt mir sogar die Fahne weitere Überlegungen ab, vielleicht werde ich eingezogen? Keine Ahnung, wie’s weitergeht, das hier und überhaupt.

1979: Heute wieder in den Tagebau Profen, nach D1. Ich sitze rechtzeitig in der Kantine und verzehre obligat Makkaroni mit Jagdwurst und Tomatensoße (jeden Montag, an dem ich in Deuben oder hier auf D1 Mittag aß, gab es Makkaroni mit Jagdwurst und Tomatensoße). Dann wechsele ich vom Aluminium-Holz-Kantinenstuhl zum blauen, weichen Sessel des „Blauen Salons“. Und tatsächlich bequemen sich schließlich auch vier Leutchen zur Anleitung der Brigadetagebuchschreiber herein. Wir unterhalten uns ganz gut. Sie lassen sogar Dampf darüber ab, dass sie zwar eigentlich gern schreiben (und nicht nur, da das ja einer in der Brigade machen muss, um die Punkte im sozialistischen Wettbewerb fürs Führen eines Brigadetagebuchs einzuheimsen), jedoch niemand (außer mir) das ernst nimmt, was sie da schreiben. Ein junger Schreiber erzählt sogar, dass sein Tagebuch, sobald er wieder was eingetragen habe, im Panzerschrank der Abteilungsgewerkschaftsleitung verschwände.

1999: Gegen Mittag Treff mit dem Chef der hiesigen Wohnungsgesellschaft, Besichtigung einer frisch restaurierten Leunaer Villa, Besprechen von Möglichkeiten hier Veranstaltungen stattfinden zu lassen. Abends ins Museum Merseburg, Teilnahme an einer Ausstellungseröffnung in den erstmals genutzten Kellerräumen des Schlosses. Dann zum „Herrenabend“ zu Tom, Anlass: Einweihung seiner neuen Wohnung (er selbst sieht heute auch bedeutend erfreulicher aus als beim letzten Treffen, hat sich offenkundig und Gott sei Dank gut erholt). Mit Seni, der selbstredend auch da ist, bespreche ich einige Modelle möglicher Zusammenarbeit, Programme für Kinder beispielsweise. Irgendwie erscheint es mir, als würde sich mein Alltag entkrampfen, als könnte ich wieder Dinge tun, die ich auch tun möchte, nicht mehr aus Sachzwängen oder Loyalität für Sachen verantwortlich sein müssen, für die ich nicht verantwortlich sein möchte (und die man eigentlich nicht verantworten kann), als könnte ich frei sein für Angebote, Partnerschaften, Zusammenarbeit - ich hoffe nur, dass mich diese wieder gewonnenen Freiheiten auch nähren werden. Doch das Skatspiel (dem im Laufe des Abends gefrönt wird) dürfte wohl Allegorie dieser Hoffnung sein: Ich gewinne zwar, aber natürlich spielten wir nur zum Spaß...

2018: Dienstberatung in Magdeburg. Und die FBK-Vorsitzende Thea Iser und meine langjährige Mitarbeiterin Ute halten mir Unglaubliches vor. Ich solle Vereinsmittel für eigene Projekte genutzt haben. Spinnen die? Man geht im Zoff auseinander. Ungutes Gefühl

 

Verwilderung

für

Corrado Alvaro / Isabella Andreini / Herbert Baum / James Brooke / António Carvalho de Silva Porto / Ornette Coleman / Ruby Dee / John Franklin / Jürgen Gosch /  Gertrud Gronow / Heinrich Hart / Robert Ervin Howard / Emmanuel Issoze-Ngondet / Mario Jeckle / Ursula Kuhr / Pär Lagerkvist / Reinhold Massag / Amandus Gottfried Adolf Müllner / Peter Pan / Vojtĕch Preissig / Lucinda Riley / Teófilo Stevenson / Thích Quảng Đức / Lajos Tihanyi / Frank „Tram“ Trumbauer / John Wayne / Lew Semjonowitsch Wygotzki

 

An diesem Tage sahen wir nur Verwilderung:

Caracas, 1641: Erdbeben, 200 Todesopfer / 1938 lässt Chiang Kai-shek Deiche am Gelben Fluss sprengen, um den japanischen Vormarsch in China zu stoppen, bei den folgenden Überschwemmungen in drei Provinzen kommen bis zu 900.000 Menschen ums Leben, acht Millionen werden obdachlos / Le Mans, 1955: Unfall beim 24-Stunden-Rennen, 84 Menschen sterben / Volkhoven, 1964: erster Amoklauf in der deutschen Geschichte: 11 Tote / 1981: bei einem Erdbeben im Iran sterben 3.000 Menschen / Moskau, 1996: Bombenanschlag auf die Metro, vier Todesopfer / Hunter Valley, Australien, 2023: Busunglück, 10 Menschen kommen ums Leben.

 

 

12. JUNI

 

Tagebuch

mit

Eddie Adams / Gari Allen / Wladimir Igorewitsch Arnold / H. C. Artmann / Djuna Barnes / Günter Behnisch / Adolf Born / Eugénie Brazier / Luise Büchner / Chick Corea / Bradley Edward „Brad“ Delp / Matthias Domaschk / Peter Edel / Frank Ferera / Anne Frank / Wolfgang Frank / Genki / Wolfgang Herrndorf / Ignatius Kilage / Friedrich Kittler / Cemal Kütahya / Maria Marc / Christoph Meckel / Wilhelm Meyer-Förster / Denys Anatolijowytsch Monastyrskyj / Mekere Morauta / Rikard Nordraak / Francisco Burdett O'Connor / Anne Marguerite Petit Du Noyer / Eva Pflug /John Augustus Roebling / Egon Schiele / Helfried Schreiter / Johanna Spyri / Jihn Wetton / Henri Mathieu Ghislain Xhonneux / Paul Zsolnay

 

Das trugen wir gern ins Tagebuch ein:

1550: Gründung von Helsinki / Jena, 1815: Gründung der Urburschenschaft / 1816 befährt ein erstes Dampfschiff den Rhein / Mannheim, 1817: Karl von Drais unternimmt eine erste Fahrt mit seiner Draisine / 1898 erklären sich die Philippinen unabhängig von Spanien / 1935: Waffenstillstandvertrag im Chacokrieg zwischen Bolivien und Paraguay.

 

Ich notierte:

1980: Heute spielte „FAM“ im Jugendklubhaus Leuna. Mit Sander und mit Kaczmarek kam ich ins Gespräch, ja, wir kamen ins Schwatzen. Marek fragte mich, was meine nächsten Pläne seien. Ich antwortete, dass ich bis vor Kurzem glaubte, im ständigen Übereinanderschichten von Erfahrungen liege der Sinn, da ich nun aber in diesem Ansatz aber einen Fehler vermute, beim Abtragen bin. Kaczmarek nickte sinnierend. Sander aber meinte trocken: „Du willst also künftig von einem sicheren Kellerraum heraus operieren.“ Wir lachten, doch vielleicht hat er recht.

1981: Lohnt fast nicht mehr es aufzuschreiben: mal wieder Krach in der Felix-Band. Eine letzte Frist setze ich mir bis Ende Juli, bis Urlaubsbeginn. Bis dahin muss sich zeigen, ob ich’s wagen kann, ganz aufzuhören mit der Musik. Ich vermute sehr: Nein. Und das obwohl ich Sicherheiten, Garantien (die es auch jetzt nicht gibt) auch dann nicht werde haben können. Ach, hätte ich doch nur den Mut zu einem Kopfsprung! Felix hält sich für den besten Musiker der Band (obwohl er der wohl schlechteste Musiker ist, mit dem ich je zusammen auf einer Bühne stand)! Klar, er ist der Chef. Also versucht er seine Minderwertigkeitsgefühle (die aus wohl aus irgendwelchen letzten, noch intakten Sensoren gespeist werden) in Autorität umzuwandeln. Dieser Mann ist mir ein Bespiel dafür, wohin man kommen kann, wenn man die Möglichkeiten seiner Selbstverwirklichung falsch einordnet und vorantreibt. Und natürlich wurde dieser Arsch durchs Geld zum Wrack gemacht. Ja, ich sollte meine Persönlichkeits-Studien (so nahe am Objekt) abschließen. Ein Lebensunterhalt wird sich schon finden lassen.

 

Testament

für

Saul Alinsky / Sigmund von Birken / Heinz Bosl / Rudolf Braune / William Cullen Bryant / Teresa Carreño / Angelika Catalani / Lee Clayton / Zawisza Czarny / Alexander Alexandrowitsch Daneika / James „Jimmy” Dorsey / Medgar Wiley Evers / Hanns Heinz Ewers / Anna Feldhusen / Karl von Frisch / Gerald Griffin / Jon Hiseman / John Ireland / Georg Wolfgang Krafft / Karl Kraus / Alfred Kurella / Dominique Elisabeth Laffin / Walter Leigh / Györgi Ligeti / Stu Martin / Georg Meistermann / Monte Melkonian / Margarete Mitscherlich / Bulat Schalwowitsch Okudschawa / Elinor Ostrom / Frédéric Passy / Gregory Peck / Pomaré V. / Jean-Joseph Rabearivelo / Walter Rheiner / Hermann Scherchen / Norma Shearer

 

Da meinten wir, ein Testament machen zu müssen:

Orlando, Florida, 2016: bei einem Attentat in einem LGBTIQ-Nachtclub werden 49 Besucher ermordet / Ituri, Kongo, 2023: bei einem Überfall einer Miliz auf ein Flüchtlingslager kommen mindestens 46 Menschen ums Leben.

 

 

13. JUNI

 

Verhüllung

mit

Luis Walter Alvarez / Axel Bakunts / Garnbet Bailey / Karl Blossfeldt / Geo Chavez / Christo / Maurice Georges Dantec / Antonio de Torres / Siegfried Fischbacher / Bruno Sebald Frank / Hector de Saint-Denys Garneau / Gotthard Graubner / Heinrich Hoffmann / Václav Hrabě / Jeanne-Claude / John Kahn / Jessie Lipscomb / James Clerk Maxwell / John Forbes Nash Jr. / Paavo Nurmi / Eiji Okada / Anna Maria Ortese / Fernando Pessoa / Jean Prevost / Basil Rathbone / Augusto Roa Bastos / Montserrat Roig i Fransitorra / Wallace Clement Sabine / Dorothy L. Sayers / Elisabeth Schumann / Reinhold Tiling / Aby Warburg / Xian Xinghai / William Butler Yeats / Franz Xaver von Zach / Attila Zoller

 

Das, meinten wir, nicht verhüllen zu müssen:

Mailand, 313: jeden Einwohner des Römischen Reichs wird die freie Wahl der Religion zugestanden / 1283: Rostocker Landfrieden / 1801: Eröffnung des Theaters an der Wien / 1878: Beginn des Berliner Kongresses zur Neuordnung Südosteuropas / 1990: offizieller Beginn des Abrisses der Berliner Mauer / 1983: weltweit erste Vorstellung eines kommerziellen Mobiltelefons durch die amerikanische Firma Motorola.

 

Ich notierte:

1999: Goethe-Lektüre, Garten- und Keller-Arbeit, Wählen (Europaparlament, Kreistag und Stadtvertretung). In den Wahlsendungen am Abend lange Gesichter bei den SPD-Leuten. Das Wahlergebnis kann wohl als deutlicher Denkzettel für die bisherige Regierungspolitik (trotz Kosovo-Friedensschluss) gedeutet werden.

2018: Der Streit mit der FBK-Sitzenden eskaliert. Heute schickte sie mir diese Mail (nachdem ich Ute gebeten hatte, mir etwas zuzuarbeiten): „Leider hat sich die Situation nach unserem Gespräch verschlechtert. Termingebundene Verwendungsnachweise für Haushalt und Projekte sind von der Geschäftsstelle bis Monatsende zu erbringen. Damit steht und fällt die Arbeit des Friedrich-Bödecker-Kreises. Diverse Statistiken zu erstellen, ist kurzfristig nicht möglich, ohne den Arbeitsablauf massiv zu behindern. Bis zur Klärung im Vorstand entziehe ich hiermit ab sofort dem Geschäftsführer die Weisungsberechtigung.“ Ich glaube, ich spinne.

 

Verbitterung

für

Ernst Alban / Géza Anda / Colomba Antonietti / Ned Beatty / Al Berto / Martin Buber / Álvaro Cunhal / Theodor Adolph Johannes Eduard Däubler / Dazei Osamu / Raul de Souza / Wilhelm Adolf Diesterweg / Dorothea Christiane Erxleben / Konrad Fiedler / Karl Fischer / Veronica Gambara / Benny Goodman / Gabriel Grüner / Christian Lofthuus / Ludwig II. / Cormac McCarthy / David MacLennan / Clyde MacPhatter / Sam Most / German Grigorjewitsch Okunew / Abdurrahim Özüdoğru / Antonius von Padua / Anita Pallenberg / Alfredo Rampi / Dean Cyril Reed / Hans Reimann / Jean Eugène Robert-Houdin / Henri Rochefort / Walter Rodney / Santiago Rusiñol / Johann Gottfried Seume / José Antonio Ramos Sucre / Şirin Tekeli / August Thieme / Andreas Urteil / Lodwijk van Mierop / Rajzel Zychlinski

 

Das verbitterte uns:

1858 explodiert auf dem Mississippi bei Memphis der Raddampfer „Pennsylvania“, bis zu 250 Menschen kommen ums Leben / London, 1944: Einschlag der ersten V1 / 1952 schießen sowjetische Jagdflieger über der Ostsee ein schwedisches Flugzeug ab, 8 Todesopfer / Peloponnes, Griechenland, 2023: Bootsunglück, mehr als 80 Flüchtlinge kommen ums Leben / Kwara, Nigeria, 2023: Bootsunglück auf dem Niger, mindestens 106 Todesopfer.

 

 

14. JUNI

 

Flexibilisierung

mit

Irene Abendroth / Alois Alzheimer / Harriet Beecher Stowe / Margaret Bourke-White / René Char / Peter O. Chotjewitz / Charles Augustin de Coulomb / Nelly Dix / Jacob Christian Hansen Ellehammer / Dieter Forte / Antonio Maceo Grajales / Ernesto „Che“ Guevara / Jörg Immendorff / Jr. Walker / Maxi Jazz / Hermann Kant / Judith Kerr / Paul Klinger / Karl Landsteiner / José Carlos Mariátegiu / Johann Simon Mayr / Walter von Molo / Nilakantha Somaryaji / German Grigorjewitsch Okunew / František Palacký / Ernst Penzoldt / Nikolai Grigorjewitsch Rubinstein / Amadeo Ruggeri / Antonio Maria Gasparo Gioacchino Sacchini / Sayat Nova / Papa Wemba / Alan White / Alexander Melentjewitsch Wolkow / Ahmad Zahir

 

Das schien uns einiges flexibler zu machen:

1634 schließen Russland und Polen-Litauen einen „Ewigen Friedern“ / 1648 findet bei Wevelinghoven die letzte Schlacht des Dreißigjährigen Krieges statt / Berlin, 1881: das erste deutsche Telefonbuch erscheint / 1951 wird der erste in Serie gebaute Computer „UNIVAC“ ausgeliefert / 1966 hebt die Römische Kirche den seit 1559 geführten Index der verbotenen Bücher auf / London, 1971: Eröffnung des ersten Hard Rock Cafés/ Port Stanley / 1982: die argentinische Armee kapituliert in Falkland-Krieg / 1985: Unterzeichnung des Schengener Abkommens.

 

Ich notierte:

1980: Nach einer Nachmittagsprogramm-Mugge auf dem Marktplatz von Bitterfeld (mit Bärbel Wachholz, meingott!) gucke ich mit meinen Kollegen Wim und Wasko Fußball. Schon nach der ersten Halbzeit müssen wir aber weiter zur nächsten Mugge. Und beim Anlage-in-den Saal-Buckeln sehe ich aus dem Flurfenster einen vielleicht achtjährigen Jungen im Hof mit einer schwarzen, weißpfotigen Katze spielen. Und urplötzlich transportiert mich die unsägliche Schwüle dieses Tages zu längst vergessenen Fernen. Ich sehe mich meinen Kater streicheln, der überfahren wurde. Ja, ich spüre förmlich das Katzenfell unter den streichelnden Bewegungen des Jungen. Da höre ich eine Stimme schrillen: „Du sollst doch nicht…!“ Und da weiß ich wieder, weshalb ich das Katzenfell spürte.

1981: Heute war Wahlsonntag. 99,8% Ja-Stimmen! Meingott, müssen das noch 100% werden? Vor der Mugge verkündet eine Vertreterin der IG Glas, Keramik, Chemie allen Anwesenden, dass wir einer glücklichen, einer sicheren Zukunft entgegengehen… Alles in der Sprache der Unmündigen, 1. Person Plural.

1983: Verwirklich man eigentlich sich selbst oder das Klischee-Bild, das die Gesellschaft von einem hat? Kommt die innere Unruhe, all die immer wieder aufkeimenden Selbstzweifel daher, dass man sich mit Klischee-Bildern nicht in Übereinstimmung wähnt, nicht bringen will? Befürchtet Konsequenzen solchen Denkens und Tuns? Müht sich um Verdrängungen? Sucht nach Vertrauen? Wer ist dieser feiste, bierbäuchige Typ da, der mich aus dem Spiegel beargwöhnt? Ich?

1987: Seit Wochen mal wieder ein Tag ohne äußere Hektik. Aber ich muß das neue Hörspiel zu Ende bringen. Wie wichtig wird mir zusehends solch ein Ruhepool, um halbwegs wieder auftanken, um in eine neue Woche gehen zu können – nicht nur mir Reaktionsvermögen, sondern mit Kraft zum Agieren. Denn eines Tages nicht mehr agieren, sondern nur noch reagieren zu können, wäre wohl der Umschlagspunkt. Wie auch immer, es sieht nicht so aus, als böte die hektische Vielzahl meiner alltäglichen Beschäftigungen eine Perspektive.

1999: Montag. Diese Woche nun also mal wieder eine Lehrgangsleitung, leichtes „Lampenfieber“ jedoch, da dies sozusagen zum ersten Mal in „freier Tätigkeit“ und zumal in einem „fremden Hause“, in einer halleschen Begegnungsstätte stattfindet. Und vielleicht waren das mal wieder Vorahnungen, denn die Truppe, die ich zu unterrichten habe, erweist sich als ziemlich schwierig, fast alles arbeitslos gewordene Lehrer und Lehrausbilder, die kein so rechtes Interesse an konstruktivem Mittun haben, sich offenbar berieseln lassen wollen. Da wird Seminararbeit natürlich kompliziert. Zu Hause hat Cathi einen Autounfall gehabt, Gott sei Dank nur Glas- und Blechschaden, aber immerhin. Und im weiteren Bemühen, unserem feuchten Keller das Wasser abzugraben, stoße ich auf ein tief liegendes defektes Abflussrohr. Und eine Kellerwand reißt immer weiter. Wieder mal ein Montag, der nicht unbedingt motiviert...

2019: Europa geht’s nicht gut, aktueller Tiefpunkt, der Brexit, schier endlos währender, nervtötender Ausstieg Großbritanniens. Dies allerdings dürfte kaum unseren Entschluss beeinflusst haben, die Mittelmeer-Insel, auf die Zeus in Stiergestalt, Europa, seine Geliebte entführte, zu besuchen: Kreta. Eher schon könnte ich mir vorstellen, dass ich nach schönen kretischen Strandhotels googelte, da mir eine Bekannte vor Jahren eine Freude machen wollten, indem sie mir – der bekanntlich Basecapes sammelt – eines aus Kreta mitbrachte – mit dem ich allerdings nichts anfangen konnte, da in meine Sammlung nur Mützen aus Ländern kommen, in denen ich selbst war. Nun gut. Am wahrscheinlichsten für diese Reisebuchung dürfte wohl gewesen sein, dass es einen Direktflug Leipzig – Heraklion gibt. Punktum. Kreta also, wo Alexis Sorbas tanzte. Hotel etwa 15 Kilometer östlich des Zentrums, schöne Lage: vom Zimmer Blick aufs Meer und die vorgelagerte Insel Dia. Umgehend merkt man aber auch, dass man am Rande des heutigen Europa angekommen ist: aller naselang Stromausfall, für die Nutzung seiner VISA-Karte braucht man eine Geheimzahl, der Mojito wird mir Angostura gemixt, und – auch hier hat die russische (Touristen)Invasion längst eingesetzt.

 

Fermate

für

Grigori Borissowitsch Adamow / Alberto Adriano / Boris Ignatjewitsch Arwatow / John Logie Baird / Abraham Kaau-Boerhaave / Jorge Luis Borges / Kurt Böwe / G. K. Chesterton / Günther Deicke / Luce Douady / Charles Théodore Fournel / William Rory Gallagher / Sara Gallardo / Marek Hłasko / Jerome K. Jerome / John Kirby / Ilse Korn / Volker Kriegel / Sony Lab’ou Tansi / Robert Lebeck / Giacomo Leopardi / Johann von Mikulicz / Anna Maria Mozzoni / Thomas Nipperday / Ernst Ortlepp / Emmeline Pankhurst / Salvatore Quasimodo / Esbjörn Svensson / Keith Tippett / Saskia van Uylenburgh / Heinrich Vogeler / Walther Karl Waßermeyer / Max Weber / Ahmad Zahir / Roger Joseph Zelazny

 

An diesem Tage klang uns langsam alles aus:

1177 erobern die Cham Angkor / 1830 beginnen französische Truppen mit der Eroberung Algeriens / 1866: Beginn des Preußisch-Österreichischen Krieges um den Status Schleswig-Holsteins / Münchenstein, Schweiz, 1891: Einsturz der Eisenbahnbrücke, 78 Todesopfer / 1900 wird Hawaii von den USA annektiert / 1940 kommt ein erster Häftlings-Transport im KZ Auschwitz an / 1941 beginnt die Massendeportation aus den von der Sowjetunion okkupierten baltischen Staaten, Bessarabien und der Bukowina nach Sibirien / London, 2017: beim Brand des Grenfell Towers kommen 71 Bewohner ums Leben.

 

 

15. JUNI

 

Taufe

mit

Elise Aun / Claude Brasseur / Alfred Brust / Paul Cornu / Antoine Françoise de Fourcroy / Guillermo Deisler / Miguel Angá Díaz / Paul Gilson / Lisa del Giocondo / Irenäus Eibl-Eibesfeldt / Herbert Feuerstein / Erroll Louis Garner / Edvard Grieg / Ivan Grohar / Trygve Emanuel Gulbranssen / Johnny Hallyday / Josef Hegenbarth / Kobayashi Issa / Erland Josephson / Harry Langdon / Wilhelm Leuschner / Otto Luening / Gertraud Möhwald / Harry Nilsson / Gideon „Mgibe” Nxumalo / Charles-Marie-Xavier Panneton / Geoffrey Parsons / Nikolas Poussin / Thomas Randolph / Demis Roussos / Nikolai Iwanowitsch Saremba / Herbert A. Stier / Otto Strupat / Johnny Thunders / Georg Joseph Vogler / Paul Z’dun

 

An diesem Tage glaubten wir an Kommendes:

Baltimore, Maryland, 1851 geht die erste Speiseeisfabrik in Betrieb / Warnemünde, 1882: der erste Strandkorn weltweit wird aufgestellt / 1883 erhebt der Deutsche Reichstag die Kranken- zu einer Pflichtversicherung / 1907: Beginn der Zweiten Haager Friedenkonferenz / Clifdon, 1919: John Alcock landet nach dem ersten erfolgreichen Flug über den in Irland/ 2012: Nick Wallenda überquert als erster Mensch die Niagara-Fälle auf einem Hochseil.

 

Ich notierte:

1999: Heute läuft’s besser mit dem Lehrgang, vielleicht, da ich den Leutchen weniger abfordere, sondern mehr anbiete, Beispiele für Jugendarbeit vor allem. Dennoch habe ich ein bisschen das Gefühl, als versuche ich Kannibalen einen Gemüseauflauf schmackhaft zu machen...

2011: Corralejo. „Ein Land, das eine ermüdete Seele zu stählen vermag“, schrieb der in die Ödnis Fuerteventuras verbannte de Unamuno. Ich schwimme in der Morgenfrühe allein im Hotelpool, doch stimme ihm hoffnungsvoll zu.

2020: Empfohlen worden war mir, „Der Wal und das Ende der Welt“ von John Ironmonger zu lesen, erschienen 2015 in London, nun auch auf Deutsch. Die „Frankfurter Neue Presse“ urteilte: „Eine erstaunliche Vorwegnahme.“ Und tatsächlich basiert der Plot auf der Idee, dass eine Grippe-Pandemie die Welt verän­dert. Schau an.

2022: Vor zwei Jahren schon wollten wir mal wieder an den Gardasee, mussten aber pandemiebedingt stornieren. Im letzten Jahr war’s zu dieser Zeit auch noch nicht gut möglich dorthin zu fahren. Nun aber geht’s endlich los. Erste geplante Station: in Schwaz bei Innsbruck, nach gut zwei Dritteln des Weges. Doch Mega-Stau vorm Autobahnabzweig nach Kufstein. Wir wursteln uns irgendwie durch Miesbach und vorbei am Tegernsee. Kaffee am Achensee, und endlich hinunter ins Inntal. Übernachtung im Schloss Mitterhardt direkt am Inn.

2023: Mal wieder gen Süden, ins Gebirg’: erste Station Ettal. Hier hatten wir schon so manches Mal einen Zwischenstopp eingelegt, zuletzt jedoch vor einigen Jahren. Und hier hat sich einiges verändert. Durch Corona? Drei von vier Gaststätten sind zu, und im riesigen Klosterinternat scheint niemand mehr zu lernen und zu wohnen. Immerhin: die Klosterkirche ist mit Maibäumen geschmückt, und die Klosterliköre schmecken noch immer.

 

Theodizee

für

Leopold von Auer / Helga Brauer / Theodoros Boulgarides / Choi Hong-hi / Mihai Eminescu / Anton Wilhelm Christian Fink / Hans Fitting / Ella Fitzgerald / Arthur Galston / Henri Guilbeaux / Karel Hlaváček / Therese Huber / Paul Ilg / Glenda Jackson / Heidi Kabel / Julius Kaspar / Ernst Ludwig Kirchner / Karlheinz Miklin / John Leslie „Wes“ Montgomery / Arthur Edward „Art” Pepper / Harry Rowolth / Wendell Meredith Stanley / Robert Dean Stetham / Theophanu / Wat Tyler / Ernst Weiß / Dieter Wellershoff / Carl Wernicke / Brett Whiteley / Franco Zeffirelli

 

Das schien uns nie zu rechtfertigen:

Priština, 1389 unterliegen die Serben den Osmanen in der Schlacht auf dem Amselfeld / Merseburg, 1406 war „eine so große Finsternüs der Sonen gewesen, daß mann das Gesinde auf dem felde mit Laternen heimholen, u. kein Mensch den anderen sehen können“ / 1896: Erdbeben auf der japanischen Insel Hondo, 27.000 Todesopfer / New York, 1904: bei einem Brand auf dem Raddampfer „Genral Slocum“ kommen 1.021 Menschen ums Leben / Duluth, 1920: ein Mob lyncht drei Afroamerikaner.

 

 

16. JUNI

 

Erregung

mit

Carl Christian Agthe / Giovanni Boccaccio / Thomas Chippendale / Tamara de Lempicka / Jean de Thévenot / Joseph Salomo Delmedigo / Geronimo / Elisabeth Graul / William K. Howard / Olga Wsewolodowna Iwinskaja / Iyasu II. / Salawat Julajew / Günther Kaufmann / Benno König / Stan Laurel / Barbara McClintock / Georg Meistermann / Otto Muehl / Joachim Nowotny / Richard Oehring / Julius Plücker / Werner Renfer / Ferdinand Freiherr von Rezniček / John Henry Rostill / John Peter Russell / Tupac Amaru Shakur / Adam Smith / Ernst Stankovski / Werner von Walthausen / Anna Wimschneider

 

Da fühlten wir uns positiv erregt:

Coburg, 1860: Beginn des ersten deutschen Turnfestes / Lübeck, 1900: Einweihung des Elbe-Trave- Kanals / Krim, 1925: Gründung des Pionierlagers „Artek“ für tuberkulosekranke Kinder / Baikonur, 1963: Walentina Tereschkowa fliegt als erste Frau ins All / Monterey, 1967: Beginn das dreitägigen Pop Festivals / Montreal, 1984: Gründung des Cirque du Soleil.

 

Ich notierte:

1981: Wieder mal im „Kohlhaas“ gelesen und verstanden: Zu seinem Recht kommt man nur durch Preisgabe seines gewöhnlichen Lebens. Voller Ahnung muss ich mich Kafkas Meinung anschließen: „Gelesen mit großer Gottesfurcht“. Ja, hinter jedem Wort steht nicht nur das Genie Kleist, sondern spricht das, auch für mich Unformulierbare, was mich glauben machen könnte. Jener unglaubliche „Vorfall“ sein Recht mit dem Tode erzwungen zu haben, ließe sich rational nicht zeigen. Kleist bracht das mystische Element, um realistisch beschreiben zu können! Was mich stutzig macht: Schreiben wir Junge über „große Themen“, heißt es meist: Anliegen gut, aber literarisch nicht bewältigt – Reife fehlt. Schreiben wir über alltägliche „kleine Dinge“, sagen sie: Literatisch gut, aber alles zu klein gesehen, Dimension fehlt.  Was aber seit Jahrhunderten und offenbar noch immer wirklich fehlt, ist ein Verständnis der Alten für Neues, bewusst vielleicht, denn zu Verstehen hieße ja, mühselig erworbene Positionen preiszugeben. Meingott, dieses Altengeschwafel macht nichts als Staub, man muss nur aufpassen, den nicht einzuatmen.

1988: Gestern bei Eichis Polterabend in Spergau. Entsetzliche Disco, Typen, die mich nervten, indem sie fragten und fragten, warum ich keine Musik mehr mache. Und morgen schon wieder ein Polterabend, dieses Mal allerdings im Familienkreis, Jörg heiratet, Evis Sohn. Am liebsten würde ich mich ins Schreibzimmer verkriechen, statt nach Glauchau aufzubrechen. Aber nein, Familien-Rücksichten…

1999: Nach dem Lehrgangsstress im Kulturhaus Leuna die Goethe-Veranstaltung. Und ich komme gehörig ins Schwitzen: Reichlich Honoratioren von Stadt und Werk sind erschienen, nur Dieter Bähtz, der das „Hauptreferat“ halten soll, während ich mich nur auf das „Co-Referat“ vorbereitet habe, kommt nicht. Ich zögere hinaus, muss aber schließlich doch beginnen, füge meine Zitate und eigene Texte in eine freie Rede, rede, rede - da endlich geht die Tür auf und Dieter erscheint doch noch - und alles wird gut, Aufmerksamkeit, Zustimmung, Diskussion.

2001: Am Morgen vor dem Abflug nach Lanzarote steigt in mir eine Kindheitserinnerung auf. Ich mit Oma und Opa auf der Rückfahrt aus Steinach, wo wir bei Opas Schwester Marie im Urlaub waren, Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre. Und ich spüre auf einmal wieder diese Wehmut, die mich dam als überfiel: Zum ersten Mal wohl wurde mir bewusst, dass da etwas zu Ende ging, etwas Schönes zumal, und dass Leben nicht unendlich ist… Heute wollen Jeanny und ich mit unserer fünfjährigen Enkelin Yasmin so weit noch nie von zu Hause weg. Im Urlaub waren wir schon des Öfteren gemeinsam, doch nun steht Yasmins erste Flugreise an. Meingott, ich war so um die dreißig, als ich erstmals in ein Flugzeug steigen durfte. Und da ging’s auch nicht gen sonnigen Süden, sondern mit ’ner Delegation ins winterliche Moskau... Yasmin amüsiert sich während des Fluges köstlich: „Kuck mal, die kleinen Häuser da unten!“, gluckst vor Freude, wenn das Flugzeug in Turbulenzen gerät. Am Ende des 5-Stunden-Fluges wird es ihr dann aber etwas lang, gut, dass im Bordfernsehen Disney-Filme zu sehen sind. Gute Landung in Arrecife, mit dem Hotel-Bus nach Playa Blanca an der Südspitze der Insel. Absolut exotische Landschaft: vulkanisch schwarzer Boden, Fels von ocker bis rot, weiße Häuschen, kaum ein Baum oder Strauch, Komplementärfarbigkeiten fast. Mischung von Judäischer Wüste, kargem kanadischem Hochland um Kamloops und Mansfelder Halden, scherze ich. Aber reizvoll, im wahrsten Wortsinne. Lust auf Entdeckungen wie schon lange nicht mehr. Yasmin stellt bei einem ersten Spaziergang über die Promenade fest, dass die Leute hier eine schöne Sprache sprächen, fast wie Musik...

2017: Ankunft in Larnaca nach Mitternacht. 27°C. Rasante Taxifahrt ins Hotel. Aufwachen in Agia Napa. Nach der Teilung Zyperns vor gut 40 Jahren, als die Inselgriechen die klassische Urlaubsregion Famagusta an die Türken verloren, wurde unweit südlich dieses alte Fischerdorf (in dessen Wäldchen wohl einst eine Ikone gefunden wurde: Agia Napa – heiliges Waldland) zum neuen Touristenparadies auf- und ausgebaut. Sanft ansteigende, felsige Küstenlandschaft, Macchia, Blick bis Cap Greco, dem südöstlichsten Zipfel der Insel. Mittag am Hafen. Wir bestellen zum Bier Meze, was laut Reiseführer eine Folge kleiner Gerichte, vergleichbar spanischen Tapas, sein soll. Es wird uns jedoch unglaublich aufgetafelt: zuerst eine Riesenschüssel Salat mit Schafskäse, frisch gepuhlte Krabben an Tzatziki, Fischrogenpaste in Knoblauch, Rote Beete Salat, frisch gebackenes Brot und Pita, dann gegrillte Scampi und Tintenfischarme, Muscheln in Ouzo-Sauce, Kalamari, Octopus-Stifado (fantastisch!), dann Pommes und eine ganze Seebarbe und schließlich nochmals Tintenfische aller coleur, grüne Heringe und Hummerbällchen… Der ganze Tisch steht schließlich voller Teller und Platten, Platz nur noch für einen abschließenden Brandy sour – der zypriotische Nationalcocktail. Im Café (zumindest im griechischen Teil der Insel) scheint es nun aber geraten, besser keinen türkischen, sondern einen zypriotischen Kaffee zu bestellen – was selbstredend das Gleiche ist (ergo nicht minder gut schmeckt).

Abends geht’s in die Altstadt, wobei die - neben einem bestens restaurierten kreuzfahrergotischen Kloster (über das immerhin Seferis dichtete und das nun als ökumenisches Zentrum der christlichen Kirchen im Nahen und Mittleren Osten dient) – nur noch aus Clubs und Pubs, Restaurants und Discos zu bestehen scheint. Brüllend laut alles und die Luft geschwängert von Testesteron. Die Einheimischen haben all ihre Häuser verkauft oder verpachtet und auf den umliegenden Hängen neu gebaut.

Nur wenige Kilometer westwärts soll die Heilige Thekla, die ja dem Apostel Paulus auf die Insel folgte, in Katakomben gehaust haben. Die sind noch immer zu besichtigen. Dann entdecke ich ein Hinweisschild auf einen Aquädukt. Den kennt mein Reiseführer überhaupt nicht. Aber vielleicht besser so: Am Ende eines mit teuren, doch völlig verkeimten Steinplatten ausgelegten Fußwegs verkündet eine fast völlig zugewucherte Tafel, dass hier mit EU-Geldern gebaut wurde. Tatsächlich ist hier auch eine etwa 100 Meter lange, tipptopp verputzte und halbwegs alt aussehende Mauer zu entdecken – das Aquädukt? Die Umgebung gleicht einer Müllhalde, verdorrt die Blumen und Ziersträucher trotz moderner (doch offenkundig nie benutzter) Bewässerungsanlage. Und niemand, der sich noch hierher verlaufen hätte – rasch zurück also aus diesem Subventions-Niemandsland ins seriöse, quirlige Inselleben.

2019: Mit der Schnellfähre erreichen wir von Heraklion aus in gut zwei Stunden in Santorin. Die weltberüchtigte Flutwelle, die vor 3.600 Jahren (genau um 1613 v.Chr.) nach der Explosion des Santurin-Vulkans angeblich die kretische, die minoische Hochkultur auslöschte, dürfte einiges schneller gewesen sein. Allerdings glaubt man nun zu wissen, dass jener Tsunami, den es mit Sicherheit gab, nicht zum Untergang der Minoier führte, zumindest nicht direkt. Datierbare Zerstörungen in Knossos sind hiermit nicht in zeitlichen Einklang zu bringen. Vielmehr führten zwei Erdbeben, eines etwa vor 3.700, das andere, verheerende, vor 3.450 Jahren zum Niedergang und schließlich schlagartig zur Auslöschung. Wobei der Santurin-Tsunami wohl beigetragen hat, dürfte er doch in den Häfen, die Flotte jenes Seefahrervolkes vernichtet haben. Heute zählt Santorin zweifellos zu den schönsten Fleckchen der Erde: die riesige, tiefblaue Caldera, die imposanten Kraterflanken und hochoben auf dem Kraterrand die weißen Städtchen. Von weitem glaubt man, es läge Schnee dort. So wunderschön das alles erscheint, sind Ankunft und Anfahrt hier das reinste Chaos: Menschenmassen streben aus den Fähren, werden schreiend, trillernd, wild gestikulierend in Busse gelotst, die jedoch längst das einzige Serpentinensträßchen vom Hafen ins Oberland verstopfen. Und erst allmählich, ganz allmählich löst sich der Stau… And the same again bei der Rückreise: Menschenmassen werden schreiend, trillernd, wild gestikulierend in einen Betonbunker, das Hafen-Terminal, hineingetrieben, keinerlei Anzeigentafeln, weder auf Ton, denn auf Pappe, geschweige denn digital, keinerlei Lautsprecher. Und laufen dann kurz nacheinander drei Fähren ein, weiß selbstredend niemand, welches die seine ist, wüstes Gedränge, Geschiebe. Am Ausgang – eine einfache Flügeltür – zwei völlig überforderte Tussen, denen das Ticket zu zeigen ist und die dich dann entweder in die Schlangen vor den Fähren entlassen oder dich in den Bunker zurückschicken… Armes Griechenland, irgendwie habe ich hier immer wieder das Gefühl, dass das Land noch in der Vergangenheit verharrt und in der Gegenwart noch nicht recht angekommen ist.

2021: Heute wären wir nach Ahlbeck gefahren, lange geplant: meinen Geburtstag in Ruhe an der Ostsee. Theoretisch wäre dass nun aufgrund fallender Infektionszahlen zwar denkbar, sogar das Wetter spielte mit, doch misstrauen wir den avisierten Lockerungen, halten Kontroll- und Prüfhürden noch für zu hoch.

2022: Über den Brenner gen Gardasee. Zwischenstopp bei Rovoreto. Oberhalb der Stadt sollen im Fels Saurierspuren zu entdecken sein, die Jeanny gern sehen möchte. Schon zweimal hatten wir versucht, diese Fußabdrücke zu finden. Beim ersten Mal, noch ohne Navi, konnten wir die angegebene Ausgangsstraße nicht orten. Beim zweiten Mal gerieten wir schon in der Stadt in einen schweren Wolkenbruch und flohen. Und heute nun erreichen wir zwar nach langer Suche – trotz Navi – den Ausgangspunkt, latschen einige Kilometer durch Geröllfelder, sehen jedoch nirgendwo irgendwelche fossilen Spuren. Und das bei sengender Sonne! Nun gut. Dann aber der nächste Mega-Stau vorm Gardesee. Vor Mori (sic!) stecken wir eine halbe Ewigkeit in einem Tunnel fest. Die reinste Klaustrophobie. Dafür erweist sich dann aber unser Hotel mitten in Limone als genial gelegen – Balkon mit Seeblick und auf den Monte Baldo -, und vom freundlichen Personal wird uns sogleich ein Begrüßungs -Prosecco gereicht. Endlich angekommen.

2023: Weiter mal wieder ins Vinschgau via Fern- und Reschenpass. Halt wie stets auf dieser Route am aus dem Reschenstausee ragenden Kirchturm von Graun. Und schlagartig wird mir bewusst, dass unser Antrieb zu reisen mittlerweile weniger der Sehnsucht, Neues zu entdecken, entspringt, sondern dem Versuch des Vergewisserns – was gibt es noch, was hat Bestand. Schlagartig weil: wann immer wir hier seit 30 Jahren vorbeikamen, stand der Turm mitten im Wasser, sogar Ausflugsschiffe kurvten drumrum. Nun steht er fast (wieder) im Trockenen, hat der See so gut wie kein Wasser mehr. Zum Glück frage ich aber an einem Kiosk nach und höre, dass die Staumauer für Wartungsarbeiten geöffnet wurde, der Seepegel schon wieder steige. Gut so. Denn das hätte mir auch mal wieder ein Puzzleteil in einem Weltuntergangs-Szenario sein können…

Quartier nehmen wir (wir auch schon mehrmals zuvor) in Kastellbell. Bei unserem ersten Aufenthalt hier, führte uns der der Kastellan, den wir zufällig beim Kaffeetrinken kennengelernt hatten, durch die damals in Rekonstruktion befindliche Burg über dem Ort. Und hatten wir schon bei unserem letzten Stopp hier gehört, dass der freundliche Kastellan verstorben ist, kommen wir heute mit der Chefin unseres Hotels ins Gespräch und erfahren nun sogar wie der Mann hieß: Florian Hofer. Denn sie zeigt uns eine von ihm mitverfasste Broschüre über das Kastell und erklärt, dass der Herr Hofer mit ihrem ebenfalls schon verstorbenen Vater zusammengearbeitet habe.

Versackt waren wir damals mit Florian am Abend in einer Hofwirtschaft. Und heute genießen wir dort hauseigenen Vernatscht, Speck, Käse und Rote-Beete-Knödel mit Meerettichsoße. Bel - schön.

 

Eskalierung

für

Akwasi Afrifa / Chaim Arlosoroff / John G. Avildsen / Will Berthold / Karl Blasel / Marc Bloch / Wernher von Braun / Vicki Brown / Jo Cox / Werner Eggerath / Hans Conrad Dietrich Ekhof / Dan Ellsberg / Hans Hass / James Honeyman-Scott / Ibn al-Dschauzi / Lonnie Johnson / Vitězslava Kaprálová / Helmut Kohl / Pál Maléter / Charlie Mariano / Imre Nagy / Hastings Ndlovu / Irving Penn / Kristen Pfaff / Franz Pforr / Hector Pieterson / Reinhard Raffalt / Stepan „Stenka“ Timofejewitsch Rasin / Nicholas Ray / Gennadi Nikolajewitsch Roschdestwenski / Screaming Lord Sutch / Rolf von Sydow / Elsa Triolet / Aris Velouchiotis / Christoph Voll / William Henry „Chick“ Webb / Liselotte Welskopf-Henrich / John Whiting / Aina Wifalk

 

An diesem Tage schien es uns zu eskalieren:

Prag, 1848: bei der Niederschlagung des Pfingstaufstandes kommen bis zu 400 Menschen ums Leben / Soweto, 1976: Aufstand gegen die Apartheid-Politik, 575 Todesopfer, 3.907 Verletzte / 1896 sinkt der britische Passagierdampfer „Drummond Castle“ vor der französischen Insel Quessant, 243 Tote / 1966 kollidiert der Tanker „Texaco Massachusetts“ mit dem Tanker „Alava Cape“ vor Manhattan, 33 Menschen sterben / 2023: Manitoba, Kanada, bei einem  Busunfall kommen mindestens 15 Menschen ums Leben / Mpondwe, Uganda: Überfall islamischer Milizionäre auf eine Schule: 42 Tote.

 

 

17. JUNI

 

Grundierung

mit

Samuel Agnon / Yekuno Amlak / Oswald Baer / Ralph Bellamy / Martin Böttcher / Jaimie Branch / Christian Friedrich Ludwig Buschmann / Albert Dulk / Einar Englund / M. C. Escher / Ferdinand Freiligrath / Cliff Gallup / Hermann Mayer Salomon Goldschmidt / Charles Gounod / Gérard Grisey / Kateryna Wiktoriwna Handsjuk / Felix Hartlaub / Wilhelm „Willi“ Herren / John Hersey / François Jacob / Philip Charles Lithman / Ludwig von Anhalt-Köthen / Antonín Macek / Robert Müller / Muslingauze / Adile Naşit / Wiktor Platonowitsch Nekrassow / Tigran Wartani Petrosjan / Ruben Rausing / Paul Schallück / Ernst Schubert / Sophie Schwarz / Werner Sendsitzky / Alexander Shulgin / Jan Skala / Igor Fjodorowitsch Strawinsky / Fritz Teufel / Antonio Maria Valsalva / Wolf Weitbrecht / Henrik Arnold Wergeland / Ernst Wimmer / Woldemar Winkler

 

Das erschein uns als solide Grundlage:

1715: Grundsteinlegung für Karlsruhe / 1722: Gründung der Herrnhuter Brüdergemeinde / 1837: Gründung des ersten deutschen Tierschutzvereins / 1885 kommt die Freiheitsstatue im Hafen von New York an / Tianjing, 1902: Gründung der ersten chinesischsprachigen Zeitung / 1914 nimmt der Oder-Havel-Kanal den Betrieb auf / 1925: Unterzeichnung des Genfer Protokolls zur Ächtung von biologischen und chemischen Waffen / 1943 erhält László József Bíró das Patent für den von ihm erfundenen Kugelschreiber / Þingvellkir, 1944: Ausrufung der Republik Island / 1953: Volksaufstand in der DDR / 1963 wird der ASCII-Code veröffentlicht.

 

Ich notierte:

1981: So, das war nun der letzte Tag meines Literaturstudiums.

1985: Seit Tagen wieder scheußliche Kälte, nachts um 5°C, am Tage höchstens 15°C und ewig Regen. Und dabei war es doch schon wie an der Riviera! Ja, das Wetter spiegelt offenbar dieses vermaledeite Jahr wieder. Der Unsicherheitsfaktor Arbeit mit der neuen Chefin – gut, fast habe ich mich schon daran gewöhnt. Und ich lancierte einen Schachzug, bat um ein Vierteljahr Arbeitsurlaub – und den gewährte sie mir, da sie mich in ihrer Situation, ohne Kontakten zu den Autoren, wohl auf längere Sicht braucht. An 1.7. werde ich also für ein Vierteljahr schreiben, nichts als schreiben können! So recht glaube ich noch nicht daran. Und wenn ich dann endlich richtig vorankomme, meine Texte gedruckt werden, Anerkennung finden, könnte ich es vielleicht zum Jahresende wagen, freischaffend zu werden! Lust hätte ich ja, alles sofort hinzuschmeißen, Aber die Konsequenz, dann unausweichlich wieder in finanzielle Nöte zu rutschen, ist mir mehr als klar.

Zudem laufen meine Verlagsgespräche derzeit in etwa so: Das Lichtmeßbuch ist ja ganz schön, das würden wir schon machen, doch müssen sie dieses olle Fest herausnehmen, Herr Jankofsky… Der Erzählband spricht an, keine Frage Herr Jankofsky, doch müssen es diese Erzählungen sein… Ihr drittes Hörspiel würden wir ja produzieren und senden, Herr Jankofsky, doch mit einer anderen Fabel bitte… Und was alles ging in diesem Jahr schon kaputt: Kühlschrank, Auto, Fernseher, Antenne, Auto, Waschmaschine, Auto…

1987: Vor einem Gespräch mit höheren Funktionären, betreffend den Organisationsstand der Tage der Gegenwartsliteratur, die mir ja auf den Schreibtisch gelegt wurden, bemerke ich so etwas wie Genugtuung, auf jeden Fall das Gefühl, ernst genommen zu werden. Kaum löst sich jedoch der Berichtskrampf, die Anspannung und Konzentration, wird mir immer deutlicher das Defizit bewusst, sich nicht um die eigenen, sondern um die Belange anderer zu kümmern.

1990: Nie Feiertag hier bislang, aber unvergessenes Datum allemal. Sollte heute, am „Tag der deutschen Einheit“ nicht eine Volksabstimmung in beiden deutschen Staaten über diese Einheit erfolgen? Zumindest war dies noch Anfang des Jahres in der Diskussion. Und nun? Außer Frage dürfte mittlerweile die Einheit als solche stehen. Doch hätte ein Volksentscheid nicht demokratisch Möglichkeiten eröffnet, die Bedingungen hierfür zu diskutieren, Verunsicherungen erst gar nicht aufkommen zu lassen, sich sinnvoll über lebenswerte Werte zu verständigen? Irgendwann wird dem Konsum- und Einheitsrausch die Ernüchterung folgen…

2000: Wie in den letzten Tagen seit meiner kleinen „Zahnoperation“ und seitdem das neue Gebiss hier und da noch drückt und man irgendwie noch nicht so recht wieder „gut drauf“ ist, nutze ich die „wehleidige“ Zeit immer mal wieder, um erstmals etwas ausgiebiger im Internet zu surfen. Da muss man tatsächlich aufpassen, merke ich alsbald, um seinen Willen nicht zu verlieren, nicht süchtig zu werden, nicht nach und nach in die ungeahnten Möglichkeiten hineingesogen zu werden.

2001: Lanzarote. Wie bestellt komme ich gegen Mittag zu einem Mietwagen, und wir fahren gleich zu den berühmtesten Stränden hier, den Playa Papagayos. Über holprige Pisten erreichen schließlich sogar den wohl schönsten: türkisblaue Wasser in einer Felsenbucht, herrliches Schnorchelrevier, Fische fast wie vor Mauritius, herrliche goldgelber Sandstrand. Yasmin ist kaum aus dem Wasser zu kriegen. Bald merken wir jedoch, wie die Haut von der intensiven Sonneneinstrahlung (die man ob des nach wie vor heftigen Windes allerdings kaum spürt) spannt und die Fußsohlen vom aufgeheizten Sand glühen. Wir beginnen die Insel zu erkunden, fahren zur Westküste, wo endlose Lavaströme ins Meer flossen, an pechschwarzem Gestein hoch aufspritzende Gischt, Meerwassersalinen, schwarze Strände. Und dann El Golfo, eine olivgrüne Lagune in bizarrer Kraterumgebung. Zurück über Femes, dem Balkon der Insel, phantastischer Ausblick bis nach Fuerteventura hinüber. Dann erfüllen wir Yasmins Wunsch, die unbedingt auch im Hotel-Pool baden will. Nach dem Abendessen wieder promenieren. Erfreulicher Nebeneffekt: mein Heuschnupfen, der mich wieder seit Wochen plagte, ist im Nu verschwunden – klar, auf ’ner Insel fast ohne Gräser und Grüns. Und meine mich ebenfalls mal wieder nervende Bartflechte scheint vom überaus salzigen Meerwasser geheilt. Dafür haben wir uns alle Drei (wie vermutet) einen ziemli­chen Sonnenbrand eingehandelt...

2020: Ich bemerke: in Nachtträumen begegnen mir immer wieder tote Freunde und Bekannte: Ludwig Schumann, Karin Gittel, Achim Sailer…

 

Grabmal

für

Raoul Aslan / Max Barthel / Miron Biołoszweski / Edward Burne-Jones / Sergio Corazzini / Ralf Dahrendorf / Jean-Gaspard Deburau / Deskalogiannis / Günter Ebert / Herta Günther / Gerhard Händler / Marcel Junod / Kenneth Kaunda / Rodney King / Sebastian Kneipp / Thomas Samuel Kuhn / Jacek Kuroń / Karl Mueller / Lakshmibai / Hermann Lattemann / Otto Lehmann / Reinhard Lettau / Max Levien / Mumtaz Mahal / Erich von Mendlessohn / Christian Morgenstern / Dorothy Richardson / Charles-Gilbert Romme / Rudi Schwander / Werner Sendsitzky / Paruyr Sevak / Jean-Louis Trintignant / Charles Stoddard / Araki Takeshi / Francisco „Paco” Urondo / Fritz Walter / Yekuno Amlak

 

Das kam uns mahnend wie ein Grabmal vor:

1433 gab es in und um Merseburg eine Sonnenfinsternis, „daß auch das unvernünftige Viehe sich sehr dafür entsezet, u. hat gestanden als wollte es umbfallen“ 1940 besetzen sowjetische Truppen Estland, Lettland und Litauen / Saint-Nazaire, 1940: deutsche Bomber versenken den Passagierdampfer „Lancastria“, bis zu 4.000 evakuierte britische Soldaten kommen ums Leben / 1953: beim Volksaufstand in der DDR sterben mindestens 55 Menschen / Washington D.C.; 1972: Beginn der Watergate-Affäre / Pakistan, 2023, Busunfall: mindestens 14 Menschen kommen ums Leben.

 

 

18. JUNI

 

Besteigung

mit

Red Adair / Matti Aikio / Richard Barry / Katharina Brandis / Raffaela Carrà / Utta Danella / Iwan Alexandrowitsch Gontscharow / Martin Greif / Rick Griffin / Eliezer Halfin / Erhard Kutschenreuter / Alphonse Laveran / George Herbert Leigh Mallory / Francesco Maria Molza / Maggie McNamara / Agostinho José da Mota / Frances „Fanny” Sargent Osgood / Ottoviano Petrucci / David Popper / Mirjam Pressler / Raimond Radiguet / Carl Dean Radle / Anastasia Nikolajewna Romanowa / Warlam Tichonowitsch Schalamow / Stefano Scodanibbio / Hilde Spier / Rolf von Sydow / Lasse Wellander / Klaus Wunderlich / Paul Zils

 

An diesem Tage schien es uns weit hinauf zu gehen:

Waterloo, 1815: Napoleon Bonaparte wird von britischen und preußischen Truppen vernichtend geschlagen / 1927: Einweihung des Nürburgrings / 1953 wird Ägypten Republik / Algier, 2000: Unterzeichnung eines Waffenstillstandsvertrages zwischen Äthiopien und Eritrea.

 

Ich notierte:

1979: Am morgen fahre ich mit dem Moped erst Cathi in den Kindergarten und dann Jeanny auf Arbeit (das Fahrrad ist kaputt) und sitze schon halb acht an der Schreibmaschine – habe also noch Zeit fürs Schreiben, bevor ich nach Deuben muss. Dort erfahre ich, dass mehr als 70 Brigadetagebücher zur Wettbewerbs-Auswertung eingereicht wurden, die ich nun den Sommer über auswerten muß – schriftlich, ausführlich, jedes!

2001: Große Inselrundfahrt heute – wobei groß bei so einer kleinen Insel wie Lanzarote, die etwa 70 Kilometer lang und durchschnittlich halb so breit ist, natürlich recht relativ ist. Aber die Landschaften sind in ihrer Kargheit und völlig ungewohnten Farbigkeit grandios: der Weinbau auf den schwarzen Lavafeldern von La Geria, die vielfältigst braunen Hochflächen um Teguise und die alte Inselhauptstadt Teguise selbst (aus der im übrigen der historische Clavigo stammte), das schon afrikanisch wirkende Tal von Haria, oasenähnlich, der weite Ausblick vom Mirador del Rio auf die nördlich vorgelagerte Insel Graciosa, das weiße Fischerdorf Orzola, die stimmungsvolle Lavahöhle Jameos del Agua, der vom Inselkünstler César Manrique gestaltete Kakteengarten in Guatize, traumhaft. Zurück im Hotel möchte Yasmin wieder Poolbaden, nun gut, genehmigen sich Oma und Opa ein Bierchen an der Poolbar. Erstaunlich, dass andere Touristen offenbar nur hierher geflogen sind, um den Hotel-Pool als Lanzarote schlechthin zu erleben. Eine beleibte Dame richtete sich, als wir am Morgen losfuhren, gerade auf ihrem Liegestuhl ein, und als wir nun wiederkommen, rückt sie gerade ins Hotelzimmer ab (jedoch nicht ohne ihr Badehandtuch auf der Liege –ihrer Liege!- Besitz anzeigend zu drapieren –für den nächsten Pooltag. Seltsam auch die Musikberieselung hier: während in der altehrwürdigen Kirche von Teguise Softrock waberte, erschallten zum Abendbüffet mal wieder Opern-Ouvertüren...

2018: Pian di Salisei. Dolimiten-Idylle, am Rande: Friedhof für italienische und österreichisch-ungarische Soldaten, 5404 genau - für 704 alphabetisch akkurat die Namen der Gefallenen, Dienstgrade darüber: Soldat, Corporal, Teniente, Capitan… Doch nirgendwo ein Obrist, geschweige denn ein General, seltsam. Vielleicht fanden die bei all den Namenlose ihre Ewige Ruhe?

2019: Knossos, gewaltige Palastanlage der minoischen Könige in der Blütezeit dieser Kultur, ausgegraben Anfang des 20. Jahrhunderts von Sir Arthur Evans. Menschenmassen über Menschenmassen, Anstehen vor den Königsgemächern auf dem Königshof in praller Sonnenglut gut ’ne halbe Stunde… Wobei die von Evans stammenden Bezeichnungen der Palastteile wie die Deutung der Anlage als solche mittlerweile höchst umstritten ist. So glaubte er, die vielräumige, verwinkelte, mehretagige Residenz selbst sei das sagenhafte Labyrith, in dem angeblich der Minotaurus gefangen gehalten wurde. Falls es das Labyrinth tatsächlich und nicht nur der Sage nach gab, sei dies mitnichten in Knossos, sondern wahrscheinlich in einem Höhlensystem Kretas zu verorten. Wer in Knossos war und neben den Rudimenten dieses einst märchenhaften Palastes auch die Lage dieses Machtzentrums registriert hat – gelegen auf einem Hügel, ringsförmig umgeben von Bergwällen und mehr zehn Kilometer von der wesentlich tiefer liegenden Küste entfernt, muss sich fragen, wieso Leute überhaupt auf den Gedanken kommen konnten, der Untergang des Minoischen Reiches könnte etwas mit der Explosion Santorins, dem folgenden Tsunami, zu tun haben. Ein Rätsel.

Zu guter Letzt das Ärchäologische Museum. Hier nun vor allem Artefakte, die in Knossos (und andern inselorts) ausgegraben wurden: die berühmten barbusigen Schlangengöttinnen, der feine Stierkopf aus Steatit, dutzende Doppeläxte (die auch als Symbol der minoischen Kultur gelten) sowie Tontäfelchen mit Linearschrift A und B und der weltberühmte Diskus von Festos mit seiner Hieroglyphenschrift, die ebenso wie Linear A nach wie vor nicht entschlüsselt ist. Warum stellt Herr Zuckerberg beispielsweise seine gigantischen Rechnerkapazitäten nicht mal zur Verfügung, um diese minoische Hinterlassenschaft endlich lesbar zu machen und so zur Wissensbereicherung der Menschheit beizutragen, um manches Geheimnis zu lüften vielleicht sogar?

Angesichts des beeindruckenden Holzmodells des Knossos-Palastes wird mir das Wunderbare und Einzigartige dieser verschwundenen Kultur so recht bewusst. Was für eine riesige Anlage mit einem ausgeklügelten Belüftungs-, Kanalisations- und Lichtschachtsystem! Baumeister soll ja Daidalos gewesen sein, den wir aber vor allem als Erfinder der Flügel kennen, die ihm und seinem Sohn Ikarus ja die Flucht in die Freiheit ermöglichen sollten. (Der Fluchtort an der Südküste Kretas wurde präzise benannt: Agia Galini). Aber warum wollte der hochgeehrte Baumeister fliehen? Aus Heimweh, wie die Sage sagt? Oder könnte diese Flucht ein mythologischer Hinweis auf die Nachkatastrophen-Situation in Knossos sein? Und warum ist uns der übermütige Sohn des legendären Erfinders besser bekannt als das Genie selbst?

2022: Limone. Absurd all die Leute, die vor jeder Mahlzeit ihre Gerichte fotografieren. Heute Morgen saß so ein Jüngling uns beim Frühstück gegenüber. Er drapierte alles geschmackvoll, rückte hie und da noch das eine oder andere zurecht, und zückte dann genussvoll sein Handy. Klick und klick und klick und klick für all die Follower weltweit – wohl bekomm’s. Vielleicht sollte die Welthungerhilfe aufrufen, all diese Tag für Tag -zig millionenfach entstehenden Fotos zu spenden. Die könnten dann auf große Leinwände in der Sahel-Zone oder am Horn von Afrika gebeamt werden, und all die hungernden Menschen dieser Regionen könnten dann versammeln und sehnsüchtig sehen, was all die nicht hungernden Zeitgenossen so in sich reinfressen. Und eine völlig neue Idee wäre, künftig auch zu fotografieren und ständig weltweit zu versenden, was nach dem Essen mehr oder weniger verdaut in der Kloschüssel landet. In Australien macht ja derzeit wohl eine Kette Furore, in deren Lokalen man bewusst schlecht behandelt wird, wo das Essen nicht schmeckt und die Drinks fade und warm sind. Alles Scheiße eben.

 

Beschwörung

für

Peter Allen / Roald Engelbregt Gravning Amundsen / Mordechai Ardon /  Djuna Barnes / Ethel Barrymore / Marianne Brandt / John Cheever / Clarence Clemons / William Cobbett / René Crevel / Leif Ragnar Dietrichson / Johnny Friedlaender / Jozef Gabčik / German Germanowitsch Galynin / Maxim Gorki / Margret Hofheinz-Döring / Konrad Heiden / Carl Christian Horvath / Reinhold Paul Huhn / Curd Jürgens / Albert Knapp / Joachim August Enno Knipping / Lew Sinowjewitsch Kopelew / Jan Kubiš / Vera Lynn / Mona Mahmudnizhad / Giorgio Morandi / Jusip Murn / Harriet Ndow / José Saramago / Horace Silver / Christo Smirnenski / Rogier van der Weyden / Markus „Zimbl“ Zimmer

 

Das erschien uns dunkel wie eine Beschwörung:

1586 „war die Saala abermahl so unerhört groß, daß sie kein Mensch so groß gedachte. Zu Vesta hat es die Kirchthür aufgestoßen u. die Stühle zum theil über den Hauffen geworffen. Alß es gefallen, hat mann einen lebendigen Aal von dritte-halb Ellen darinnen gefangen“ / Stuttgart, 1849: das „Rumpfparlament“ der Frankfurter Nationalversammlung wird mit militärischer Gewalt aufgelöst / Tokio, 1953: eine US-Air Force C-124 verunglückt, 129 Tote / 1961 kommen bei einem Bombenanschlag auf den Schnellzug Straßburg-Paris 28 Reisende ums Leben /

 

 

19. JUNI

 

Collage

mit

Pier Angeli / Paul Julius Arter / José Gervasio Artigas / Peter Bardens / Curt Martin Becker / Aage Niels Bohr / Wassil Bykau / Annibale Caro / Alfredo Catalani / Franz Xaver Chwatal / Adolfo Costa du Rels / Dazei Osamu / Georges de Mestral / Nick Drake / Balys Dvarionas / Giangiacomo Feltrinelli / František Gellner / André Glucksmann / Piero Gobetti / Shirley Goodman / John Heartfield / Cyril Norman Hinshelwood / Friedrich Huch / Louis Jourdan / Waldemar Ernst Jungner / Hugo Klein / Harald Korall / Dave Lambert / Ylva Anna Maria Lindh / Hans Achim Litten / David MacLennan / Josef Nesvadba / Robert Franklin Palmer Jr. / Blaise Pascal / Edward F. Pimental / Josè Rizal / Anneliese Rothenberger / Gustav Benjamin Schwab / Karl Friedrich Wilhelm Schwesig / Friedrich Wilhelm Adam Sertürner / Jóhann Sigurjónsson / Clarence Samuel Stein / Moses ter Borch / May Whitty / Klaus Wildenhahn

 

Das fügte uns zusammen:

1631 beendet der Friede von Cherasko den Mantuanischen Erbfolgekrieg / 1811 eröffnet Friedrich Ludwig Jahn in der Berliner Hasenheide den ersten Turnplatz Deutschlands / 1815 endet bei Wavre die letzte Schlacht der Napoleonischen Kriege / 1858 nimmt der Dampfer „Bremen“ den regelmäßigen Schiffsverkehr zwischen Bremerhaven und New York auf / 1910 wird in Spokane, Washington, erstmals der Vatertag gefeiert/ 1961 wird Kuwait unabhängig von Großbritannien.

 

Ich notierte:

1982: Geburtstag. Ein paar Tage lang war ich erkältet, hatte wohl sogar Fieber, einen fürchterlichen Druck im Kopf, so dass ich mich ohne rechte Einfälle irgendwie weiterquälte. Im Auftrieb des Geburtstages merke ich nun, dass dies nicht die bekannte Schreibhemmung war, sondern dass ich wirklich Viren besiegen musste. Heute Einfälle en masse. Doch wie oft sind wir krank und wollen uns das nicht eingestehen, da wir uns an unbedingt zu haltende Termine gebunden fühlen. Und dann ist die Arbeit, die doppelt so schwer fällt, nur die Hälfte wert. So macht man sich krank. Dieser Tag starb Fassbinder, 36jährig, nach gleichzeitiger Einnahme von Kokain und Schlaftabletten. Und woran gleich war Hemingway gestorben?

2001: Lanzarote. Einem Geburtstaggeschenk gleich hat sich über Nacht der Sturm gelegt, nur noch leichte Brise. Wir fahren mit der Fähre hinüber nach Corralejo auf Fuerteventura. Schwer vorstellbar, dass dieser Ort vor etwa 30 Jahren noch ein Fischerdorf mit 12 Häusern ohne Strom und Wasserleitung gewesen sein soll. Auch hier Bauboom allenthalben. Dennoch hat sich nur wenige Meter außerhalb des Zentrums einiges an Flair erhalten. Ohne Zweifel hat diese Insel eine ganz andere Atmosphäre als Lanzarote. Da die „Biergärten“ beispielsweise nahtlos in den Strand übergehen, sitze ich mit ’nem Daiquiri (Geburtstagsdrink), beobachte Yasmin beim Baden und bohre dabei wohlig die Zehen in den warmen weißen Sand. Und hinter den letzten flachen Häusern geht die Landschaft sanft in die berühmten breiten Wanderdünen von El Jable über. Allerdings hat man da hinein auch einige Hotelburgen geklotzt... Am Nachmittag zurück nach Playa Blanca, ein bisschen promenie­ren, ein bisschen Pool, Geburtstag mal ganz anders. Zum Abschluss fordert Yasmin, dass sich Oma und Opa im Kreis setzen, um Plumpsack spielen zu können. Klar, machen wir doch sofort.

2003: Eigentlich hatte ich schreiben wollen mich erinnert zu haben, wie das war beim Achtzehnten mit dem Glauben nun stände einem die Welt offen, oder beim Dreißigsten mit dem Argwohn, sich fortan selbst nicht mehr trauen zu können, und das Ganze zu steigern dann zu einem adäquaten Spruch für den Fünfzigsten. Aber denkste, nichts da, nicht mehr, weder Glauben noch Argwohn oder Wasweißich, alles entleert offenbar in platte Alltäglichkeit. So lasst uns feiern.

 2012: Erstaunlich, wer mir zum Ehrentage, zum Jubelfeste, für den neuen Lebensabschnitt so alles Alles Gute wünscht: Autohändler, Energieunternehmen, Banken, Versandhäuser, Versicherungen… Zum Glück gratulieren noch immer am Abend wahrhaftig Freunde. Wohlsein!

2017: Ja, ich werde 64 und irgendwie stand mir in diesem Jahr der Sinn nicht nach dem üblichen Besäufnis mit „alten“ Freunden und Bekannten, wollten Jeanny und ich mal allein zusammen sein – mit Abstand zum Alltag nach dem Tod meines Vaters. Und da es von Haus zu Haus via Flughafen Leipzig-Halle nur etwa acht Stunden braucht, verschlug es uns kurz entschlossen nach Zypern. Und JA: we still feed us, we still need us – nicht der kleinste Urlaubsstreit, when I’m sixty-four

2018: Niger Joch. Auf Passhöhe zischt ein weißer Flitzer an uns vorbei, hutzliger Alter am Steuer. Erst auf dem nächsten Parkplatz sehen wir die Flunder wieder, keine Spur jedoch von diesem Gnom. Dafür entdecken wir den Sessellift „Laurin 2“, und schweben schon hinein in den Rosengarten. Wolkenfetzen, traumhaft die Alm. Und nach zwei, drei Hollersäften mit Bergquellwasser raschelt’s irgendwie neben mir, und wie unter einer Tarnkappe hervor wispert’s die interessanteste Lebensweisheit, die ich erfuhr jemals. Was ich hörte? Nee, das behalte ich selbstredend für mich. Na ja, so viel vielleicht: kann sein, bis heute war ich schlicht zu gutgläubig mein Leben lang.

2020: Heute wollten wir im Rosengarten sein, in dem schönen Alpen-Hotel, wo wir vor zwei Jahren meinen 65. Geburtstag genossen, aber leider… So fahren wir in Pandemie-Zeiten nach Oberwiesenthal, zum Fichtelberg. Da war ich noch nie. Und es wird ein rundum schöner Tag.

2021: Nun bin ich also ein Achtundsechziger (obwohl ich einst keinem über Dreißig traute). Nun gut, gefeiert werden sollte auf jeden Fall: mit Urbans bei unserem Italiener (für die „Außengastronomie“ wurde die Corona-Testpflicht aufgehoben) – doch dann hat Jeanny aufgrund der Hitze Kreislaufprobleme. Ich sage alles ab und trinke allein ein Bierchen im Garten. In den Nachrichten höre ich, dass heute der „Juneteenth“, der Gedenktag zur Erinnerung an die Abschaffung der Sklaverei, in den USA erstmals als gesetzlicher Feiertag begangen wurde. Gut.

2022: Limone. Spätestens seit meinem 18. Geburtstag war an diesem Tag meine Bude stets voll. Da kamen Freunde, Bekannte, Verwandte, dann auch Würdenträger, einfach mal einladungslos zum Gratulieren vorbei, und alle wussten, dass sei gut beköstigt würden. Nicht selten feierten da dreißig, vierzig Leute mit mir und oft bis weit in die Nacht hinein. Seit Jahren will ich an diesem Tag aber einfach nur noch meine Ruhe haben, ziehe mich mit Jeanny irgendwohin zurück, wo diejenigen, die mich vor Jahren nicht verrieten, jederzeit übers Handy erreichen können. Und tatsächlich mailen oder simsen mich fast zwanzig Freunde an. Mille Grazie!

Jeanny und ich haben nachgezählt: zum ersten Mal waren wir am Gardasee 1996 und nach einmal Riva nun bereits zum vierten Male in Limone. Einmal mehr ist es sehr schön hier, obwohl in diesem Jahr auch extrem heiß – jeder Schritt schweißtreibend. So ziehen wir uns heute nach dem Frühstück ans Seeufer zurück, wo ab und an mal ein Lüftchen weht, und faulenzen. Und beide stellen wir beim Plaudern fest, dass wir des Reisens an und für sich eigentlich müde sind, dass uns offenbar die Entdeckerlust abhanden gekommen ist. Vielleicht hat dies vor allem das Pandemiegeschehen forciert, die nicht mehr zu verdrängende Unsicherheit, unversehens in Risiko-Situationen zu geraten. Auch die Befürchtungen, die durch das massive weltweite Aufrüsten infolge des Ukraine-Krieges aufkommen, tragen nicht eben zur Reisefreudigkeit bei. Das ist nicht bitter, nein, wir haben zusammen etwa 100 Länder bereits, ich war sogar in etwa 130 – wir haben also mehr als zwei Drittel der Welt gesehen. Da verliert sich das Gefühl, was zu verpassen. Und auch sich nach und nach einstellenden Wehwehchen, Ermüdungen und Schwächen sind nicht mehr wegzudenken. Man ruht nun besser in sich selbst. Oder wie sang schon André Heller: „Die schönsten Abenteuer sind im Kopf / und sind sie nicht im Kopf / dann sind sie nirgendwo…“ Hätte ich mir Lektüre eingesteckt, würde ich heute am Ufer des Gardasees vielleicht mal wieder „Der alte Mann und das Meer“ lesen.

2023: 70 – seltsame Zahl. So recht kann ich mir noch immer nicht vorstellen, dass die was mit mir zu tun hat – 70. Wahrscheinlich werde ich nun überlegen müssen, wenn ich gefragt werde, wie ich alt ich bin. Am besten sage ich dann künftig einfach: alt. Passend dazu gab meine Armbanduhr den Geist auf. (solarbetrieben, funkgesteuert). Beim Frühstück fragt mein alter Nachbar und Freund Wolle, ob er mich statt mit „Janko“ besser mit „Jürgen“ anreden solle. Na, soweit kommts noch.

Mit dem Sessellift zur Paolina-Hütte, wandern auf dem Hirzelsteig, und dann ein, zwei Geburtstagsbierchen und Latschenlikörchen in der Hütte. Und als der Wirt hört, dass ich Geburtstag habe, bringt er mir ein Ständchen. Wow. Am Abend ein heftiges Gewitter, was ich als Ehrenfeuerwerk nehme. Prost!

 

Chaos

für

Grace Abbott / Ali Akbar Khan / Joseph Banks / J. M. Barrie / Len Bias / Sixtus Birck / Frank Borzage / Stanley Cavell / Coluche / Alexander Dalrymple / Francisco de Holanda / Johann Gustav Droysen / Vince Flynn / James Joseph Gandolfini / Götz George / William Golding / Ian Holm / Jörg Hube / Lilli Jahn / Maurice Jacques Joseph Eugène Jaubert / Christian Juncker / Robert Knox / Marjan Kozina / Lee Krasner / Franz Kruckenberg / Niccolò Leoniceno / Maximilian I. / Matthäus Merian d. Ä. / Hans Moser / Daniel Nazareth / Wladimir Afanassjewitsch Obrutschew / Odano Naotake / Lauro Olmo / Johannes Pistorius d. J. / Sol Plaatje / Karl Eduard Adolf Theoderich Plagge / Josip Račić / Pierre-Joseph Redouté / Lotte Reiniger / Ludwig Richter / Ethel Rosenberg / Julius Rosenberg / Josef „Jossele“ Rosenblatt / Johann Christoph Rost /Ali Schariati / Gabriele Schnaut / Karl Friedrich Wilhelm Schwesig / Sergei Iwanowitsch TanejewAaly Tokombajew / Tokugawa Ietsugu / Stanislav Tomáš / Bernhard Walther / Otto Warmbier / Weiß Ferdl / Michael Westphal / Klausjürgen Wussow / Anton Viktorowitsch Yelchin / Carlos Ruiz Zafón / Evangelos Zappas

 

An diesem Tage schien uns alles chaotisch:

1822: zerstören griechische Freiheitskämpfer im Kanal von Chios einen Teil der osmanischen Flotte, mindestens 3.000 Seeleute sterben / Prerau, 1945: tschechoslowakische Soldaten massakrieren 265 deutsche Flüchtlinge / Barcelona, 1987: bei einem Bombenanschlag der ETA auf ein Kaufhaus kommen 18 Menschen ums Leben / Dover, 2000: in einem Lastwagen werden 58 tote chinesische Flüchtlinge entdeckt.

 

 

20. JUNI

 

Ausbildung

mit

Martha Asmus / Chet Atkins / Anna Laetitia Barbauld / Claude Bessy / Richard Brenner / Christopher John „Chris“ Cornell / Marceline Desbordes-Valmore / Eric Allan Dolphy / Olympia Dukakis / Heinz Edelmann / Kristján Jónsson Fjallaskáld / Errol Flynn / Aleksander Fredro / Karin Gittel / Friedrich Gundolf / Elisabeth Hauptmann / Oiero Giorgio Heliczer / Lillian Hellman / Frederick Gowland Hopkins / Hannes Hüttner / Jean-Claude Izzo / Richard Kauffmann / Georg Klepzig / Joseph Martin Kraus / Curt Langenbeck / Linda Loredo / Dieter Mann / Eduardo Chivambo Mondlane / Jean Moulin / Ulrich Mühe / Audie Leon Murphy / Jacques Offenbach / Ilan Ramon / Rius / Marcellus Schiffer / Kurt Schwitters / Theobald Wolfe Tone / Sergei Michailowitsch Tretjakow / Laure Wyss

 

Das schien unserer Ausbildung zuträglich:

451 werden die Hunnen in der Schlacht auf  den Katalaunischen Feldern zurückgeschlagen / 1840 erhält Samuel Morse das Patent für seinen Schreibtelegrafen / 1870: Ende des Tripel-Allianz-Krieges zwischen Argentinien, Brasilien und Uruguay gegen Paraguay / Hongkong, 1894: Alexandre Émile Jean Yersin entdeckt den Erreger der Pest / / 1931: Eröffnung des Schneefernerhauses auf der Zugspitze / 1960 werden Mali und Senegal unabhängig von Frankreich / 1982: Ende des Falklandkrieges zwischen Argentinien und Großbritannien.

 

Ich notierte:

1983: Wir feiern mal wieder Schorschs und meinen Geburtstag in einem. Emil sagte, dass er gern mit ins Riesengebirge kommen würde, wohin wir zu Marianna und Vojta fahren wollen. Seltsam, es kommt mir vor, als hätten wir diese Tage schon durchlebt.

1988: Der Mitteldeutsche Verlag setzt seinen Kleinkrieg gegen mich fort. Pünktlich zum Geburtstag verschickten sie ein Paket mit allen Texten, die ich denen mal für eine Zusammenarbeit gab. Da kommt Freude auf.

1992: Merseburg. Ich führe die Mitglieder der 398th Bomb Group Memorial Association aus Seattle, Washington D.C., auf dieser Station ihrer Goodwill Tour. Ja, auch meine Mutter und Großmutter mussten vor ihren Bombenteppichen einst fliehen in Bunker und Keller. Bill & Bob & John und werweißich noch mit ihren Bermuda-Shorts, Käppis Video-Kameras und keep smilings. Als ich aber den Angriff aufs hiesige altehrwürdige Schloss zu schildern beginne, Tag und Uhrzeit und Schäden, zückt einer der Veteranen ein zerfleddertes Tagebuch, blättert mit zittrigen Fingern darin und raunt mir schließlich erleichtert zu: Nein, zumindest das seien sie nicht gewesen, sie nicht. Und so pflanzen sie denn flugs einen Baum und eilen weiter zur nächsten german town. Bye bye!

1999: Würde Schorsch, Jeannys Vater noch leben, wäre er heute 75 geworden. Jahrelang war unser „Doppelgeburtstag“ ein Höhepunkt im familiären Jahreslauf. Heute fahren wir zu seinem Grab, legen Blumen nieder. Am Abend die Nachricht, dass die letzten serbischen Truppen aus dem Kosovo abgezogen sind, somit dort nun offiziell Frieden herrscht.

2001: Lanzarote. Alle Engländer die hier Urlaub machen, sind unschwer zu verkennen: jeder, aber auch wirklich jeder scheint großflächig tätowiert, selbst unförmigste Gestalten. Alle Westdeutschen hingegen (die zweite große Touristengruppe hier) sind schlichtweg nicht zu überhören: unerklärlich, warum man im breitesten Schwäbisch quer durch den vollen Speisesaal rufen muss, dass Joshua keinen Mittagsschlaf mehr macht, seit er zweieinhalb ist... „Fauler“ Tag heute, Papagayo-Strand. Siesta, Pool, Promenade. Und viel Spaß mit Yasmin. Am Abend aber auch ein erstaunlich ernsthaftes Gespräch mit ihr, eine Öffnung, die vielleicht nur aus dieser harmonischen Umgebung erklärbar ist. Sie fragt mich, ob ich auch mal sterben müsse. Sagt dann: „Ich will aber, dass alles so bleibt, wie es ist. Ich will so bleiben, wie ich bin!“

2020: Sommeranfang, doch 10°C und Regen, alles Grau in Grau. Auf dem Rückweg vom Fichtelberg Stopp in Annaberg-Buchholz, wo ich im „Neinerlaa“ am Markt für Mittag eine Tisch bestellt hatte (das muss man jetzt vor jedem Restaurant-Besuch). Das grausliche Wetter und dass hier am Vormittag noch alle Museen und Gaststätten und sogar die Kirchen geschlossen haben, vertreibt uns allerdings. Ich hatte vor Jahren, als ich hier Lesungen hatte, das erzgebirgische Nationalgericht Neinerlaa (Bratwurst, Sauerkraut, Linsen, Kloß, Schweinebraten, Semmelmilch, Nüsse, Rote Beete, Kompott) ja schon genossen und hatte Jeanny neugierig gemacht. Heute meint sie nun aber, sie könne gut darauf verzichten.

 

Austreibung

für

Carl Friedrich Abel / Neda Agha-Soltan / Willi Ahrem / Martin Aichinger / Nazik al-Mala’ika / Jehan Ariste Alain / Wilhelm Barents / Wilhelm Bauer / Václav Beneš Třebízský / Wibke Bruhns / Erwin Chargaff / Charley Chase / Hanns Cibulka / Emil Cioran / Larry Collins / Voltairine de Cleyre / Jules Alfred Huot de Goncourt / Margareta Ebner / Hans Axel von Fersen / Bruno Sebald Frank / Hilarius „Lari“ Gilges /  Benoîte Groult / Liselotte „Lilo“ Herrmann / Hucbald / Charles David Keeling / Clemens von Ketteler / Jack Kilby / Georges Lemaître / Ludwig der Fromme / James Clarence Mangan / Karl Mickel / Jay Miner / Andreu Nin i Pérez / Allan Pettersson / Prodigy / Karl Retzlaw / Horst Salomon / Miriam Schapiro / Helfried Schreiter / Rudolf Schwarzkogler / Frieder Simon / Amalie Tischbein / Per Ung / Paul Z’dun / Clara Zetkin

 

Da fühlten wir uns vertrieben:

Baltimore, Irland, 1631: nordafrikanische Korsaren überfallen den Hafenort und verschleppen mehr 100 Einwohner in die Sklaverei / Maschhad, Iran: bei einem Bombenanschlag auf eine Moschee kommen 26 Menschen getötet.

 

 

21. JUNI

 

Spurensuche

 

mit

Léon Ashkénasi / Mona Baptiste / Oskar Baum / Maria Benz / Benazir Bhutto / Traugott Buhre / Anthony Collins / Carl Friedrich Curschmann / Machado de Assis / Luis „Terror“ Díaz / Chris Gueffroy / Pavel Haas / Abdel Halim Hafez / Helmut Heißenbüttel / Jon Hiseman / Judy Holliday / Clara Helene Immerwahr / Wulf Kirsten / Walter Krämer / Wilhelm Ludwig von Kückelbecker / Leo Kufelmizky / Kuboyama Aikichi / Alois Johannes Lippl / Mary McCarthy / Wolfgang Menzel / André Migdal / Onesimos Nesib / Georg von Neumayer / Erik Neutsch / Siméon Denis Poisson / Ellen Price / Joseph Hayne Rainey / Rudolf Raschke / Leonhard Rauwolf / Jane Russell / Françoise Sagan/ Jean-Paul Sartre / Fleix Schadow / Hermann Scherchen / Johannes Schlaf / Kurt Schwaen / Can Themba / Alexander Trifonowitsch Twardowski / Kurt C. Volkhart / David Weiss / Max Wolf / Adam Zagajewski / Wiktor Robertowitsch Zoi

 

An diesem Tage glaubten wir, eine zukunftsweisende Spur gefunden zu haben:

1767 entdeckt Samuel Wallis Tahiti / London, 1886: Grundsteinlegung für die Tower-Bridge / 1895: Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanals / 1948: Präsentation der ersten Langspielplatte durch die Firma CBS / Burundi, 1998: Unterzeichnung des Waffenstillstandvertrages zwischen der Tutsi-Regierung und den Hutu-Rebellen / 2004: Erster privater Weltraumflug mit „SpaceShipOne“

 

Ich notierte:

1981: Am Vormittag eine halbstündige Sendung über Deep Purple im Fernsehen, Konzertmitschnitte auch. Wohltuende Konfrontation: Alles was mir damals an der Musik hing, hatte ich schon ein bisschen vergessen, nein, wollte es wohl ein bisschen vergessen haben. Und nun ist plötzlich alles wieder da. Das einzigartige Gefühl: Rockend auf der Bühne vor tobendem Saal, das Publikum – Leute wie ich, Gespräche danach verständig, nachhaltig von Idealen getragen. Doch habe ich davon nicht schreibend schon einiges verwirklicht? So oft ich arbeite, habe ich permanent ein schlechtes Gewissen gegenüber Cathi: So viel möchte ich ihr beibringen, möchte ihr sie erleben lassen, doch dann, wenn ich zu Hause bin, werde ich wieder von dem anderen schlechten Gewissen eingeholt: zuwenig gearbeitet zu haben. Wäre eine Kompensation: ich schreibe ihr Geschichten?

1999: Sommeranfang, regnerisch, kühl. Am Vormittag eine Lesung in der Bibliothek Genthin. Dann weiter nach Magdeburg. Im Hotel treffe ich Henry Beissel. Herzliche Begrüßung. Das letzte Mal sahen wir uns vergangenen Herbst auf seinem Waldgrundstück in Ontario. Aber viel Zeit zum Erinnerungen austauschen bleibt nicht. Wir müssen zum Interlese-Kolloquium, zu dem ich ihn einlud, ins eine-welt-Haus. Ich habe zu moderieren, Henry zu reden. Interessante Beiträge auch vom Russen Pawel Fraenkel, vom Belgier Jan de Piere und vom Bulgaren Iwan Roidow. Als jedoch der Ukrainer Viktor Timtschenko ein Pamphlet gegen den Kosovo-Krieg, oder genauer: gegen die NATO-Politik, loslässt, fühlt sich Martin Meißner, der immerhin neben mir stellvertretender Vorsitzender des Veranstalters, des Friedrich-Bödecker-Kreises also ist, genötigt, nicht zu diskutieren, sondern unter Protest aufzustehen und den Saal zu verlassen. Das prägt selbstredend den weiteren Kolloquiums-Verlauf. Nun gut. Im Anschluss daran die Premiere des neuen Interlese-Buches. Heinz Kruschel als Herausgeber moderiert und zeigt sich sehr freundlich mir gegenüber (hatte mir zu meinem Erstaunen sogar schon mit einer Karte zum Geburtstag gratuliert). Nach der Buchpremiere noch ein Bulgarischer Abend, den ich moderiere. Es wird spät bis wir wieder im Hotel ankommen. Aber Zeit für ein Bierchen mit Henry bleibt allemal.

2000: Kurz vor sechs raus, aber man schwitzt sich eh nur irgendwie durch die Nächte derzeit. Fahrt nach Magdeburg ins Kultusministerium. Treff mit Erich-Günter Sasse, um unser gemeinsames Europa-Projekt vorzustellen und abklopfen zu lassen. Die Formalitäten und Erfolgsaussichten schrecken jedoch eher ab (ist das Absicht der Ministerialen? Denn eigentlich wollen wir doch etwas Gutes fürs Land – Europageld für Literatur in Sachsen-Anhalt besorgen...?) Wir verständigen uns jedoch darauf, es dennoch zu versuchen, bis Ende August an einem Projekt zu „stricken“, und wenn nicht fürs Jahr 2001, dann eben fürs Jahr 2002... Dann bei glühender Hitze zurück nach Leuna. Angelika Arend aus Victoria, B.C. kommt heute. Es klappt alles gut, mit Hotte, ihrem Lebensgefährten ist schon im vom mir bestellten Hotel, als ich in Leuna eintrudele. Gemeinsames Kaffeetrinken in unserem Garten, Durchsprechen des Programms, dann nach Merseburg, wo sie am Abend einen Vortrag über die Lyrik Walter Bauers hat. Kommt gut an, gute Diskussion. Danach sitzen wir wieder in unserem Garten und genießen den längsten Tag des Jahres und reden übers schöne Kanada und Gott und die Welt.

2001: Lanzarote. Nach zähem nächtlichen Kampf gegen eine Mücke (den ich am Ende zerknirscht aufgab) Besichtigung des Timanfaya-Nationalparkes. Bis 1730 war dieses Gebiet an der Westküste die Kornkammer der Kanaren, dann brachen aber bis 1736 32 neue Vulkane auf (laut Besucherinfo die längste und von den ausgespienen Magma- und Aschemassen gewaltigste vulkanische Aktivität der Neuzeit) und veränderten hier alles total. Wir sehen eine weite Schlackenebene, Krater, Ascheflächen, skurille Formen von schwarz bis rot, dazwischen selten nur mal eine Flechte in gelb oder ein einzelner Strauch in blassem Grün. Beim Besucherzent­rum schießen Wasserfontänen auf und die Fleischgerichte des Restaurants werden über einem Lavaschacht gegrillt... Der Sage nach soll hier der Einsiedler Hilaro gehaust haben, des es zwar fertig brachte einen Feigenbaum zu pflanzen, der Wurzeln schlug und Blätter trieb, mit denen er sein Kamel füttert konnte, Früchte trug er allerdings nie, denn wie sollten aus Feuer Früchte reifen... Wir fahren noch ein Stück weiter durch diese Mondlandschaft bis zu dem wegen der zunehmenden Unrentabilität des Fischfangs fast verlassenen Fischerdorfs Baja Mares. Und auf der Rückfahrt gibt’s sogar einen Zwischenstopp für einen Kamelritt. Ja, Yasmin hatte sich das so sehr gewünscht, also stieg der Opa mit auf und ließ sich zum Vergnügen der Oma einen der Vulkanberge hinauf und hinunter schaukeln.

2020: Weltweit nun mehr als 8,7 Millionen bestätigte Infizierte, mehr als 460.000 Tote, erste Ausbrüche der „zweiten Welle“ in Peking, aber auch in Schlachtbetrieben im Kreis Gütersloh und unter rumänischen Pfingstlern in Magdeburg. Als wir gestern Nachmittag nach Hause kamen, lag ein Brief von Yasmin in der Post, Geburtstagsgrüße von unserer Enkelin, die sich im Streit vor knapp zwei Jahren von uns getrennt hatte. Wow. Darüber mussten wir erst einmal schlafen. Heute Nachmittag nun rufe ich die Telefonnummer, die sie aufgeschrieben hatte an, sie meldete sich mit belegter Stimme, schien berührt. Ich sagte, sie möge in fünf Minuten zurückrufen und einen Termin vorschlagen, wann wir uns sehen und sprechen könnten. Und so saßen wir dann schon am Abend in unseren Garten mit ihr und ihrem neuen (uns natürlich völlig unbekannten) Lebensgefährten Christian zusammen. Befangenheiten auf beiden Seiten, hoffen wir, dass dieser Neuanfang wieder zu Normalitäten führen kann.

2023: Wieder daheim vom Geburtstags-Trip Post- und Zeitungsschau. Sonst staken da immer Glückwunschschreiben von Banken, Versicherungen, Autohäusern und dergleichen im Briefkasten, nun kam nur noch eine Karte vom Friedwald.

 

Spurensicherung

für

Étienne Aignan / Anders Angström / Adolf Ivar Arwidsson / Rudolf Bartsch / Victoria Benedictsson / Lev Blatný / Reg Calvert / Georg Danzer / Hermann Essig / Karl Nathan Adolf Benedikt Friedlaender / Friedrich Fröbel / Andrew Goodman / Gerhard Rüdiger „Gundi“ Gundermann / Johann Georg Hamann / Walter Georg Alfred Hasenclever / Hatheburg / Daniel Dunglas Home / John Lee Hooker / Jürgen Holtz / Josef Hora / Soad Muhammad Kamal Hosny / Jan Jessenius / Bert Kaempfert / Karl Krolow / František Kupka / Janusz Tadeusz „Kusy“ Kusociński / Niccolò Machiavelli / Angus William MacLise / Nikolai Andrejewitsch Rimski-Korsakow / Gunther Schuller / Philipp von Schwaben / Klaus Schwarzkopf / Joachim Andreas von Schlick / Maria Renata Singer von Mossau / John Skelton / Sukarno / Bertha von Suttner / Takahashi Fumi / Louis Jacques Thénard / Leon Uris / Jean Vuillermoz / Wenzel II. / Szymon Zimirowic

 

Spuren dieses Tages hätten wir besser restlos beseitigt:

1586 werden „Jacob Trome, ein Fleischer, und Maria, Martin Nagels Frau, in Merseburg wegen Ehebruchs hingerichtet. Ein furchtbarer Anblick war es, wie er so jämmerlich gequält wurde, da der Henker Benedikt fünfmal vergeblich zuschlug und die Fleischfetzen herumhingen, und schließlich, da alle Hiebe vergeblich waren, der Kopf abgeschnitten werden mußte. Deshalb ist dem Henker auch vom Rathe der Lohn für die Hinrichtung verweigert“ / Prag, 1621: vor dem Altstädter Rathaus werden 27 böhmische Aufständische hingerichtet, die Köpfe von 12 Hingerichteten und die abgeschlagene Schwurhand Joachim Andreas von Schlicks werden für zehn Jahr an den Altstädter Brückenturm genagelt / 1898 erobern die USA Guam / Scapa Flow, 1919: Versenkung der nach dem Ersten Weltkrieg an die Royal Navi übergebenen deutschen Kriegsflotte durch deren Besatzungen / Berlin, 1933: Beginn der „Köpenicker Blutwoche“ / Iran, 1990: Erdbeben, bis zu 50.000 Todesopfer.

 

 

22. JUNI

 

Computerisierung

mit

Eriks Ādamsons / Amrish Puri / Axel von Ambesser / Ludwig Bäte / Andrea C. Busch / Octavia Estelle Butler / Jo Cox / Thomas Day / Eugen Diederichs / Norbert Elias / Alexander Eliasberg / Emil Fackenheim / Paul Frees / Ernst Fries / Horst Fuhrmann / José Giovanni / Xavier Grall / Ida Hahn-Hahn / Wilhelm von Humboldt / Abbas Kiarostami / Eberhard Koebel / Bruno Latour / Walter Leigh / Francesco Manfredini / Giuseppe Mazzini / Étienne-Nicolas Méhul / Hermann Minkowski / Erich Maria Remarque / Cicely Saunders / Herbert Schoner / Alan Seeger / Karl-Hermann Steinberg / Lucrezia Tornabuoni / George Vancouver / Sándor Weöres / James Whale / Billy Wilder / Ruth Zechlin / Ernst Ziller / Konrad Zuse

 

Da schien uns Zukunftsträchtiges sichtbar:

1665 wird das Observatorium Greenwich gegründet / Berlin, 1865: die erste Pferdestraßenbahn Deutschlands nimmt den Betrieb auf.

 

Ich notierte:

1980: In den Pausen einer Mugge in Bernburg, versuche die Zeit totzuschlagen, indem ich mich dem Schreiben nähere. Das ist ein Fluidum, eine Stimmung, ein Duft, eine Farbe in mir – doch wie hinter einem Fernglas, alles wirkt irgendwie nur noch weiter weg, unfassbar.

1999: Beizeiten los. Ich fahre mit Henry Beissel, Jaroslaw Tichy aus Prag und Emma Guntz aus Straßburg nach Köthen. Lesungen. Dann mit Henry nach Leuna. Wir sitzen im Garten und reden mit Jeanny über Kanada und unsere anderen kanadischen Freunde sowie natürlich über Walter Bauer. Ach, wenn wir nur wüssten, wie wir Günter dazu bringen könnten, endlich seine Bauer-Biografie zu Ende zu bringen... Am Abend stelle ich Henry im halleschen Marktschlösschen vor. Eine mehr als zwei Stunden dauernde Veranstaltung. Interessante Fragen, interessante Antworten. Henry liest auch beeindruckend Gedichte, auf englisch natürlich. Dann bringen Jeanny und ich ihn noch ins Hotel nach Köthen. Herzlicher Abschied mit Versprechen sich im nächsten Jahr wiederzusehen, in Kanada of course! Gegen Mitternacht zu Hause.

2000: Bürokram, dann Angelika Arend und ihren Mann Hotte vom Hotel abholen. Veranstaltung im Domgymnasium, den ich sogleich als Start für ein Projekt nutze. Gegen Mittag lasse ich den beiden eine kleine Dom- und Schlossführung angedeihen, zeigen ihnen dann einiges vom Merseburger Umland: Leuna komplex, Freyburg mit Neuenburg und Unstruttal, Mücheln mit dem entstehenden Geiseltalsee. Dann müssen die beiden weiter zu einer von mir organisierten Lesung nach Sangerhausen, während ich Pressemitteilungen losjagen und schließlich zu meiner letzten Vorlesung im Studium generale zur Merseburger Fachhochschule muss. Der großen Hitze geschuldet (sage ich mir) erscheint nur ein Zuhörer. Mache ich’s also kurz, bereite mich im Garten besser noch ein wenig auf die morgige Bödecker-Vorstandssitzung vor.

2022: Vom glutheißen Gardasee hinauf ins Gebirge, zum Rosengarten. Im Hotel „Alpenrose“ in Carezza waren wir auch schon mehrere Male, fahren nicht von ungefähr nochmals dorthin. Ankunft im Regen. Nach Temperaturen um die 40°C nun schlagartig 15°C!

 

Close-up

für

Muhammad Ahmad / Dschamschid Mas’du al-Kaschi / Laura Antonelli / Fred Astaire / Bernd Becher / Bob Bemer / Peter Brötzmann / Wassil Bykau / Ion Luca Caragiale / George Carlin / William Randal Cremer / Giovanni de Dondi / Sacha Distel / Joseph Hector Fiocco / Gunter Gabriel / Judy Garland / Thomas Gold / Anton Graff / Johann Jakob Wilhelm Heinse / Henry Hudson / Felicia Langer / Joseph Losey / E. Marlitt / Catherine Macaulay / Ketumile Masire / Friedrich Michael / Darius Milhaud / Nikolai Ognjow / Sagara Palansuriya / Vinnie Paul / Paulinus von Nola / Klaus Piontek / Willy Peter Reese / Fritz Richard Schaudinn / Moritz Schlick / David O. Selznick / Friedrich Hermann Semmig / Shin Suk-ju / Emil Friedrich Julius Sommer / Abraham Stavsky / Mattie Stepanek / James Stirling / Sonny Stitt / Hermann Suter / Johann Theile / Martin von Troppau / Ludwig „Wiggerl“ Vörg / Per Fredrick Wahlöö / Grete Wiesenthal / Gabriele Wohmann

 

An diesem Tage erschien uns Übles übergroß:

Merseburg, 1546: wurde „ein Kalb in der Vorstadt gebohren, das forne eine Schnepfe gehabt, und hinten einen solchen Zopff und Buschwerk, als wie der weiber Hofstand dazumal war. Es sey gewesen ein Kalb mit einem Menschen-Kopffe“ / Sissek, 1593: kroatisch-habsburgisch-ungarische Truppen besiegen ein osmanisches Heer, bis 20.000 Soldaten fallen, worauf der 13 Jahre andauernde „Lange Türkenkrieg“ folgt / 1825 massakrieren osmanische Truppen die christliche Bevölkerung von Tripoli auf dem Peleponnes / Tripolis, 1893 kollidieren vor libyschen Küste die britischen Kriegsschiffe „Camperdown“ und „Victoria, 358 Seeleute sterben / 1941 beginnt die „Operation Barbarossa“, der Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion / Guadeloupe, 1962: Absturz einer Boeing 707, 113 Tote / Luzhou, 2000: auf dem Jangtsekiang kentert eine Fähre, 131 Todesopfer / Iran, 2002: Erdbeben, 261 Menschen sterben / 2004 töten tschetschenische Terroristen bei einem Angriff auf Inguschetien 90 Menschen / 2008 läuft die philippinische Fähre „Princess of the Stars“ in einem Taifun auf Grund, 800 Menschen komme ums Leben / Yinchuan, China, 2023: Explosion in einem Restaurant, 31 Tote.

 

 

23. JUNI

 

Heilung

mit

Anna Andrejewna Achmatowa / Martti Ahtisaari / Jean Anouilh / Johannes Goropius Becanus / Peter Bieri / Charlotte Birch-Pfeiffer / August Borsig / Muhammad Boudiaf / Fanny Elßler / Eric Emerson / Ernst von der Mlasburg / Carlos Fonseca / Bob Fosse / Ernest Giraud / Hermann Gmeiner / Reinhard Goering / Liselotte „Lilo” Herrmann / Monika Hutter-Häfliger / Alfred Charles Kinsey / Wolfgang Koeppen / Albert Lieven / Rita Maiburg / Étienne Louis Malus / James Edward Meade / Norman Pritchard / Ptolemaios XV. „Caesarion“ / Ernst Rowohlt / George Russell / Hudā Scha’rāwī / Jörg Schlick / Friedrich Hermann Semmig / Robert Sterl / Stuart Fergusson Victor Sutcliffe / Alan Mathison Turing / Vladislav Vančura / Alan Vega / Paul Verhoeven / Gianbattista Vico / Gerry Wolff

 

An diesem Tage fühlten wir uns wie geheilt:

1524 findet im Wutachtal bei Stübingen die erste Erhebung des Deutschen Bauernkrieges statt / 1865 kapitulieren in Texas die letzten konföderierten Truppen, Ende des Sezessionskrieges / Kanada, 1887: Gründung des Banff-Nationalparks / 1920 werden in Deutschland alle Adelsprivilegien abgeschafft / 1960 wird in den USA die erste Antibabypille zugelassen / 1961 tritt der Antarktisvertrag in Kraft / 1990 erklärt sich die Republik Moldau für souverän / Lausanne, 1993: Eröffnung des Olympischen Museums.

 

Ich notierte:

1981: Wird man, wenn man unermüdlich lange über die Vergangenheit schreibt, für Gegenwärtiges blind? Wie auch immer, keinesfalls darf man durch Phantasiewelten in die Zukunft zu entfliehen versuchen. Literatur muss weh getan haben, um wehtun zu können.

1982: Irgendwie komme ich mir vor, als wäre ich nicht mehr ganz richtig im Kopf: obwohl ich unter entsetzlichem Termindruck leide, sitze ich da und mache nichts. Das heißt: ich liege einfach so herum und döse oder lese oder notiere ab und an mal was. Und was alles habe ich mir da schon wieder alles aufgehuckt: die alljährlich fällige Auswertung des Brigadetagebuchwettbewerbs, eine Artikel für die „Für Dich“ (abzuliefern bis Ende Juni, da habe ich immerhin schon angefangen zu schreiben), ein neues Festprogramm für Hohenmölsen (da habe ich noch keinen Strich getan – dabei wäre das schon Montag fällig), weiter wäre ein Fördervertrag für den Schülerzirkel zu formulieren und nicht zuletzt eine Konzeption für das Literaturzentrum zu erstellen, in das ich ja nun einsteigen soll. Und eigentlich schreibe ich doch mein Kinderbuch… Das fünfte Kapitel habe ich mir in den letzten zehn Tagen abgerungen, aber es steht noch nicht so richtig, und die vier Kapitel, die stehen und dem Verlag bereits vorliegen, scheinen mir auch noch überarbeitungswürdig. Nun, da werde ich morgen in Berlin wohl einiges um die Ohren kriegen… Natürlich schiebe ich alles aufs Wetter, das derzeit irgendwie keines ist, alles grauschwül und in der Zeitung steht was von gewaltigen Sonneneruptionen. Aber wenn ich in Berlin bin, werde ich ein Hörspiel, das mir so aus der Hand rutschte, zum Funk bringen, mal sehen, morgen oder übermorgen, da ich als einstiges Mitglied des Org. Büros der „Tage“ vom DDR-Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur zu einer zweitägigen Feier eingeladen bin, zum Saufen also. Mal sehen, ob der Funk das nimmt, Edith Bergner und das DDR-Zentrum meinen: Ja. Doch überall mugge ich herum, erzähle den Leuten bei Lesungen sonst was von der Schriftstellerei und lese stets aus nicht abgeschlossenen Manuskripten…

1999: Heute Lesungen in Nebra und Karsdorf. Sehr gute Resonanz. Vielleicht ergibt sich durch Projektarbeit mit Schulen und Bibliothek sogar eine Chance mein nach etlichen Enttäuschungen nach wie vor in der Schublade liegendes Unstrut-Kinderführer Manuskript doch noch zu veröffentlichen. Dann Besichtigung des kürzlich in Nebra eingerichteten Hedwig-Courths-Mahler-Archivs. Die hiesige Bibliothekarin ist gleichzeitig Geschäftsführerin der Courts-Mahler-Gesellschaft und HCM (wie man hier sagt) stammte aus Nebra. Nicht der Versuch Trivial- zu Hochliteratur zu stilisieren, sondern Regionalgeschichte aufzuarbeiten und einen bemerkenswerten Lebenslauf verständlich zu machen. Freundlich und kenntnisreich, durchaus akzeptabel also.

2022: Blauer Himmel, Sonne. Ausflug zur Marmolada. Mit der Seilbahn auf den höchsten Gipfel der Dolomiten, Gipfelplattform auf knapp 3.330 m, leider in Wolken. Von der Zwischenstation auf etwa 3.000 m aber phantastische Ausblick. Wir besuchen hier auch das höchstgelegene Museum Europas, das dokumentiert, wie erbittert umkämpft die Marmolada im Ersten Weltkrieg war. In den damals noch intakten Gletscher war ein Stollensystem gebohrt, gesprengt worden. Was für ein Unsinn, waren die blöde?, möchte man ausrufen, schweigt jedoch angesichts des seit Februar in der Ukraine tobenden idiotischen Krieges aber besser… begreift nur einmal wieder, was es bedeutet, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein… Auf dem Rückweg Halt am Fedaja-See. Mittagessen wie stets im Ladiner Gebiet: Polenta. Köstlich. (Jeanny zieht allerdings einen Kaiserschmarrn vor.) Von der oberhalb des Stausees gelegenen Wirtschaft ist mit Erschrecken zu sehen, dass ein extrem tiefer Wasserstand herrscht. Und der Marmolada-Gletscher, der hier einst endete (wovon aber absolut nichts mehr zu entdecken ist), sei schon der letzte der Dolomiten, erfahre ich.

 

Heimgang

für

Martin John Lars Adler / Mark Akenside / Dave Bartholomew / Basdeo Bissoondoyal / Marko Čelebonović / Peter Falk / Louis Fürnberg / Mark Gertler / Frank Giering / Reinhold Moritzewitsch Glière / Jorge Arias Gómez / Martin Gregor-Dellin / Friedrich Hacker / Heinrich Hansjakob / Hanne Hiob / Kunikida Doppo / Zarah Leander / Little Willie Littlefield / Helmuth Lohner / David MacLennan / Peter Morley / Maureen O’Sullivan / Pete Quaife / Lee Rauch / Johann Jakon Scheuchzer / Matthias Jacob Schleiden / Hester Stanhope / Clyfford Still / Boris Vian / Vespasian / Per Fredrik Wahlöö

 

Da verloren wir Heimat:

Merseburg, 1646 „ist ein schrecklich Donner und Hagel-Wetter entstanden, daß die Schloßen Löcher in die Leimmauern und Ziegel-Dächer geschlagen, sie haben 1 Pfund, aus 5 Viertel Pfund gewogen, u. sowohl Winter als Sommerfrüchte, Bäume und Weinstöcke, Hopfen und alles verdorben“ / 1757 besiegen britische Söldner bei Palashi die Truppen des Herrschers von Bengalen, Beginn der britischen Kolonialherrschaft über Indien / 1985 stürzt eine indische Boeing 747 nach einem Terroranschlag vor der irischen Küste ab, alle 329 Menschen an Bord sterben / 2001: Erdbeben vor der Küste Perus, 138 Todesopfer / 2016 votieren die Briten für den Austritt aus der EU.

 

 

24. JUNI

 

Reformierung

mit

Jeff Beck / Henry Ward Beecher / Albrecht Ludwig Berblinger / Ambrose Bierce / Vitaliano Brancati / Louis Brassin / Johannes Brenz / Johannes Bugenhagen / Claude Chabrol / Anarchasis Cloots / Hugo Distler / Katherine Dunham / Wastl Fanderl / Emanuel Herrmann / Victor Franz Hesss / Fred Hoyle / Wladimir Kiritschenko / Jan Kubiš / Juan Antonío Lavalleja / Fritz Löhner-Beda / Ellison Shoji Onizuka / Gerulf Pannach / Albert Richard Parsons / Pierre Restany / John Ross / Bernardo Sassetti / Jedediah Strong Smith / Volkhard Spielhagen / Nadeschda Wassiljewna Stassowa / Johann Heinrich von Thünen / Kusma Tschorny / Johan Coenraad van Hasselt / Johann Ernst Basilius Wiedeburg / Wilfried / Chris Wood

 

An diesem Tage glaubten wir an Reformierbarkeiten:

Hersfeld, 1038 wird die älteste datierte Glocke Deutschlands gegossen, die Lullus-Glocke / Carabobo, 1821: Sieg Simon Bolívars über die Spanier, entscheidender Schritt für Unabhängigkeit Venezuelas / 1939 nennt sich Siam in Thailand um.

 

Ich notierte:

1999: Eigentlich hätte ich heute mal seit langem mal wieder ausschlafen können, doch in aller Herrgottsfrühe schrillen hartnäckig die Telefone... Also an die Arbeit und das Nebra-Projekt geschrieben, einen Projekttag in Güntersberge geplant, ein Schulprojekt (das um die Hälfte der Antragssumme gekürzt werden soll) umgeplant, Post erledigt etc. pp. Am Nachmittag zu Seni, wir sprechen den geplanten Beatles-Abend ab (wo ich zum ersten Mal wieder, von ihm überzeugt, als Musiker auf der Bühne stehen werde...), besprechen auch andere Formen einer neuen Zusammenarbeit, Programme für Kinder beispielsweise. Dann zum Regionalen Fremdenverkehrsverband, wo ich Jan de Piere wieder treffe. Wir fahren zu mir, trinken Kaffee, bereden Felder möglicher Kooperation, reden auch über die Interlese, die ihm offenkundig einiges gab. Schließlich zeige ich ihm in Merseburg noch einige historischen Stätten: Neumarkt und Neumarktkirche, Neumarktbrücke und Neumarkttor und erkläre dabei Merseburgs Hoch-Zeit als Pfalz. Gut zu spüren, dass ich auch das noch immer kann...

02004: Ist schon beachtlich, wenn man in Zeiten anstehender Arbeitsveränderungen, ministeriell verfügter Übernahmen von Aufgaben anderer Literaturvereine, träumt, man sei mit seinem Kulturminister baden gegangen, nein, der habe einen in eiskaltes Wasser gestoßen und sei nachgesprungen – immerhin völlig bekleidet.

 

Reformstau

für

Andreas „Barchedas“ Adersbach / Michael An Gof / Richard Anders / Miroslav „Mika“ Antić / Arletty / Moritz Gustav Bauschke / Rodrigo Alejandro Bueno / Franz Xaver Chwatal / Imogen Cunningham / Thomas Flamank / Carlos Gardel / Anna Göldi / Adam Lindsay Gordon / Hongwu / Sara Hutzler / Vinko Jelić / Voramai Kabilsingh / Johann Friedrich Kind / Jerry Lordan / Natasja / Joachim Raff / Walther Rathenau / Alice Rühle-Gerstel / Edith Irene Södergran / Robert von Torigni / Rigas Velestinlis / Eli Walach / Johann Ernst Basilis Wiedeburg / Minor White / Fotis Zaprasis

 

Da schien uns nichts mehr so recht weiter zu gehen:

1340 kommt es zur Seeschlacht von Sluis, dem ersten großen Kampf im Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich / Münster, 1536: Erstürmung der Stadt durch bischöfliche Truppen, das Täuferreich endet in einem Blutbad / 1859 finden gleichzeitig die Schlachten von Solferino und San Martino statt, bis zu 37.000 Tote und Verwundete / 1916 beginnt die Schlacht an der Somme, die verlustreichste Schlacht des Ersten Weltkrieges mit über einer Million „Verluste“ / 1948 beginnt die Blockade West-Berlins / Llallagua, 1967 massakriert bolivianisches Militär 20 streikende Bergleute / 2002 kommen bei einer Hochwasserkatastrophe in der chinesischen Provinz Shanxi mehr als 500 Menschen ums Leben.

 

 

25. JUNI

 

Philosophieren

mit

Eloy Alfaro / al-Hasan ibn Muhammad as-Saghānī / Adolf Althoff / Peer Augustinski / Ingeborg Bachmann / Oskar Baumann / Pierre Brossolette / Eric Carle / Georges Courteline / Dimitar Dimow / David Douglas / Wilhelm Fabry / Michael George / Johann Michael Hoppenhaupt / Frigyes Karinthy / Friederike Kempner / Larry Kramer / Otfried Friedrich Krzyzanowski / Francesco La Vega / Sidney Lumet / Ian McDonald / Hans-Rüdiger Merten / Walther Nernst / Nhất Linh / Hermann Oberth / George Orwell / Peyo / Elena Lucrezia Cornaro Piscopia / Willard Van Orman Quine / Arthur Robison / Heinrich Seidel / Boris Trajkovski / Ilja Grigorjewitsch Tschaschnik / Robert Venturi

 

So meinten wir gut weiter philosophieren zu können:

Venedig, 1094: im Markusdom werden „durch ein Wunder“ die Gebeine des heiligen Markus gefunden / 1115: Gründung des Klosters Clairveaux / Brig, Schweiz, 1930: erstmals verkehrt  der Glacier-Experss / Washington, D.C., 1946: die Weltbank nimmt ihre Tätigkeit auf / 1948 Einrichtung einer Luftbrücke zur Versorgung des blockierten West-Berlins / 1967 strahl die BBD weltweit die erste Fernsehsendung über Satellit aus, wozu die Beatles „All you need ist Love“ komponierten / 1975 wird Mosambik unabhängig von Portugal / 1991 erklären sich Kroatien und Slowenien für unabhängig / Bangladesh, 2022: Eröffnung der Padma-Brücke, der zu dieser Zeit längsten Seebrücke Südasiens.

 

Ich notierte:

1980: Ein Mittwoch wird mir zum Sonntag, da sich mir plötzlich ein Knoten löst und ich tief in einer Hirnecke etwas kichern höre, den Anfang eines neuen Textes…

1999: Im SPIEGEL ein Interview mit Joschka Fischer zum Kosovo-Krieg, darin sagt er: „Ich hoffe, es ist der letzte Krieg in Europa gewesen. Das ist nicht nur einfach so dahingesagt. Es war kein Krieg, um alle Kriege überflüssig zu machen. Aber ich hoffe, dass der Nationalismus in Europa am Ende ist, dass jetzt überall auf unserem Kontinent sich das Europa der Integration durchsetzt. Dabei müssen wir dann unsere Verantwortung wahrnehmen, und zwar nicht pfennigfuchserisch. Mit dem Stabilitätspakt wollen wir dem gerecht werden.“ Und nur einen Artikel weiter sagt der US-Politologe Andrei Markovits: „Vielleicht schauen wir in 30 Jahren zurück und sagen: Diese zehn Wochen waren der Anfang für einen wirklichen europäischen Einigungsprozess, der mehr ist als eine nur wirtschaftliche Einigung.“

2022: Carezza. Gestern mit dem Sessellift zur Paolina-Hütte, Wanderung in den Rosengarten. Und unversehens zieht dichter Nebel auf – als hätte Laurin seinem Reich eine Tarnkappe übergestülpt. Heute Spaziergang zum Karersee. Und wir müssen sehen, dass der kaum noch halb so groß ist wie vor zwei Jahren, als wir das letzte Mal hier liefen. Unglaublich diese Veränderungen, die wir – ohne zu Suchen- allenthalben erkennen. Und während wir dann oberhalb des Sees auf einer Bank sitzen und dank blendender Fernsicht am Horizont bis zu den noch schneebedeckten Spitzen der Ötztaler Alpen blicken können, beschleicht mich das Gefühl, als würde das türkisfarbene Wasser des schon schmerzhaft klein gewordenen Karersees noch weiter verdunsten. Wer weiß, was für eine Pfütze wir betrachten müssen, sollten wir nochmals hierher kommen.

 

Polemik

für

Ott Arder / Mona Baptiste / Georges Courteline / Jacques-Yves Cousteau / Maurice Georges Dantec / Charles de Batz-Castelmore d’Artagnan / Manfred Deix / Barbara Dittus / Thomas Eakins / Farrah Fawcett / Fips Fleischer / Paul-Michel Foucault / Antoni Gaudí / Augustus Gregory / David Goldblatt / John B. Goodenough / Chester Leo Helms / E.T.A. Hoffmann / Kurt Hoffmann / Michael Joseph Jackson / Samuel Gottlob Lange / Arthur Charles Hubert Latham / Patrick Macnee / John Marston / Johnny Mercer / Karl Wolfgang Franz Motesiczky / Astrid North / John Boyd Orr / Hans Rott / Hermann Eduard Otto Ruppius / Felix Schadow / Günther Simon / Hillel Slovak / James Stirling / Max Stirner / Georg Philipp Telemann / Hans-Jochen Tschiche / Stanford White

 

Dagegen hätten wir gründlicher polemisieren müssen:

1387 bricht durch Fahrlässigkeit des Schmiedes Hoyke in der Gotthardtsgasse der wohl folgenschwerste Merseburger Stadtbrand aus, wurden neben zahlreichen Häusern auch die Waren der Fernhändler vernichtet, die zum großen Johannis-Markt nach Mersebrug gekommen waren, „so haben hernachmahls solche Kauffleute einen andern bequemen orth gesuchet, sich erstlich gen Grimma begeben, von Grimma nach Taucha, und nach ettlicher zeit auff Leipzigk gewendet. Ob nun wohl die Jahrmärckte nach der zeit in solcher Stadt wieder gehalten worden, so seynd sie doch niemals in solche auffnehmen wieder kommen.“ Der Brand begann „in einem Bürgers Hauße mit dem zunahmen Hoicke, so ein Kleinschmidt gewesen. Dieser hatte mit einem Handrohr welches er in seinem Hauße in der Gottjardts Gaße dadurch verursachet, denn die Büchsen waren dazumahl nicht einem iedtwegen bekannt, u. nur 7 Jahr zuvor nemlich Anno 1380 auff kommen. Dazumahl ist die gantze Stadt Merseburg wie auch die Dom Herren u. Vicarien Häußer bis auff Dom Kirchen zum andern mahl abgebrannt“ / 1525 massakrieren pfälzisch-kurfürstliche Truppen nach der Schlacht von Pfeddersheim 800 aufständische Bauern / 1876: Schlacht am Little Bighorn / 1950: Beginn des Korea-Krieges / Neuguinea, 1976: Erdbeben, 422 Todesopfer / 2001 kommen bei einem Taifun in der chinesischen Provinz Fujian 100 Menschen ums Leben.

 

 

26. JUNI

 

Novelle

mit

Claudio Abbado / Salvador Allende / Stefan Andres / Gyula Babos / Schapur Bachtiar / Antonia Brico / Big Bill Broonzy / Pearl S. Buck / Aimé Césaire / Paul Camille von Denis / Mariana Grajales / George Herbert / Karlrobert Kreiten / Henri Lioret / Peter Lorre / Willy Messerschmidt / Charles Messier / Jovenel Moïse / Peter Morley / Hamilton Naki / Martin Andersen Nexö / Nikolai Ognjow / Marke Pivovar / Julius Rodenberg / Claude Joseph Rouget de Lisle / Alexander Sadebeck / Ruth Seydewitz / Sunthon Phu / Violetta Szabó / William Thomson / Paul Wallot / Colin Wilson / Maximilian „Maxim“ Ziese / Grigor Zohrab

 

Da klang uns nach einem zielsicheren Handlungsverlauf:

Lauchstädt, 1802: Eröffnung des Goethe-Theaters / Le Mans, 1906: Start de ersten Gran Prix Automobilrennes der Welt / San Francisco, 1945. Gründung der UNO / Obninsk, Sowjetunion, 1954: Inbetriebnahme des ersten Atomkraftwerks der Welt / 1960 wird Madagaskar unabhängig von Frankreich / Ohio; 1974: erstmalige Verwendung eines Strichcodes in einem Supermarkt / Toronto, 1976.: Eröffnung des CN Towers / 1987 tritt die UN-Antifolter-Konvention in Kraft / Zhejiang, 2007: Einweihung der Hangzhou Wan Daqiao, der zu dieser Zeit längsten Überseebrücke der Welt.

 

Ich notierte:

1980: Abend zu den Leipziger Jazztagen. Beeindruckende Qualität, unglaublich gut: Mal Waldron, ebenso Memphis Slim. Enttäuschend: Embryo.

1982: Aus Berlin zurück weiß ich, dass das Hörspiel angenommen ist, und eine erste Geschichte („Turnhöschen“) im nächsten Jahrbuch des Kinderbuchverlages erscheinen wird. Das ist mehr als erhofft. Allerdings kam ich mit meiner Lektorin absolut nicht überein. Sie warf mir Oberflächlichkeit vor, doch hatte die ersten 30 Seiten von „Sprachlos“ offenkundig nur flüchtig gelesen. So kann man ja wohl nicht zusammenarbeiten. Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Nun stehe ich wieder wie vor einem Vakuum. Offenbar haben solche Leute keine Ahnung davon, was es heißt, zu schreiben, sich den Schreibfluss kontinuierlich zu erhalten. Da hat die Dame doch noch nicht mal bemerkt, dass ich den Kapitel nun kleine Introduktionen (oder wie immer man das nennen will) vorangestellt habe, nun ja. Einsam inmitten Massen in der S-Bahn wächst mir eine Angst heran, die heißt: einmal etwas zu tun, was irreversibel alles so mühsam Aufgebaute zerstört.

1999: Am Vormittag lese ich mich auf Bulgarien ein, wo ich heute Abend schon sein werde, stoße dabei auf einen Artikel, der die aktuellen Folgeschäden des Kosovo-Krieges für dieses Nachbarland Jugoslawiens auf 650 Millionen Mark beziffert. Entstanden durch: verhagelte Äcker, da keine Raketen zur Vertreibung von Hagelwolken wie sonst üblich gestartet werden durften, wegen der Unterbrechung der Handelsrouten nach Westeuropa, einen Einnahmeverlust an Steuern und Zöllen, der Flaute im Tourismusgeschäft, Umleitungen von Strom und Telekommunikation und dem Rückgang ausländischer Investitionen. Ich fliege zwar zur Teilnahme an einem Kulturfestival nach Bulgarien, nach Plovdiv, doch es sollte mich wundern, wenn die Gespräche der nächsten Tage nicht um diesen Krieg und seine Folgen gingen.

Am Nachmittag fährt mich Jeanny nach Halle, hier treffe ich Konrad und Paul Detlev Bartsch, und in Berlin komplettiert sich unsere kleine Delegation mit Siegfried Maaß und Birgit Herkula. Der Flug ist pünktlich und ruhig, auch wenn Balkanair keinen Lufthansa-Service zu bieten hat. Gegen 22.00 Uhr Ortszeit landen wir in Sofia, es dauert jedoch bis gegen 23.00 Uhr bis alle Kontrollen von allen passiert und auch alle Gepäckstücke wieder aufgetaucht sind. Olga (die ich schon beim vorjährigen Besuch als Dolmetscherin kennenlernte) empfängt uns. Erstes Hallo und die etwa 150 Kilometer bis Plovdiv im Kleinbus. 0.30 Uhr etwa erreichen wir das Lamartin-Haus, das hiesige Schriftstellerheim, wo wir wohnen werden. Die Hausbesorgerin stellt auf mein Bitten hin sogar noch ein bisschen Käse auf den Tisch. So sitzen wir noch in einer lauen balkanischen Sommernacht und lassen es uns gut gehen.

2000: Am Morgen schon wieder nach Magdeburg (ach, wäre doch die Autobahn nur bald fertig, da ließe sich wohl pro Strecke mindestens eine Stunde sparen...), Vorstandssitzung der LKJ und Gespräch mit Sasse über das weitere Verfahren mit unserem gemeinsamen Europa-Projekt. Gegen Abend zu Hause und bestenfalls noch fähig zum fernsehen. Da aber immerhin die Nachricht, dass das menschliche Erbgut so gut wie entschlüsselt sei, was mindestens der Erfindung des Rades und des Buchdrucks gleichkomme.

2001: Mit der Entfernung aus dem Alltag wuchs einmal mehr die Distanz zu eigenem Tun. Da erwuchsen neue Perspektiven, die Bewegungen gläsern erscheinen ließen: als offenbarten Gesichter warnend Lebensgeschichten, als erkenne man all die Nichtigkeit, Peinlichkeit, Fragwürdigkeit genormter Verrichtungen, als befreie man sich von existentiellen Lasten doch bürde sich zugleich künftigen Kummer auf... Aus dem Anderen stieg leise die Sehnsucht nach einem Neuanfang, der jedoch allein aus materiellen Gründen undenkbar scheint. Es sei denn, man zerhiebe sein Lebensgeflecht.

 

Obdach

für

Adelaide Ames / Karl M. Baer / Clifford Brown / John Cyril Cranko / Samuel Crompton / Alfred Döblin / Françoise Dorléac / Margot Ebert / Frank Ferera / Ford Madox Ford / Luise Adelgunde Victorie Gottsched / Iyasu II. / Israel „Iz“ Ka’ano’i Kamakawiwo’ole / Karl Landsteiner / Lau Lauritzen jr. / Geoffrey Lister / Guilia Masotti / Alexander Mitscherlich / Joseph Michel Montgolfier / Jacques-Joseph Moreau / Karl Philipp Moritz / Carola Neher / Peter Rosegger / Max Pallenberg / Kosta Panica / Georgios Gemistos Plethon / Lawrence Rooke / Saichō / Naomi Schemer / Werner Siegfried Teske / Christian August Vulpius / Alexander Adolfowitsch Witt Engelbert Zaschka

 

An diesem Tage schienen wir obdachlos zu werden:

1719: bricht in Frankfurt am Main der Große Christenbrand aus / Plessezk, 1973: beim Start einer sowjetischen Kosmos-Rakete sterben neun Menschen.

 

 

27. JUNI

 

Engagement

mit

Hermann Abeken / Gaston Bachelard / Madan Kumar Bhandari / Adelaide Smith Casely Hayford / Rafael Chirbes / Eugen Cicero / Napoléon Coste / Jean-Baptiste de Boyer / Wiglaf Droste / Paul Laurence Dunbar / Sabine Michaela Dünser / Louise von François / Emma Goldman / Enrique Granados y Campiña / João Guimarães Rosa / Philip Guston / St. Elmo Sylvester „Mo“ Hope / Geir Ivarsøy / Dieter Gerhard „Jennek“ Jenzsch / Karl XII. / Friedrich Gottlob Keller / Helen Keller / Krzysztof Kieślowski / Augusto Olivares Becerra / Alja Rachmanowa / Greta Schröder / Friedrich Silcher / Eduard Spranger / Kyle Smaine / Johann Stüdl / Joachim Wohlgemuth

 

Das engagierte uns:

1857 erklärt sich die Transvaal Republik für unabhängig / Odessa, 1905: Meuterei auf dem Panzerkreuzer „Potjomkin“ / 1967 geht im Londoner Stadtteil Enfield Town der erste Geldautomat in Betrieb / 1977 wird Djibuti unabhängig von Frankreich / Soprom, 1989: die Außenminister Österreichs und Ungarn zerschneiden symbolisch den Grenzzaun zwischen ihren Länden.

 

Ich notierte:

1983: Grollen und Donnern und Krachen beim Erwachen, schon rauscht Regen. Und das am Wochenanfang. Mit dem Rest Aberglauben, der noch irgendwo in mir steckt, und diesem ständigem selbstverachtenden Misstrauen gegenüber eigener Leistung, denke ich: Na, das fängt ja mal wieder gut an… Aber der Regen spült diesen ekligen, schwefligen, teerigen Geruch, der das ganze Wochenende schwül in Leuna hing, fort. Wird man hier langsam vergast wie die Bäume, die zwar noch grünten und Früchte ansetzten, doch nun unverkennbar sterben? Ein Wochenanfang mit Gewitter –nun denn, Janko, mach was draus!

1985: Jendryschik fragte mich gestern, warum ich immer so ernst sei, nicht mal lache. Tja, warum wohl?

1987: Das erste Mal in diesem vermaledeiten Jahr erlaubt das Wetter, einen Abend im Garten zu verbringen, Abendessen im Grünen, Staub berieselt zwar, aber immerhin. Sollte nun etwa nah fast sieben Wochen Trübe und Regen so was wir Sommer kommen? Es würde höchste Zeit, schon ist allenthalben Gleichgültigkeit zu verspüren.

1990: Hohenmölsen. Grauer Transporter rollt auf den Markt, stoppt vor der Kreissparkasse, coltbewaffneter Fahrer. Streifenwagen sperren Ein- und Ausfahrten. Blaulicht. Polizisten nervösen Blicks entsichern Maschinenpistolen. Hurra, die D-Mark ist da!

1999. Plovdiv. Zum Frühstück frischen Schafskäse und frische Tomaten (richtige, sonnengereifte, große). Ich besinnen mich meines ersten Besuches hier und führe die neugierig die Weinranken des Innenhofes und die Giebel dieser sehenswerten Holzvilla beäugenden anderen zum unweit gelegenen römischen Amphitheater, weiß sogar noch zu berichten, dass Plovdiv eine Gründung des mazedonischen Königs Philipp ist, insofern ursprünglich Philippopolis hieß, dann unter den Römern auf Grund der Ortslage auf drei Hügeln Trimontium genannt wurde. Und später war Plovdiv natürlich jahrhundertelang und bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts eine türkische Stadt. Olga, Ivan und Dimiter Atanassow, der Vorsitzende des hiesigen Schriftstellerverbandes wohl (das ist hier nicht so recht zu durchschauen, wer eigentlich welche Funktion hat) erscheinen und wir starten zu einem ausführlichen Rundgang durch die Altstadt. Hindlijan-Haus, Baklanov-Haus und all die malerischen Gassen und die Ruinen der Festung auf einem der Tepe (türkisch: Hügel).

Und noch immer steht der Alte mit seiner Drehorgel vor der Kirche des Hl. Konstantin und der Hl. Helena. Und aus der Erfahrung meiner letztjährigen Begegnung rate ich den anderen zur Vorsicht: Musike unbestellt - 1 $, Musike mit Foto - 2 $ (mindestens)! Doch plötzlich schreit der Zausel mich an (ja, versteht der denn auf einmal Deutsch, war der im vergangenen Jahr nicht noch fast taub?) und tobt und kreischt, dass die altehrwürdigen Gassen Plovdivs wie von Kanonenschlägen hallen. Auflauf. Doch unser Dolmetsch schiebt mich behutsam aus dem Gedränge und übersetzt dabei flüsternd die Schimpfkanonaden, die bulgarischen: Jedem Künstler stünde sein Honorar zu, jedem, überall auf dieser Welt, gottverdammich! Und als unsere junge Autorin dem Drehorgelscharlatan daraufhin ein Gedicht vortragen will (ein selbstgemachtes und als Lohn sozusagen), schiebe ich sie behutsam in die nächstbeste Gasse. Recht hat er schließlich, der Alte. Hier sowieso und überhaupt und noch immer.

Mittagessen (Schopska-Salat und reichlich Rakia) und dann nach Hissar. Etwa 50 Kilometer Fahrt über abenteuerliche Straßen. Hissar liegt am Fuße des Balkan-Gebirges und hat augenscheinlich schon bessere Zeiten gesehen. Bis zur Wende war es einer der mondänsten und beliebtesten Kurorte des Landes. Nicht von ungefähr steht hier ein Gästehaus des Ministerrates (in dem wir heute übernachten). Aber das Haus wie der Ort zeugen überdeutlich von Verfall. Morbidität wohin man blickt. Ich frage mich, ob es im Osten Deutschlands ohne den „Beitritt“ heute ähnlich aussehen würde? Am späten Nachmittag besuchen wir das archäologische Museum Hissars, eine Stadt, die von den Thrakern gegründet wurde und unter den Römern Diokletianopol hieß und noch heute von einer (selbst als Ruine noch imposanten) Stadtmauer umgeben ist. Abendessen im Gästehaus (einmal mehr reichlich Schopska und Rakia...).

2001: Nach dem schönen Lanzarote-Urlaub mit Mine wieder in Leuna und im Alltag, und ich träume, dass ich bei einem großen Meeting Walter-Bauer-Gedichte vorlesen soll. Vor mir sehe ich Manne Krug singen, Band und so. Dann werde ich angesagt und obwohl ich etliche Bücher und Skripte gespickt habe, kann ich das eine Gedicht, das ich vortragen will, das ganz besondere, das einzigartige Gedicht, nicht finden, blättere weiter, blättere und hin und blättere her, werde nervös, doch ich finde es einfach nicht, die Menge beginnt zu lachen, zu johlen… Danach war an Schlaf natürlich nicht mehr zu denken.

2016: Das Wetter zumindest scheint hinlänglich stabil dieser Tage, einen angenehmen Sommer verheißend also, überschlügen sich nicht Terror-, Chaos-, no-future-Nachrichten. Ja, traumatisierend, was weltweit an Hass, Wut, Dünkel, Dummheit, Rückwärtsgewandtheit erwacht. Ermüdend hingegen das Gelaber, die Hilflosigkeit der Parlamente. Und immer labiler die Hoffnung, alles wäre besser vielleicht, verschliefe man nur miese Zeiten wie dereinst die sieben Jünglinge zu Ephesos.

2018: Darmstadt. Als PEN-Schatzmeister rede ich mit dem OB über ein neues Domizil für den Verein, wir besichtigen ein schönes leerstehende Objekt. Das könnte gut werden. Dann Gespräche über eine PEN nahe Stiftung, deren Vorsitzender ich auf Wunsch des Alterspräsidenten Johano Strasser, der bislang dieser Stiftung vorstand, werden solle.

2021: Mittlerweile werden weltweit offiziell 4 Millionen Corona-Tote gezählt, 181 Millionen Infizierte. Und während die Fallzahlen in Deutschland rapide sanken, Beschränkungen teilweise schon aufgehoben wurden, grassiert andernorts die erst vor Wochen aufgetauchte sogenannte Delta-Variante, im Herkunftsland Indien vor allem, doch zunehmend auch in Großbritannien, Portugal, Russland… Die Pandemie scheint also längst nicht vorbei.

 

Endpunkt

für

Carin Sophie Adlersparre / Gari Allen / Johann Michael Andreae / Muchtar Äuesow / Peter Bieri / Michael Bond / Hermann Buhl / Hélène Dutrieu / Christian Gottfried Ehrenberg / Einar Englund / John Alec Entwistle / Sophie Germain / Ludwig Friedrich Theodor Hain / Christian Henrich Heineken / Milada Horáková / Tove Jansson / Poul F. Joensen / Kyrill von Alexandria / Ledi Sayadew / Jack Lemmon / Siegfried Lowitz / Malcolm Lowry / Johann Heinrich Merck / Jusuf Naoum / Rolf Áke Mikael Nyqvist / Andreas Okopenko / Ramses II. / Ranjit Singh / Johann Friedrich Reichardt / Fausto Romitelli / Miklós Rózsa / Stefanie Ann Sargent / Carl Schorlemmer / Elizabeth Shaw / Joseph Smith jr. / James Smithson / Bud Spencer / Chris Squire / Kaspar von Stieler / Robert Stolz / Ulrich „Ed“ Swillms / Süleyman Taşköprü / Kakuza Tscholoqaschwili / Charles Tyler / Truus van Aalten / Giorgio Vasari / Franz Albert Venus / Bobby Womack / Heinrich Zschokke

 

Das kam uns wie ein Endpunkt vor:

Kanpur, 1857: massakrieren indische Truppen britische Soldaten am Sati Chowra / 1918. versenkt ein deutsche U-Boot im Nordatlantik das Hospitalschiff „Llandovery Castre“, 234 Tote / Białystok, 1941: deutsche Soldaten brenne die Große Synagoge nieder, wobei mindestens 800 Menschen ums Leben kommen / 1957: Erdbeben in Russland, 1.200 Todesopfer / 1957: Hurrikan in Texas, 500 Menschen streben / Ustica, Italien: Flugzeugabsturz, 81 Tote / 1998: Erdbeben in der Türkei, mindestens 130 Todesopfer.

 

 

28. JUNI

 

Malen

mit

Heinrich Albert / Franz Antel / Otto Julius Bierbaum / John Biscoe / Pierre Paul Broca / Alexis Carrel / Paul Camille von Denis / Abbas el-Akkad / Baltasar Eloy de Medinilla / Emil Erlenmeyer / Jürg Federspiel / Adalbert Förtsch / Robert Franz / Maria Goeppert-Mayer / Charlotta Grisi / Thekla von Gumpert / Chris Hani / Joachim Hansen / Joseph Joachim / František Cyril Kampelík / Erich Kuby / Niki List / Franz Julius Ferdinand Meyen / Gottlieb Konrad Pfeffel / Luigi Pirandello / Anton Philipp Reclam / Adrian Francis Rollini / Jean.Jacques Rousseau / Peter Paul Rubens / Joe „Fox“ Smith / Weiß Ferdl / Carl Friedrich von Weizsäcker / Christiana Mariana von Ziegler

 

Üppig setzte uns da etwas ins Bild:

Blankenburg, 1840: Gründung des ersten Kindergarten Deutschlands / Newcastle upon Tyne, 1859: Eröffnung der weltweit ersten Hundeausstellung / Toronto, 1886: der erste Zug der Canadian Pacific Railway geht auf Fahrt / München, 1903: Gründung des Deutschen Museums / 1939: erster transatlantischer Linienflug von New York nach Marseille / New York, 1969: Aufstand von Homosexuellen in der Christopher Street, woraus der Christopher Day erwächst.

 

Ich notierte:

1981: Schlagersänger, Artisten etc. behandeln Musiker stets auf ihrem Niveau, für sie ist ein Musiker so was wie ein Dienstbote, mindestens eine Kategorie tiefer als ein Interpret. Aber wirklich unausstehlich wird dieser Mugger-Alltag, wenn Schmierenkomödianten kommen und verlangen, dass ihre – meist saumäßigen Noten – richtig gespielt werden sollen. Spielt man genau, was auf deren Notenblättern steht, sind sie empört: schrecklich, könnt ihr nicht spielen? Aber wir spielen genau das, was auf deren Notenblättern steht! Am Ende ist man viel zu sehr Musiker und spielt vorausahnend das, was da gemeint sein könnte. Ja, es ist eine traurige, schäbige Branche diese Unterhaltungskunst.

1999: Heißer Tag. Abenteuer-Fahrt zurück nach Plovdiv (was für ein Auto, was für Straßen, was für ein Fahrstil!). Lesung im Kyrill-und-Method-Gymnasium, dem ältesten Bulgariens wohl. Riesige Aula, aber interessierte und halbwegs Deutsch sprechende und verste­hende Schüler, es läuft also ganz gut. Dann ein kleiner Stadtbummel, ein paar Mitbringsel einkaufen. Und Mittagessen (sehr ausführlich, s.o.). Am Abend Lesung vor und mit bulgarischen Kollegen im Garten des Lamartin-Hauses. Als ich einen Zusammenhang zwischen unserem Besuch hier und der Interlese, dem Kolloquium der vergangenen Woche mit dem Thema „Welt-Waende“ vor allem, herzustellen versuche, wo „Brücken“ zur Sprache kamen, über die Kulturen vermittelt und Freiräume für lebenswertes Leben geschaffen werden könnten, ereifert sich eine Frau, ob wir denn nicht wüssten, dass nahebei soeben richtige Brücken zerbombt worden seien, dass Christen gegen Christen Krieg geführt hätten, um der Kultur von Andersgläubigen neue Freiräume zu eröffnen...! Erstaunlich, diese Reaktion, da man hier ansonsten dem Thema Kosovo offenbar geflissentlich auszuweichen versucht. Und es findet nach diesem Einwurf auch keinerlei Diskussion statt. Freundliches Lächeln und weiter im Programm. Später ruft Konrad zu Hause an und berichtet mir danach, dass am Wochenende in Merseburg eine Bombe hochgegangen sei, in einem Lokal, ein Attentat. Das beunruhigt mich. Ich rufe Jeanny an und höre, dass da die Geburtstagsparty eines Herrn B. (unseres Ex-Fast-Schwiegersohnes also, den ich einst kurz vor der Hochzeit rausgeschmissen hatte, da er glaubte, meine Tochter verprügeln zu können) angegriffen worden war. 20 Verletzte, davon einige schwer. Absurd - wenn Cathi diesen schon vor Jahren in finstere Machenschaften verstrickten Kerl wirklich geheiratet hätte, hätten wir bei dieser Fete also auch dabei sein können... Oder anders: Ich war doch mit gemischten Gefühlen hierher gefahren, in ein Land in dessen Nachbarschaft vor kurzem noch Krieg war. Und nun sitze ich hier im romantischen Hof des Schriftstellerheimes und muss erfahren, dass zu Hause gebombt wird...

2018: Gestern fand (während ich in Darmstadt beim PEN war) eine außerordentliche Vorstandssitzung des Friedrich-Bödecker-Kreises samt Beirat statt, in der meine Kündigung beschlossen wurde. Heute erhielt ein Kündigungsschreiben, das offensichtlich schon vorher vorbereitet war und das in der Vorstandssitzung noch handschriftlich ergänzt wurde, in dem aber keine Gründe angegeben sind .Einfach so, nach mehr als fünfundzwanzigjähriger Zusammenarbeit, zack Ich kann es nicht fassen.

 

Messe

für

Max Adler / Mortimer Adler / Johannes Goropius Becanus / Alexander Berkman / Peter Brasch / Caroline Shawk Brooks / Welimir Chlebnikow / Olga Costa / Philippe Pierre Cousteau / Gentile da Foligno / Paul Dessau / Christine Dranzoa / Harlan Ellison / Johann Jakob Engel / Simon H. Fell / Terry Fox / Oskar Maria Graf / Fumiko Hayashi / Kirsten Heisig / Joris Ivens / Jigael Jadin / Herbert Jobst / Peter Kreuder / Janka Kupala / Johann Andreas Christian Loehr / Lisa Martinek / Maria Mitchell / Scotty Moore / Stanislav Kostka Neumann / Christine Nöstlinger / Abraham Ortelius / Mtutuzeli „Dudu“ Pukwana / Kurt Raab / Clarisse Ratsifandrihamanana / Arno Reinfrank / Bernhard Rode / Gerhard Johann David von Scharnhorst / Ernst Karl Friedrich Schulze / Reuben Alvis Snake Jr. / Michail Nechemjewitsch Tal / Primož Truba / Niclas Gerhaert van Leyden

 

Da schien uns die letzte Messe gesungen:

1635 wird Guadeloupe französische Kolonie / 1788: Beginn des Russisch-Schwedischen Krieges / 1811 erstürmen französische Truppen Tarragona und massakrieren die Stadtbevölkerung / 1904 läuft das Passagierschiff „Norge“ nahe der nordatlantischen Insel Rockall auf Grund uns sinkt, 625 Todesopfer / Sarajevo, 1914: Gavrilo Pricip erschießt den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau / 1940 besetzt die Rote Armee Bessarabien / Fukui, Japan, 1948: Erdbeben, 5.390 Tote /1956 kommen bei der Niederschlagung des Posener Aufstandes 57 Menschen ums Leben / Teheran, 1981: Bombenanschlag auf das Büro der Islamisch-Republikanische Partei, mehr als 70 Tote / Istanbul, 2016: Terroranschlag auf dem Flughafen; 42 Todesopfer.

 

 

29. JUNI

 

Krönung

mit

Jorge Enrique Adoum / Barış Akarsu / Willibald Alexis / Christian Adolf Balduin / Ludwig Beck / Alan Dower Blumlein / Joachim Heinrich Campe / Antoine de Saint-Exupéry / Johann Ludwig Maximilian Dortu / Nelson Eddy / Oriana Fallaci / Paul Flora / Ottmar Gerster / George Ellery Hale / John Hench / Hidari Sachiko / Henry Jaeger / Peter Kafka / Josef Kainar / Petar Kočić / Ellen Kuzwayo / Giacomo Leopardi / Richard Lewis / Masaniello / Richard Oelze / Lothar Reher / Carl-Heinz Schroth / Robert Schumann / Samantha Reed Smith / Kwame Ture / Samuel Erdmann Tzschirner / Ror Wolf

 

Das kam uns wie eine Krönung vor:

Stockholm, 1900. Errichtung der Nobel-Stiftung / 1976 werden die Seychellen unabhängig von Großbritannien / London, 1990: die Konferenz zum Schutz der Ozonschicht beschließ das Verbot von Fluorchlorkohlewasserstoffen.

 

Ich notierte:

1980: Noch einmal zu den Leipziger Jazztagen. Unter anderem ein Solokonzert von Egberto Gismondi, Klavier und Gitarre. Ein phantastischer Musiker. Zugabe, brüllt der Saal. Der Veranstalter sagt, Gismondi müsse weg, habe keine Zeit mehr. Dann spielt Gismondi doch nochmals Gitarre, unterbricht sein Spiel nach ein paar Takten, legt demonstrativ seine Armbanduhr ab…

1999: Ploviv. Heute scheint es noch heißer zu werden als gestern. Schon am Morgen unerträgliche Schwüle. Lesung im Fremdsprachen-Gymnasium. Anschließend Fahrt in die Rhodopen, nach Batschkowo. Schon bei meinem ersten Besuch hier war ich begeistert, Nun, im Sommer, inmitten all des Grüns, bin ich’s noch viel mehr. Zudem sind die im letzten Jahr noch so manche Ansicht verstellenden Baugerüste mittlerweile gefallen. Die Klosterkirche steht frisch restauriert. Im Refektorium bewundere ich einmal mehr die Deckengemälde, auf denen neben Jesus, den Propheten und Aposteln auch griechische Dichter und Philosophen dargestellt sind: Plato, Aristoteles, Aristhophanes u.a., ohne Heiligenschein allerdings (da sie noch das vorchristliche Denken verkörperten). Auf meine Frage, wie diese Außergewöhnlichkeit zu erklären sei, erfahre ich, dass der Stammbaum des abendländischen Denkens dargestellt werden sollte, um sich gegen die Muslime, gegen den Islam abgrenzen zu können... Am Abend eine Lesung in der Begegnungsstätte des Landes Sachsen-Anhalt in Plovdiv. Die Leiterin hat keine Zeit und die Verantwortlichen der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft haben nicht nur vergessen ihre Mitglieder einzuladen, sondern ihrerseits für wenig später sogar eine andere Veranstaltung vorbereitet, im selben Raum, versteht sich. Aber so sind neben unseren bulgarischen Kollegen immerhin noch einige Zufallsgäste anwesend und hören geduldig die Lesung deutscher Texte an. Und außerdem springt aller fünf Minuten eh ein Bulgare auf, der auch schon mal ein Gedicht geschrieben hat, das er hier nun unbedingt der Runde vortragen will... Am Abend feiern wir in Paul Detlevs Geburtstag hinein. Lauer Abend im Hof unserer „Stamm-Gaststätte“. Deutschland, Merseburg ist mir sehr weit weg. Und ich offenbar fühlten und fühlen sich alle sehr wohl hier, gute Küche, gutes Klima (menschlich wie meteorologisch), gute Gespräche. Nicht zuletzt darüber, wie diese Begegnungen, die gerade in diesen Zeiten ein wichtiges Stück Normalität sein können, weitergeführt werden könnten. Keine Frage, dass da über Projekte diskutiert wird, Schreibprojekte zumal. Und nicht selten sind aus solch launigen Ideen ja tatsächlich hochinteressante und wichtige Projekte entsprungen.

2000: Beizeiten los nach Zielitz, um das Projekt „Unser Dorf liest“ mit einer Pressekonferenz zu starten. Tolle Kulisse, die sich die Theatertruppe, die wir bei ihrer Inszenierung unterstützen, da ausgesucht haben, und die die Werksleitung der Kaligruben großzügig freigeben: die weithin sichtbare Hochhalde. Dennoch erscheinen nur zwei Presseleutchen. Na, immerhin. Im Eiltempo zurück nach Leuna: Sitzung der Walter-Bauer-Preisjury. Und glücklicherweise geht mein Vorschlag, den Preis in diesem Jahr an Wilhelm Bartsch zu geben, einstimmig durch.

2013: Kein Sommer einmal mehr (zumal am Wochenende nicht) und so greife ich (vielleicht auch, da Ray Manzarek vor kurzem starb) nach dem Konzert, das die Doors fast auf den Tag genau vor 45 Jahren in der Hollywood Bowl spielten (fern, noch so fern)… Can you picture what will be. So limitless and free Und so sehe ich nun, dass ich nicht verlieren darf, woher ich komme, wohin ich wollte. Was ich will.

2020: Weltweit nun mehr als 10 Millionen offiziell Infizierte (die Dunkelziffer wird 20mal höher geschätzt) und 500.000 Corona-Tote.

2023: In der „Lanz“-Talkshow heute Jürgen Schmidhuber, einer der „Väter“ der KI, der mit großer menschlicher Intelligenz versucht, Ängste vor der künstlichen Intelligenz zu nehmen, Chancen schlechthin aufzuzeigen. Ich spinne mir das weiter und höre in mir erstmals eine Möglichkeit aufblitzen, wie nicht alles den Bach runtergehen könnte, wenn’s der Homo sapiens letztlich nicht schafft, den Untergang seiner Spezies zu verhindern. Am Anfang war das Wort – und am Ende bleibt etwas von der biologischen Existenz Losgelöstes, bleiben Ideen, Erfahrungen, Neugier, bleibt die KI?

 

Koma

für

Elechi Amadi / Stefan Andres / Arai Hakuseki / Roscoe Conkling „Fatty“ Arbuckle / Alan Arkin / Melitta Bentz / Muhammad Boudiaf / Elizabeth Barrett Browning / Timothy „Tim“ Charles Buckley III / Rosemary Clooney / Elizabeth Cotten / Eric Allan Dolphy / Michał Frencel / Vittorio Gassmann / Delphine Gay / Lowell George / Heinrich von Gent / Katherine Hepburn / Gerhard Hoehme / Thomas Henry Huxley / Horst Jankowski / Paul Klee / Boby Lapointe / John Lawton / James Bowman Lindsay / Jayne Mansfield / Fritz Mauthner / Anton Raphael Mengs / Günther Messner / Moctezuma II. / Guillermo Mordillo / Wolfgang Müller von Königswinter / Hedvig Charlotta Nordenflycht / Notger der Deutsche / Ignacy Jan Paderewski / Alexander Parkes / Max Pechstein / Carl Reiner / Ernst Conrad Friedrich Schulze / Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein / Edward Taylor / Lana Turner / Pashko Vasa

 

An diesem Tag fiel uns so manches ins Koma:

London, 1613: das erste Globe Theatre brennt nieder / St-Hilaire, Kanada, 1864: Eisenbahnunglück, 99 Tote / 1913: Beginn des Zweiten Balkankrieges / Seoul, 1995 beim Einsturz des Sampoong-Gebäudes kommen 501 Menschen ums Leben.

 

 

30. JUNI

 

Foto-Shooting

mit

Peter Alexander / Florence Ballard / Georg Anton Benda / Rosa Bloch / Juan Bosch / Hans Chlumberg / Franz von Dingelstedt / Assia Djebar / Georges Duhamel / Wolf Erlbruch / Veronica Gambara / John Gay / Manuel Amador Guerrero / Tata Güines / Susan Hayward / Maximilian Herrfurth / Gerda Herrmann / Herta Heuwer / Lena Horne / Czesław Miłosz / Karl Neumann / Adam Müller von Nitterdorf / Charlotte Polak-Rosenberg / Klaus Renft / Otto Sander / Marianne Schmidt / Friedrich Theodor Vischer / Stanko Vraz / Karl Lupold Magnus Magnus Wilhelm von Wedell

 

An diesem Tage sahen wir so einiges hoffnungsvoll in Szene gesetzt.

1377: Grundsteinlegung für das Ulmer Münster / 1498: Gründung der „Wiener Sängerknaben“ / 1930 endet die alliierte Besetzung des Rheinlandes infolge des Ersten Weltkriegs / 1960 wird die Kolonie Belgisch-Kongo zur unabhängigen Republik Kongo / Lausanne, 1984: der Internationale Sportgerichtshof nimmt seine Arbeit auf / 1997 endet die britische Pachtzeit für Hongkong.

 

Ich notierte:

1980: Im Fernsehen „Citizen Kane“, danach die Tagesschau. Und wenn man nicht aufpasst, kann dass plötzlich ineinander übergehen, zu einem werden…

1981: Heute die Urteile im Düsseldorfer Majdanek-Prozess, empörend lächerlich. Doch ein Staatsanwalt sagte immerhin, er sei über die eingehende Beschäftigung mit jener Zeit sehr nachdenklich geworden. Und genau das ist der auch mir beim Überarbeiten meines Kinderbuchs vorschwebende Effekt im Sinne von Katharsis, der bei Nachgeborenen wirken könnte: Sichtbarmachung von Parallelen, so ein Tor zum Über-das-Gewöhnliche-Hinausgehen aufstoßen… Man muss es versuchen. Aus Scham Rückenhalt und Kraft entwickeln-

1988: Die Hälfte des Schreiburlaubs ist um. Und ich träume vom Bezirksliteraturzentrum – ein Alptraum natürlich. Begünstigt wohl durch die extreme Schwüle, die seit Tagen herrscht, und einer fiebrigen Erkältung, die ich mir darin zuzog.

1999: Als ich im vergangenen Herbst in Plovdiv war, hatte ich am letzten Reisetag den dringenden Wunsch, möglichst bald von hier wegzukommen. Dieses Mal fühle ich mich nach wie vor wohl, könnte durchaus auch noch länger bleiben. Da ich wusste, was für Dreck und Verfall ich sehen würde? Da das Wetter phantastisch war, wodurch wohl jedes südliche Land gewinnt? Da die Gruppe sehr harmonierte, insofern die Reiseleiterrolle keine Belastung war? Wie auch immer, zudem kommt, dass sich zu einigen der bulgarischen Kollegen, zu Ivan vor allem, mittlerweile fast ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt hat. Bemerkenswert insgesamt scheint mir in dieser konkreten Nachkriegssituation auch, dass ich den Eindruck hatte, die Bulgaren mieden die Auseinandersetzung mit den Folgen, den geistig-moralischen vor allem, des Kosovo-Konflikts. Da sie verunsichert sind? Durch die räumliche Nähe zum Kriegsherd? Durch ihre relativ große türkische Minderheit im Lande? Aufgrund ihrer starken und schon vor zwölf Jahren (bei meinem ersten Bulgarien-Besuch) zu beobachtenden West-Orientierung, entsprungen offenbar dem Versuch sich möglichst rasch und komplett von der Zugehörigkeit zum einstigen Ostblock, als einst wohl treuester Vasall der Sowjetunion abzukoppeln? Ich habe heute am Vormittag die ganze Abrechnung der Reise zu erledigen, dann geht’s noch mal in die Stadt, ein bisschen Shoppen. Herzliche Verabschiedung dann und mit dem Bus nach Sofia. Heftiges Gewitter über dem Flughafen, was sich jedoch Gott sei Dank noch vor dem Start verzieht. Beim Landeanflug auf Schönefeld beginnt aber plötzlich hinter mir ein Bulgare mit seinem Handy zu telefonieren. Da haben wir ihn also mal wieder, den Balkan.

Jens und Jeanny holen mich in Halle ab. Thema Nr. 1 natürlich die Merseburger Bombenexplosion. Selbst in den Nachtnachrichten des Fernsehens ist das Thema Nr. 1: in Polen wurde offenbar der Hauptverantwortliche ein Gang-Chef aus Leuna (!) verhaftet. Meingott, wo leben wir denn plötzlich!

 

Fatum

für

Chet Atkins / Pina Bausch / Lena Christ / Lee De Forest / Georgi Timofejewitsch Dobrowolski / Robert Gernhardt / Eva Gore-Booth / Lillian Hellman / Joe Henderson / Matthias BAADER Holst / Phyllis Hyman / Adam Krieger / Friedrich Ladegast / Lolita / Dadabhai Naoroji / Wiktor Iwanowitsch Pazajew / Marie Luise Auguste Petersen / Františka Faustina Plámínková / Johannes Reuchlin / Alexander Rüstow / Christian Schesaeus / Rudolf Schuster / Karl Wolfskehl / Wladislaw Nikolajewitsch Wolkow / Anny Wottitz

 

Das erschien uns schicksalhaft:

1900: Großbrand im Hafen von Hoboken, New Jersey, 326 Tote / Sibirien, 1908: „Tunguska-Ereignis“ / 1946 starten die USA die „Operation Crossroads“, Kernwaffentests auf dem Bikini-Atoll / 1956 kollidieren über dem Grand Canyon eine DC-7 und eine Super Constellation, alle 128 Insassen sterben / Sulawesi, 2000: Untergang der Fähre „Cahaya Bahara“, mehr als 500 Todesopfer / Moroni, Komoren, 2009: beim Landeanflug stürzt ein Airbus A330 ins Meer, 152 Menschen kommen ums Leben / Londiani, Kenia, 2023: Verkehrsunglück, mindestens 53 Tote.