JÜRGEN JANKOFSKY

 

 

 

 

 

 

Kalendaricon JJ

JULI - SEPTEMBER

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Abwesenheit von Veränderung ist die Ewigkeit.

Gerd Ganteför

 

 

 

 

1. JULI

 

Freundschaft

mit

Friedrich Aduatz / Moustapha Akkad / Hans Bender / Moïse Bercovici-Erco / Claude Berri / Louis Blériot / Delaney Bramlett / Andre Braugher / Verney Lovett Cameron / Leon Ndugu Chancler / Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz / James Cotton / Olivia de Havilland / Willie Dixon / Alice Guy-Blaché / Bernard Heinze / Hans Werner Henze / Jan Hus / Denis Johnson / Seretse Khama / Amy Johnson-Mollison / Léon Jouhaux / Charles Laughton / Gottfried Wilhelm Leibniz / Georg Christoph Lichtenberg / Franca Magnani / Édouard Alfred Martel / Bess Mensendieck / Francisco Javier Mina Larrea/ Amy Johnson-Mollison / Juan Carlos Onetti / Humphry Osmond / Sydney Pollack / Jean-Victor Poncelet / David Prowse / Fernando José Salgueiro Maia / George Sand / Ignaz Philipp Semmelweis / Diana Frances Spencer / Wolodymyr Wolodymyrowytsch Wakulenko / Inge von Wangenheim / William Wyler

 

An diesem Tage glaubten wir an Freundschaften.

Leipzig, 1650: erstmals erscheint eine moderne Tageszeitung, die „Einkommenden Zeitungen“ / Kardis, 1661: Russland und Schweden schließen wider einmal Frieden / 1796 erstmalige Impfung gegen Pocken / 1823: Bildung der Zentralamerikanischen Konföderation / Montgeroin, 1903: Start der ersten Tour de France / 1938 wird Wolfsburg gegründet / 1960 das ehemaligen Kolonien Britisch-Somaliland und Italienisch-Somaliland vereinigen sich zu von Somalia / 1962 entstehen aus einem belgischen Treuhandgebiet die Staaten Burundi und Ruanda / 1968 Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages / West-Berlin, 1989: die erste Loveparade findet statt / 1990: die deutsche Währungsunion tritt in Kraft / /1991: Auflösung des Warschauer Paktes / 2000. Eröffnung der Öresund-Brücke / 2002: Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofes / 2004 tritt die Raumsonde Cassini-Huygens in eine Umlaufbahn um den Saturn ein / 2006 nimmt die höchstgelegene Bahnstrecke der Welt von Peking nach Lhasa den Betrieb auf / Cape Canaveral, 2023: Start des ESA-Weltraumteleskops „Euklid“ ins All.

 

Ich notierte:

1987: Der Frust durch die Büroarbeit wird so stark, dass ich in Gedanken, zur Selbstberuhigung also, mal wieder ein Kündigungsschreiben formuliere…

1999: Unablässig klingelt am Vormittag das Telefon, ich habe reichlich zu organisieren, zu planen und Projekte abzustimmen. Mit hoffnungsvollen Tendenzen allerdings. Dann ausführliches Studium der Zeitungen der vergangenen Tage. Peinlich zu lesen, wie dilettantisch Journalisten über das Merseburger Bombenattentat schreiben: Von den netten Jungs ist da immer wieder die Rede, die in einer netten Gaststätte mal eben zu einer Geburtstagsfeier zusammen saßen... von einer unerklärlichen Gewalttat wird geschwafelt... die größten Ganoven der Stadt werden als Opfer interviewt... der reibungslose Polizeieinsatz nach dem Attentat wird in allen Details geschildert... Unglaublich. Warum stellt da keiner Fragen an die Polizei, wieso die Gewaltspirale in der Region seit einiger Zeit eskalieren konnte, wieso keinerlei Fahndungserfolge zu verzeichnen waren, warum es überhaupt so weit kommen konnte? Es war doch seit langem offenes Geheimnis hier, ja Stadtgespräch, dass die gesamte Kneipen- und Rotlichtszene von mafiösen Ganovenbanden beherrscht wurde. Warum fragt keiner, weshalb der Ganove, der da gestern so spektakulär in Polen verhaftet wurde, schon verhört, aber dann wieder freigelassen worden war. Ein Bauernopfer, um die wahren Hintergründen vertuschen zu können? Oder bin ich voreingenommen, da ich meinen Ex-Fast-Schwiegersohn selbstredend in all seiner Charakterlosigkeit und Gewaltbereitschaft, kennenlernen musste? Kurz durchzuckt mich beim Lesen der Gedanke mich schreibend einzumischen. Aber nein, die Finger weg von davon, und nicht nur, da ich bestimmt absolut parteiisch, auf andere Art also blind wäre...

2000: Am Vormittag schreibe ich das Vorwort für den Gulag-Report von Manfred Peters, den wir in der Zeitzeugen-Reihe herausgeben wollen. Am Nachmittag lese ich „Novembertau“ Korrektur. Gut, dass mein neues Buch nun soweit ist. Danach langsam Einstimmen auf den Abend, wir spielen im Leuna-Klubhaus zum Abi-Ball. Das schien Seni wichtig zu sein, also hatte ich ihm nachgegeben, obwohl ich solche Muggen eigentlich nicht mehr mitmachen wollte. Nun gut, richten wir uns ein...

2007: Branitz. Nahe Pücklers Tumuli („Gräber sind die Bergspitzen/ einer fernen neuen Welt“) sollte/wollte ich Geschichten feilbieten (Parkfest), doch niemand kam. So blickte ich denn aus einsamer Höhe zurück: ja, aus seinem Muskauer Park gelangt man neuerdings über die Neiße bis zum Polenmarkt (solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn…).

2021: Da mittlerweile auch die „Innengastronomie“ wieder frei zugänglich ist, können wir nun heute endlich meinen Geburtstag nachfeiern, gegen ins Leunaer Klubhaus.

 

Fatalismus

für

Julius Adler / Wiktorija Amelina / Alexis Argüello / Willem Johan Cornelis  Arondeus / Wilhelm Friedemann Bach / Michail Alexandrowitsch Bakunin / Nikolai Gennadowitsch Bassow / Fritz Bauer / Pauline Veronica Boty / Marlon Brando / Marcel Breuer / Johan Brouwer / Dennis Emmanuel Brown / Louis-Ferdinand Céline / August Euler / Richard Buckminster Fuller /Carl Albert Fritz Michael Gerlich / Charles Nelson Goodyear / Beate Grimsrud / Laurens Hammond / Heinrich I. / Lonnie Hillyer / Johann Baptist Homann / Gunnar Kalén / Karl Heinz Wilhelm Kapelle / Georg Friedrich Kersting / Benno König / Rudolf von Laban / Michael Landon / Heinrich Leuthold / Philip Charles Lithman / Herbie Mann / Walter Matthau / Anneliese Michel / Guy Mitchell / Robert Mitchum / Richard Bernhard Hermann Mühlfeld / Heinrich Mühlpfordt / Pauli Murray / N!xau / Allan Pinkerton / Otto Ritschl / Harriet Quimby / Erik Satie / Tatjana Nikolajewna Sawitschewa / C. P. Snow / Harriet Beecher Stowe / Claude Martin Thornhill / Ben Turpin / Johannes van Esschen / Dilano van’t Hoff / Luther Ronzoni Vandross / Hendrik Vos / Margot Werner / Hedda Zinner

 

Das erschien uns fatal:

1502 versinken in einem Hurrican vor der Karabikinsel Hispanola 20 spanische Schiffe, alle Seeleute an Bord kommen ums Leben / Lugau, 1867: Bergwerksunglück, 101 Tote / 1916: Beginn der bis Ende November andauernden Somme-Schlacht, über 1 Million „Verluste“ / 1942 versenkt ein amerikanisches U-Boot das japanischer Passagierschiff „Montevideo Maru“, 1053 Todesopfer / Überlingen, 2002: eine Tu-154 kollidiert über der Stadt mit einer Boeing 757, 71 Menschen kommen ums Leben.

 

 

2. JULI

 

Planung

mit

H. G. Adler / Jürg Amann / Alois Andritzki / Muhammad Asad / Hans Beimler / Ruth Berghaus / Marie Bonaparte / Lily Braun / Harriet Brooks / Pierre Cardin / Ludwig Schnorr von Carolsfeld / Josef Benedikt Engl / Medgar Wiley Evers / Gustav Flügel / Rex Gildo / Christoph Willibald Gluck / Josef Guggenmos / Hermann Hesse / Géza Hofi / Vlatko Ilievski / Ahmad Jamal / Helmut Just / Friedrich Gottlieb Klopstock / Patrice Lumumba / Wilhelm von Mirbach-Harff / Zsigmont Móricz / Alekos Panagoulis / Ota Pavel / Julius Carl Raschdorff / Jacopo Sansovino / Wolfgang „Schobert“ Schulz / Johann Staden / Wisława Szymborska / Frank Töppe / Paul Williams

 

Das hielten wir für zielgerichtete Planung:

Perth, 1266: Ende des norwegisch-schottischen Krieges / 1720: Grundsteinlegung für das Mannheimer Schloss / 1877 wird das erste deutsche Reichspatent erteilt / Bodensee, 1900: Start des ersten Starrluftschiffes, des LZ 1 / Leipzig, 1912: die ersten Bände der Insel-Bücherei erscheinen / 1963 tritt der deutsch-französische Freundschaftsvertrag in Kraft, der Élysée-Vertrag / 1972 regeln Indien und Pakistan mit dem Shimla-Abkommen den Grenzverlauf in Kaschmir / 1976 vereinigen sich Nord- und Südvietnam / Kourou, Französisch-Guayana, 1985: Start der europäischen Raumsonde „Giotto“ zur Erforschung des Halleyschen Kometen.

 

Ich notierte:

1990: Tag nach der Währungsunion: ich weiß irgendwie nicht so recht wohin, muss wohl völlig neu anfangen, keine Ahnung, ob das materiell machbar ist. Sarkasmus bis Fatalismus und Alkohol. Nicht wenige Leute scheinen sich zu mühen, ihr letztes Ostgeld zu versaufen, war am 30. Juni Silvester…? Keine Ahnung, wie ich als Schreiber weiter existieren kann, alle Verträge gekündigt, kein aktuelles Projekt mehr. Mal sehen, vielleicht spreche ich morgen mal wieder in Leuna vor, Hilfsarbeiter war ich hier in den Siebzigern ja schon mal, ja, so fühle ich mich: wie in der Leere zwischen Studienabbruch und Familiengründung…

2020: Da das traditionelle Merseburger Schlossfest der Corona-Pandemie zum Opfer fiel, wollte Merseburger Heimatfreunde heute am Todestag Heinrich I. eine kleine Veranstaltung am hiesigen Denkmal des ersten deutschen Königs veranstalten. Ich hatte zugesagt dabei mein Porträt Heinrich I. zu lesen. Der Merseburger Stadtrat (und der dahinter steckende Klüngel) hatten diesen braven Leuten jedoch gehörig Angst eingejagt: ob ihnen nicht bewusst sei, dass sie damit eine Nazi-Veranstaltung des Jahres 1933 kopierten – und dies zudem 88 Jahre danach! Jedermann wisse doch, dass bei den heutigen Nazis die 88 für HH, also für Heil Hitler stünde! Unglaublich – zum einen kann man im Merseburger Rat offenbar nicht gut rechnen (was auch den Schuldenstand der Stadt erklärte), denn es wäre ja erst 87 Jahre danach gewesen, was zum anderen aber gut in die Tradition der Merseburger Jahrtausendfeiern passte: Meine Vaterstadt wurde im Hersfelder Zehntverzeichnis zwischen 830 und 850 ersterwähnt, eine Jahrtausendfeier wäre also in jedem Jahr zwischen 1830 und 1850 sinnvoll gewesen. Nur war damals, vor der Bismarckschen Reichsgründung also, das Nationalbewusstsein noch nicht entsprechend ausgeprägt, so dass dann erst Anfang des 20. Jahrhunderts Leutchen des Merseburger Heimatvereins auf den Gedanken kamen, hier eine Jahrtausendfeier zu inszenieren. Anlass sollte die Krönung Heinrich I. im Jahre 919 sein. Dann machte der Erste Weltkrieg jedoch fast alle Vorbereitungen zunichte. Dennoch fand im Jahr 1919 im Merseburger Schlossgartensalon eine abgespeckte Jahrtausendfeier statt. Um jedoch den Glanz der alten Königsstadt Merseburg im Zuge der einschneidend fortschreitenden Industrialisierung (Leuna!) nicht verblassen zu lassen, begannen die Heimatfreunde Ende der 1920er Jahre mit der Planung einer großen Jahrtausendfeier. Nun sollte als Anlass der Sieg Heinrich I. über die Ungarn bei Riade im Jahr 933 dienen. Anfang 1933 kamen dann aber bekanntlich die Nazis an die Macht. Und die Merseburger Heimatfreunde wollten oder konnten diese Jubelfeier nicht mehr absagen. Der Gipfel dieser Posse ist jedoch, dass im Jahre 1983 eine 1150-Jahr-Feier stattfand – hier also offenbar seit 1933 nicht 50, sondern 150 Jahre vergangen waren. Und der Anlass hierfür spottet jeder Beschreibung: der Erste Sekretär der SED-Kreisleitung wollte/sollte im Jahr darauf in den Ruhestand gehen und wünschte sich davor noch ein gebührendes Fest! Diese Machthaber hatten also letztlich direkt an der Nazi-Veranstaltung angeknüpft… Wenn ich heute am König-Heinrich-Denkmal zu Wort gekommen wäre, hätte ich auch diese Schnorre (begleitet von Drehorgel-Mucki, der mir bereits zugesagt hatte) zum Besten gegeben. Aber so was will in Zeiten hosenscheißerischer polical-Über-correctness will so was ja wohl niemand hören… Gut, schreibe ich’s eben auf

 

Prophezeiung

für

Slavko Avsenik / Reinhard Baumgart / Henriëtte Bosmans / Peter Brook / Ray Brown / Vinzenz Büchel / Pol Chruchten / Costa Cordalis / Émile Coué / Camarón de la Isla / Sophia de Mello Breyner Andresen / Amelia Mary Earhart / Douglas Carl Engelbart / Hans Ertel / John Fitch / Petty Grable / Hasret Gültekin / Samuel Hahnemann / Ernest Hemingway / Trijnte Keever / David Klaus / Alesha MacPhail / Vladimir Nabokov / Nostradamus / Günter Josef Mai / Benno Ohnesorg / Jewgeni Petrow / Carlo Pisacane / Tilo Prückner / Mario Puzo / Bill Ramsey / Jean-Jacques Rousseau / Ferdinand Sauerbruch / Sophie Elisabeth zu Mecklenburg / James Stewart / Lisa Tetzner / Kay Thompson / Bodo Uhse / Kimpa Vita / Elie Wiesel

 

An diesem Tage bestätigten sich uns üble Prophezeiungen:

1816 läuft die französische Fregatte „Meduse“ vor Westafrika auf Grund, mehr als die Hälfte der 400-köpfigen Besatzung stirbt in den nächsten Wochen auf einem selbstgezimmerten Rettungsfloß / Iran, 1957: Erdbeben, 1.200 Tote / Mururoa-Atoll, 1966, Frankreich führt seinen ersten oberirdischen Atomwaffentest durch / Mekka, 1990: bei einer Massenpanik sterben 1.427 Pilger / Sivas, 1993: bei einem Überfall von Islamisten auf ein alevitisches Kulturfestival kommen 30, Menschen ums Leben / Sange, Kongo, 2010: Explosion eines Tanklasters, 271 Todesopfer.

 

 

3. JULI

 

Prozess

mit

Paul Barrère / Fontella Bass / Manfred Bieler / Laura Branigan / Francis Carco / Antoine Duhamel / Andy Fraser / Günter Bruno Fuchs / Charlotte Perkins Gilman / Otto Gotsche / Louis Théodore Gouvy / Leoš Janáček / Franz Kafka / Dorothy Mae Kilgallen / Ferdinand Kürnberger / David MacLennan / Friedrich Overbeck / Charlotte Perkins-Gilman / Peer Raben / Olga Wladimirowna Rosanowa / Ken Russell / George Sanders / Ferdinand Sauerbruch / Ruth Crawford Seeger / Daniel Spitzer / Edward Young / Scheikh Yusuf / Jan Zajíc

 

So schien uns eine guter Prozess in Gang zu kommen:

321: im Römischen Reich gilt ab diesem Tag die Sonntagsruhe / 1608: Gründung von Quebec / New Hampshire, 1869: Start der weltweit ersten Zahnradbahn auf den Mount Washington / Mannheim, 1886: Carl Benz unternimmt eine erste Fahrt mit seinem „Fahrzeug mit Gasmotorantrieb“ / Wien, 1897: das Riesenrad im Prater nimmt den Betrieb auf / 1905 stimmt die französische Nationalversammlung für eine Trennung von Kirche und Staat / 1919 bestimmt die Weimarer Nationalversammlung die Farben Schwarz-Rot-Gold zu den deutschen Nationalfarben / Helsinki, 1973 die erste Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) beginnt / Entebbe, Uganda, 1976: ein israelisches Kommando befreit 105 von palästinensischen Terroristen als Geisel genommene Flugzeuginsassen / 2002 gelingt Steve Fossett die erste Weltumrundung mit einem Ballon / 2016 geht in China das weltweit größte Radioteleskop in Betrieb.

 

Ich notierte:

1980: Wie immer wenn ich ein Buch, das für mich Welt war (zumindest während der Stunden des Lesens), das mich in seinen Bann zog und hielt, spürte ich, nachdem ich die letzten Zeilen gelesen hatte, zum Ende kam, eine tiefe Trauer. Da war irgendwie etwas Endgültiges. Vorbei. Natürlich könnte ich – im Gegensatz zum Leben – gleich nochmals von vorn anfangen, aber dann wäre das wohl eine andere Welt… Heute habe ich „Der Wendpunkt“ von Klaus Mann ausgelesen. Es war phantastisch. Gewiss, da sind sein Herkommen, sein Intellekt, seine Bildung, sein Handwerk, aber irgendwie leuchtete da noch etwas anderes an Möglichkeiten auf.

Mit der Talmi-Musik, mit der ich derzeit mein Geld verdiene, gleich in welcher band, muss Schluss sein. Ich kann mir nicht mehr für Geld ins Gesicht spucken lassen. Alles nur Schminke und Glitzer, alles selten dämlich. Ja, beim ersten günstigen Zeitpunkt springe ich ab. Von diesem Markt muss ich weg. Obwohl ich nicht weiß, ob und wo ich einen anderen finden kann. Trotzdem, diese Art von Musik halte ich nicht mehr aus, auch wenn ich einst jahrelang dafür gekämpft hatte, die Pappe, den Berufsausweis zu kriegen. Und jetzt die Literatur? Ich weiß nicht. Ich weiß aber, dass das eine Existenzfrage ist. Als würde man in ein Bassin springen wollen ohne zu wissen, ob Wasser drin ist. Als äußeres Zeichen könnte ich mir ja den Bart abnehmen. Heute gibt es eh kaum noch vollbärtige Musiker. Überall diese Lackaffen.

1982: Nachdem ich also eine Wochen lang versuchte alle Tagesarbeiten möglichst zu einem Ende zu bringen, um endlich wieder den Kopf frei zu bekommen, bin ich heute mit Jeanny und Cathi weggefahren. Ortsveränderung. Stolpe bei Kyritz, Bungalow des Betriebes meiner Mutter inmitten anderer Betriebsbungalows. See in der Nähe – und noch mehr Wasser von oben… Schon das Herkommen war mühselig, wir brauchten mehr als sechs Stunden für die rund 250 Kilometer. Dreimal gerieten wir auf der Autobahn in einen Stau, so was kannten wir bislang nur aus dem (West)Fernsehen.

1990: Waren letzte Woche alle Läden wie ausgeraubt, gab es vor der Währungsunion so gut wie nichts mehr zu kaufen hier, bildeten sich vor Tankstellen hysterisch Schlangen, fehlen nun, nach vollzogener Währungsunion noch immer Lebensmittel. Heute beispielsweise gab es in Leuna kein Brot. Gestern Abend erkannte der Haushaltsausschuss der Volkskammer den Künstlerverbänden die Gemeinnützigkeit ab, strich auch alle Fördergelder. Das ist also auch das Aus für den Schriftstellerverband. Was für ein Generalangriff für Leute, die potentiell links eingeordnet werden…! Aber nun ist dem individuellen Schaffen jede Freiheit eröffnet. Ich ahne, dass ich mich bald in den Schlangen vorm Sozialamt einreihen muss.

1999: Nun scheint es auch in Deutschland brütend heiß zu werden. Mit Mine, Cathi und Jeanny fahre ich am Vormittag nach Halle, da ein Produkt, meines kleinen Projekte Verlages, ein Kinder-Kunst-Kalender, Premiere hat. Mal wieder ganz was anderes. Aber ich empfinde meine vielseitigen Alltagsbeschäftigungen nicht (mehr) als Zersplitterung, sondern als anregend, als Herausforderung im positiven Sinne. Am Nachmittag komme ich im Garten endlich dazu ein neues Buch von Dr. Pleßke: „Zuspruch und Tröstung - über Ernst Wiechert“ (darin auch ein interessanter Artikel über die Beziehung zwischen Ernst Wiechert und Walter Bauer) zu lesen und ihm danach einen Brief zu schreiben.

2000: München. Noch immer dieser Dauerschnupfen, diese schlimm brennenden Augen. Aber natürlich kümmere ich mich mit Rüdiger im Deutschen Museum um die letzten Ausstellungsdetails. Sieht gut aus hier, das Ganze, der Raum ist großzügiger als der in Bonn, so kommen auch meine großen Sachzeugen, die eigens besorgt werden mussten, um eine Verbindung zur rein technischen Ausrichtung des Deutschen Museums zu finden, sehr gut zur Geltung. Am Abend steht alles, kann die Eröffnung kommen. Ich fand zwischendurch sogar mal immer ein paar Minuten Zeit, um durch die eine und andere Hausausstellung zu laufen, Flugzeugtechnik, Raumfahrt, Pharmazie und selbstredend Chemie. Am Abend mit Rüdiger wieder zum Essen, dieses Mal in die Innenstadt. Vorzüglicher Krustenbraten! Danach wird’s noch spät, da im Hotel schon die ersten Leutchen aus anderen Projektgruppen angereist sind, man sich am Hallentresen trifft.

2021: Heureka – nun haben Jeanny und ich wir auch die zweite Impfdosis intus! – und wie jüngstens empfohlen sogar als Kreuzimpfung (nach dem Astra­Zeneca-Vakzin im April nun Biontech). Möge es nützen.

2022: Sonntag, wunderbares Sommerwetter. Am Nachmittag trete ich mit dem Paul Bartsch Trio in der Merseburger Sixti-Ruine im Rahmen eines Open Air Festivals auf, spiele einige ihrer Titel mit und lese. Am Abend im Fernsehen Bilder vom Abbruch des Marmolada-Gletschers. Zu Tal stürzende Eismassen erschlagen etliche Wanderer. Mein Gott, da liefen wir erst vor wenigen Tagen…

 

Panik

für

Gertrude Abercrombie / Jorge Enrique Adoum / Tadeusz Borowski / Giuseppe Cesari / André Citroën / Johnny Copeland / Theodor Herzl / Herta Heuwer / Brian Jones / Josef Lenzel / Little Crow / Alexander Lernet-Holenia / Peter Ludwigs / Štefan Lux / Walter Markov / Achmad Mochtar / Jim Morrison / Candelario Obeso / Aonio Paleario / Mordechai Richler / Sarah Schumann / Franz Wilhelm Seiwert / Lew Semjonowitsch Sosnowski / Johann Just Winckelmann / Alexander Melentjewitsch Wolkow / Daniel Zamudio Guerrero

 

Da spürten wir Panik ausbrechen:

1568 standen in Merseburg „drey sonnen“ am Himmel / 1721 kolonisiert Dänemark Grönland / 1778: Ausbruch des „Kartoffelkrieges“ zwischen Preußen und Österreich / Santiago de Cuba, 1898: die amerikanische Schiffe vernichten die spanische Atlantikflotte, 343 Seeleute fallen / Mers-el-Kébir, Algerien, 1940: britische Schiffe versenken einen Teil der französischen Flotte, 1.147 Todesopfer / 1970 stürzt eine De Haviland Comet in der spanischen Sierra del Montseny ab, alle 112 Insassen sterben/ 1988 schießt der US-Kreuzer „Vincennes“ einen iranischen Airbus A300 über dem Persischen Golf ab, 290 Menschen kommen ums Leben / 2023:  mit durchschnittlich 17,01°C weltweit heißester Tag seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.

 

4. JULI

 

Buchstabieren

mit

Johannes Aventius / Jean-Pierre Françoise Blanchard / Stephen Boyd / Robert Desnos / George Everest / Stephen Collins Foster / Giuseppe Garibaldi / Christian Fürchtegott Gellert / Samuel Gottlieb Gmelin / Nathaniel Hawthorne / Kyokutei Bakin / Christine Lavant / Gertrude Lawrence / Henrietta Swan Leavitt / David McWilliams / Mitch Miller / Usama ibn Munqidh / Anton Borissowitsch Nossow / Christian Reichart / André Spitzer / Gloria Stuart / Władysław Tarnowski / Carlo Sigmund Taube / Taufu’ahau Tupou IV./ Alan „Blind Owl“ Christie Wilson / Bill Withers

 

Das ließ sich gut buchstabieren:

1376: Gründung des Schwäbischen Städtebundes / 1776: Verabschiedung der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika durch den zweiten Kontinentalkongress / 1840: nimmt die Cunard Line den regelmäßigen Dampfschiffverkehr zwischen Liverpool und Halifax /Boston auf 1892 wechselt Samoa auf die östliche Seite der Datumsgrenze / 1913 erhält Fritz Klatte das Patent zur Herstellung von PVC / 1946 werden die Philippinen unabhängig von den USA / Bern, 1954: die deutsche Fußballnationalmannschaft wird erstmals Weltmeister / Chaguaramas, Trinidad, 1973: Gründung der Karibischen Gemeinschaft / 1997 lander die NASA-Sonde „Pathfinder“ auf dem Mars / 1998 startet Japan seine erste Forschungsraumsonde „Nozomi“ / 1999 finden Raubgräber die Himmelsscheibe von Nebra / New York, 2004: Grundsteinlegung für das One World Trade Center am Ground Zero / 2016 erreicht die Raumsonde „Juno“ den Jupiter.

 

Ich notierte:

1982: Sonntag. Unglaubliche Ruhe ohne rumorendes Dröhnen, ohne all die Leuna-Vibrationen im Hinterkopf, Blätterrauschen, Vogelgezwitscher. Und ich habe gut und fest geschlafen und geträumt und bin mir nun sicher, dass man im Traum auch riechen kann, Angenehmes.

1986: Gäbe man meine Grundidee für „Annäherungsversuche“, samt „Lichtmeß und Jasmin“ in einen Computer ein, würde der wohl die Hauptfiguren verblöden lassen. Immerhin wäre das nicht der zwangsläufige Verlust der physischen Existenz. Ein Fortschritt also. Heureka!

1987: Um überhaupt noch Schreiben zu können, werde ich wohl immer mehr Verdrängungsenergie aufbringen müssen.

1999: Am Vormittag arbeite ich eine „Alt-Schuld“ ab, recherchiere für Jan de Piere Beziehungen zwischen seiner und meiner Heimat, zwischen Flandern und dem Merseburger Land.

2000: München. Am Morgen geht’s mit etwas besser, die Augen tränen und schmerzen nicht mehr so arg. Also auf ins Deutsche Museum zur Pressekonferenz. Hochkarätige Besetzung: Der Chef des Hauses: Prof. Fehlhammer, dann auch wieder Prof. Knopp, Herr Gerstberger usw. usf., doch es erscheint nur eine Journalisten... In München scheint etwas, wir unsere Ausstellung schlichtweg nicht spektakulär genug. Mittagessen mit den hohen Herren, dann die eigentliche Eröffnung im Ehrensaal. Ich habe auch wieder zu reden, komme offenbar auch ganz gut an, werde danach von einigen der anwesenden Kuratoren, so dem ehemaligen bayrischen Kultusminister Prof. Maier angesprochen, und es gibt einige recht intensive und interessante Gespräche. Nach dem Empfang zum Umtrunk mit den Projektleuten ins „Gasthaus in der Au“ (jo mei...), dann noch bis Mitternacht die Hotelhalle...

2012: Vielsalm. Zurück aus St. Vith (von einer Lesung im nur wenige Kilometer entfernten deutschsprachigen Teil Belgiens) versuche ich in unserem wallonischen Hotel am Abend fern zu sehen. Trotz Satellitenempfangs gibt es aber nur reichlich französische, einige niederländische und wenige englische Programme, keine deutschen, absolutement non. So viel also zu europäischen Grenzen, Begrenzungen, Begrenztheiten.

2022: Walter-Bauer-Jury im Merseburger Ständehaus. Von 9 geladenen Juroren sind nur 3 anwesend, 5 haben sich immerhin entschuldigt. Nun gut. Meine Vorschläge für den Preis (Daniela Danz) und das Stipendium (Anna Mochar) gehen glatt durch. Gut so.

 

Besiegelung

für

Barış Akarsu / Boris Jean Bestianek / Chaim Nachman Bialik / John Blackwell jr. / Alan Tudor Blaikley / Erwin Blumenfeld / Johann Gottfried Borlach / Marie Curie / Gonzalo Curiel / Ernst Däumig / François-René de Chateaubriand / Francisco del Rosario Sánchez / Tom Disch / Goryeo / Daniil Alexandrowitsch Granin / Gottfried Hagen / Thomas Jefferson / Abbas Kiarostami / Max Klinger / Rick Laird / Valeriu Marcu / Samuil Jakowlewitsch Marschak / Yonatan Netanyahu / Barnett Newman / Johannes Petrus Minckeleers / August Peters / Astor Piazolla / Fritz Reuter / Samuel Richardson / Robert Norman „Bob” Ross / Alan Seeger / Henrik Stangerup / Theodor Storm / John Stubblefield / Richard Teschner / Robert H. Vance / Vivekananda / Louis Wain / Barry White

 

An diesem Tag wurde uns etwas endgültig besiegelt:

1190: Beginn des Dritten Kreuzzuges / 1898: der Passagierdampfer „La Bourgogne“ wird vor Nova Scotia von einem englischen Segelschiff gerammt und sinkt, 565 Todesopfer / Rieseberg, 1933: SS-Leute ermorden 11 KPD-Mitglieder / Kielce, 1946: bei einem Pogrom werden durch Polen mehr als 40 Juden ermordet / Irkutsk, 2001: beim Landeanflug stürzt eine Tu-154 ab, alle 145 Insassen kommen ums Leben.

 

 

5. JULI

 

Meldung

mit

Ahkal Mo’ Nahb I. / Akashi Kaijin / Alexe Altenkirch / Aziz Atiya / P. T. Barnum / Paul Ben-Chaim / Michael Blake / Hanuš Bonn / Jean Cocteau / Walter Matthias Diggelmann / Mac Dre / Rutilio Grande García / Walter Gutbrod / Ludwig Friedrich Theodor Hain / Hazrat Inayat Khan / Thomas Hooker / Lauge Koch / Günther Krupkat / Reimar Lenz / Smiley Lewis / Len Lye / Constantino Nivola / John Howard Northrop / Sergei Wladimirowitsch Obraszow / Ivo Pitanguy / Thomas Stamford Bingley Raffles / Robbie Robertson / Sarah Siddons / Sony Lab’ou Tansi / Felix Timmermans / Willy Wolff / Clara Zetkin

 

Solche Meldung hörten wir gern:

Iglau, 1436: Ende der Hussitenkriege / 1732 „abends um 5 uhr kamen 550 Mann vertriebene Saltzburger in die Stadt Merseburg, unterwegs sungen sie erbauliche Lieder, Erstlich wurden sie alle aufs Rath-Hauß geführet, und hernach nahmen sowohl Adlige als Bürgerliche solche in ihre Häußer und speisten sie herrlich. Nächsten Tags zogen sie durch den Neumarckt nach Halle, die Fürstl. Herrschaft, Dom-Capitul, Amt und Stadt alhier haben etliche 100 Thaler unter sie augetheilet“ / 1811: erklärt Venezuela seine Unabhängigkeit von Spanien / England, 1841: Thomas Cook organisiert die erste touristische Gruppenreise / 1921: Ende des Dritten Oberschlesien-Aufstandes / 1922: Einführung des Nansen-Passes für Staatenlose und Emigranten / Memphis, Tennessee, 1954: Elvis Presley nimmt seinen ersten Song auf / 1962 wird Algerien unabhängig von Frankreich / 1975 erklärt Kap Verde seine Unabhängigkeit von Portugal / Schottland, 1996: das geklonte Säugetier, Schaf Dolly, wird geboren.

 

Ich notierte:

1981: Was so unendlich langweilt an Muggentagen: das Phantasielose, Mechanische der Abläufe. Man weiß schon vorher genau, wie alles wird. Fahrt, Aufbau, spielen vor stets gleicher Lieder vor stets gleichem Publikum, Abbau, Fahrt. Daran ändert sich nichts, auch wenn „Außergewöhnliches“ passiert. Doch selbst solche „Störungen“ sind mechanisch. Man denkt nur, wenn überhaupt, an schnelle Beendigung, ans Geld. Das ist also Arbeit. Diese Tage sind verloren, man hat sie schon vor dem Aufstehen durchlebt. So kann nichts mehr reizen. Und wie gesagt, alles was dann kommt, ist langweilig… Wenn allerdings etwas von dem, was sich derzeit abzeichnet, klappen würde – Fördervertrag vom Leuna-Werk, Mitarbeit im Org. Büro Kinder- und Jugendliteraturtage – könnte ich dieser Langeweile wohl entfliehen. In eine neue Langeweile? Aber die neuen Abläufe wären erst zu erleben, zu meistern…

1982: Kyritz. Gegen 5 Uhr wache ich vom Vogelkonzert auf, gehe zum See hinunter, erlebe etwas wie eine andere Welt. Solche Welten scheinen auf einen Ort lokalisiert, wenn man sie denn sehen will und kann. Jede Realität ist unendlich vielschichtig. Schreiben heißt dann also, stets an möglichst allen Orten zu sein. Alles andere verengt, schränkt ein.

1998: In London sollten wir jetzt eigentlich sein, Sloane Square Moat House, und Oxford und Stonehenge längst gesehen haben. Die Freunde, mit denen wir reisen wollten, gerieten jedoch in Geldnot, und aus Solidarität oder so fuhren wir schließlich nur zum Seddiner See. Allein. Bei Dauerregen und empfindlicher Kühle war da allerdings kein Bleiben. Und daheim höre ich des Nachts nun plötzlich ein Käuzchen schrein. Bin ich hellhörig geworden? Oder sollte mir dieser Tage mal wieder etwas gestorben sein?

2000: Gegen zehn ruft Seni an und hat eine unglaubliche Nachricht, Tom, unser alter Kumpel, ist heute gestorben. Am Freitag war er noch bei unserem ersten Oldie-Abend, zu meinem Geburtstag saß er noch in meinem Garten, im vergangenen Jahr feierten wir seinen 50. Geburtstag... Meingott.

2005: Schengen. Die Dorfstraße hinauf und hinab und sogleich das Gleiche retour und retour. Dennoch vermag ich (trotz bestem Willen) nichts, nichts zu entdecken, was der Größe des Ortsnamens auch nur vage entspräche. Tankstellen, Tankstellen allerdings zähle ich wohl ein Dutzend. Und am Ufer der Mosel endlich zu lesen, dass hier am 19. Juni 1990 das Schiff vertäut lag, auf dem das historische Abkommen… Bleibt zu tun, was offenbar alle Deutschen tun, die die offene, völlig offene Grenze nutzen, also zu tanken, billigst zu tanken.

2020: Derzeit entdecke ich mir den großen Schriftsteller Emmanuel Carrère, auf dessen Werk ich durch einen Zufall stieß, mich rasch begeistert festlas. Insbesondere sein Meisterwerk „Limonow“ hat es mir angetan, nicht zuletzt, da ich die Hauptfigur, diesen bizarren russischen Schriftsteller, anfangs für eine Erfindung Carrères hielt, dann aber begriff, wie genial er historische Fakten nutzte, um ein beeindruckendes Porträt dieses Mannes und zugleich eine tieggründige, überzeugende Darstellung jüngerer sowjetisch-russischer Geschichte zu schreiben. Wie real Limonow ist wurde mir klar, als bei Carrère Anatoli Pristawkin auftaucht, der Limonow aus dem Knast holt. Tatsächlich war Pristawkin Vorsitzender der Begnadigungskommission unter Jelzin, und als er Gast der InterLese war, lasen wir beide zusammen in Magdeburg, diskutierten. Und da der Veranstalter versäumt hatte, für mich ein Hotelzimmer zu bestellen, Pristawkin aber ein Doppelzimmer hatte, saßen wir beide schließlich bei einem (oder zwei?) Fläschchen Wodka in seinem Zimmer zusammen, diskutierten, diskutierten, und schnarchten zu guter Letzt nebeneinander auf dem Doppelbett. Als ich Limonow, Edward google, sehe ich, dass er vor wenigen Monaten verstarb.

2021: Bei Recherchen zu meinem neuen Band „Merseburger Persönlichkeiten“ war ich mit Leuten in Kontakt gekommen, die sich um die Überreste des altehrwürdigen Merseburger Petri-Klosters bemühen. Heute war ich nun eingeladen, ihr Ausgrabungsgelände zu besichtigen. Sehr eindrucksvoll, was sie das in den letzten Jahren alles geleistet haben, so fanden und identifizierten sie beispielsweise das Kopfnischengrab Bischof Werners, des Parteigängers Rudolfs von Schwaben, der ja im Merseburger Dom begraben liegt. Wir haben auch ein sehr gutes Gespräch, sehen Identitätsfindungsprozesse im Osten Deutschlands offenbar ähnlich. Ich sichere Ihnen zu, dass ich sie in ihrem Bemühen gern unterstütze. Mein Porträt Bischof Werners könnte da ja schon mal ein Anfang sein.

2023: Zunehmend kommen mir meine Alltage wie jene in den letzten Wochen meiner Wehrpflichtzeit vor: ein laues Warten auf einen Endpunkt hin, der unbeeinflussbar feststeht.

 

Meditation

für

Nasr Hamid Abu Zaid / Karl Johan Andersson / Francesco Anzani / Wilhelm Backhaus / Georges Bernanos / Jürgen Brinkmann / Henri Gaudier-Brzeska / Paul Busson / Raffaela Carrà / Manny Charlton / Antonio de Nebrija / Paul Drude / Carl Einstein / Wilhelm Florin / Pierre Gassmann / Alfred Gerhardt / Shirley Goodman / Walter Gropius / René Harris / Lisa Jobst / Kusunoki Masashige / Carole Landis / Claude Lanzmann / Coco Lee / Jonas Lie / Misa g Medzarents / Wladimir Walentinowitsch Menschow / Tomasz Napoleon Nidecki / Joseph Nicéphore Niépce / Betty Paoli / Jules Pascin / Paul Raabe / Thomas Stamford Bingley Raffles / Philipp Remelé / Johann Gabriel Schleich / Werner Schinko / Giovanni Scuderi / Thea Sternheim / George Johnston Stoney / Sirarpi Mihrani Ter-Nersessjan / Thaddäus Troll / Cy Twombly / Syreeta Wright

 

So etwas ließ sich durch meditieren nicht verdrängen:

1778: Beginn des Bayerischen Erbfolgekrieges / 1783 bricht in Island die Laki-Spalte erstmals und bis Oktober noch mehrmals mit verheerenden Folgen für das Weltwetter aus / 1884 wird Togo deutsche Kolonie / 1941: Beginn des Peruanisch-Ecuadorianischen Krieges / 1970 stürzt bei Toronto eine DC-8 ab, alle 108 Insassen sterben / Laarba, Algerien, 2002: bei einem Bombenanschlag kommen 50 Menschen ums Leben /

 

 

6. JULI

 

Swing

mit

Imad ad-Din al-Isfahani / Carin Sophie Adlersparre / LaVerne Sofie Andrews / Arakama Shūsaku / Emil Barth / Ned Beatty / Louie Bellson / Marc Bloch / Hélène Carrére d’Encausse / Roger Cicero / Johann Gustav Droysen / Hanns Eisler / Walter Flex / Oswaldo Guayasamín / Bill Haley / Jet Harris / Bessie Head / Verner von Heidenstam / Murad Wilfried Hofmann / Phyllis Hyman / Frida Kahlo / Paul Keller / Janet Leigh / Eino Leino / Hilary Mantel / Maximilian I. / Heinz Neumann / Della Reese / Alexander Wilson / Gerd Zacher / Unica Zürn

 

Das beschwingte uns:

969: Gründung von Kairo / 1785 wird der Dollar Währung in den USA / 1885 impft Louis Pasteur erstmals einen Patienten gegen Tollwut / 1909: Inbetriebnahme der Eisenbahn-Fährverbindung zwischen Sassnitz und Trelleborg / 1919: erreicht das britische Luftschiff „R 34“ nach der ersten Nonstop-Atlantik-Überquerung Mineola in den USA / Görlitz, 1950: Festelegung der Oder-Neiße-Linie als Grenze zwischen er DDR und Polen / 1964 wird Malawi unabhängig von Großbritannien / 1975 erklären die Komoren ihre Unabhängigkeit von Frankreich.

 

Ich notierte:

1981: Wohl nie decken sich Vorstellung und Realität. Doch umso weiter sie auseinanderklaffen, desto phantasieloser, lebensunwürdiger muss die Realität sein. Solche Tristesse lässt sich nicht vorstellen. Wie sehr hatte ich mich doch auf den heutigen Tag gefreut: letzter Tag des Studiums. Und dann waren nach der Diplomfeier plötzlich alle, mit denen man drei Jahre lang zusammen war, verschwunden.

1982: Kyritz. Gestern Abend klopfte es. Ein Polizist. Ob wir aus Dessau seien oder jemand kennen würden, der aus Dessau hier sei? Hä? Ich gehe vor die Tür und sehe, wie ein kleiner, drahtiger Mann in blauem Trainingsanzug mit rotem Latz auf eine zweiten Polizisten einredet, ihm zu befehlen scheint. Der Kerl war mir schon Sonntag aufgefallen, wie er intensiv über unsere Hecke starrte. Horch & Guck? Und heute Morgen kommt er wieder wie zufällig vorbei und grinst, als er sieht, dass ich erschrecke… Heute bestaunen wir den Kahlbutz, der hier ganz in der Nähe, in Kampehl, begraben liegt, doch nicht verwesen will. Alles Mysteriöse wird jedoch von kitschigen Andenken – von Bierkrügen mit Kahlbutz-Konterfei, Wandteller mit Kahlbutz-Konterfei… - entwertet. Trotzdem.

1999: Nachdem in der Nacht eine Gewitterfront durchzog, dass es nur so krachte, ist es am Morgen jedoch erträglicher. Nicht mehr diese lähmende Schwüle. Ich sitze den ganzen Vormittag über Verträgen und Projektplanungen. Seni kommt, um unseren Beatles-Abend genau durchzusprechen. Dabei kommt man mal wieder ins Klönen, nähert sich so auch nach jahrelanger „Sendepause“ weiter an. Ich übernehme schließlich zusätzlich die Ausarbeitung eines Quiz. Später ärgere ich mich ziemlich über den Anruf einer Merseburger Museumsmitarbeiterin, die vor Wochen einen Artikel für den nächsten Heimatkalender bestellte, den ich damals auch schrieb, der nun aber nicht zu passen scheint. Obwohl er kurz die letzten 100 Jahre Merseburger Geschichte umreißen sollte, ist er ihnen nun angeblich zu kurz geraten, außerdem zu rhetorisch, da ich mir am erlaubt hatte zu fragen, wann eigentlich (wenn nicht zur Jahrtausendwende) mal die Merseburger Zaubersprüche (die nach wie vor jämmerlich präsentiert werden) eine gebührende Präsentation erfahren. Ich sollte also mehr schreiben, aber Fragen rausstreichen, doch für den Artikel kein Honorar bekommen. Es sei doch eine Ehre... Ich kenne das allerdings so: Wer zahlt bestimmt (zumindest die Kompromisse)...

2000: Am Morgen nach Zerbst, Schreibwerkstatt in der Grundschule 4, das gehört schon zur guten Tradition, dass ich einmal im Jahr hier bin. Entsprechend gut ist alles vorbereitet, entsprechend motiviert sind die Kinder. Von Zerbst nach Gräfenhainichen und Sandersdorf – Abholung von Bücherkoffern des Bödecker-Kreises, die mit Schuljahresbeginn anderen Schulen zur Verfügung gestellt werden sollen, und dazwischen Absprache mit Organisationsdamen der kommendem Landesliteraturtage in Bitterfeld. Zu Hause etliche Büroarbeit, dann zu Seni. Wir besprechen, was nach Toms Tod zu tun ist. Nächsten Freitag soll schon die Beerdigung sein. Das ist alles nicht so recht fassbar.

2020: Frauen fordern wohl liebend gern verbale Liebesbeweise ein (Hollywood lebt davon). Jeanny drängt derzeit zwar nicht, dennoch kommt mir in den Sinn, dass es mir damals, als wir uns begegneten, schlagartig klar war, dass sie es sei, welche… Punktum. Jahrelang hatte ich mir pubertierend vorzustellen versucht, wer denn letztlich Morgen für Morgen neben mir aufwachen würde… (Gut, ob meines apnoischen Schnarchens wachen wir mittlerweile in anderen Räumen unseres Hauses auf.) Aber sonst – niemand aus der „alten Clique“ hätte uns eine dauerhafte Beziehung zugetraut. Nun aber sind wir (und trotz kaum vernarbender gegenseitiger Verletzungen) nach einem halben Jahrhundert die Einzigen, die noch… Such ist life (auch das sind – ebenso wie die ewig hollywoodmissbrauchten) drei Worte.

2022: Am Nachmittag im Archiv der Stadt Leuna Ratifizierung meiner durch Corona fast zwei Jahre verschobenen Schenkung an die Stadt, die meinen Kunstbesitz erhalten soll, so wie mit Merseburg bereits länger vereinbart ist, dass ins dortige Archiv all meine literarischen Sachen gehen. Nur geladene Gäste, Abgeordnete und Urbans (Klaus gestaltete im Leseraum des Archivs eine Art Ausstellung einige meiner geschenkten Grafiken und Bücher). Ich lese aus einigen der geschenkten Bücher, dann Umtrunk mit dem neuen Bürgermeister.

 

Short Story

für

Kurt Adler / Delmira Agustini / Wassili Pawlowitsch Aksjonow / Hisham al-Hashimi / Bohdan-Ihor Antonytsch / Joe Appiah / Ariost / Louis Armstrong / Rafael Cansinos Assenz / Chajim b. Mose Attar / Skip Battin / Sophie Blanchard / August Borsig / Cameron Boyce / William Byrd / James Caan / Marc Chagall / Thomas Davenport / Julia de Burgos / Guy de Maupassant / Giovanni de’ Grassi / William Faulkner / João Gilberto / Maria Goretti / George Grosz / Walter Hollitscher / Jan Hus / Vlatko Ilievski / Martin Jahn / Kikuchi Masabumi / Otto Klemperer / Scott LaFaro / Horst Lange / Nestor Iwanowytsch Machno / Van McCoy / Wilhelm von Mirbach-Harff / Ennio Morricone / Thomas Morus / Aziz Nesin / Georg Simon Ohm / Abai Qunanbajuly / Odilon Redon / Regiomontanus / Joaquín Rodrigo / Granville Sharp / Claude Simon / Własyslaw Szpilman / Fritz Teufel

 

Das verbot sich uns selbst für eine Short Story:

Punta Morguillas, Chile, 1928 strandet die „Angamos“, 283 Tote / Hartfort, Connecticut, 1944: bei einem Brand in einem Zirkus sterben 168 Menschen / 1967: Beginn des Biafra-Krieges / Langenweddingen, 1967: Zugunglück, 94 Todesopfer / 1988 explodiert die Bohrinsel „Piper Alpha“ in der Nordsee, 167 Arbeiter kommen ums Leben.

 

 

7. JULI

 

Ausstellung

mit

Israel Aharoni / ’Abd al-Wāhid al-Marrākuschī / Yann Arnaud / August von Sachsen / Reinhard Baumgart / Gintaras Beresnevičius / Marc Chagall / Gottfried von Cramm / George Dewey Cukor / Toto Cutugno / Vittorio De Sica / Elisabeth von Thüringen / Eduardo Falú / Ernest Farrar / Adolph Johannes Fischer / Lion Feuchtwanger / John „Ecstasy“ Fletcher / Mary Ford / Ludwig Ganghofer / Joseph-Marie Jacquard / Anton Karas / Batscho Kiro / Ernst Klett / Gustav Knuth / Jakub Kolas / Miroslav Krleža / Janka Kupala / Toivo Kuula / Maksym Jewhenowytsch Lewin / Lorenz Lotmar / Gustav Mahler / Gian Carlo Menotti / Henry „Hank“ Mobley / Ludwig Pfältzer / Virgina Rappe / Larry „Rhino“ Reinhardt / Ottorino Respighi / Félicien Rops / Anatolij Schtscherbatjuk / Ernst Solèr / János Székely / Esmée van Eeghen / Fritz Wehrmann / Ian Wilmut / Josef Winckler / Nikos Xylouris /Joe Zawinul / Rosel Zech

 

Das stellten wir gern aus:

Leipzig: 1880. erstmals erscheint „Der Duden“ / 1886 nimmt diem erste Dampfstraßenbahn zwischen Doberan und Heiligendamm den Betrieb auf / 1918 schließen Monaco und Frankreich einen Schutzvertrag / 1927 beschließt der Deutsche Reichtag das „Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ / Berlin, 1976. Eröffnung des ersten deutschen Frauenhauses / 1978 werden die Salomonen unabhängig von Großbritannien / Aden, 1994: Wiedervereinigung des Jemen / 2007 findet in sieben Metropolen weltweit das Konzert „Live Earth“ für Klimaschutz statt und wird live übertragen / Kentucky, 2023: die USA vernichten ihre letzten Chemiewaffen.

 

Ich notierte:

1980: Wie im Rausch eine Miniatur runtergeschrieben. Irgendwie glaube ich langsam den Literaturinstituts-Ballast abwerfen zu können, all das, was man beim Studium übers Schreiben gelehrt bekam und lernen musste, was aber erstmal zu Hemmungen führt, endlosen Hemmungen, bis man sich das Abenteuer Schreiben neu entdeckt.

1982: Regen prasselt die ganze Nacht über aufs Dach. Gegen Morgen träume ich einen Traum, den ich wohl schon des Öfteren träumte: Ich fahre (dieses Mal mit einer Gruppe von Schriftstellern) im Bus nach West-Berlin. An der Grenze endlose Verzögerungen, Kontrollen über Kontrollen – und schon bin ich wach.

1999: Die ganze Nacht über hat es schwer geregnet. Am Morgen nach Halle, ich muss mal wieder in die „Lehrgangs-Bütt“, vier Stunden lang referieren. Zu Hause schnell was essen, Mine aus dem Kindergarten abholen (um endlich mein gestriges Versprechen einzulösen), dann die Bassgitarre gegriffen und nach Merseburg in die „Ölgrube“, wo am Freitagabend der Beatles-Abend „steigen“ soll, zur Generalprobe. Es wird ernsthaft geübt, aber auch viel gelacht. Fans bringen alte Klampfen und Verstärker, die wir zu einer kleinen Ausstellung arrangieren. Abläufe werden durchgesprochen. Na ja, mal sehen, was das wird - mein erster Auftritt als Rockmusiker seit fast zwanzig Jahren... Auf jeden Fall weiß ich (wieder), dass es ein schönes Gefühl ist, in einer Band mit Gleichgesinnten zusammen zu spielen - das was rauskommt, ist mehr als die Summe der Einzelleistungen... Und ein bisschen wird mir auch schon klarer, dass einer der Gründe dafür, warum ich damals die Bassgitarre an den berühmten Nagel hing, war, dass ich für bestimmte Titel, Jazzrock vor allem (auf den ich mich kapriziert hatte) an Leistungsgrenzen angekommen war, insofern auch an mir als Musiker schlechthin zweifelte. Beatles-Titel und zumal just for fun (und nicht zum Gelderwerb) gespielt, bringen einen fast zu den enthusiastischen Anfängen, in die Sechziger zurück...

2020: Frauen forndern wohl liebend gern verbale Liebesbeweise ein (Hollywood lebt davon). Jeanny drängt derzeit zwar nicht, dennoch kommt mir in den Sinn, dass es mir damals als wir uns begegneten, schlagartig klar war, dass sie es sei, welche… Punktum. Jahrelang hatte ich mir pubertierend vorzustellen versucht, wer denn letztlich Morgen für Morgen neben mir aufwachen würde… (Gut, ob meines apnoesen Schnarchens wachen wir mittlerweile in anderen Räumen unseres Hauses auf.) Aber sonst  – niemand aus der „alten Clique“ hätte uns eine dauerhafte Beziehung zugetraut. Nun aber sind wir (und trotz kaum vernarbender gegenseitiger Verletzungen) nach einem halben Jahrhundert die Einzigen, die noch… Such ist life (auch das sind  – ebenso wie die ewig hollywoodmissbrauchten) drei Worte.

 

Autodafé

für

Nikolai Samuilowitsch Abelman / Syd Barrett / Gottfried Benn / Oskar Marcus Bider / Artur Brauner / Johann Christian Buxbaum / Rudi Carrell / Adolph Diesterweg / Arthur Conan Doyle / Pernette du Guillet / Hugo Makibi Enomiya-Lassalle / Friedrich Wilhelm III. / Ub Iwerks / Bunk Johnson / Arngrímur Jónsson / Herman Kahn / Alter Kacyzne / Tile Kolup / La Buse / Goffredo Mameli / Donald Michie / Jovenel Moïse / Theodore „Fats“ Navarro / Nhất Linh / Olga Friederike Oppenheimer / Tilman Riemenschneider / Erich Franz Emil Salomon / Johanna Spyri / Suzuki Harunobu / Alexander Christian Friedrich von Württemberg / Mia Katherine Zapata

 

Da fühlten wir uns verbrannt:

1898 beschließen US-Senat und -Repräsentantenhaus Hawaii zu annektieren / 1937: Beginn des zweiten Chinesisch-Japanischen Krieges / Herborn, 1987: ein Tanklastzug rast in eine Eisdiele, sechs Menschen sterben / Bur Sudan, 2005 nach dem Start stürzt eine Boeing 737 ab, 116 Todesopfer / London, 2005: Bombenanschläge in der U-Bahn, 56 Menschen kommen ums Leben.

 

 

8. JULI

 

Sketch

mit

George Antheil / Ernst Bloch / Fred Holland Day / Jean de La Fontaine / Billy Eckstein / Arthur Evans / Marty Feldman / Andrew Fletcher / Artemisia Genteleschi / Miriam Goldschmidt / Robert Greene / Gertrud Grunow / Clement Hugh Gilbert Harris / Walter Georg Alfred Hasenclever / Josef Hora / Stevan Jelovac / Louis Jordan / Johanna Kinkel / Käthe Kollwitz / Albert Langen / Hans Leicht / Vatroslav Lisinski / Mindon Min / Pelle Molin / Julius Mosen / Oleh Olexandrowytsch Oltschytsch / John Stith Pemberton / Fritz Perls / Nikolai Nikolajewitsch Polikarpow / John D. Rockefeller Sr. / Eugen von Schlechtendahl / Leonora Christina Ulfeldt / Johann Carl Weck / Reinhard Weisbach / Ferdinand von Zeppelin

 

Das brachte uns zum Lachen:

1630 feiert die Massachusetts Bay Company erstmals Thanksgiving / Dresden, 1836: Gründung der Sächsischen Dampfschifffahrt / 1930 verkehrt die Zugspitzbahn erstmals von Garmisch-Partenkirchen bis zum Schneefernerhaus / München, 1952 werden in Deutschland die ersten Zebrastreifen angelegt / 1960: eine der höchstgelegenen Straßen weltweit, die Abra el Acay wird in Argentinien freigegeben / Oxford, 2012: Beginn der ersten Quidditch-Weltmeisterschaft.

 

Ich notierte:

1982: Gestern Abend waren wir zum Orgelkonzert in der Kirche von Wusterhausen, die schon Fontane beschrieb. Viel scheint sich hier seitdem nicht verändert zu haben. Aus dem Kreuzgewölbe grinsen mich zwei Fratzen an, und die eine sieht dem Herrn im blauen, rotlatzigen Trainingsanzug, der uns gestern in Kyritz zu provozieren versuchte,  verdammt ähnlich…

1985: Ein irrer Film im Fernsehen: „Das Ufer“, Drehbuch: Juri Bondarow, Regie: Alow/Naumow, ein Fim über die letzten Tage jenes unseligen letzten Krieges – wie ich ihn mir zum 40 Jahrestag der Befreiung gewünscht hätte. Aber – dieser Film lief nicht etwa bei uns, nein, den, ausgerechnet den, musste man sich mal wieder „von drüben“ ansehen. Was soll das bloß?

1999: Am Vormittag finde ich endlich mal wieder Zeit und Ruhe (!) zum Schreiben - verrückt, dass man im freischaffenden Status sich sein ureigentliches Anliegen regelrecht abknapsen muss...

2005: Stuttgart. Alt fühlte ich mich plötzlich. Alt inmitten einer großen Open-Air-Menge auf dem Schlossplatz. Alt im Sinne von einsam, völlig einsam, übrig geblieben; niemand mehr da, der wüsste wer man ist. Dabei war das Konzert kraftvoll, ja belebend, Salsa fuerte. Und all die Selbstdarsteller mit ihren Hüten und Kappen, Ketten und Ringen, Foto-Handys und Designer-Brillen, Piercings und Tattoos ließen mich bestenfalls leise lächeln. Nicht sicher war ich mir jedoch, ob ich das Ganze nicht einfach ausschalten konnte, klack; alles nur noch virtuell…

 

Stopp

für

Abe Shinzō / Alexander Wassiljewitsch Alexandrow / Pjetër Arbnori / Axel Bakunts / Ladan Bijani und Laleh Bijani / Ernest Borgnine / Brassaï / Bruno H. Bürgel / Marianne Cohn / Elise Crola / Sabine Michaela Dünser / Edgar / Abdul Sattar Edhi / Nelsan Ellis / Franz Fühmann / Alexander Grin / Karl Jakob Hirsch / Tab Hunter / Christiaan Huygens / Rudolf Koppitz / Ruth Kraft / Markus Kronthaler / Katharina Lanz / Vivien Leigh / Geoff Love / Joe McDonnell / Jean Moulin / Giovanni Papini / Anna Pappritz / William Edward Parry / Pippin / Charlie James Shavers / Percy Bysshe Shelley / Agnes Josephine Straub / Edward Ellerker Williams / Franz Xaver Winterhalter / Willy Wolff / Flossie Wong-Staal

 

An diesem Tage schien uns alles zum Stillstand zu kommen:

1662 „ist ein Hagel wie Welsche Nüße gefallen, dadurch das Getreidigt von Halle an biß 3 Meilen über Merseburgk herüber verderbet worden“ / 1927 kommen im Osterzgebirge durch Überflutungen infolge schwerer Regenfälle 160 Menschen ums Leben / Omdurman, 2023: bei einem Angriff der sudanesischen Luftwaffe auf Rebellen kommen mindestens 22 Zivilisten ums Leben.

 

9. JULI

 

Rollenspiel

mit

René Altmann / Arnfried Astel / Jutta Balk / Franz Boas / Ludwig Brulow / Paul Busson / Barbara Cartland / Thomas Davenport / Guru Dutt / Johann Christian Edelmann / Phineas Gage / Wilfried Gaul / Orazio Gentileschi / Johann Nikolaus Götz / Lee Hazlewood / Elias Howe / Kawaji Ryūkō / Ardian Klosi / Matthew Gregory Lewis / Peter Ludwig / Govan Mbeki / Gustav Adolph Michaelis / Mitch Mitchell / Jan Neruda / Arno Reinfrank / Harald Reinl / Ottorino Respighi / Jason Rhoades / Richard Roundtree / Karl Zeno Rudolf Schadow / Amitzur Schapira / Johanna Schopenhauer / Bon Scott / Mercedes Sosa / Iwan Wasow / John Archibald Wheeler / Minor White

 

Das spielten wir gern nach:

Prag, 1357: Grundsteinlegung für die Karlsbrücke / Sankt Petersburg, 1762: Katharina die Große wird zur Zarin ausgerufen / Tucumán , 1816 erklärt Argentinien seine Unabhängigkeit von Spanien /  1877: Erstmalige Austragung des Wimbledon-Tennisturniers / 1925: Beginn der Juli-Revolution in Ecuador / 1926 startet die Kuomintang mit dem Nordfeldzug die Wiedervereinigung Chinas / 1945 entstehen in der sowjetischen Besatzungszone die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommerm Sachsaen, Sachsen-Anhalt und Thüringen / Durban, 1979 fotografiert die Raumsonde „Voyager 2“ den Jupiter und seine Monde / 2002: die Afrikanischen Union (AU) nimmt ihre Arbeit in Nachfolge der OAU auf / 2011 wird der Südsudan unabhängig.

 

Ich notierte:

1990: Eine Woche vor wie eine Woche nach der Währungsunion das gleiche Bild: leere Regale in Läden Leunas. Erst blockierte angeblich der Handel, nun kann die neue Ware angeblich nicht schnell genug nachgeliefert werden. Und wenn was da ist, ist für jeden, der schon mal im Westen war, deutlich, dass hier alles überteuert ist, mindestens um ein Drittel. Umgerechnet ergib das also einen Umtauschkurs von 1:6 – offiziell war der 1:1 (bei großen Summen 1:2) – da die Löhne und Gehälter im Osten ein Drittel niedriger sind und die Waren ein Drittel teurer, ergibt da doch 1:6 – oder? Und drängt man die Frauen – wie’s immer deutlicher wird, aus dem Arbeitsprozess (wobei die „Ost-Frauen“ aber nicht allein wegen und dank der Emanzipation arbeiteten, sondern um das Familieneinkommen zu sichern) – ergäbe das sogar 1:12! Auf keinen Fall werden Anarchie und Chaos hierzulande mit blumigen Volkskammerreden zu bekämpfen sein. Gilt für Kriminelle (Händler beispielsweise) nicht das Strafgesetzbuch? Weitere Beobachtung: nicht nur die Regale, sondern auch die Gaststätten sind leer. Aber lange, lange Schlangen tagein tagaus vor Läden, den Banken, den Behörden… Gut, dass derzeit die Fußballweltmeisterschaft lief, das lenkt einige doch offenbar gut ab. Und nun ist Deutschland sogar Weltmeister! Ach, wenn man sich dafür was (Bezahlbares) kaufen könnte…

1999: Letzte Vorbereitungen für den Beatles-Abend: üben, Quiz-Karten kopieren und schneiden, Texte lernen. Ich staune, mit wie viel Elan ich diesen Job angehe, obwohl er doch definitiv unbezahlt bleiben wird... Und dann geht’s los. Meine Nervosität steigt, umso mehr Leute in die „Ölgrube“ strömen. Tatsächlich ist die Bude schlichtweg voll. Und wir schaffen es, von Anfang an, die Leute mit einzubeziehen, tolle Stimmung. So läuft alles wie von selbst. Ein schöner Abend, und nicht wenige wünschen sich, dass so etwas bald wieder angeboten wird - ein Stones-Abend Ende August? Mal sehen.

2000: Annaburg. Den Marktbrunnen bestaunend: gerissener Globus, köterbepinkelt, gerahmt von Ausgeflippten, Mönchlein obenauf, Inschrift: 1533 verkündete Pfarrer Michael Stifel Für Sonntag, 19. Oktober, 8.00 Uhr, den Weltuntergang, schrillt mein Handy und ich höre, dass Vandalen letzte Nacht unseren Garten heimsuchten. Nun gut, es ist Sonntag, der 9. Juli 2000, kurz vor Zwölf, aber hellhörig wird man da irgendwie schon.

2021: Heute zu einem Konzert, das wir schon am 10.7.2020 besuchen wollten. Endlich kann mein Freund Paul Bartsch nun seine neue CD im halleschen „Objekt 5“ vorstellen. Die Karten hatten noch Gültigkeit… Schöner Abend. Gute Musik, gute Gespräche.

2022: Am Nachmittag Treff mit Thomas Rackwitz, der mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern nach Merseburg kommt. Dom, Zaubersprüche, Schloss, Eisdiele im Ständehaus. Die beiden Mädels scheint es zu interessieren, was ich ihnen über Könige, Bischöfe und den Raben erzähle. Wir Erwachsenen haben uns viel zu erzählen. Es tut gut, kluge, junge Freunde zu haben.

 

Rückblick

für

Johann Rudolph Ahle / Washington Allston / Hans am Ende / Ab dar-Razzaq an-Naif / Ariwara no Narihira / Bab / James Baskett / Georges Bataille / Karl Heinz Beckurts / Pierre Paul Broca / Edmund Burke / Michael Burston / Pol Cassel / Max Clarenbach / Paula Dehmel / Adrian Fortescue / Schuaneh Ghaderi / King Camp Gillette / H. Benne Henton / Mikala Jones / Jimmy Kinnon / Paul Klebnikov / Fadhma Aït Mansour / Hugo Niebeling / Anton Borissowitsch Nossow / Alice Paul / Carl Rahl / Rudolph Carl Ripper / Angelus Silesius / Rod Steiger / Gilbert Stuart / Barbara Thompson / Rip Torn / Ueda Bin / Jan van Eyck

 

Darauf wollten wir besser nicht zurückblicken:

869: Tsunami in Japan, mindestens 1.000 Tote / Carpi, 1701: Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges / Merseburg, 1826: „steigt die seit 4 Wochen andauernde Hitze unerträglich an, kleine grüne Fliegen erscheinen nach deren Stich sich schwartze Beulen bilden. Es gab Tote.“ Damaskus, 1860: Muslime massakrieren etwa 6.000 Christen / New Orleans, 1982: eine Boeing 727 stürzt nach dem Start ab, alle 145 Insassen sterben / 1985: Beginn des Glykolwein-Skandals / Crisp County, Georgia, 1994 Dammbruch, 15 Todesopfer / Irkutsk, 2006: bei einem Flugzeugunglück kommen mindestens 120 Menschen.

 

 

10. JULI

 

Talk-Show

mit

Nasr Hamid Abu Zaid / Paul Andreu / Schalom Asch / Kurt Bartsch / Aphra Behn / Mary McLeod Bethune / Alfred Biolek / Blind Boy Fuller / Hermann Burger / Johannes Calvin / Angus Cloud / Joseph Crocé-Spinelli / Giorgio de Chirico / Odet de Coligny / Belén de Sárraga / Ronnie James Dio / Hélène Dutrieu / Jacques-Joseph Ebelmen / Otto Freundlich / Sanford Robinson Gifford / John Gilbert / Nahum Goldmann / Nicolás Guillén / Hans Peter Hallwachs / Wera Michailowna Inber / Einice Kennedy-Shriver / Sue Lyon / Solomon Kalushi Mahlangu / Frederick Marryat / Ernst Meyer / Edmund Dene Morel / Lee Morgan / Heinrich Mühlpfordt / Ademola Okulaja / Carl Orff / Camille Pissarro / Karl Eduard Adolf Theoderich Plagge / Marcel Proust / Pierre-Joseph Redouté / Sixto Diaz Rodriguez / Helene Schjerfbeck / Nikola Tesla / Günther Weisenborn / Cootie Williams / Bartholomäus Ziegenbalg

 

Da führten wir ein angeregtes Gespräch:

Frankfurt am Main, 1909: Eröffnung der ersten Internationalen Luftschifffahrt-Ausstellung / 1943 landen alliierte Truppen auf Sizilien, „Operation Husky“ / Kaesŏng, 1951: Beginn der Waffenstillstandsverhandlungen im Koreakrieg / 1962 wird „Telstar“ der erste Kommunikationssatellit, ins All geschossen /

1973 werden die Bahamas unabhängig von Großbritannien.

 

Ich notierte:

1980: In Deuben erlebe ich heute eine Lesung des Schriftstellers Joachim Specht. Hinter seinen zehn veröffentlichten Büchern sitzend erzählt er Geschichtchen über Australien, wo er war. Und dann meint er: es entstünde heute keine große Literatur mehr, den jungen Autoren würde es zu leicht gemacht. Man bräuchte nur ein Büchlein und dann einen Bürgen und schon sei man Mitglied im Schriftstellerverband… Aha. Und Preise bekommen nur die, die schreiben, was niemand versteht. Er aber schreibe stets verständlich. Deswegen gäbe es seine Bücher auch nur unterm Ladentisch… Grinsend klopft er auf die Barriere seiner aufgetürmten Bücher. Klar, die Ängste und Sorgen jungen Autoren hat der nicht mehr…

2003: Über Dom- und Herrenkrugfelsen im Schlauchboot stromab­wärts, lustiges Völkchen – hui -, gefährlich jedoch wird’s hinter den sanften Magdeburger Schnellen: Kollisionskurs steuert urplötzlich provokant ein schwerer Schlepper, und mir dämmert, was es bedeutet, mit Leuten in einem Boot zu sein, die demonstrieren (mit dieser Fahrt und überhaupt) gegen die Regulierung, für die Natürlichkeit dieses Flusses.

2021: Überraschung am Nachmittag: plötzlich steht unser alter Nachbar Wolfgang vor der Tür, und mit ihm seine Kinder und Enkel, ein siebenköpfiges Gefolge. Wolle wurde 70 und will mit seinen Nachkommen noch mal dahin, wo sie einst wohnten. Keine Frage, dass wir für die Kinder ein Eis haben und ich den Erwachsenen ein Buch mit auf den Weg gebe. Ich spürte, wie sehr Wolle seine Patriarchen-Rolle genoss. Ach ja…

 

Trauerzug

für

Louise Abbéma / Schalom Asch / Lovie Austin / Frank Bannert / Franz Bardon / Esther Bejarono / Franz Blei / Catarina Cornaro / Louis Daguerre / Guillaume de Harsigny / Werner Egk / El Cid / Julius von Ficker / Johann Gottfried Galle / Hadrian / Peter Härtling / Heinrich Grimm / Ibuse Masuji / Abraham Jacobi / Georg Kenner / Kimura Komako / Knut IV. / Rued Langgaard / Karl Richard Lepsius / Inge Meysel / Sugar Minott / Frank Möbus / Louis Moréri / Jelly Roll Morton / Erich Kurt Mühsam / Ogawa Haritsu / On Kawara / Fernando Pereira / Wassili Grigorjewitsch Perow / Ernst-Ludwig Petrowsky / Gerome Bernard Ragni / Hugo Riemann / Rosetsu Nagasawa / Albertine Sarrazin/ Tony Schumacher / Omar Sharif / Fernando Sor / Manfred Streubel / George Stubbs / Lara Victoria van Ruijven / Fred Wander / Wascha-Peschawa / Wilhelm von Oranien

 

An diesem Tage trauerten wir:

1652: Beginn des Ersten Englisch-Niederländischen Seekriegs / 1916: bei einem Tornado in der Wiener Neustadt sterben mehr als 30 Menschen / Jedwabne, 1941: deutsche Soldaten massakrieren jüdischen Einwohner der polnische Kleinstadt, mindestens 340 Todesopfer / Pforzheim, 1968: Tornado, zwei Tote, mehr als 200 Verletzte / Auckland, 1985: französische Geheimdienstler versenken das Greenpeace-Schiff „Rainbow Warrior“, ein Umweltschützer ertrinkt / Nigeria, 2000: Explosion einer Pipeline, 250 Tote / 2011 sinkt das Flusskreuzfahrtschiff „Bulgaria“ auf der Wolga, mehr als 100 Menschen kommen ums Leben.

 

 

11. JULI

 

Rundgang

mit

Bridgette Andersen / Bardesanes / Johann Matthäus Bechstein / Richard Beer-Hofmann / Léon Bloy / Yul Brynner / Sergiu Celibidache / Roger de la Fresnaye / Luis de Góngora / Barbara Dittus / Fritz Julius Elsas / Erving Goffman / O. E. Hasse / Tab Hunter / Wilfried Israel / John Lawton / Theodore Maiman / Thomas Mitchell / Leonard Nelson / Ruth Niehaus / Gregor Pinke / Bonnie Pointer / Hermann Prey / Robert the Bruce / Julius Rodenberg / Ronald M. Schernikau / Tomasz Stańko / Rolf Stommelen / Aníbal Troilo / Klaus Wagenbach / Ilse Werner / James McNeill Whistler

 

Diese Runde hätten wir gern wiederholt:

911: mit dem Vertrag von Saint-Clair-sur-Epte entsteht die Normandie / Preußen, 1696. Gründung der Akademie der Künste / 1921. erklärt die Äußere Mongolei ihre Unabhängigkeit von China / 1921 endet der Irische Unabhängigkeitskrieg / 1975 wird bei Xi’an die Terrakotta-Armee gefunden / 2022 präsentieren NASA, CSA und ESA sensationelle erste Aufnahmen, des James-Webb-Teleskops..

 

Ich notierte:

1982: Gestern Abend nach der Sendung „Rock Pop“ mit Jethro Tull und anderen „Alt Stars“ frage ich mich, was werden diese Männer machen, wenn sie zu alt zum Rocken geworden sein werden? Kommt dann eine Flut von Memoiren-Literatur über die „Goldenen Sechziger“ über uns?

1988: Morgen werden wir für ein paar Tage ins Riesengebirge fahren. Orts- und Stimmungswechsel. Gut gegen Routinen, auch beim Schreiben.

1999: Gegen Abend fahren Jeanny und ich nach Meuschau, zu den Eltern, wo Roses aus Bedburg zu Gast sind, weitläufige Verwandtschaft, die uns nach der Wende auf unseren ersten vorsichtigen Erkundungen des Westens freundlich Quartier gaben, nette, alte Leutchen. Später im Fernsehen eine Talk-Show über die Gefahren des Jahrtausendwechsels (verrückt spielende Computer, da Prozessoren oder/und Software punkt Null Uhr von 99 auf 00 umschalten, damit mitnichten 2000, sondern 1900 meinten und somit alles zum Ab- und Einsturz bringen könnten). Ich notiere mir zumindest sogleich auf einem Zettel, unsere Heizung (computergesteuert) überprüfen zu lassen...

2021: Sonntag. Lesungen in Kamen. Mein Freund Heinrich Peuckmann, seines Zeichens PEN-Generalsekretär, hat mich eingeladen. Also auf ins Ruhrgebiet. In drei Kirchen lese da je zwei Autoren, begeleitet von einem Musiker, nach einer Stunde kann das Publikum wechseln. Funktioniert gut, macht Spaß. Unter den Lesenden auch Tanja Kinkel aus Bamberg, mit der ich mich schon im PEN-Präsidium bestens verstand. Nach der Mugge große Abendbrot-Runde mit Kommunalpolitikern, Heinrichs Freunden und Leuten vom Dortmunder Fritz-Hüser-Institut. Interessante Gespräche. Danach bei Hermann Fernsehgucken: Endspiel der Fußball-Europameisterschaft.

 

Rhapsodie

für

Muhammad Abduh / Herbert Amry / Giusseppe Arcimboldo / Ernst Emaulen Bachrich / Hermanus „Herman“ Brood / Arthur Evans / Peter Fröhlich / George Gerswin / Charlie Haden / Keish / Panajotis Kondylis / Hans Korseck / Milan Kundera / Adolph Carl Kunzen / Pär Lagerkvist / Lim Boo Liat / Zivia Lubetkin / Ross Macdonald / Delarivier Manley / Paul Nash / Nikolaus von Oresme / Olga von Kiew / Laurence Olivier / Anatoli Ignatjewitsch Pristawkin / Ales Pushkin / Werner Riegel / Christine Ruhland / Robert Ryan / Peter Taugwalder / Josef Kajetán Tyl / Hannes H. Wagner / Rik Wouters / Yagan

 

Da klang uns Vergänglichkeit an:

1502 sterben auf Hispanola 500 Menschen durch einen Hurrikan / Bitterfeld, 1968: Explosion im Chemiewerk, 42 Tote / 1973 ersticken auf dem Flug von Rio de Janeiro nach Paris-Orly 123 Insassen einer Boeing 707 / 1978 explodiert auf einem Campingplatz nahe des katalanische Ortes Sant Carles ein Tanklastzug, mehr als 200 Todesopfer / 1987 überschreitet die Weltbevölkerung die 5 Milliarden-Grenze /Dschidda, 1991: Absturz einer DC-8 kurz nach dem Start, alle 261 Menschen an Bord sterben / 1995 beginnt das Massaker von Srebrebica, Serben ermorden mehr als 8.000 Bosniaken / Mumbai, 2006: bei Bombenschlägen kommen 207 Menschen ums Leben.

 

 

12. JULI

 

Poesie

mit

Dursun Akçam / Günther Anders / Anton Stepanowitsch Arenski / asch-Schāukanī / Oskar Marcus Bider / George Sainton Kaye Butterworth / Eric Carr / Hermann Conradi / Juliane Déry / Faisal Arefin Dipan / Ruth Drexel / Paul Drude / George Eastman / Peter Edel / Kirsten Flagstad / Richard Buckminster Fuller / Stefan George / Paul Gonsalves / Raoul Hausmann / Wolfgang Held / Rick Douglas Husband / Max Jacob / John-François „J.F.“ Jenny-Clark / John Charles Francis von Großbritannien und Irland /Charles Kingsley /  Anton Kuh / Barry Mason / Louis B. Mayer / Christine McVie / Amedeo Clemente Modigliani / Pablo Neruda / Jesse Pintado / Amadeo Roldán y Gardes / Ludwig Rubiner / Sawada Taiji / Hermann Harry Schmitz / Bruno Schulz / Henry David Thoreau / Oswald Mathias Ungers / Ernst Wendt / Andrew Wyeth

 

Das sprach uns poetisch an:

927: Gründung des Königreiches England / Krasnogorsk, 1943: Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland / 1975 erlangt São Tomé und Principe die Unabhängigkeit von Portugal / 1979 wird Kiribati unabhängig von Großbritannien / 1920: Offizielle Eröffnung des seit 1914 im Betrieb befindlichen Panamakanals / London, 1962: die Rolling Stones treten erstmals öffentlich auf / 1970 erreicht Thor Heyerdahl mit seinem Papyrusboot „Ra II“ Barbados.

 

Ich notierte:

 

1980: Literaturzentrum Halle. Ich lese. Von Seiten Korall und Sachs etwas wie Zustimmung. Danach mit Hahn und Loetzke Bier trinken, ganz gut unterhalten.

1987: Seit gestern in Wismar, in Schwager Martins Wohnung, um Urlaub zu machen. Doch so etwas wie Urlaubsstimmung will sich partout nicht einstellen. Mag sein, dass das Wetter durchschlägt, denn wie könnte es anders sein: Regen, Regen, Regen – gestern sogar wolkenbruchartig, und Kühle. Dafür in der Presse: „Nun fünf Milliarden Erdenbürger“. Wie lange wird es Urlaub als solchen überhaupt noch geben können?

2000: Heute, am letzten Schultag in Sachsen-Anhalt, starte ich in der Grundschule Spergau das Projekt „Unser Dorf liest“. Jeanny und Eichi sind mit dabei.

2016: Mal wieder einer dieser Was-wäre-wenn-Orte von Weltbedeutung: was wäre, wenn Blücher und Zieten letztendlich zu spät gekommen wären, wenn Napoleon doch noch mal… Am Morgen war ich in Maelbeek - wo man vor Wochen erst jäh in den Terrorkrieg geraten wäre – in die Metro gestiegen und so schwant mir, dass derlei Fragen nunmehr kaum noch sinnvolle Antworten brächten, banale bestenfalls, beliebig, belanglos.

2023: Am Abend nach Halle: Konzert von Beth Hart auf der Peißnitz. Unser erstes Freiluftkonzert seit fünf Jahren, meingott, 2018 saßen wir noch mit Peter auf der Loreley… Eine erstaunliche Performerin, diese „Röhre“, breit gefächertes Repertoire von Balladen bei denen sie sich selbst am Klavier begleitet bis hin zu ihren Led-Zeppelin-Coverversionen. Wohltuend, beeindruckend.

 

Plage

für

Pauls Bankovskis / Günter Behnisch / Gertrude Bell / Amar Gopal Bose / Robert Solli Burås / Jack Cade / Benny Carter / Johannes Ciconia / David Douglas / Alfred Dreyfus / Slatan Dudow / Ewald Dülberg / Erasmus von Rotterdam / Ole Evinrude / Jean Gerson / Friedrich Gundolf / Alexander Hamilton / Joseph Jongen / Roger Wolfe Kahn / Otto Nagel / Rudolf Nehmer / Ludwig Persius / Miriam Pielhau / Boris Nikolajewitsch Polewoi / Johann Joachim Quantz / Fritz Reuter / Minnie Julia Riperton / Charles Stewart Rolls / Hermann von Rotteck / Sado / Frank Schirrmacher / Willi Schwabe / Nathan Söderblom / Juri Wladimirowitsch Solowjow / Edward Jerzy Stachura / Moses ter Borch / Simon Vinkenoog / Henrik Arnold Wergeland / Ottilie Wildermuth / Chris Wood

 

Das empfanden wir als Plage:

Mani, Yukatán, 1562 lässt Diego da Landa Schriften, Bilder und Symbole der Maya verbrennen / 1849: ein österreichischer Heißluftballon greift Venedig an - erster Luftangriff auf eine Stadt / Tokayama-Bucht, 1918: das japanische Linienschiff „Kawachi“ sinkt nach einer Explosion, mehr als 500 Tote / 1961 brechen im indischen Bundesstaat Maharashtra Talsperren, bis zu 2.000 Menschen kommen ums Leben / Hokkaidō, 1993: Erdbeben, 243 Todesopfer / 2006: Angriff von Hisbollah-Milizen auf Israel, Beginn des Libanonkriegs.

 

13. JULI

 

Verhandlung

mit

Mordechai Ardon / John Jacob Astor IV / Albert Ayler / Isaak Emmanuilowitsch Babel / Hans Blumenberg / Gaius Iulius Caesar / Bob Crane / John Dee / Simon Dschanaschia / Daniel Dumile / ilvio Francesco / Gustav Freytag / Jeanne Hersch / Sergei Antonowitsch Klytschkow / Phra Chenduriyang / Piero Manzoni / Adam Scharrer / Naomi Schemer / Alfred Schirokauer / Souphanouvong / Josef Speckbacher / Michael Verhoeven / Heinrich Wilhelm Wackenroder / Otto Koloman Wagner / Kurt Westergaard / Monique Wittig

 

Darüber würden wir jederzeit weiter verhandeln:

Mainz, 1254: Gründung des ersten Rheinischen Städtebundes / Sardinien-Piemont, 1814: Aufrichtung der Carabinieri / London, 1837: wird der Buckingham Palace zur Hauptresidenz britischer Monarchen / 1878: Ende des Berliner Kongresses, Montenegro, Rumänien und Serbien werden souverän / Uruguay: 1930: Eröffnung der ersten Fußball-Weltmeisterschaft / Paris, 2008: Gründung der Union für den Mittelmeerraum.

 

Ich notierte:

1981: Ich schreibe so lange, wie der tagtägliche Vorrat an „Bildern“ reicht, nur noch ein dürrer Ideenfaden bleibt. Dann lege ich den Stift weg. Um morgen weiterspinnen zu können. Die Phantasie ist mein Spiel, das mir alles voranbringt. Was sonst als Spielfreude sollte mir die Kraft zur Überwindung der ewig weißen Papierhürde geben. Mit der „Katzenmusik“ komme ich gut voran, weiß jetzt auch, wie ich diese Geschichte zu Ende bringen kann.

2000: Frühmorgens los in meine Nordbüros, erst nach Niegripp, dann nach Möser. Auf dem Rückweg über Staßfurt, wo ich mich mit Dr. Eberlein, den Verleger von „Novembertau“ treffe, den Umschlag auswähle, Klappentext und Vertrag bespreche. Gegen fünf zurück in Leuna. Nach wie vor schlechtes Wetter. Also ein bisschen Musik hören, ein bisschen lesen.

2022 Im streaming „Titane“ von Julia Ducournau, verstörender Film, der im letzten Jahr immerhin in Cannes die „Goldene Palme“ gewann. Ich sehe einen Versuch, die zunehmend verstörende Welt in Szene zu setzen.

 

Volte

für

Beatrix I. / John Bernecker / Miguel Ángel Blaco Garrido / Rosa Bloch / Mychajlo Lwowytsch Bojtschuk / Emmanuel Bove / James Bradley / Max Butting / Emily Davies / Marie de Gurnay / Fritz Duda / Oskar Erbslöh / Willy Fritsch / Jürgen Frohriep / Jesús Fructuoso Contreras / Ernst Goll / Nadine Gordimer / Robert Hamerling / Emanuel Hermann / Heinrich II. / Kurt Ivo Theodor Huber / Frida Kahlo / Yousuf Karsh / August Kekulé / Seretse Khama / Ivan Goran Kovačić / Liu Xiaobo / Lorin Maazel / Zindzi Mandela / Jean Paul Marat / Cory Monteith / Daschdordschiin Natsagdordsch / Atukwei Okai / Peter Parler / Matti Pellonpää /Laure Perls / Max Pfeifer Watenpuhl / Timofei Wassiljewitsch Prochorow / Raschi / Friedrich Otto Sachse / Alexander Schmorell / Marinus Schöberl / Arnold Schönberg / Tom Simpson / Dash Snow / Alfred Stieglitz / Gert Voss / Dieter Wedel / H. G. Wells / Gerhard Zwerenz

 

Da meinten wir, uns sei eine Volte geschlagen worden:

1854 wird die  nicaraguanische Kleinstadt Greytown durch Beschuss eines US-Kriegschiffes vollständig zerstört / New York, 1977: großer Stromausfall nach Blitzeinschlägen / 2000. kommen durch eine Schlammlawine in der chinesischern Provinz Shaanxi 120 Menschen ums Leben / Mumbay, 2000: Erdrutsch, 250 Todesopfer.

 

 

14. JULI

 

Szenen

mit

Gertrude Bell / Ingmar Bergman / Detlef Cauer / Gawril Romanowitsch Derschawin / Nodar Dumbadse / Buenaventura Durruti Dumange / Gustav Heinrich Eberlein / Gerald Raphael Finzi /Natalia Ginzburg / Jim Gordon / Karel Gott / George Green / Woody Guthrie / Claus-Jürgen Kämmerer / Gustav Klimt / Ketty La Roca /Favell Lee Mortimer / Henning Pawel / Angelo Poliziano / Pawel Iwanawitsch Prudnikau / Fred Rodrian / Eleanor Anne Porden / Karl Asmund Rudolphi / James Saunders / Gerd E. Schäfer / Harry Dean Stanton / Irving Stone / Kakuza Tscholoqaschwili / Lino Ventura / Hans Weber / Juliette Wytsman / Jerzy Żuławski

 

Diese Szenen sagten uns zu:

Frederiksborg, 1720: Friedensschluss zwischen Dänemark und Schweden im Großen Nordischen Krieg / Paris, 1789: Sturm auf die Bastille, Beginn der Französischen Revolution / 1914 geht der Rhein-Herne-Kanal in Betrieb / Taiwan, 1987: Aufhebung des seit 38 Jahren andauernden Ausnahmezustands / 2015 passiert die NASA-Raumsonde „New Horizons“ den Pluto.

 

Ich notierte:

1982: Ich schlafe recht unruhig in Jeannys Geburtstag hinein, träume von Scheidungsstreitereien um Wohnung und Geld und Möbel – Hässlichkeiten. Und beim Aufwachen war der Himmel schwer bewölkt, Schwüle. Beim Sektfrühstück klart es jedoch auf.

Dann immer wieder Flugzeuge, die Schallmauer durchbrechend, auf nahen Truppenübungsplätzen knallt’s, Hubschrauber kreisen, lärmen… Gibt es denn in diesem Land keinen Ort der Ruhe – auf Dauer? Und die Störung wirkt umso desillusionierender, wenn man sich auf Ruhe eingehört hat… Dann in den Nachrichten: seit heute morgen gibt’s einen neuen Krieg, einen zweiten am Golf, Iran nimmt Rache an Irak. Oh Allah!

1996: Place de la Bastille. Wir essen potage de légumes, dann moules Provencale und trinken vin rosé d’Anjou. Dabei beäuge und betaste ich die Wunden, kleine Hautabschürfungen und Blutergüsse, die ich mir zuzog, als ich vorhin zu ungestüm eine Rolltreppe im Centre Pompidou erstürmte. Eigentlich wollten wir bald weiter, zum Grab von Jim Morrison auf dem Père Lachaise. Doch erst mal bestelle ich noch café, poire Belle Hélène und cognac s’il vous plaît!

2000: Jeanny Geburtstag. Nachdem ich am Vormittag mal wieder an der Sparkassenchronik weiterarbeite, müssen wir am Nachmittag zur Beerdigung, Toms Beerdigung. Dazu regnet es natürlich. Christine, Toms Witwe, kommt als erstes zu uns und zur Band statt zur Familie, braucht offenbar die Freunde heute, sagt zu mir, dass es gut ist, dass sie mit Tom noch zu meiner Geburtstagfeier war, er sich da sehr wohl gefühlt habe. Und sie sagt auch, dass ihr nicht bewusst war, wie schlimm es um Tom zuletzt stand, man gearbeitet und gearbeitet habe und plötzlich sei alles vorbei gewesen...

2016: Nach Dünkirchen wollten wir, ja, noch so ’n Was-wäre-wenn-Ort (Mai 1940)… Mit der Kusttram geht’s aber nur bis Adinkerke und nach Frankreich rüber verkehrt nur ’n Bus. Da der aber ewig nicht kommt (feiertags wegen wohl), schielen wir schon zum nahen Plopsaland (amusements en masse), doch prosten zu guter Letzt vom Strand aus mit bestem belgischen Bier (dreimal) nach Dunkerque hinüber: a votre liberté, égalité, fraternité! (In der Nacht schon ernüchtern uns brutal die Fernsehbilder vom Anschlag in Nizza.)

2019: Versprochen, mit Jeanny die Wartburg zu besichtigen, hatte ich anfangs der Perestroika in Kasachstan. Unterwegs mit anderen jungen Autoren wäre ich in Alma-Ata, dem letzten Ort dieser Reise, fast zum Zechpreller geworden. Zum Glück bemerkte ein Herr am Nebentisch, dass meine Rubel nicht reichten, und löste mich aus. Dafür musste ich ihm aber jenes Versprechen geben, und zudem, über dieses deutsche Nationalheiligtum zu schreiben, gab sich mein Nothelfer doch als Restaurator der Wartburg zu erkennen. Nun ja, gedauert hat’s, wurde doch alles anders als damals vorstellbar, aber nun habe ich ja endlich eingelöst. Wohlsein!

2020 Seit dem letzten Jahr verbrachten wir Jeannys Geburtstag immer am Fuße der Wartburg. Das ist auch in Corona-Zeiten möglich. Also starten wir am Vormittag bei herrlichstem Sommerwetter gen Eisenach. Mittag mit Thüringer Klößen, beim Aufstieg auf die Burg eine originale Rostbratwurst an einem Grill mitten im Wald, wunderbare Aussicht von oben, schon am Abend zieht es aber zu, wird kalt, beginnt schließlich zu regnen… Schon an meinem Geburtstag hatten wir so ein wunderbares Wetter-Fenster. Nachdenkenswert…

2021: Jeannys Geburtstag wollten wir wie in den letzten Jahren wieder in Eisenach, auf der Wartburg, feiern. Die Corona-Situation hätte das zugelassen, die Wetterprognose warnte aber vor Starkregen und Gewitter – alles andere als Wanderwetter. Wir stornieren, gehen dann am Abend um die Ecke ins Klubhaus Leuna essen – da waren wir auch seit Oktober nicht mehr…

2023: Wie nun üblich zu Jeannys Geburtstag: auf nach Eisenach: zur Wartburg aufsteigen, (echte) Thüringer (Bratwurst) und weitere Gaumenfreuden sowie Thüringer Gastfreundschaft genießen. Wohlsein!

 

Schmerz

für

Dekha Ibrahim Abdi / Tudor Arghezi / Asmahan / Jacinto Benavente / Roberto Bolaño Ávalos / Christian Boltanski / Caspar Brülow / Francisco de Miranda / Germaine de Staël / Mehmedalija „Mak” Dizdar / Francis Douglas / Axel Eggebrecht / Péter Esterházy / Léo Ferré / Augustin Jean Fresnel / Anne Golon / Alfred Grenander / Grock / Ernest Hello / Christian Gottlob Heyne / Pelham Humfrey / Robert Jungk / Siegfried Köhler / Paul Kruger / Jeff LaBar / Marshall Ledbetter / Dante A. Linyera / Maryam Mirzakhani / Alfons Mucha / Karl Paryla / Jakob Immanuel Pyra / Raymond Roussel / Cicely Saunders / Walter Sedlmayr / Compay Segundo / Ernest Tidyman / Karl Heinrich Ulrichs / Adolf Uzarski / Kurt Westergaard / Clarence White

 

Da fühlten wir nur Schmerz:

1555 wird in Rom ein Getto für Juden geschaffen / 1918 versenkt ein deutsches U-Boot im östlichen Mittelmeer den französischen Passagierdampfer „Djemnah“, 436 Menschen kommen ums Leben / 1969 bricht der viertägige „Fußballkrieg“ zwischen Honduras und El Salvador aus, bei dem 2.100 Menschen ums Leben kommen / Chicago, 1966: Serienmord in einem Schwesternwohnheim, acht Schülerinnen sterben / Nizza, 2016: islamistischer Terroranschlag, 86 Todesopfer.

 

 

15. JULI

 

Essay

mit

Alcides Arguedas / Peter Banks / Reinhold Begas / Walter Benjamin / Max Bodenstein / Julian Bream / Juan Chassaing / Driss Chraïbri / Mohamed Choukri / Guido Crepax / Ian Kevin Curtis / Clive Cussler / Jacques Derrida / Kateryna Djatschenko / Kunikida Doppo / Roky Erickson / Rodolfo Fogwill / Gu Yanwu / Eduardo Gutiérrez / Ernst von Harnack / Joseph Rudolph „Philly Joe“ Jones / Georg Wolfgang Krafft / Heinrich Lautensack / Robert Limpert / Iris Murdoch / Emmeline Pankhurst / Heinrich Peuckmann / José Enrique Rodó Piñeyro / Hubert Schiffer / Ruth Schweikert / Abraham Sutzkever / Rembrandt van Rijn / Paul Wieczorek

 

Das schien uns einer eingehenden Beschreibung wert:

Vordingborg, 1435: Friedensschluss zwischen Dänemark und der Hanse / 1799 wird im Nildelta der Stein von Rosetta entdeckt / Frankreich, 1869: Erteilung des Patents für Margarine / 1913: Inbetriebnahme des Lötschbergtunnels / Kassel, 1955: Eröffnung der ersten „documenta“ / Lindau, 1955: Nobelpreisträger sprechen sich während einer Tagung gegen den Einsatz von Kernwaffen aus / 1965 passiert die Raumsonde „Mariner 4“ den Mars und liefert erste Nahaufnahmen eines fremden Planeten / Bremerhaven, 1980: Gründung des Alfred-Wegener-Instituts.

 

Ich notierte:

1982: Heute in Berlin, beim Kinderbuchverlag. Gut, dass Frau Cwojdrak dabei war, das Gespräch führte. Angenehmes Klima (trotz nach wie vor brütender Hitze). Neue Hoffnungen.

1989: Vor der Abfahrt nach Wismar nach einigem Hin und Her die Nachricht, dass der Verlagsvertrag für meinen Leuna-Roman  auf dem Wege sei. Und obwohl mal wieder kein Sommer, sondern trübes Wetter ist, fährt man da doch gern in den Urlaub (das Manuskript selbstredend im Gepäck).

1999: Mit Seni werde ich mich heute einig, dass wir tatsächlich für Ende August einen Stones-Abend vorbereiten werden. Rundum gute Resonanz auf den Beatles-Abend in der Ölgrube.

2001: Im Schlaf steigen mir in letzter Zeit immer wieder Situationen früheren Versagens, früherer Schuld auf, so als leerten sich Speicher für kommendes Ungemach.

2010. Güntersberge. Mir träumte (recht realistisch), am Ende eines Workshops präzise den Termin meines Ablebens zu erfahren. Beschäftigt, mich durchs wuchernde Wirrwarr der alltäglichen Zufälle zu finden, blieb dafür jedoch keine Zeit. Und dann war da auch die Ahnung, dass ich’s, wenn ich’s erfahren hätte, eh nicht glauben würde (nicht so recht).

2020: Letzte Woche turnusmäßig zur Vorbeuge-Untersuchung beim Urologen. Heute, wieder daheim, vereinbarter Anruf in der Praxis. Die Schwester sagt, der Doktor habe gebeten, mit mir einen Gesprächstermin zu vereinbaren, mein PSA-Wert sei sprunghaft gestiegen. Krebsverdacht? Verunsicherung.

 

Ende

für

Abu l’Wafa / Sadriddin Aini / John Ball / Qandeel Baloch / Celadet Ali Bedirxan / Eric Berne / Gottlieb Bertrand / Ernest Bloch / Bonaventura / Arhur Briggs / Annibale Carracci / Christine Chubbuck / Carl Czerny / Rosalía de Castro / Peter Rudolf de Vries / Lisa del Giocondo / Hammer DeRoburt / Konstantin Alexandrowitsch Fedin / Emil Fischer / Aleksander Fredro / Gotthard Martin Gauger / Otto Häuser / Hugo von Hofmannsthal / Gottfried Keller / Vincenz Lang / William Thomas Green Morton / Çingiz Mustafayew / Rabe Perplexum / Qiu Jin / Walter Ruttmann / Eva Schulze-Knabe / Ben Selvin / Charles Sherwood Stratton / Ambrosius Stub / Anton Pawlowitsch Tschechow / Charles André van Loo / Gianni Versace / Robert Pershing Wadlow / Wen Yidüo / Jigme Dorge Wangchuk

 

An diesem Tage meinten wir, das Ende zu sehen:

1099 erobert das Kreuzfahrerheer Jerusalem und massakriert fast die gesamte Bevölkerung / 1888: Ausbruch des japanischen Vulkans Bandai, 461 Todesopfer / 1927 beginnt der chinesische Bürgerkrieg / Weimar, 1937: auf dem Ettersberg werden erste Häftlinge in das KZ Buchenwald überstellt / Prüm, Eifel, 1949: Explosion in der Oberstadt, 12 Tote / Paris-Orly, 1983: Terroranschlag auf einen Abfertigungsschalter im Flughafen, acht Todesopfer / Teheran, 2009: nach dem Start stürzt eine Tu-154 ab, alle 168 Menschen  an Bord kommen ums Leben / Türkei, 2016: Putsch-Versuch, 249 Menschen sterben.

 

 

16. JULI

 

Chat

mit

Roald Engelbregt Gravning Amundsen / Reinaldo Arenas Fuentes / Aruna Asaf Ali / Fritz Bauer / Desmond Dekker / Andrea del Sarto / Eberhard Eßrich / Jörg Fauser / Juana Manuela Gorriti / Stefan Krachten / Ari Leschnikoff / Georg Simon Löhlein / Giuseppe Piazzi / Jakob Prandtauer / Wolfgang Reisinger / Joshua Reynolds / Georges Raymond Constantin Rodenbach / Ginger Rogers / Christian Knorr von Rosenroth / Frieder Simon / Robert Stamm / Barbara Stanwyck / Callen „Cal“ Radcliffe Tjader Jr. / Ida B. Wells / Eugène Ysaÿe 

 

Darüber würden wir jederzeit weiter chatten:

622: Auswanderung Mohameds, Beginn der islamischen Zeitrechung / Ulm, 1482: Lienhart Holl druckt den ersten deutschen Weltatlas / Werbellinsee, 1952: Einweihung der „Pionierrepublik Wilhelm Pieck“ / Ruanda, 1994. Ende des Völkermords, dem bis zu eine Million Menschen zum Opfer fielen.

 

Ich notierte:

1980: Alma bringt mir heute vier Kansas-LPs zum Überspielen, für sich und für mich. Da ich nicht genug Kassetten habe, um alles aufnehmen zu können, muss ich eine Auswahl treffen. Alma überspiele ich alles, für mich nur einiges, da diese Musik, so dufte sie ist, mich irgendwie ermüdet.

1981: Am Nachmittag zu einer Beratung bei Korall. Sachs ist auch da. Ich erfahre, dass ich für „Sprachlos“ einen Anerkennungspreis des FDGB erhalten werde. Korall zeigt mir sein Empfehlungsschreiben. Dann erwägen sie einen anderen Text in eine geplante Anthologie aufzunehmen, aber nichts von den Musiker-Geschichten. Da müsse ich noch Abstand gewinnen, meinen sie, sei noch zu nah dran.

1994: Deep Purple in der halleschen Eissporthalle. Vor einem Vierteljahrhundert hätte ich auf der Bühne noch Idole gesehen. Hardrock vom Feinsten, selbst nachgespielt einst, dorfauf, landab - lebhaft erinnern sich Füße und Finger. Eigener Verfettung wohl wie der ergrauten Mienen der Musiker wegen bleibt im Kopfe inmitten tausender Jubelnder, Johlender, Glücklicher aber entfremdende Distanz.

1999: Heute zum Sachsen-Anhalt Tag nach Halberstadt. Leitung der offenen Schreibwerkstatt. Ich nehme zwei Schüler aus Spergau mit, dazu einen Jungen aus Göhren. Jeanny betreut die Kinder. Am Rande des Trubels treffe ich Dr. Ziethen, den Verleger der „Ortungen“. Er hat einige Änderungswünsche, will jedoch den Premierentermin (4.11. - Walter Bauers Geburtstag) halten. Nun gut, gehe ich also ans Überarbeiten.

2021: Am Nachmittag nach Leipzig. Unser alter Nachbar Wolle hat zur Geburtstagsnachfeier eingeladen. Abendessen im Bayerischen Bahnhof, Absacken auf der Karli

 

CD

für

Albert Anker / Anna von Kleve / Jane Birkin / Heinrich Böll / Alvise Cadamosto / Julio Castellanos / Serge Chaloff / Harry Forster Chapin / Johnny Clegg / Alex Colville / Celia Cruz / Pierre-Jean de Béranger / Edmond de Goncourt / Isabella Romola de’ Medici / Helga Deen / Patrick Dewaere / Herbert W. Franke / Harry Gordon Frankfurt / Fulrad / Hermann Paul Werner Gäbler / Laura Gonzenbach / Jack Goody / Andreas Gryphius / Nicolás Guillén / Johann David Heinichen / Hu Xiansu / Herbert von Karajan / Erich Köhler / Ursula Kurz / Hans-Joachim „Jo“ Kurzweg / Dora Maar / Morris / Eric Ohena Lembembe / Theodor Litt / John Lord / Biz Markie / John Phillips Marquand / Masaniello / Nijō Yoshimoto / John Panozzo / Georg Paucker / Christian Quadflieg / Ernst Solèr / Jan van Schaffelaar / Ahmad Danish Siddiqui / Jo Stafford / Beate Uhse / Alan Vega / Lene Voigt / Manfred Wekwerth / Wilfried / Johnny Winter / Delphine Zanga Tsogo / Bibiana Zeller / Maximilian „Maxim“ Ziese

 

Davon wollten wir auf keiner CD hören:

1551: erobern Türken Gozo und versklaven fast die gesamte Bevölkerung der maltesischen Insel / 1627 rauben Korsaren auf der isländischen Inselgruppe Vestmannaeyjar Frauen und junge Leute, um sie in Nordafrika als Sklaven zu verkaufen /  Salzburg, 1669: Felssturz, 230 Tote / 1790: Gründung von Washington D.C. / Shetland-Inseln, 1832: 31 Boote geraten in einer Sturm, 105 Fischer ertrinken / 1857: ermorden indischen Aufständische in Kanpur 200 gefangen genommen britische Frauen und Kinder / 1920: Auflösung der k. u. k. Doppelmonarchie Österreich-Ungarn / Oklahoma City, 1935: Aufstellung der ersten Parkuhr weltweit / Taiwan, 1935: Erdbeben, 2.700 Tote / 1945: Zugunglück bei Aßling in Bayern bis zu 106 Todesopfer / Alamagordo, New Mexico, 1945 wird auf dem White Sands Proving Ground erstmals eine Atombombe gezündet / 1965 schwere Unwetter in Nordhessen, Ostwestfalen und Südniedersachsen, 11 Menschen sterben / Luzon, Philippinen, 1990: Erdbeben, 1.621 Tote / Guangxi, 2001: Wassereinbruch in einer Mine, 200 Bergleute sterben / 2021 durch Überflutungen kommen im Landkreis Ahrweiler und benachbarten Regionen bis zu 120 Menschen um Leben.

 

 

17. JULI

 

Verlockung

mit

Samuel Agnon / Ron Asheton / Alexander Gottlieb Baumgarten / Luc Bondy / James Cagney / Spencer Davis / Bart de Ligt / Lyonel Feininger / Jürgen Flimm / Eunice Newton Foote / Gordon Gould / Vince Guaraldi / Mickey Hawks / Oskar Jerschke / Leo Jogiches / Rainer Kirsch / Louis Lachenal / Georges Lemaître / Milva / Margarete Mitscherlich / László Nagy / Matti Ensio Nykänen / Lokman Mohsen Slim / Phoebe Snow / Johann Stamitz / Mattie Stepanek / Mauritz Stiller / Thien Tran / Francisco Toledo / Mick Tucker / Clara Viebig / Isaac Watts / Samson Benjamin „Sam“ Wieland

 

Da fühlten wir uns verlockt:

1253: Gründung des Werner Bundes, eines Vorläufers der Hanse / 1453: Ende des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich / Meißen, 1841: Gründung der ersten Freiwilligen Feuerwehr Deutschlands / 1854: Inbetriebnahme der Semmeringbahn / 1945: Beginn der Potsdamer Konferenz / Anaheim, 1955; Eröffnung von Disneyland / 1973: Gründung der Republik Afghanistan / 1995 erhält NAVSTAR GPS die volle Betriebsbereitschaft.

 

Ich notierte:

1993: Gedser. Mit einem Narrenschiff wohl waren wir über die Ostsee gekommen: Einzelne Passagiere nur hatten in Warnemünde die Fähre verlassen. Seltsam, meinten wir, kaum aber erreichte man zollfreie Gewässer ertönte eine Sirene und alles ringsum begann Bier und Schnaps und Zigarettenstangen zu horten, zu saufen und rauchen und grölen, so dass uns selbst am Bug Klaustrophobie anwehte, Teens und Twens und Greise und selbst Hunde wohl... Auf dänischer Seite warteten zu Dutzenden deren Busse, und in Minutenschnelle standen wir ziemlich allein, spazierten in den Ort, der uns ein Leben lang durch Transitschilder gelockt hatte, doch unerreichbar schien, und wurden angestarrt wie Narren.

1994: Vitkovice zu Cyrill und Method: Feiertage mitten im Krkonossky národní Park: Vojtas Freunde schleppen Pilsner und Mährischen Wein, Brot, Borovicka, Spießfleisch und Quargeln an. Kein Strom in der Hütte seit eh und jeh, reichlich Platz also für Gespräche und Gesang: Prager Frühling gepaart mit heiler Country-Welt, hochsommerliche Hoffnungen auf Kapital und Know-how. Kein Thema somit Verwurzelungen in slawischer Kultur. Cyrill und Method - kamen die nicht eigentlich aus Byzanz?

1999: Ein herrlicher Sommertag, Temperatur um 30°C, Windstille, keinerlei Schwüle - da fällt es sich schwer, im Kämmerlein am Computer zu sitzen und ein Manuskript („Novembertau“) zu überarbeiten, Doch was hilft’s - und ich merke, dass mir die geistige Disziplin ganz gut tut. Oder anders: bis gestern war ich mir nicht so recht im Klaren, ob das Buch wirklich herauskommt. So ist da plötzlich eine ganz andere Konzentration und Motivation...

2001: Vielleicht ein völlig belangloser Tag für die Weltgeschichte, vielleicht auch nicht: Die Nachricht geht um, dass erstmals bei einer Katze eine BSE-ähnliche Krankheit aufgetreten sei, Artensprung in der Schweiz. Und die Wissenschaft steht mal wieder vor einem Rätsel…

2015: Loreley. Rock-Festival. Fans aus früheren Leben spendieren mir Bier. Einer erzählt, er sei gerade aus Kuba zurück, wo durchaus Freude über das Ende der Sanktionierungen durch die Amis spürbar war, jedoch auch Sorge um jene allenthalben im Land stehenden Denkmale für einen, der mir verdammt ähnlich sähe. Nicht nur äußerlich hoffentlich, sage ich. Und dann steht mir ewig ein Blödmann mit alberner Che-Mütze im Weg (riesiger roter Stern). Und urplötzlich bedauere ich, letztes Jahr auf dem Flohmarkt in Buenos Aires nicht die Granma-Mütze (original, señor, naturalmente!) gekauft zu haben, da ich für meine letzten Pesos lieber einen originalen Mate trinken wollte. Ja, diese Mütze käme mir hier und jetzt sehr zupass. Allein der Sonne wegen.

2020: Von Emmanuel Carrère erfahre ich, dass der italienische Autor Giovanni Papini Anfang des 20. Jahrhunderts vorgeschlagen hatte, einen Lehrstuhl für Ignoretik einzurichten: „Die Ignoretik, die sich das gewissenhafte Inventar all dessen vorgenommen hat, was wir nicht wissen, teilt diese unbekannten Dinge zuerst in zwei große Kategorien: in jene, die mit großer Wahrscheinlichkeit in einer mehr oder weniger fernen Zukunft entdeckt werden können, und jene, die wahrscheinlich nie bekannt werden, weil sie entweder auf absurden oder schlecht gestellten Fragen beruhen oder weil die menschliche Intelligenz nicht über die Mittel verfügt, sie aufzudecken.“ Sollte ich Lust bekommen, nochmals zu studieren, würde ich Ignoretik belegen.

 

Verlorenheit

für

Hermenegildo Anglada Camarasa / Emil Barth / Jules Bianchi / Jim Bridger / Andrea Camillieri / Bryan „Chas” Chandler / John William „Trane” Coltrane / Lovis Corinth / Liam Patrick Davison / Francisco de Miranda / Günter Ebert / Georg Fabricius / Jörg Fauser / Fujiwara no Kiyosuke / Konstantine Gamsachurdia / Samuel Heinzi / Billie Holiday / Joseph Hyrtl / Leszek Kołakowski / Koloman / Nicolae Paulescu / Otto Piene / Henri Poincaré / Alexei Nikolajewitsch Romanow / Anastasia Nikolajewna Romanowa / Sawada Taiji / William James Sidis / Sinan / Adam Smith / Mickey Spillane / James McNeill Whistler / Fulgencio Yegros / Walter Zapp / Jitzhak Zuckerman

 

An diesem Tage meinten wir, verloren zu sein:

Karthago, 180: Tötung der sechs Scilitanischen Märtyrer / Paris, 1791: Massaker auf dem Marsfeld, bis zu 50 Toten / Seattle, 1897: der Klondike-Goldrausch bricht aus / Jekaterinenburg, 1918: Ermordnung der Zaren-Familie / 1932 kommen beim „Altonaer Blutsonntag“ 18 Demonstranten ums Leben / 1936: Beginn des Spanischen Bürgerkrieges, bei dem in den folgenden drei Jahre bis zu 500.000 Menschen streben / San Francisco, 1944: zwei Transportschiffe explodieren bei der Übernahme von Munition, 320 Tote / Kansas City, Missouri, 1981: Einsturz einer Hotellobby, 114 Todesopfer / New York City, 1996 explodiert eine Boeing 747 kurz nach dem Start, alle 230 Insassen sterben / Lassing, Steiermark, 1998: Grubenunglück, 10 Bergleute kommen ums Leben / Papua-Neuguinea, 1998: Erdbeben, 2.183 Tote / Shaanxi, 2001: Sprengstoffexplosion, 150 Menschen kommen ums Leben / Java, 2006: Tsunami, mehr als 300 Todesopfer / São Paulo, 2007: ein Airbus A320 verunglückt auf der Startbahn, 199 Menschen sterben / Ukraine, 2014: eine malaysische Boeing 777 wird abgeschossen, alle 298 Personen an Bord sterben.

 

 

18. JULI

 

Verbrüderung

mit

Georges Anglade / Monty Banks / Wdward Bond / Molly Brown / Heinrich Bullinger / Tristan Corbière / Karl Nathan Adolf Benedikt Friedlaender / Kadambini Ganguly / John Glenn / Victor Gruen / Hadžem Hajdarevic / Screamin’ Jay Hawkins / Ricarda Huch / Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko / Lew Borissowitsch Kamenew / Georg Kreisler / Thomas Samuel Kuhn / Richard Leacock / Hans Konrad Leipelt / Keith Levene / Wassil Lewski / Jakub Lorenc-Zalĕski / Hendrik Antoon Lorentz / Lonnie Mack / Nelson Mandela / Kurt Masur / Erich von Mendelssohn / Mtutuzeli „Dudu“ Pukwana / Franca Rame / Hermann von Reichenau / Hugo Riemannn / Henri Salvador / Nathalie Sarraute / Johann Martin Schleyer / Ian „Stu“ Stewart / William Makepeace Thackeray / Hunter S. Thompson / Lupe Vélez / Simon Vinkenoog

 

An diesem Tage fühlten wir brüderliche Verbundenheit:

1877 gelingt Thomas Alva Edison eine erste Tonaufzeichnung / Jena, 1926: Eröffnung des Planetariums / 1980 startet Indien seinen ersten Satelliten ins All.

 

Ich notierte:

1999; Neuerlich ein wunderbarer Sommertag und wieder Korrektur der „Ortungen“, ab Mittag jedoch im Garten.

2000: Am Morgen nach Landsberg, Lesung für Ferienkinder in der dortigen neuen, attraktiven Bücherei. Schöne Veranstaltung. Weiter nach Halle, zum Regierungspräsidium, Termin in der Fachstelle für öffentliche Bibliotheken. Und schließlich nach Meisdorf im Selketal zu einer Schreibwerkstatt mit österreichischen Schülern. Gutes Gespräch. Wieder zu Hause sind wir von den Kindern zum Essen eingeladen, die heute 3. Hochzeitstag haben. Wie schön könnte das alles sein, wenn das Wetter nicht so lausig wäre...

 

Verödung

für

Adni Mahmud-paša Anđelović / Jane Austen / Virginia Bell / Louis-Hyacinthe Boilhet / Caravaggio / Elize Cawood / Thomas Cook/ Bartholomé de Las Casas / Élise Léontine Deroche / Bobby Fuller / Jacobus Gallus / Helmut Graßhoff / Jack Hawkins / Corneille Heymans / Ferdinand von Hochstätter / Sergio Hualpa / Charles Leconte de Lisle / Emanuel Gottlieb Leutze / Hector Malot / Sigi Maron / Mary Ann Müller / Nico / Claes Oldenburg / Matilda Rapaport / Rebecca Lucile Schaeffer / Dietmar Schönherr / Paul Robert Schneider / Gerardo Segarelli / Eugene Shoemaker / Karl Simrock / Stefan Stambolow / Heiti Talvik / Johann Thal / Lucio Urtubia / Karel Vanĕk / José Joaquim Cesário Verde / Jean-Antoine Watteau / Xing-Hu-Kuo

 

Da wurde uns alles öde:

Graubünden, 1620: Beginn des fünftägigen Veltliner Mordes, bei dem bis zu 600 Protesten getötet werden / Berlin: 1909: bei einem Radrennbahnunglück kommen neun Zuschauer ums Leben / Tel Aviv, 1947: das Flüchtlingsschiff „Exodus“ wird von der britischen Marien aufgebracht / San Diego, 1984: Amoklauf in einem Schnellrestaurant, 21 Menschen sterben / Buenos Aires, 1994: Bombenanschlag auf das jüdische Gemeindezentrum, 85 Todesopfer / Kyōto, 2019: bei einem Brandanschlag kommen 36 Menschen ums Leben.

 

 

19. JULI

 

Sondierung

mit

Hermann Bahr / Allen Larkin Collins / Francisco Manuel Lumbrales de Sá Carneiro / Edgar Degas / Dom Moraes / Johann Friedrich Anton Fleischmann / Laure Gatet / Keith Godchaux / Volker Handloik / Gottfried Keller / Wladimir Wladimirowitsch Majakowski / Herbert Marcuse / Johannes Oettinger / Hark Olufs / Ivo Puhonny / Ren Xiong / Nikki Sudden / Christopher van Wyck / Xu Beihong

 

Da hätten wir gern weiter sondiert:

England, 1695: erstmals erscheint eine Heiratsannonce in einer Wochenzeitschrift / Seneca Falls, New York: 1848 findet die erste Frauenrechtskonferenz statt / Paris, 1900: Einweihung der Metro / 1950: Gündung des Zentralrates der Juden in Deutschland / 1965 wird der Mont-Blanc-Tunnel eröffnet / 1979 übernehmen im Zuge der Nicaraguanischen Revolution die Sandinisten die Macht / Wien, 2003: weltweit erste erfolgreiche Verpflanzung einer menschlichen Zunge.

 

Ich notierte:

1981: Heute nun die letzte Mugge vor dem Urlaub. Und alles sieht so aus, als wäre dies tatsächlich meine letzte überhaupt. Felix übertreibt mal alles wieder: zahlt kein Geld aus, kam gestern sogar nicht mit… Aber ich bin unsicher. Liegt es daran, dass ich mich ans Geld gewöhnt habe? Oder daran, dass ich durchaus um die Folgen des Gar-nichts-mehr-Verdienens weiß, solche Phasen auch schon durchhatte… Zeitgewinn ist das auf keinen Fall, viel mehr Lähmung. Die ganze Mugge lang denke ich nach, denke ich nach… Was ist richtig? Eine Entscheidung muss fallen! Vielleicht erst einmal Schluss bei Felix?

1999: Der Satz André Comte-Sponvilles, dass die Sorge das Gedächtnis der Zukunft sei, will mir gar nicht mehr aus dem Kopf. Offenbar, da ich in den letzten Tagen mal wieder recht sorgenvoll in die Zukunft blicke, die persönliche vor allem: werde ich leisten können, was ich leisten muss, um eingegangene Verpflichtungen erfüllen, so unseren Lebensunterhalt sichern zu können? Einfachste Beruhigung: Arbeitspensum (trotz Sommersonne) erhöhen. (Obwohl das diese Frage selbstredend bestenfalls halb beantwortet.) Mit meinem „alten“ Mitarbeiterstab und einigen anderen Leutchen (auch Cathi) heute nach Güntersberge, um in Rahmen des diesjährigen Eurocamps Sachsen-Anhalts zu kreativer Beschäftigung zu animieren. Ein superheißer Sommertag.

2000: Mit der Sparkassenchronik komme ich heute zu einem vorläufigen Ende. Nun ist nur noch das Porträts des Sparkassenchefs zu schreiben, da werde ich Freitag Audienz haben, und natürlich wird’s noch einiges zu korrigieren und zu illustrieren geben. Aber immerhin. Am Abend zur Probe für den nächsten Oldie-Abend.

2020: Mittlerweile mehr als 14 Millionen bestätigte Corona-Infizierte weltweit, 600.000 Tote. Rasanter Anstieg vor allem in den USA: mehr als 77.000 Neu-Infizierte an einem Tag.

 

Sonett

für

Michael James Andrews / Bogyoke Aung San / Helmut Becker / Paolo Borsellino / Henri H. Catargi / Daniele Crespi / Chief Mkwawa / Egon Eiermann / Eberhard Eßrich / Wolfgang Frank / Sarah Margaret Fuller / Heinz Galinski / James Garner / Hjalmar Gullberg / Ágnes Heller / Gertrud von Hollander / Käthe Kruse / Marian Kudera / Immanuel Löw / Luise von Mecklenburg-Strelitz / Elvira Madigan/ Curzio Malaparte / Garry Marshall / Hannes Mayer / Frank McCourt / Allen Newell / Pauker von Niklashausen / Erik Ode / Francesco Petrarca / Stephen Schneider / Carl-Heinz Schroth / David Warren / Zhao Shiyan / Janusz Andrzej Zajdel

 

An diesem Tage war uns nicht nach Wohlklang zumute:

Rom, 64: ein mehrtägiger Großbrand bricht aus / 711: besiegen die Araber die Westgoten am Rio Guadalete und beginnen mit der Eroberung der iberischen Halbinsel / China, 1048. der Gelbe Fluss tritt mit einer Flutwelle über die Ufer, mehrere tausende Tote / Solent, 1545: das neglische Kriegsschiff „Mary Rose“ sinkt, mindestens 470 Seeleute sterben / Berlin, 1510: Pogrom, 38 Juden werden auf dem Scheiterhaufen verbrannt / München, 1937: Eröffnung der Nazi-Ausstellung „Entartetet Kunst“ / 1870 beginnt der Deutsch-Französische Krieg / Záluži, 1974: Explosion in einer Chemiefabrik, 17 Todesopfer / Tobago, 1979: Zusammenstoß zweier Tankschiffe, 29 Tote / Tesero, Trentino, 1985: in einer Flutwelle nach einem Dammbruch kommen 268 Menschen ums Leben / Sioux City, Iowa, Notlandung einer DC-10, 111 Personen sterben / Panama, 1994: Bombenanschlag auf ein Passagierflugzeug, 21 Todesopfer.

 

 

20. JULI

 

Eroberung

mit

Alexander III., der Große / Ljudmila Michailowna Alexejewa / Thomas Clifford Allbutt / Joachim-Ernst Berendt / Ludwig Otto Blumenthal / Christopher John „Chris“ Cornell / Joseph-Marie Déodat de Séverac / Alberto Santos Dumont / Frantz Fanon / Weniamin Iossifowitsch Fleischmann / Edmund Percival Hillary / Paul Hubschmid / Fanny Janauschek / Uwe Johnson / Erik Axel Karlfeldt / Frederik „Kunngi“ Kristensen / Max Liebermann / Cormac McCarthy / Gregor Mendel / László Moholy-Nagy / Giorgio Morandi / Richard Owen / Nam June Paik / Francesco Petrarca / Pop Smoke / Kurt Raab / Diana Rigg / Ignaz Schuster / Kurt Seligmann / M. P. Shiel / Taichō / Stephan Trepte / Charles Tyler / Selman Abraham Waksman / Herman Wildenvey / Natalie Wood

 

In diesem Sinne hätten wir gern weiter erobert:

1810 wird Kolumbien unabhängig von Spanien / 1871 tritt British Columbia der Kanadischen Föderation bei / 1905 beginnt in Deutsch-Ostafrika der Maji-Maji Aufstand / 1940 gibt die Musikzeitschrift „Billboard“ erstmals die US Top Ten bekannt / 1975: Gründung des BUND.

 

Ich notierte:

1981: Nun ist es so gekommen: die ganze Band war entschlossen, nach dem Urlaub nicht zu Felix zurückzukommen. Dies schien er gewusst zu haben und löste von sich aus – „aus gesundheitlichen Gründen“ – die Band auf. Während er dies sagte, eigentlich mir die Existenz entzog, war ich heilfroh, wusste ich, dass nun eine Schranke offen war, nun vielleicht alles anders werden kann. Bleibt nur noch zu klären, woher künftig das Geld für den Lebensunterhalt kommen kann. Doch die Entscheidung ist gefallen, ja, Berufsmusiker werde ich nicht mehr sein. Das vorläufige Vakuum werde ich mit einer Fahrt in die ČSSR zu füllen versuchen. Morgengleich geht’s los.

1987: Montag und noch immer in Wismar (es ist ja Urlaub!), obwohl das äußerst launische Wetter längst zur Flucht nach Hause Anlaß gegeben hätte. Denn was ist ein Ostseeurlaub ohne (so gut ohne) Bademöglichkeit? Regen, Gewitter, Regen, Sturm, Kälte – aber natürlich will Jeanny die Urlaubszeit auskosten, noch nicht wieder in Leuna sein. Gut. Was ist unser verregneter Urlaub aber gegen das, was die Fernsehbilder aus den Südalpen zeigen – Sintflutartige Regenfälle, Geröll- und Schlammlawinen, außer Rand und band gerate Bäche, die reißenden Strömen werden, Zeltplätze, Häuser, Autos wegspülen… Ein Anfang vom Ende mal wieder? Vor zehn, fünfzehn Jahren noch wurde ein Fernsehfilm über Smog-Alarme belächelt, ein Szenario wie in Seveso oder Bhopal für unmöglich oder zumindest für unwahrscheinlich gehalten… Oh ja, es ist im Kleinen wie Großen täglich immer deutlicher zu spüren – die Erde verändert sich katastrophal. Was ist schon noch sicher, was zum Freuen?

1999: Mine wird heute vier Jahre alt. Im Traum erscheint sie mir als winziges Neugeborenes. Als Erwachsene, als Dreißig- oder Fünfzigjährige vermag ich sie jedoch nicht so recht zu sehen. In was für einer Welt wird Mine 2026 oder 2046 ihren Geburtstag feiern? Wird sie feiern wollen? Wird Zeit zum Feiern sein? Zu ihrem dreißigsten könnte ich ja (als Dreiundsiebzigjähriger) irgendwo noch mit am Tische hocken (falls sie das möchte)... Heute schenken wir ihr ein Kasperletheater, und der Opa versucht sich als Puppenspieler.

 

Erlösung

für

Abdallah I. / Chester Charles Bennington / Odet de Turnèbe / Gawril Romanowitsch Derschawin / György Dósza / Geeta Dutt / Lucian Freud / Antonio Gades / Carlo Giuliani / Albrecht von Graefe / Friedrich Georg Jünger / Lothar Lang / Guglielmo Marconi / Ibn Muqla / Ernest Mandel / Iwasa Matabē / Jacqueline Lamba / Bruce Lee / Hugh O’Neill / Arshi Pipa / Georg Friedrich Bernhard Riemann / Sakaida Kakiemon / Beatus Rhenanus / Pawel Grigorjewitsch Scheremet / Manfred Sexauer / Reinhard Johannes Sorge / Angela Spook / Paul Valéry / Dimitrios Vikelas / Francisco „Pancho” Villa / Fritz Wartenweiler / James Williams

 

Das empfanden wir als das Gegenteil von Erlösung:

1944 scheitert die „Operation Walküre“, das Attentat auf Hitler / 1974 besetzt die Türkei den Nordteil Zyperns / 1977: Beginn des fünftägigen Libysch-Ägyptischen Grenzkrieges.

 

 

21. JULI

 

Roman

mit

al-Buchārī / Dawid Dawidowitsch Burljuk / Conrad Yeatis „Sonny“ Clark / Lovis Corinth / Hart Crane / Mohammed Dib / Renée Falconetti / Hans Fallada / John Champlin Gardner jr. / Keith Godchaux / Sarah Good / Ernest Hemingway / Edwin Hoernle / Norman Jewison / Kakuban / Kostas Karyotakis / Jizchak Katzenelson / Lenka von Koerber / Heinz Lohmar / Johann Nepomuk Mälzel / Marshall McLuhan / Cristoforo Munari / Emil Orlik / Jean Picard / Henri Regnault / Brigitte Reimann / Paul Julius Reuter / Paul Richter / Tony Scott / C. Aubrey Smith / Kay Starr / Olena Iwaniwna Teliha / Henry Vahl / Karl Veken / Carlos Pezoa Véliz / Robin Williams

 

Das schien uns einer Romanhandlung würdig:

Küçuk Kaynarca, 1774: Friedensschluss im Russisch-Türkischen Krieg / 1807 wird die Stadt Danzig Republik / 1878: wird im Schweizer Kanton Bern die erste Standseilbahn Europas in Betrieb genommen / London, 1897: Eröffnung der Tate Gallery / 1938. Friedensvertrag im Chaco-Krieg zwischen Bolivien und Paraguay / 1938: Erstbesteigung der Eiger-Nordwand / 1969 betreten die ersten Menschen den Mond, Neil Armstrong und Buzz Aldrin / 1992: Waffenstillstand im Transnistrien-Konflikt zwischen Russland und Moldawien.

 

Ich notierte:

1981: Was für ein Urlaubswetter: alles Grau in Grau, Nieselregen bei 15°C. Man wird gar nicht munter. Aber da soll kein Omen-Denken sein! Am Nachmittag kommen wir in Plzen an. Als erstes muss ich Strafe zahlen, falsch abgebogen angeblich.

1999: Arbeit an den „Ortungen“, ab 16.00 Uhr erste Probe für den „Stones-Abend“. Seni erzählt, dass von anderen Veranstaltern mittlerweile Nachfragen nach einem Rock & Roll-Abend und nach einer Silvester-Party vorlägen. Und Sponsoren für die Ölgruben-Reihe hätten sich wohl auch schon gemeldet, Kinks/Who/Hollies-Abend Ende September, dann vielleicht sogar bezahlt? Viel wichtiger (für mich und für diese Arbeit) ist, dass ich schon beim ersten Anspiel der „Stones-Klassiker“ den ungeheuren Spaß empfinde, Spaß durchs Gruppenspiel. Und hierein spielt wohl auch das Gefühl, nach etlichen Umwegen zurück zu seinen Wurzeln zu kommen, back to the roots...

2001: Jeden Tag in Alltagsgeschäftigkeiten zu versinken heißt, Perspektiven verlieren, Möglichkeiten nicht mehr zu erkennen.

2020: Mal wieder nach Leipzig. Unsere langjährigen Nachbarn wohnen nun seit zwei Jahren dort, und wir haben und vorgenommen, uns mindestens ein-, zweimal im Jaht zu treffen. Zu Pfingsten waren sie bei uns, nun gilt es, Wolles und Jeannys und meinen Geburtstag nachzufeiern. Idealer Ort dafür: die Gosen-Schenke in Gohlis. Zum letzten Mal war ich während meiner Armee-Zeit hier, vor mehr als 40 Jahren also, meingott. Und zum Glück schmeckt die Gose hier immer noch.

2021: Vor einer Woche wollten wir zur Wartburg, nun, da das Wetter einigermaßen stabil zu sein scheint, starten wir einen neuen Versuch. Da unser Hotel aber ausgebucht ist, fahren wir auf den Fichtelberg. Wandern, Liftfahren, Knoblauchsuppe- und Eisbecheressen, tschechisches Bier und Vogelberbaumbitter trinken. Wir übernachten im Fichtelberghotel.

2022: Nach einer Tropennacht am Morgen schon 25° C. Und da steht sogleich ein Zahnarzttermin an…

 

Epitaph

für

Ahkal Mo’ Nahb II. / Per Daniel Amadeus Atterbom / Long John Baldry / Romanus Bange / Ludwig Beck / Sabbatai Ben Josef / Tony Bennett / Massimo Bontempelli / Ahmed Bouchiki / Robert Burns / Luis Corvalán / Edgar Lawrence „E.L.“ Doctorow / Anne Dufourmantelle / Heinz Edelmann / Jerry Goldsmith / Arshile Gorky / Nicolae Grigorescu / Jelena Grigorjewa / Werner von Haefften / Hatheburg / Susanne Lothar / Albert John Luthuli / Lee Miller / Friedrich Olbrecht / Sergei Paradschanow / Magnus Poser / Albrecht Mertz von Quirnheim / Ludwig Renn / Radovan Richta / Einar Schleef / Ludwig Schnorr von Carolsfeld / Uwe Seeler / Åke Senning / Alan Shepard/ Claus Philipp Maria Schenk Graf von Stauffenberg / Henning Hermann Robert Karl von Tresckow

 

Das lasen wir als Grabinschrift:

Ephesos, 356. v. Chr.: der Tempel der Artemis, eines der sieben Weltwunder, wird in Barnd gesteckt / 356: Erdbeben vor Kreta und Tsunami, mehrere tausende Menschen sterben / Hamburg, 1902: Kollision des Dampfers „Primus“ mit einem Schlepper, 101 Todesopfer / Belfast, 1972: Bombenanschläge, neun Menschen sterben, mehr als 100 werden verletzt.

 

 

22. JULI

 

Lesen

mit

Orson Bean / Friedrich Bödecker / Margarethe Bothe / Alexander Calder / Marcel Cerdan / Herman „Junior” Cook / Marília Dias Mendonça / Louise Fletcher / Walter Furrer / Oskar Maria Graf / Gerhard Händler / Gustav Hertz / Edward Hopper / Karl Koch / Janusz Korczak / Emma Lazarus / Ignaz Joseph Martinovics / Alfred Messel / Wolfgang Paalen / Charles Regnier / Ludwig Ross / María Sabina / Anton Emil Hermann Saefkow / Victor Schœlcher / Pawel Ossipowitsch Suchoi / Franz Xaver Süßmayr / Vera Tschechova / Karl Veken / James Whale

 

Das lasen wir gern:

Kaukasus; 1829: Erstbesteigung des Elbrus / 1894: erstes Automobilrennen der Welt von Paris nach Rouen / Leipzig, 1922: Eröffnung des 1. Deutschen Arbeiter-Turn- und Sportfestes / Bretton Woods, 1944: Gründung des Internationale Währungsfonds (IWF) / New York City, 1946: Unterzeichnung der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) / 1954 wird Laos unabhängig von Frankreich.

Ich notierte:

1983: Laut Nachrichten war heute der heißeste Tag seit Beginn der Wetteraufzeichnungen vor 202 Jahren, Temperaturen um 40°C. Schallmauerdurchbrüche sind heute explosionsartig laut, erschrecken mich. Das Werk allerdings scheint nicht mehr zu produzieren, so leise ist es. Aber auch ich kann absolut nichts produzieren, an Denken ist nicht zu denken. Ich sollte wohl besser Urlaub machen – dabei sind wir soeben erst aus Prag zurück. Auf dem Rückweg halt bei Olaf, um Olaf zum 1. Preis zu gratulieren, den er bei einem Gesangswettbewerb in London gewann. Das ist kein Neid, absolutely not, trotz der großen Bewusstheit etwas nicht zu können, was einer, der’s auch nicht konnte, plötzlich kann… Immerhin lese ich, dass das zweite Außengutachten fürs Kinderbuch – immerhin von Günther Ebert – auch positiv ausfiel, nun also gedruckt werden kann. Aber Olaf ist mit seinen Gedanken schon auf Reisen round the world… Zu Recht! In mir war’s ebenso heiß, wie’s draußen heute ist. Ein Höllenfeuer.

1985: Seit vier Tagen im Riesengebirge, Vítkovice, Huta 112. Bis übermorgen werden wir hier bleiben, dann nach Wismar fahren für vielleicht zehn Tage. Diese Unterbrechung im alltäglichen Schreiben wird mir hoffentlich gut tun. Ja, in der Fremde wächst mir die Lust, an der Schreibmaschine zu sitzen, enorm. Notizen allenthalben.

1999: Das gestrige Hochgefühl reicht heute nicht allzu weit vor: Heizungswartung und -reparatur: Tausendzweihundert Mark. Wirtschaftsgeld für Jeanny (da ihr Arbeitslosengeld hinten und vorn nicht langt): zweihundert Mark (fürs erste). Dann kommt Cathi und sagt, dass es mit ihrer ABM nun doch nicht klappe. Und der Bildungsträger für den ich als Honorarkraft Lehrgänge abhalte teilt mir mit, dass sich für den August-Termin keine Teilnehmer gemeldet hätten.

2019: Fast wäre der Asteroid 2006QV89 auf der Erde eingeschlagen, Sprengkraft: 100 Hiroshima-Bomben, lese ich in der Zeitung. Seltsam, war dessen Annäherung nicht seit Jahren, seit Monaten, Wochen, Tagen beobachtet worden? Nie zuvor hatte ich von diesem Szenario gehört. Und auch weiter bleibt es bei jener dürren Notiz. Verdammt, wir sind offenbar haarscharf an einer Katastrophe, an einem Supergau vorbeigeschrammt. Jeder Politikerfurz löst doch einen Hype aus. Und hier: nothing in der so freien, globalisierten Informationswelt. So recht weiß ich nicht, was mir das sagt. 100-mal Hiroshima. Anyway?

 

Letzte Worte

für

Miguel Arteche / Max Aub / Marie François Xavier Bichat / Pedro de Camprobín / Leonore Tamara Danz / John Charles de Menezes / Sacha Distel / Tore Eikeland / Carlos Eduardo Antonio (C.E.) Feiling / Reginald Fessenden / August Froehlich / Floyd Gottfredson / Giovanni Guareschi / Ludwig Haberlandt / Peter Hamm / Piero Giorgio Heliczer / Polo Hofer / Illinois Jacquet / Ludwig Heinrich von Jakob / Fritz Kortner / Brigitte Kronauer / Detlev von Liliencron / Hieronymus Lotter / Peter Ludwig / Errico Malatesta / Victor Almon McKusick / Ulrich Mühe / Wolf Friedrich Magnus von Niebelschütz / Giuseppe Piazzi / Hermann Prey / Manuel Puig / John Augustus Roebling / Carl August Sandburg / Claude Sautet / George Shaw / Michail Michailowitsch Soschtschenko / Sonny Stitt / Werner Stötzer / Stephan Trepte / Eduard von Winterstein

 

An diesem Tage hörten wir letzte Worte:

1209 erobern Kreuzritter im Albigenserkreuzzug die Katharerhochburg Béziers und massakrieren fast die gesamte Einwohnerschaft / 1342 werden weiter Teile Mitteleuropas durch das Magdalenehochwasser überflutet / Merseburg: 1562 „tobte ein solch unwetter mit Sturm, Donner u. Hagel, daß die entsetzten Menschen das Jüngste Gericht gekommen glaubten, denn der Sturm brauste wie Trompeten, der Hagel sah aus wie glühende Kohlen“ / Merseburg, 1665 „veränderte sich das waßer in dem Gotthardts teiche, daß es gantz grüne ward, mann kundte auch damit auff papiere schreiben, und es sahe aus, als wenn es grüne Dinte wehre. Es hat sich auch befunden, daß die Fische in solchem teiche sehr gestorben, weswegen mann vermuthet, daß es durch eine gifftige Materia müßte inficiret u. angestecket seyn. Gott ist solches am Besten bewußt. Es entstunden aber darauff viel Kranckheiten unter den Leuten, u. sonderlich grassierte die rothe ruhr, daß viel menschen u. sonderlich viel kinder darin sturben“ / 1942 trifft der erste Zug mit deportierten Juden aus dem Warschauer Getto im Vernichtungslager Treblinka ein / Jerusalem, 1946: Bombenanschlag auf das „King David Hotel“ durch die Irgun Zwai Liumi, 91 Todesopfer / 1994 wird in China Falun Gong verboten / Norwegen, 2011: bei Abschlägen in Oslo und auf Utøya kommen 77 Menschen ums Leben / München, 2016: Terroranschlag, neun Tote.

 

 

23. JULI

 

Lösung

mit

Birt Acres / Alexander Nikolajewitsch Afanassjew / Fritz Bley / Géreard Brach / Raymond Chandler / Francesco Cilea / Reinhold Frank / Tatjana Alexejewna Gagarina / Götz George / Haile Selassie / Emil Jennings / Steve Lacy / Apolinario Mabini y Maranan / Ketumile Masire / Amália Rodrigues / Vera Rubin / Philipp Otto Runge / Filippa Sayn-Wittgenstein / Florenz Robert Schabbon / Hubert Selby / Charles Stoddard / Ludger Stratmann / Ludwig Sütterlin / Te Atairangikaahu / Anna Dorothea Therbusch / Bal Gangadhar Tilak / Theodoor „Theo“ van Gogh / Elio Vittorini /Tony Joe White / Edward Adrian Wilson

 

Das hielten wir für eine gute Lösung:

Pruth, 1711: mal wieder Friedensschluss in einem Russisch-Türkischen Krieg / 1851 entsteht in Österreich der weltweit erste staatliche Wetterdienst / Majdanek, 1944: Befreiung des KZ durch die Rote Armee / 1952: Ende der ägyptischen Monarchie / 1974: Zusammenruch der Militärdiktatur in Griechenland / Essen, 1997: Live-Übertragung der ersten Rockpalast-Nacht / Mostar, 2004: Wiedereinweihung der 1993 zerstörten Brücke.

 

Ich notierte:

1981: Seit gestern Nachmittag in Prag. Nach langem Suchen, Laufen, Geplärr doch noch ein Hotel gefunden. Natürlich wieder viel zu teuer (obwohl schäbig). Schon gehen die Finanzen zu Ende. Am Abend bei „U Fleku“.

2019: Oskarpreisträger Hans Zimmer komponierte für BMW, da Elektroautos nun ja lautlos daherkommen, satte Motor-Sounds zum Trost archaischer Fahrer. All is Hollywood, Hollywood is all.

2020: Ich lese Kathrin Passigs „Handbuch für Zeitreisende“, recht interessant, als es dann aber darum geht in die „DDR, das vergessene Land“ zu reisen, bin ich entsetzt: was maßt sich eine 1970 im tiefsten Bayern, hinter, Weißwurscht-Horizont also, geborene Autorin zu schreiben – ohne gebührend zu recher­chieren, geschweige denn Menschen, die in diesem Land lebten und noch immer am Le­ben sind, zu befragen! Da steht doch tatsäch­lich: „Zu wichtigen staatlichen Feiertagen, etwa am 1. Mai (Tag der Arbeit) und am 7. Oktober (Jahrestag der Großen Sozialisti­schen Oktoberrevolution) – hä?? - empfiehlt es sich, in einer beliebigen Stadt die Feierlichkeiten aufzusuchen.“ Unglaublich diese Ignoranz und Arroganz! Und da ich argwöhne, dass das ganze Buch nach dieser Methode recherchiert wurde, ist mir das Lesevergnügen gründlich vergangen. Mal sehen, welchem Blöd-Wessi (sorry, aber gegen diese dominante Bevölkerungsgruppe kann man sich ja nur durch Verbal-Injurien zu wehren versuchen) also: welchem Besser-Wessi ich diese altkluge Schwarte gelegentlich andrehen kann.

2021: Im Fernsehen: Eröffnung der Olympischen Spiele in Tokyo– um ein Jahr verschoben, vor leeren Rängen, und trotz in Japan explodierender Corona-Zahlen und ablehnender Haltung der Bevölkerung. Es geht eben um Knete, um nichts mehr als um Knete. Für den Einmarsch der Delegationen hat man sich aber was Neues ausgedacht, statt eines Fahnenträgers oder einer Fahnenträgerin pro Nation tragen nun ein Männlein und ein Weiblein gemeinsam die Flagge ihres Heimatlandes. Irgendwie fühle ich mich dabei in einen alten sowjetischen Mosfilm versetzt – im Vorspann kamen da auch stets ein Held und eine Heldin in gleicher Pose daher…

2022: Die WHO erklärt die sich weltweit rasch ausbreitenden Affenpocken zur „Internationalen Notfalllage“. Ähnliches hörten Jeanny und ich zuletzt im Januar 2020, als wir in Madagaskar waren, über Corona…

 

Leck

für

Luigi Abbiate / Donald Barthelme / Götz von Berlichingen / Alfred Biolek/ Carl Blechen / Willem Breuker / Pawlowitsch Brjullow / Edward Montgomery Clift / Glenn Hammond Curtiss / Alexandre de Beauharnais / Guy de Chauliac / Marceline Desbordes-Valmore / Wladimir Dimitrijewitsch Dudinzew / Robert Joseph Flaherty / Fritz Freitag / David Wark Griffith / Amir Fryszer Guttman / James Henry „Jimmy“ Harrison / Michael Hoppenhaupt / George Perkins Marsh / Valdemar Poulsen / William Ramsay / Alberto Santos Dumont / Domenico Scarlatti / Oksana Schatschko / Isaac Merritt Singer / George Tabori / Giuseppe Tomasi di Lampedusa / Eugène Françoise Vidocq / Nikola Wapzarow / Steven Weinberg / Amy Jade Winehouse / Phyo Zeya Thaw /Ulrich Zieger

 

Da spürten wir abgründiges ein Leck:

1793: Ende der Mainzer Republik / Italien, 1930: Erdbeben, 1.425 Tote / Annaba, 1964: im Hafen explodiert der Frachter „Star of Alexandria“, mehr als 100 Todesopfer / Detroit, Michigan, 1967: Ausbruch von Rassenunruhen bei denen 43 Menschen sterben und 1.189 verletzt werden / 1983 Beginn des Bürgerkriegs in Sri Lanka, der 26 Jahre andauern und in dem bis zu 100.000 Menschen ums Leben kommen / Scharm El-Schaich, 2005: Al-Qaida-Terroranschläge, 88 Todesopfer.

 

 

24. JULI

 

Abheben

mit

Ignacio Aldecoa / Consuelo Álvarez Pool / Alice Augusta Ball / Dieter Bellmann / Errnest Bloch / Simón Bolívar / Alexander Dalrymple / Alexandre Dumas d. Ä. / Amelia Mary Earhart / Robert Enke / Zelda Fitzgerald / Dan George / Abraham Goldfaden / Robert Graves / Karl Paul Immanuel von Hase / Kannadasan / Hermann Kasack / Danka Košanová / Werner Lichtner-Aix / Benedetto Giacomo Marcello / Alfons Mucha / Adolf Overweg / Henrik Pontoppidam / Rosemarie Schuder / Friedo Solter / Margarete Steiff / Andreas „Andy“ Töfferl / Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski / Frank Wedekind / Clemens Wilmenrod / Ernst Widar Amadeus Ziehnert

 

An diesem Tage hoben wir ab:

Halle, 1505: Fertigstellung des Roten Turms / Genf, 1868: Gründung der ersten Frauenrechtsorganisation weltweit / 1911: Wiederentdeckung von Machu Picchu.

 

Ich notierte:

1988: Waren die wirklich heißen Sommertage schon immer eine Versuchung, baden zu gehen, statt zu schreiben, habe ich mir nun noch einen Computer zugelegt – langgehegter Wunsch, Entwicklungen nicht hinterherzuhinken, sich im Gegenteil, damit intensiv zu beschäftigen. Learning by doing… Dateien anlegen, auch fürs Schreiben. Aber dieses Gerät ist natürlich eine ungeheure Versuchung! Am liebsten möchte man den ganzen Tag am Bildschirm sitzen… Außerdem sind im Garten die Kirschen zu pflücken, der Wein muss angesetzt werden… Also aufpassen: Concentration, Baby!

1999: Arbeit an den „Ortungen“. Mehr als 40 Seiten habe ich mittlerweile schweren Herzens (auf Verlegerwunsch) herausgekürzt. Nun noch (auf Verlegerwunsch) leichten Herzens einige Fotos der beschriebenen Orte eingefügt. Ansonsten Post erledigen, Ausstellungsunterlagen durchsehen, fürs Stones-Programm üben - es ist noch immer kühles, regnerisches Wetter.

2020: Dieser Tage zieht ein Komet an der Erde vorbei: Neowise, zu entdecken angeblich am nordöstlichen Nachthimmel nahe des Großen Wagens – was uns aber, wegen der Bewölkung wohl, bislang nicht gelang. Schade, nun dauert es 5000 bis 7000 Jahre bis Neowise hier wieder erscheint. Und tröstlich ist auch nicht so recht, was ich in einer Netflix-Serie höre: in etwa 4 Milliarden Jahren wird unsere Galaxie mit dem Andromeda-Nebel zusammenstoßen.

 

Verunsicherung

für

Walerian Iwanowitsch Abakowski / Akutagawa Ryūnisuke / Hans Albers / Anastasio Mártir Aquino San Carlos / Hugo Asbach / Ottilie Baader / Constance Bennett / Alphonse Bourquin / Robert Cocking / Garry Davis / Richard Doll / Eduard Duller / Corsino Fortes / Ludwig Ganghofer / Friedrich Goldmann / Sacha Guitry / Christian Holm / Virginia Johnson / Heinz Knobloch / Herbert Köfer / Walter Rudolf Leistikow / Friedrich von Logau / Benedetto Giacomo Marcello / Wolfgang Mocker / Mirosław Nahacz / Dom Um Romão / Ferdinand von Saar / Peter Sellers / Isaac Bashevis Singer / Otto Strupat / Matthew Webb / Adnan Yücel

 

Da fühlten wir uns nachhaltig verunsichert:

1572 erobern die Spanier die Festung Vilcabamba und nehmen den letzten Inka Túpac Amaru gefangen / Chicago, 1915: der Passagierdampfer „Eastland“ kentert, 845 Todesopfer / 1943: Beginn der „Operation Gormorrha“, die neuntägige Zerstörung Hamburgs durch alliierte Bomber, bei der bis zu 34.000 Menschen ums Leben kommen / Ramat Gan, 1995: Selbstmordanschlag auf einen Bus, sechs Tote / Duisburg, 2010: Massenpanik bei der Loveparade, 21 Menschen sterben, 652 werden verletzt / Santiago de Compostella, 2013: Eisenbahnunglück, 79 Tote / Mali, 2014: Absturz einer MD-83, alle 116 Insassen sterben.

 

 

25. JULI

 

Hearing

mit

Enrique Amorim / Walter Brennan / William George Browne / Elias Canetti / Alfredo Casella / Manny Charlton / Max Dauthenday / Robert Dittrich / Kristina Ðukić / Thomas Eakins / Donald Johnson „Don“ Ellis / Philipp Heinrich Erlebach / Rosalind Elsie Franklin / John B. Goodenough / Paul Graetz / Karl Höller / Charlotte von Kalb / Albert Knapp / Kumaratunga Munidasa / Gavrilo Princip / Jakob Immanuel Pyra / Brad Barron Renfro / Bernhard Rode / Raúl Ruiz / Aki Sirkesalo / Wassili Makarowitsch Schukschin / Elizabeth Eleanor Siddal / Edward „Teddy“ Solomon / Thietmar von Merseburg / Emmett Louis Till / Johann Jakob von Tschudi / Ueda Akinari / Jürgen Wittdorf

 

Das hören wir uns gern immer wieder an:

Rom, 315: Einweihung des Konstantinsbogens / 325 endet das erste Konzil von Nicäa / 1139 trennt sich Portugal von Kastilien / Dundee, 1835: erste öffentliche Vorführung einer Glühbirne /

1975: Ausrufung der Republik Tunesien / Oldham, England, 1978: Louise Brown, das erste „Retortenbaby“ der Welt wird geboren.

 

Ich notierte:

1981: Schon wieder zu Hause aus der ČSSR. Nach einer Nacht im Grünen (Schlafen im Moskwitsch) und einem Vormittag in Karlovy Vary waren wir schnurstracks zurückgefahren. Das Wetter, ja, das Wetter… Vom Zoll wurden wir natürlich gefilzt.

2000: Projektplanungen, Telefonate. Zwischendurch mal schnell mit Jeanny zur Einwohnermeldestelle – wir brauchen neue Pässe und Ausweise, tja, das ist nun tatsächlich schon bald 10 Jahre her, dass wir richtige Pässe beantragen konnten...

 

Hymne

für

Yasmin Ahmad / Matti Aikio / Friedrich Gustav Arvelius / Johann Bernhard Basedow / Michail Pawlowitsch Bestuschew-Rjumin / Erik Keith Brann / Traugott Buhre / Hiram Bullock / Michael Cacoyannis / André Marie Chénier / Samuel Taylor Coleridge / Paul d’Abrest / Otto Dix / Pierre Dupont / Witold Gombrowicz / Peter Green / Johnny Griffin / François Hédelin / Herrad von Landsberg / Howard Tracy Hall / Per Hasselberg / Uladsimir Karatkewitsch / Max Kommerell / Dieter Kühn / Kyaw Min Yu / Elisabeth Langgässer / Andreas Libavius / Albert Mangelsdorff / Frank O’Hara / Olympias von Konstantinopel / Josef Boleslav Pecka / Phoolan Devi / Pierluca / Osvaldo Pugliese / Niklaus Riggenbach / Kondrati Fjodorowitsch Rylejew / Hugo Alfredo Santillan / Johann Kaspar Schade / John Schlesinger / Maria Szymanowska / Big Mama Thornton /David Trimble /  Jakob Johann von Uexküll / Gary Windo / Wladimir Semjonowitsch Wyssotzki / Geoffrey Gurrumul Yunupingu

 

Darauf würden wir keine Hymne anstimmen:

1668: Erdbeben in der chinesischen Provinz Schandong, bis zu 50.000 Todesopfer / 1670 werden die Juden aus der Wiener Leopoldstadt verweisen / 1935: Flutkatastrophe am Jangtsekiang, 200.000 Menschen sterben / 1956 Kollision der Passagierschiffe „Andrea Doria“ und „Stockholm“ vor der Küste von Nantucket, 46 Todesopfer / 1969: Erdbeben in der chinesischen Provinz Yangjiang, 3.000 Menschen kommen ums Leben / Paris, 2000: Absturz einer Concorde nach dem Start, 113 Todesopfer / Algerien, 2023: bei Waldbränden sterben mindestens 35 Menschen..

 

 

26. JULI

 

Demonstration

mit

Alberta Adams / Chairil Anwar / Tadeusz Baird / George Catlin / Ingeborg Drews / Blake Edwards / Hannelore Elsner / Joseph Engelberger / Gunther Erdmann / John Field / Jakob Gapp / Alfred Grenander / George Grosz / Bobby Hebb / Aldous Huxley / Carl Gustav Jung / Peter Kersten/ Stanley Kubrick / Sergei Alexandrowitsch Kussewizki / James Lovelock / Elinborg Lützen / Antonio Machado / Franz Xaver Wolfgang Mozart / Maria Severa Onofriana / Moritz Eduard Pechuël-Loesche / Philip Scheidemann / George Bernard Shaw / Takahashi Fumi / Gustav Adolph Thiem / Dilano van’t Hoff / Wascha-Peschawa

 

Das hielten wir für eine gelungene Demonstration:

1429: Ende des Abendländischen Schismas / 1581 erklären die Niederlande ihre Unabhängigkeit von Spanien / 1847 wird Liberia unabhängig / Santiago de Cuba, 1953: Beginn der kubanischen Revolution / 1965: erhalten die Malediven ihrer Unabhängigkeit von Großbritannien.

 

Ich notierte:

1982: Die ganze letzte Woche war ein einziges Feten. Mittwoch kam Emil mit der überraschenden Nachricht, Othello komme aus Fort Lauderdale auf Besuch. Donnerstag versuchten wir Othello zu finden. Othello war Freitag dann bei uns – doch es war kaum noch mit ihm übereinzukommen. Sonnabend waren wir dennoch im Waldbad mit ihm. Gestern dann Familienabend mit meinen Eltern und Schorsch. So gut wie alle Arbeit blieb liegen… Das große Interesse an dem, was ich derzeit hervorbringe, darf mir nicht aus der Hand gleiten, darf mir nicht zerfließen…

1999: Am Nachmittag zum Workshop des halleschen Kinder- und Jugendschreibrings nach Bad Kösen. Dabei auch Gäste aus Österreich. Ich entschließe mich, erstmals „Novembertau“ zur Diskussion zu stellen. Eine gute, eine anregende Lesung. Am Abend im Fernsehen eine Live-Sendung aus Merseburg infolge des Bombenanschlags vom Juni. Eine schlimme, eine peinliche Veranstaltung, geschuldet einem völlig überforderten Moderator, der Statements von Kommunalpolitikern (schöne, heile Welt) neben Statements von Ganoven (wer hat die überhaupt eingeladen?) stehen lässt und ansonsten nur auf die „Tränendrüse“ drückt. Merkwürdig auch: vor der Bühne scheinen Unmengen Mitarbeiter der Merseburger Stadtverwaltung zu stehen, und ganz zufällig werden die auch nach ihrer Meinung gefragt (die Merseburg als völlig normale Stadt preisen - was am letztlich wohl nicht mal so verkehrt ist...). Kein Vertreter der Staatsanwaltschaft, kein Vertreter des Innenministeriums, kein Polizei-Vertreter - gutes oder schlechtes Zeichen? Soll tatsächlich aufgeräumt oder mal wieder „unter den Teppich gekehrt“ werden? Niemand stellt die „Kardinalfrage“: Warum konnte das alles hier nur derart eskalieren - weshalb konnten für Attentate der letzten Jahre hartnäckig keine Schuldigen ermittelt werden?

2023: „Arbeits-Lunch“ mit meinem Verleger Roman in einem neuen eritreischen Restaurant in Halle. Über den Fahrplan für die nächsten beiden „Bauer-Bände“ und mein „Figuricon“ haben wir uns rasch verständigt. Mit „Jankopedia“ und meinem „Kalendaricon“ dürfte es im Mitteldeutschen Verlag jedoch schwierig werden. Der aus seiner Sicht notwendige Aufwand für eine Druckausgabe der 12 Bände dürfte ihn und mich überfordern, finanziell vor allem. Ich werde mich also nach einer anderen Möglichkeit umsehen müssen, mich fürs Erste vor allem auf eine Internet-Variante konzentrieren.

 

Dürre

für

Paul Ackermann / Kalju Ahven / Laurindo Almeida / Diane Arbus / Roberto Godofredo Arlt / Joe Arroyo / Atahualpa / Valentin Boltz / J. J. Cale / Merce Cunningham / Jakow Petrowitsch de Balmen / Olivia de Havilland / Heinrich Drake / Joseph von Eichendorff / Alexander Eliasberg / Paweł Finder / Gottlob Frege / Karoline von Günderode / Rolf Haufs / Nathan Jonas „Joey“ Jordison / Israel „Iz“ Ka’ano’i Kamakawiwo’ole / Kamo no Chōmei / Karađorđe / Hilde Levi / Boy Lornsen / James Lovelock / Randy Meisner / Brent Mydland / Nikolai Nikolajewitsch Nossow / Sinéad O’Connor / Käthe Paulus / Eva „Evita“ Perón / Elena Lucrezia Cornaro Piscopia / Walter Reppe / Fanny Gräfin zu Reventlow / Walter Richter / Charlie Rivel / Abel Santamaría / Gerda Taro / Mary Esther Wells/ Mary Esther Wells / John Wilmot / Johann Georg August Wirth /

 

An diesem Tage verdorrte uns so manches:

1184: Latrinensturz, 60 Tote / 1529: Beginn der spanischen Eroberung Perus / 1805: Erdbeben in Mittelitalien, mehr als 26.000 Tote / Nogeun-ri, Korea, 1950 massakrieren US-Truppen bis zu 400 Zivilisten / 1956: Beginn der Suez-Krise / Skopje, 1963: Erdbeben, 1.110 Todesopfer.

 

 

27. JULI

 

Duett

mit

George Biddell Airy / Lena Amsel / Friedrich Aue / Jeanne Baret / Jean Baudrillard / Pina Bausch / Bertram Borden Boltwood / Ignaz Bosendorfer / Bourvil / Otto Braun / Giosué Carducchi / Jessica „Jessi“ Combs / Garry Davis / Geoffrey de Havilland / Mario Del Monaco / Ernst von Dohnányi / Hilde Domin / Alexandre Dumas d. J. / Marielle Franco / Mauro Giuliani / Jack Goody / Julien Gracq / Miguel Grau Seminario / Erwin Hahs / Joseph Kittinger / Igor Markevitch / Ernst May / Kippie Moeketsi / Karl Mueller / Kūkai / Heinrich Neuy / Victor Noir / Dawid Rubinowicz /  Barbara Rudnik / Dash Snow/ Barbara Thompson / Nikolai Konstantinowitsch Tscherkassao / Tatjana Turanskyj / Karoly „Charles“ Vidor / Christoph Voll / Jakob Wald / Ernst Zermelo / Rajzel Zychlinski

 

Da stimmten wir froh mit ein:

1694: Gründung der Bank of England / Frankreich, 1830: Beginn der Juli-Revolution / 1866: wird das erste Transatlantische Telefonkabel betriebsfertig / 1929: Verabschiedung der Genfer Konvention / 1949: Erstflug des ersten Düsenverkehrsflugzeuges der Welt, einer DH 106 „Comet“/ Panmunjeom, 1953: Ende des Korea-Krieges.

 

Ich notierte:

1986: Seit gestern aus dem Riesengebirge zurück und eigentlich nur Zwischenstation in Leuna auf dem Weg an die Ostsee, doch in der Post schon wieder zwei Ablehnungen von Texten.

1999: Im Comte-Sponville interessantes Karl-Popper-Zitat: „Wenn man absolut, selbst gegen die Intoleranten, tolerant ist und die tolerante Gesellschaft nicht gegen deren Angriffe verteidigt, werden die Toleranten vernichtet, und mit ihnen die Toleranz.“ In einer SPIEGEL-Reportage über eine Konferenz der so genannten String-Forscher (die auf der Suche nach der Welt-Formel sind) ein zumindest ebenso notierenswertes Einstein-Zitat: „Das Unbegreifbarste des Universums ist, dass es begreifbar ist.“

2022: Presse: „Die Lebenserwatung in Deutschland ist seit Beginn der Corona-Pandemie deutlich gesunken. Die durchschnittliche Lebenserwartung hat sich bei Jungen um knapp sieben und bei Mädchen um knapp sechs Monate verringert und beträgt bei neugeborenen Jungen nur noch 78,2 und bei neugeborenen Mädchen 83,2 – in Sachsen-Anhalt: 76,2 und 82,3 Jahre….“

 

Duell

für

Benesch von Weitmühl / Ferruccio Busoni / Kevin Carter / Youssef Chahine / John Dalton / Rainer Maria Gerhardt / Samuel Gottlieb Gmelin / Lilian Harvey / Josef Hegenbarth / Dusty Hill / Bob Hope / Brigitte Horney / Liesl Karlstadt / Olga Wassiljewna Klepikowa / Kliment von Ohrid / Theodor Kocher / Johann Kresnik / Diouldé Laya / Michail Jurjewitsch Lermontow / Tony Martin / James Mason / Gerda Maurus / Bronisław Ludwik Michalski / Garrett Morgan / Einojuhani Rautavaara / Elizabeth Rona / Miklós Ròsza / George Russell / Aleksander Saebelman-Kunileid / Johann Andreas Schmeller / Hans Schomburgk / Gertrude Stein / Dolf Sternberger / Marten Toonder / Manuel Vázquez Montalbán / Elisabeth Volkmann / László Weiner / Asep Wildan / Wladimir Nikolajewitsch Woinowitsch / William Wyler

 

Da schien uns auf ein Duell hinauszulaufen:

Merseburg, 1249 hat sich ein „grausahmen unerhörtes sturmwetter erhoben mit donnern, Blitzen und Hagelsteinen darüber viel menschen u. vieh erschlagen, auch an den gebäuden großer schaden geschehen“ / 1862 strandet der Raddampfer „Golden Gate“ an der mexikanischen Küste, 204 Tote / 1955 schießen bulgarische Abfangjäger bei Petritsch versehentlich ein Lockheed Constallation der El Al  ab, alle 58 Insassen sterben / Atlanta, 1996: Bombenanschlag während der Olympischen Spiele, zwei Menschen werden getötet, 111 verletzt / Lemberg, 2002: Unglück währen einer Flugschau, 85 Menschen kommen ums Leben.

 

 

28. JULI

 

Tauchgang

mit

Mary Anderson / John Ashbery / Karl Moritz von Beurmann / Michael Bernard „Mike“ Bloomfield / Pasquale Festa Campanile / Ernst Cassirer / Hugo Chávez / Samuel Laird Cregar / Jakow Petrowitsch de Balmen / Brenda de Banzie / Leonora Duarte / Marcel Duchamp / Ludwig Feuerbach / Terry Fox / Apollon Alexandrowitsch Grigorjew / Bertha Gumprich / Robert Hooke / Gerard Manley Hopkins / Franz Janowitz / David „Junior“ Kimbrough / Katharina Klaučzek, / Barbara La Marr / Rued Langgaard / Judith Leyster / Malcolm Lowry / Albert Namatjira / Rolf Ludwig / Silvina Ocampo / Jacques Piccard / Arshi Pipa / Karl Popper / Beatrice Potter / Jacopo Sannazaro / Dolf Sternberger / Earl Silas Tupper / Udo Walz / Richard Wright

 

An diesem Tage drangen wir bis zum Grund vor:

Berlin, 1742: Friedensschluss zwischen Preußen und Österreich im Ersten Schlesischen Krieg / 1800: Erstbesteigung des Großglockners / 1821. erklärt Peru seine Unabhängigkeit von Spanien / 1951: Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention / 2005 erklärt die IRA das Ende des bewaffneten Kampfes in Nordirland.

 

Ich notierte:

1980: Urlaub. Seit Freitag – heute ist Montag – sind wir unterwegs, Jeanny, Cathi, ich, waren bei Olaf in Dresden, drei schöne Tage. Sogar gutes Wetter – seit fünf Regenwochen erstmals wieder Sonne – wir waren sogar zweimal baden! Olaf las, was ich in letzter Zeit so geschrieben hatte, und wir sprachen danach über seine Eindrücke, ich hörte also so etwas wie eine erste Lesermeinung. Jeanny kennt die Texte natürlich auch, weiß aber auch, was dahinter steckt, liest die realen Geschichten immer mit, da gibt natürlich eine Art Befangenheit. Nun gut, bei Olaf könnte unsere Freundschaft so einen Effekt haben. Aber nein, wir reden gut, wir reden ehrlich. Ihm gefällt’s. Ich fühle mich gut.

1981: Seit gestern ein neues Kopfzerbrechen: es ergab sich die Möglichkeit einer Band-Neugründung, nicht mal aussichtslos, da Anlage, Transportmittel, sogar einige Verträge gesichert wären. Aber die Band braucht einen Kopf – und der soll ich sein. Das ist das Übel. Frank, Lotte und Peter – das sind die Neugründer, fahren dann mir zu einem Manager nach Ha-Neu. Aber ich weiß nicht… Heute Signale, dass es mit dem Leuna-Fördervertrag klappen könnte, obwohl der mich finanziell natürlich nicht absichern kann, aus gröbster Verlegenheit helfen aber auf jeden Fall. Ich schwanke.

1988: Gestern nun schon die dritte, mir während des Schreiburlaubs angebotene Reise abgeschlagen. Schon zweimal hätte ich mit Delegationen in die SU, nun nach Ungarn und Bulgarien fahren können. Hoffentlich nutzen all meine Verzichte.

1993: Gedser. Mit einem Narrenschiff wohl waren wir über die Ostsee gekommen: Einzelne Passagiere nur hatten in Warnemünde die Fähre verlassen. Seltsam, meinten wir, kaum aber erreichte man zollfreie Gewässer ertönte eine Sirene und alles ringsum begann Bier und Schnaps und Zigarettenstangen zu horten, zu saufen und rauchen und grölen, so dass uns selbst am Bug Klaustrophobie anwehte, Teens und Twens und Greise und selbst Hunde wohl... Auf dänischer Seite warteten zu Dutzenden deren Busse, und in Minutenschnelle standen wir ziemlich allein, spazierten in den Ort, der uns ein Leben lang durch Transitschilder gelockt hatte, doch unerreichbar schien, und wurden angestarrt wie Narren.

1999: Veranstaltung für geistig behinderte Kinder und Jugendliche in Halle-Neustadt. Sehr schwieriges, aber auch sehr dankbares Publikum, in jedem Moment eine Herausforderung. Eine gute Veranstaltung. Die Betreuer bitten mich wieder zu kommen. Gutes Gefühl.

2000: Termin beim Pressechef der Leuna-Raffinerie, dem ich offenbar fürs nächste Jahr deutsch-französische Literaturtage schmackhaft machen konnte.

2020: Heute wollte Thomas Rackwitz zum Kaffee kommen, wohl seinen neuen Gedichtband dabei haben. Ich hatte mich schon sehr auf das Kollegengespräch gefreut, da war schon lange keine Möglichkeit mehr… Doch er musste kurzfristig absagen: seine große Tochter wurde im Kindergarten „Corona positiv“ getestet. Quarantäne also.

2021: Am Abend mal wieder zum Essen ins Klubhaus. Nach einer Weile kommt der ehemalige Oberkellner des Hauses an unseren Tisch, fragt, ob er sich zu uns setzen, ein bisschen plaudern könne. Die Frau sei ihm gestorben, und dann Corona, ihm fehle ein gutes Gespräch. Keine Frage, das wird es. Wir lachen herzlich miteinander.

2022: Am Abend nehme ich mal wieder an einer PEN-Tagung online teil. Und nach mehreren Anläufen wird Peter Winzer, für den ich bürgte, wieder nicht zugewählt – das Zuwahlverfahren wurde einmal mehr auf den 13. Oktober verschoben…

 

Totenklage

für

Hima Adamou / Enrique Amorim / Johann Sebastian Bach / Clemens Brentano / Carl Gustav Carus / Edwin James „Eddie” Costa / Abraham Cowley / Francis Crick / Savien Cyrano de Bergerac / Lorenzo De Ferrari / Maxilimien de Robespierre / Louis Antoine de Saint-Just / Marie Dressler / Otto Hahn / Ales Harun / Werner Heiduczek / Heinrich von Sachsen-Merseburg / Zbiegniew Herbert / Kham Suk / Clyde Kay Maben Kluckhohn / Flinders Petrie / Diana E. H. Russell / Tiziano Terzani / Thankmar / Steven Vinaver / Antonio Vivaldi / Ethel Lilian Voynich / Ben Wagin

 

Da vernahmen wir deutlich Totenklagen:

1566 sinken in einem Sturm vor Gotaland zahlreiche Schiffe der dänisch-lübischen Flotte, etwa 6.000 Tote / Paris, 1835: Attentat auf König Louis-Philippe I, der wird nur leicht verletzt, doch mehr als 12 Menschen kommen ums Leben / Ischia, 1883: Erdbeben, 2.300 Todesopfer / Binz, 1912: Einsturz der Seebrücke, 17 Menschen ertrinken / 1914: Österreich-Ungarn erklärt Serbien den Krieg, Beginn des Ersten Weltkrieges / Jaroslawl, 1918: Aufstand gegen die Bolschewiki, 428 Menschen werden von der Tscheka hingerichtet / New York: 1945: kollidiert ein B-25 Bomber mit dem Empire State Building, 14 Tote / Ludwigshafen, 1948: Kesselwagen-Explosion, 207 Menschen streben / 1976: Erdbeben im chinesischen Tangshan, bis zu 800.000 Todesopfer / Iran, 1981: Erdbeben: 1.500 Tote / Morignone, Veltlin, 1987: durch einen Felssturz kommen 53 Menschen ums Leben / Islamabad, 2010: Absturz eines Airbus A321 beim Landeanflug, 152 Todesopfer.

 

 

29. JULI

 

Prüfung

mit

Theda Bara / Heinz Beberniß / Carl Blechen / Clara Bow / Henry Robertson „Birdie“ Bowers / Charlie Christian / Eduard Claudius / Edward Theodore Compton / Simon Dach / Liam Patrick Davison / Alexis de Tocqueville / Wladimir Dimitrijewitsch Dudinzew / Walter Gronostay / Antanas Gudaitis / Dag Hjalmar Agne Carl Hammarskjöld / Gerhard Armauer Hansen / Chester Himes / Else Hirsch / Eyvind Johnson / Herbert Kegel / Georg Kerschensteiner / Kimura Komako / án Kollár / Wilhelm Kress / Chris Marker / Francesco Mochi / Arno Mohr / Pier Francesco Morazzone / Harry Mulisch / Carl Borromäus Neuner / Max Nordau / Karl Otten / William Powell / Walter Reppe / Thomas Rosenlöcher / Peter Schreier / Meir Shalev / Elizabeth Short / Rudolf „Rudi“ Stephan / August Stramm / Paul Taylor / Awet Terterjan / Elisabeth von Thadden / Johann Theile / Mikis Theodorakis / Sturla Þórðarson / Thelma Alice Todd / Gustav Adolf Zwanziger / Vladimir Kosma Zworykin

 

Das prüften wir gern:

Paris, 1818:  Gründung der ersten französischen Sparkasse / Paris, 1836: Einweihung des Arc de Triomphe / 1899: Unterzeichnung der ersten „Haager Landkriegsordnung“ / 1957: Gründung der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO).

 

Ich notierte:

1999: Idee für eine neue Erzählung, erste Sätze. Wie ermutigend nach all den Korrekturen und sonstigen Nacharbeiten. Neues erfinden, Unterbewusstsein nutzen („es schreibt mal wieder...!“). Und vor allem ein Auftrag der da nicht von außen kommt, sondern den man sich selbst gab. Wichtig. Dann für zwei Tage nach Berlin-Dahlem, ins Institut für Museumskunde, zu einem Medienlehrgang und gleichzeitiger Abstimmung mit der Bosch-Arbeitsgruppe.

2019: Großer Zeh rotviolett zu Tiefschmerz geschwollen. Und länger wird meine Liste der Nie-Mehrs.

2022: Wir starren in den Himmel über Leuna, können aber keinen Mauersegler mehr entdecken. So früh waren die noch nie verschwunden hier – und waren so spät wie nie gekommen…

 

Psalm

für

Aruna Asaf Ali / Tobias Asser / Rainer Baumann / Martin Behaim / Alewtina Alexandrowna Bilinkina / Karel Havlíček Borovský / Luis Buñuel / Emmie Takomana Chanika / Henri Charrière / Pierre Clastres / Bob Crane / Cass Elliot / Sarah Good / Dorothy Crowfoot Hodgkin / Wau Holland / Herwig Hübner / Tilman Jens / Nafisa Joseph / Erich Kästner / Lisa-Maria Kellermayr / Sheik Umar Khan / Ludwig Klages / Leo Kofler / Nikolai Wassiljewitsch Krylenko / Joseph Kürschner / Herbert Marcuse / Chris Marker / Robert Moses / Franz Xaver Wolfgang Mozart / David Niven / Sigbjørn Obstfelder / Olav II. Haraldsson / Dan Pagis / Richard Pearse / Robert Schumann / Ricarda Schwerin / Tomasz Stańko / Tang Xianzu / Vincent Willem van Gogh / Aleksander Wat / Karl Friedrich Gottlob Wetzel / Roger Williamson / Vladimir Kosma Zworykin

 

Da verging uns das Psalmodieren:

Colonia del Sacramento, Rio de la Plata, 1735: Beginn des Spanisch-Portugiesischen Krieges / County Tipparary, 1848: Niederschlagung des Aufstandes der Bewegung „Junges Irland“ / 1878 besetzt Österreich Bosnien und die Herzegowina / Golf von Tonking, 1967: Brand auf dem US-Flugzeugträger „Forrestal“, 134 Todesopfer / 1968: beim Ausbruch des costaricanischen Vulkans Arenal kommen 80 Menschen ums Leben.

 


30. JULI

 

Lektüre

mit

Miron Białoszewski / Peter Bogdanovich / Emily Jane Brontë / Pol Chruchten / Friedl Dicker-Brandeis / Wiktor Isidores dse Dolidse / Ida Frick / Sverre Helge Hassel / Chris Howland / Herbert Jobst / Frans Masereel / Tachihara Michizō / Henry Moore / Sofija Oleksandriwna Nalepynska-Bojtschuk / Walter Oehmichen / Leopold Schefer / Pete Schoening / Brian David Sicknick / Raden Soetomo / Hansgeorg Stengel / Martin Spanjaard / Julia Tsenova / Werner Tübke / Giorgio Vasari / Thorstein Veblen / Alfred Weber

 

Das lasen wir mit Freude:

762: Gründung von Bagdad / 1741 entdeckt Vitus Bering Alaska / 1980 erhält Vanuatu seine volle Souveränität / Belgien, 1939: Inbetriebnahme des Albert-.Kanals.

 

Ich notierte:

1980: Nach zwei Tagen in Polen, Karpacz, wo alles merkwürdig unruhig schien, sind wir nun in der ČSSR gelandet, Tanvald. Doch hier sollte man nie das erstbeste Hotel nehmen. Unglaublich, zum Abendbrot – wozu eine schreckliche Drei-Mann-Kapelle nervte - gab es kein Bier, nein, und als wir uns dann auf Rotwein geeinigt hatten, plötzlich angeblich auch keinen Rotwein mehr. Irgendwie scheinen die hier was gegen Deutsche zu haben…

2000: Sonntag (wenn auch nur mit ein bisschen Sonne am späten Nachmittag), ich lese mich weiter durch Stapel von Schülertexten. Interessante Texte im Übrigen dabei, Texte, die zur intensiven Arbeit mit schreibenden Schülern durchaus motivieren.

2019: Neuer Hessischer Landbote: Ein Geschenk wolle ein Herr Drachen, Zentralbänker seines Zeichens, seiner Nachfolgerin, einer Garde Dame, auf den weiteren Weg mitgeben, munkelts in Frankfurt. Zu seiner Zeit habe der ja eine wichtige Schlacht im Kampf der Paläste gegen die Hütten gewonnen, indem Sparern, in Umkehrung der Spar-Idee, keinerlei Zinsgewinne mehr gutgeschrieben wurden. Nur noch Banken profitieren von geliehenem Geld. Nun aber sollen Negativ-Zinsen auf Sparguthaben nächstes Plünderungsziel sein. Wer spart, bezahle dafür! Offenbar fürchten Palastbesitzer die Enteignung nicht mehr.

 

Legende

für

James Aggrey / Michelangelo Antonioni / Babu wa Loliondo / Ingmar Bergman / Maeve Binchy / Otto Eduard Leopold von Bismark / Jimmy Blanton / Johannes Benjamin Brennecke/ Claudette Colbert / Adolf Damaschke / García Jofre de Loaísa / John Garang / Philipp Hafner / Caroline Hartmann / Miguel Hidalgo / Konrad Klapheck / Jon Leifs / Meiji / Umberto Nobile / Jacopo Palma / Walter Horatio Pater / Nikolai Nikolajewitsch Polikarpow / Jürgen Ponto / Christian Reichart / Paul Reubens / Magda Schneider / Sigmund Theophil Staden / Hansgeorg Stengel / Sturla Þórðarson / Arron Toepfer / Georg Weerth / Ernst von Wolzogen / Peter Zadek

 

Das wurde uns nie zur Legende:

1419: Erster Prager Fenstersturz / Merseburg, 1663 „erhuben sich schwere unwetter, so in die 2 stunden währeten, u. wohl an 20 orthen eingeschlagen, wobey sich gegen 10 uhr ein grausamer Sturm und Platz-Regen erhub, der die meiste Obst von denen Bäumen und das Getreyde ausschlug, die Mandeln einwarff, u. schrecklichen Schaden verursachte“ / Yukatan, 1847: Beginn des Kastenkrieges / 1865 sinkt vor der kalifornischen Küste der Raddampfer „Brother Jonathan“, 225 Menschen ertrinken / New York, 1871 sterben bei einem Fährunglück 125 Personen / Jersey City, 1916: eine Sprengstoff-Explosion tötet sieben Menschen und beschädigt die Freiheitsstaue / China, 1917: Erdbeben, 1.800 Tote / 1937: Beginn des „Gro0en Terrors“ in der Sowjetunion / 1945 versenkt ein japanisches U-Boot die „USS Indianapolis“ in der Philippinensee, 880 Seeleute sterben / Morioka, 1976: eine Boeing 727 kollidiert mit einem Kampfjet über der Stadt, 162 Menschen kommen ums Leben / Ghislenghien, Belgien, 2004: Explosion einer Gas-Pipeline, 24 Todesopfer /  Khyber Pakhtunhwa, Pakistan, 2023: bei einem Bombenattentat kommen mindestens 40 Menschen ums Leben.

 

31. JULI

 

Wanderung

mit

August von Sachsen / Ludwig Blenker / Elise Nada Cowen / Jean-Gaspard Deburau / Louis de Funès / Ignacy Domeyko / Jean Dubuffet / Jacobus Gallus / Carl Friedrich Goerdeler / Hank Jones / Carlo Karges / Primo Levi / Cecilia Mangini / Johann Friedrich Meckel d. Ä. / Helene Odilon / Constant Pemeke / Marie Luise Auguste Petersen / Oleg Konstantinowitsch Popow / Vojtĕch Preissig / Premchand / Hilary Putnam / Ivan Rebroff / Peter Rosegger / Jacques Villon / Walter Vogt / Friedrich Wöhler

 

Da freuten wir uns auf den Beginn einer schönen Wanderung:

Breda, 1667:  Friedensschluss im Zweiten Englisch-Niederländischen Krieg, das spätere New York geht an England, Surinam an die Niederlande / Wien, 1752: Eröffnung des Tiergartens Schönbrunn / 1919 wird die Funkverbindung Berlin-New York aufgenommen / Himalaya, 1953: Erstbesteigung des K2 / Bangkok, 1961: Gründung der Association of South-East Asia, eine Vorläuferorganisation der ASEAN / 1967 sendet „Ranger 7“ vorm Zerschellen erste Fotos vom Mond / 1991: Unterzeichnung des START-Vertrages zur Reduzierung strategischer Atomwaffen / 2007 endet die seit 1969 andauernde Stationierung britischer Soldaten in Nordirland /

 

Ich notierte:

1999: Herrlicher Sommertag. Schreiben, Lesen, Dösen im Garten. André Comte-Sponville: „Was für eine Angst muß man vor der Wahrheit haben, wenn man der Illusion den Vorzug gibt!“

2020: Über 5 Ecken hatte ich Emmanue Carrère entdeckt. Und bei ihm las ich immer wieder von dem genialen amerikanischen Autor Philip K. Dick, der mir nichts sagte. Nie gehört. Da ich Carrères Meinung und Geschmack jedoch goutiere, bestellte ich mir einen Dick, seine Erzählungen – und: bin begeistert. Mittlerweile habe ich mir, teils antiquarisch, alle greifbaren Dicks organisiert. Bin für diesen Sommer (der coronabedingt ja eh kein Reisesommer ist) mit Lektüre bestens versorgt.

 

Wunder

für

Ibn al-Banna al-Marrākuschī / Alexandra / Angus Cloud / Guido Crepax / Antoine de Saint-Exupéry / Denis Diderot / Johann Ludwig Maximilian Dortu / Werner Finck / Erich Heckel / Ignatius von Loyola / Fasil Abdulowitsch Iskander / Jožka Jabůrková / Jean Jaurès / Ahmad Jawed / Willem Kalf / Fritz Kühn / Lee Cheong-jun / Ari Leschnikoff / Chuck Loeb / Elfriede Lose-Wächtler / Franz Liszt / Mitch Miller / Jeanne Moreau / Martin Perscheid / Sándor Petöfi / Earl „Bud“ Powell / Tony Sly / Diana Frances Spencer / Sugihara Chiune / Omar Efrain Torrijos Herrera / Gore Vidal / Clara Viebig / Raoul Wallenberg / Teddy Wilson / Hedd Wyn

 

An diesem Tage verging uns das Wundern:

1715 versinkt die spanische Silberflotte in einem Hurrikan vor Florida, mehr als 1.000 Todesopfer / 1815 explodiert im englischen Philadelphia der Kessel einer experimentellen Dampflokomotive, 16 Zuschauer sterben / Aussig, Böhmen, 1945: nach der Explosion eines Munitionsdepots werden bis zu 220 deutsche Zivilisten als vermeintlich Schuldige massakriert / 1976: Überflutung in Colorado, 143 Todesopfer / Beaune, Frankreich, 1982: Busunglück, 53 Tote / Nanking, 1992: Absturz einer Jak-42 nach dem Start, 100 Menschen kommen ums Leben / Kathmandu, 1992: Absturz eines Airbus A310, alle 113 Insassen sterben / Kaohsiung, Taiwan, 2014: bei Gasexplosionen kommen 32 Menschen ums Leben, 321 werden verletzt.

 


1. AUGUST

 

Entscheidung

mit

Andreas „Barchedas“ Adersbach / Alexandros / Jimmie Angel / Tommy Bolin / Artur Brauner / Jim Carroll / Coolio / Ida Craddock / Zoran Đinđić / Jean-Baptiste de Lamarck / Luise Fleck / Jerry Garcia / Augustus Gregory / Johann Friedrich Henckel / Ibn Wāsil / Ernst Jandl / Pit Krüger / Henrietta Lacks / Jean-Marie Jules Léotard / Walentina Logatschowa / Rose Macaulay / Lya Mara / Herman Melville / Maria Mitchell / Antonio Negri / Oskar Negt / Seán Ó Riada / Lorenz Oken / Ernst Ortlepp / Hans Rott / Yves Saint Laurent / Francesca Scanagatta / Gerda Taro / Xaver Jakub Ticin / Bernward Vesper / Eduard von Winterstein

 

An diesem Tage glaubten wir an gute Entscheidungen:

1291: Rütlischwur, Begründung des Schweizer Nationalmythos / Hamburg, 1778: Eröffnung der ersten Sparkasse Europas / 1793 führt Frankreich das metrische System ein / 1834 verbietet Großbritannien die Sklaverei im gesamten britischen Empire / Berlin, 1844: Eröffnung des Zoologischen Gartens / 1930: erste Fernsehgeräte werden auf der Berliner Funkausstellung vorgeführt / 1944: Beginn des Warschauer Aufstandes / 1960 wird Dahomey (später Benin) unabhängig von Frankreich / Helsinki, 1975: Gründung der KSZE / Deutschland, 2001: rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften / 2010 tritt das Verbot von Streumunition in Kraft / 2015: Ende eines jahrzehntelangen Grenzstreits zwischen Indien und Bangladesch.

 

Ich notierte:

1985: Nach schönen Tagen im Riesengebirge wieder in Leuna. Und es ist unglaublich stickig, stinkig, staubig hier. Die Augen sofort wieder voller Asche, ein ständiges Kratzen im Hals…

1996: Chruschtschow habe soeben auf den Marktplatz geschissen, erzählte mir ein als äußerst korrekt bekannter Kollege, und ergänzte (da er mein Erstaunen bemerkte), zuvor habe er (Chruschtschow also) gelallt, ob ihm denn niemand, wirklich niemand mehr helfen könne, gottverdammich! Genau besehen sei Chruschtschow natürlich nicht Chruschtschow, sondern ein Schauspieler, der vor Jahren mal dessen Rolle... (wobei eine gewisse Ähnlichkeit kaum zu übersehen...). Arbeitslos nun wohl, was sonst. Schon wollte ich unken, mit der Nummer „Chruschtschow scheißt auf den Markt“ (sic!) ließe sich doch sicherlich ‘ne Menge Geld..., gerade hier (logisch!), als der Kollege fragte, ob ich schon von neuerlichen Sparplänen - Kürzung von Arbeitsfördermaßnahmen und so weiter - gehört hätte. Davon allerdings könnte dann auch unsereins betroffen..., nicht wahr? Scheiß drauf, sagte ich. (Was der Kollege jedoch offensichtlich noch als anrüchig empfand).

2000: Kurz nach sechs los, zuerst nach Hecklingen zu Siegfried Maaß, Übergabe von Schülertexten für die Juryarbeit und diverse Absprachen, weiter zu Prof. Fuhlrott nach Magdeburg, dito, und zu Otto Zeitke nach Wolmirstedt, dito. Kurz vor Mittag komme ich dann im der Bödecker-Nord-Büros, in Möser, an, Koordinierungen, ebenso dann in Niegripp. Zurück fahre ich in großen Bogen, da ich in Vorbereitung auf unseren Besuch bei Jan de Piere in Brügge, unbedingt Brück im Fläming sehen will. Allerdings gibt’s da nicht allzu viel zu sehen. Aber genau das musste ich sehen, um darüber schreiben zu können. Zu Hause schaffe ich es nach einer Kontenabfrage per Homebanking, den Rest unseres Hauskredits abzulösen. Das ist selbstredend ein Gläschen Sekt wert, zumal man das zum ersten Mal seit Juni wieder im Freien bei sommerlichen Temperaturen genießen kann. Möge es nützen.

2020: Aktuell 17,5 Millionen Infizierte weltweit, 675.000 Tote. Und auch in Deutschland steigen die Zahlen wieder an.

 

Deja vú

für

László Arany / Richard Archbold / Kyaw Hla Aung / Cilla Black / Emil Ciocoiu / Claudius / Norbert Elias / Konrad Duden / Rick Stephan Genest / Albert Hotopp / Yusuf Idris / Johann Ernst IV. / Eleonore Koch / Heinrich Laube / Marcus Antonius / Heinrich Laube / Albert Lautmann / August Lütgens / Gian Francesco Malipiero / Goldy McJohn / Pola Negri / Jacob Obrecht / Rudolf Oeltzschner / John Andrew Howard Ogdon / Jacob Olbrecht / Jean Prevost / Joseph Hayne Rainey / Swjatoslaw Teofilowitsch Richter / Jason Rhoades / Johann Jacob Saar / Bruno Tesch / Bal Gangadhar Tilak / Alexandrine Tinné / Marie Trintignant / Lesja Ukrajinka / Petrus Frans van Kerckhoven / Israel Zangwill

 

Das wollten wir nicht nochmals erleben:

1894: Ausbruch des ersten Chinesisch-Japanischen Krieges / 1914 erklärt Deutschland Russland den Krieg / Budapest, 1919: Zerschlagung der ungarischen Räterepublik / Austin, Texas, 1966: Amoklauf, 16 Tote / 1998: in deutschsprachigen Ländern tritt die Rechtschreibreform in Kraft / Asunción, 2004: beim Brand eines Supermarktes kommen 396 Menschen ums Leben.

 

 

2. AUGUST

 

Beobachtung

mit

José Afonso / James Baldwin / Frédéric-Auguste Bartholdi / Arthur Bliss / Jim Capaldi / Naná Casconcelos / Luigi Colani / Adrien de Gerlache de Gomery / Ernest Christopher Dowson / Richard Epple / René Graetz / Karl Amadeus Hartmann / Chester Leo Helms / Paul Juckoff / Ursula Karusseit / Danta A. Linyera / Myrna Loy / Marg Moll / Helen Morgan / Peter O’Toole / Rudolf Prack / Bekololari Ransome-Kuti / Klaus Erhard Riedel / Johann Jakob Scheuchzer / Werner Seelenbinder / Manfred Sexauer / Philippe Soupault / Tito Speri / Kaspar von Stieler / Johannes Tralow / John Tyndall / Truus van Aalten / Samuel van Hoogstraten / Saskia van Uylenburgh / Jack L. Warner / Franz Weisz / Theodor Wolff

 

Das beobachteten wir stets gern:

Amsterdam, 1675: Einweihung der Portugiesischen Synagoge / Heidelberg, 1869: weltweit erste Nierenoperation.

 

Ich notierte:

1978: Prag. Auf dem Weg zum Hradschin trifft Martin, der uns einlud, immer wieder Freunde, die sich erinnern, wie das damals war hier, zehn Jahren zuvor. Und da am Wegesrand unzählige Gasthäuser mit bestem tschechischem Bier locken, Prazdroj und Budweiser und Staropramen, und das Gehörte so anders als alles uns daheim Erzählte klingt, brauchen wir letztendlich Tage, um die Höfe der Burg zu erreichen. Veitsdom und Königsgruft und Georgsbasilika. Und in einem der Häuschen des Goldenen Gässchens stoße ich trunken vor Eindrücken schließlich schmerzhaft mit der Stirn gegen den Türbalken. Verdammt, arbeitete nicht einst Kafka hier?

1982: Es bleibt ungewohnt, fast mediterran, heiß. Doch ich habe einen Artikel über Leuna für die „Freiheit“ endlich abgeliefert, habe ein Kinderlied, was mir ewig durch den Kopf ging, fertig geschrieben, habe kleinere Sachen auf den Punkt gebracht. Mit dem Kinderbuch muss ich bis Ende September so weit sein, dass der Verlagsvertrag geschlossen werden kann. Endlich! Hoffentlich! Aber nun fahre ich als junger Autor, delegiert vom Kinderbuchverlag, ja erste einmal nach Riga. Ich bin sehr gespannt.

1985: Irgendwie komme ich mir, da ich meinen ganzen, zu bewältigenden Leuna-Stoff, endlich überblicke, wie ’ne Amöbe vor.

1986: Zurück aus Binz, wo Schwager Martin diesen Sommer als Rettungsschwimmer arbeitet. Es tat gut, mal ein paar Tage in einem gänzlich anderen Lebensraum, einer ganz anderen Lebensart verbracht zu haben. Und nun sitze ich wieder hier in Leuna, sehe die Werksfackeln züngeln und spüre wieder ein Kratzen im Hals…

1999: Gewöhnungsbedürftiger Zeitungs-Anblick: Seit gestern (Sonntag) werden alle deutschen Pressetexte nach den neuen Rechtschreibregeln gedruckt. Am Vormittag eine Veranstaltung für Kinder: die werden mit einem Pferdewagen von Bad Dürrenberg nach Wüsteneutzsch gefahren, wo sie auf einem Bauernhof zu Indianern und ich zu ihrem Phantasie-Häuptling werde. Erstaunlich was alles geschrieben und gemalt wird. Schöne Stunden.

2000: Am Vormittag nach Zeitz, Wiedereröffnung der renovierten Bibliothek in Zeitz-Ost, Veranstaltung für Kindergarten- und Hortkinder, große Begeisterung. Am Nachmittag noch eine Lesung für Senioren, auch die kommt gut an. Zu Hause schnell die Gitarren gewechselt und in die Ölgrube zur Probe für die nächste Oldie-Nacht.

 

Bruchlandung

für

Gjorgij Abadžiev / Adam Prot Asnyk / Alexander Graham Bell / Baruj Benacerraf / Louis Blériot / Francesco Borromini / William Seward Burroughs / Raymond Carver / Marcus Andrew Hislop Clark / Heinrich Clauren / Kieran Doherty / Adolf Endler / Thomas Gainsborough / Paul Goodman / Eduardo Gutiérrez / Rosita Ionescu / James Jamerson / Jimmy Jones / Kanō Masanobu / Hans Kemmer / James Krüss / Fela Anikulapo Kuti / Fritz Lang / Norman Maclean / Ludwig Marcuse / Frederick Marryat / Pietro Mascagni / Albert Mayer / Jean-Pierre Melville / Natalja Wadimowna Moltschanowa / Jacques Étienne Montgolfier / Zacharias Orth / Emil Nikolaus von Reznicek / Oswald von Wolkenstein / Julián Padrón / Jóannes Patursson / Jules-André Peugeot / Felka Platek / Boyd Albert Raeburn / Amatore Sciesa / Ralph Maria Siegel / Wallace Stevens / Bernardo Strozzi / Ahmed Zewail / Grigor Zohrab

 

An diesem Tage glaubten wir, hart aufgeschlagen zu sein:

1858 wird Indien britische Kronkolonie / Freital, 1869. durch eine Schlagwetterexplosion sterben 276 Bergleute / Barcelona, 1909: Ende der „Tragischen Woche“ in der durch spanisches Militär hunderte Aufständische ums Leben kamen / Toronto, 1918: Beginn dreitägiger griechenfeindlicher Ausschreitungen / 1943 wird ein Aufstand im Vernichtungslager Treblinka blutig niedergeschlagen / Auschwitz-Birkenau: 1944: alle 3.000 im „Zigeunerblock“ inhaftierten Sinti und Roma werden liquidiert / Chilenische Anden, 1947 verschwindet eine Avro Lancaster mit 12 Menschen an Bord spurlos / Bologna, 1980: rechtsextremes Bombenattentat im Bahnhof der Stadt, 85 Todesopfer / Fort Worth, 1985: Absturz einer Lockhhed TriStar, 134 Menschen kommen ums Leben / 1990 besetzen irakische Truppen Kuwait.

 

 

3. AUGUST

 

Gala

mit

Aamir Ageeb / Hans Andorn / Luis Felipe Arias / Tony Bennett / Jules Bianchi / Habib Bourguiba / Rupert Brooke / Dolores del Río / William K. L. Dickson / Friedrich Wilhelm III. / P. D. James / Eddie Jefferson / Regina Jonas / Irene Koss / Nicola Malinconico / Marvel Marilyn Maxwell / Joseph Paxton / Stanisław Piętak / Dom Um Romão / Johann Gabriel Schleich / Auguste Schmidt / Rudi Schwander / Charlie James Shavers / Clifford D. Simak / Leon Uris / Syreeta Wright

 

Da kamen wir bestens in Stimmung:

1491 bricht Christoph Kolumbus zu seiner ersten Entdeckungsreise gen Westen auf / Mailand, 1778: Eröffnung der Scala / Berlin, 1830: das Königliche Museum auf der Museumsinsel wird seiner Bestimmung übergeben / 1935: Inbetriebnahme der Großglockner-Hochalpenstrasse / 1960 Unabhängigkeit des Niger von Frankreich / 1984 wird in Deutschland die erste E-Mail empfangen.

 

Ich notierte:

1981: Gestern waren Jeanny, Cathi und ich in Groß Schönebeck angekommen, hatten in Tante Gittis Datsche übernachtet. Sehr schön die Umgebung. Bei einem kleinen Spaziergang in die Schorfheide hinein, braust auf einmal eine Volvo-Kolonne an uns vorbei, Staatskarossen mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern – die erste Begegnung mit den Leuten aus dem nahen Sperrgebiet.

1987: Montag. Nach drei Wochen Urlaub wieder ins Büro. Mischung aus Widerwillen und Neugier. In der Presse: „Im Juli… Abweichungen der Tagesmittel von sieben bis vier Grad vom Normalwert, so dass die dritte Julidekade … eine der fünf kältesten in diesem Jahrhundert war.“ Na prima. Doch: es kann also nur besser werden.

1999: Veranstaltung mit Ferienkindern in Halle. Viel Spaß. Dann Organisatorisches im Künstlerhaus. Weniger Spaß. Wieder zu Hause im Sommer-Sonnen-Garten neue Lektüre. Ich entscheide mich (nach dem ich mal kurz nach einigen „Urlaubs“-Romanen geschielt hatte - aber dieses Wetter  braucht wohl rationale Kontrastierung) für „Die Kunst des Erzählens“ von David Lodge. Lässt sich ganz gut an.

2002: Mine wird eingeschult. Das ist doch ein Tag, den ich sehr als Zäsur empfinde, da wird einem im Fluss der Alltage doch wieder einmal bewusst, wie sehr sich Dinge entwickeln, schlagartig anders werden, wie sich neue Abläufe, Gewohnheiten, Notwendigkeiten einstellen. Irreversibel. Nicht allzu geschlafen, die Nacht davor, lange wach gelegen.

2022: In der Nacht träume ich mal wieder, dass ich bei einer Veranstaltung für Kinder versage. Dieses Mal habe ich zwar die Gitarre dabei, dafür aber meine Lieder vergessen. Ach, wie lange ist es nun schon her, dass ich mich vor Kindern produzieren durfte. Es gab Zeiten, da war ich jährlich um die 150mal eingeladen für Kinder zu lesen und zu singen. Nun gut.

 

Gulag

für

Abdulwahab Al-Bayyati / Ludwig von Alvensleben / Schahram Amiri / Paul Barsch / Reinhold Begas / Emil Berliner / August Boeckh / Antonia Brico / Henri Cartier-Bresson / Roger David Casement / Minna Cauer / Chinmayananda / Colette / Joseph Conrad / Armin Dahl / Carl Friedrich Christian Fasch / Alwyn Howard Gentry / Grinling Gibbons / Friedrich David Gilly / Bobby Hebb / John Hume / Arthur Lee / Ida Lupino / Makarios III. / Alexander Georgijewitsch Malyschin / Mark Margolis / Beryl Markham / Simona Monyová / Mary Flannery O’Connor / Lydia Rabinowitsch-Kempner / Joachim Ritter / Waleri Michailowitsch Sablin / Dorothea Schlegel / Alfred Schnittke / Elisabeth Schwarzkopf / Rosika Schwimmer / Alexander Issajewitsch Solschenizyn / Josua Stegmann / Eugène Sue / Wladimir Fjodorowitsch Tendrjakow / Eugène Sue / Peter Thorup / Thorstein Veblen / Yang Shuo

 

Das verunsicherte uns schlimm wie Haft:

1629 wurde in Merseburg „in der neu aufgerichteten Wasser kunst das waßer mit großer Verwunderung etliche Tage blutfärbig“ / 1783 bricht der japanische Vulkan Asam aus, 1.000 Tote / 1808 wird in Preußen die allgemeine Wehrpflicht eingeführt / 1918 versenkt ein deutsches U-Boot das Hospitalschiff „Warilda“ im Ärmelkanal, 123 Menschen kommen ums Leben / Agadir, 1975: eine Boeing 707 prallt gegen eine Berg, alle 188 Insassen sterben / 2014 beginnt der Islamische Staat mit dem Völkermord an den Jesiden / Tepic, Mexiko, 2023: Reisebusunfall, mindestens 18 Todesopfer.

 

 

4. AUGUST

 

Jazz

mit

Frances E. Allen / Louis Armstrong / Béla Balász / Carlfriedrich Claus / Nicolas-Jacques Conté / Gerard Damiano / Peter Dettweiler / Gustave Flourens / Gotthard Martin Gauger / Martha Goldberg / Witold Gombrowicz / Knut Hamsun / William Rowan Hamilton / John Harington / François Hédelin / Erhard Hübener / William Henry Hudson / Eva Kemlein / Paul Kuhfuss / Hermann Kükelhaus / Kishore Kumar / Claire Lacombe / Teodomiro Alberto Azevedo Leite de Vasconcelos / Hildegard Löwy / Roberto Burle Marx / Hans Peter „Mani“ Matter / Guillermo Mordillo / Walter Horatio Pater / Charles-Louis Philipe / Jesse Reno / René Schickele / Klaus Schulze / Percy Bysshe Shelley / Sabine Thalbach / Urban VII. / Raoul Wallenberg / Erich Weinert / Timi Yuro / Jock Zonfrillo

 

Das beschwingte uns wie Jazz:

1791 beendet der Frieden von Swischtow den letzten österreichischen Türkenkrieg / 1965 erlangen die Cook-Inseln die Selbstverwaltung / 1984 Umbenennung von Obervolta in Burkina Faso.

 

Ich notierte:

1981: Schorfheide. Spazierfahrt durch dichten Mischwald. Wunderbare Luft zum Aufatmen. Doch wie viele Waldwege sind gesperrt, rotumrandete Verbotsschilder allenthalben. Auf einem der verbotenen Wege kommt uns ein Armee-Jeep entgegen, so schirmen die Bonzen hier ihre Datschen ab.

1982: Auf nach Riga: Frau und Tochter bleiben auf dem Merseburger Bahnsteig zurück, winken und werden kleiner und kleiner. Zum einen möchte ich im Erprobten verharren, zum anderen bin ich neugierig, möchte mich erproben. Reichlich Spannung also. Die erste große Auslandsreise, und ohne Vertraute. „Doch braucht man nur für einen Tag die irdischen Sorgen abzustreifen, sofort empfindet man wieder seine Zugehörigkeit zum All, mit anderen Worten, das einzig Frische, Neue des Seins.“ - Valentin Katajew ‘Das Gras des Vergessens’

1999: Gespräch mit dem Lokalredakteur der Mitteldeutschen Zeitung. Wir verständigen uns darauf, dass ich eine Millenniums-Artikelserie, einen feuilletonistischen Rückblick auf 1.000 Jahre Merseburger Geschichte schreibe.

2003. Umag, Kroatien: Nein, mit Blicken und Gesten war er nicht auf Distanz zu halten, dieser dummdreiste Schönling, Wichser, kroatischer, rückte uns nackt näher und näher und präsentierte sein blutwurstartiges Gemächt, so dass ich, bevor er meiner Frau auf die Decke kroch, laut werden musste, was aber letztlich auch nicht half und uns kurz vor Handgreiflichkeiten nur noch Strandflucht blieb. Bis zum Abend kreisten mir nun Anti-Ustascha-Pamphlete und Schmähungen balkanischer Nachkriegsidioten durch den Kopf, dann jedoch ertappte ich mich, wie ich ungeahnt aggressiv Plätze im letzten Nachtbus verteidigte. Vielleicht ist es aber auch nur die Hitze, die Glut dieses Sommers, die uns allen zu schaffen macht, vielleicht.

2018: Auf nach Grönland! Seitdem ich mich vor und während unserer ersten Island-Reise mit Erik den Roten und Leif Eriksson beschäftigte, wurde mir zunehmend Grönland zum Ziel. Horror-Nachrichten von rapide abschmelzenden Grönland-Gletschern, radikalen Temperatur-Veränderungen in der Arktis taten ein Übriges. Erik der Rote hatte ja Landsleute allein schon durch die Namensgebung „Grönland“ zum Mitsiedeln anzulocken versucht. Gut möglich nun, dass Grönland bald wieder zu Grünland wird, mit katastrophalen Folgen für die gesamte Erde wohl. Ja, vielleicht wollten wir uns eine Illusion, eine Hoffnung bewahren, dass alles noch nicht ganz so schlimm sei, wie oft berichtet, vielleicht wollten wir dieses einzigartige Eisparadies einfach noch selbst erleben, bevor es keines mehr wäre. Zudem gibt es in diesem Jahr in Mitteldeutschland einen Sommer, wie es noch keinen gab. Seit April fast durchgängig tropischen Temperaturen, so gut wie kein Regen – einfach nicht mehr zum Aushalten. Ich erinnere mich, dass Freunde leise lächelten, als wir zum Jahresende etwa zum ersten Mal erzählten, dass wir im August nach Grönland wollen. Nun gibt es welche, die uns darum beneiden, dass wir in kühlere Regionen entfliehen… Politisch korrekt geht’s nun also gen Kalaalit Nunaat (wie die jetzige Autonome Region Dänemarks, die seit einiger Zeit die Souveränität anstrebt, dereinst wohl als selbständiger Staat heißen würde).

2021: Im „Sommerloch“ schüren die Medien hierzulande die Angst vor einer 4. Corona-Welle im Herbst. Tatsächlich scheint dieser Spuk längst nicht vorbei. Weltweit wurden bislang offizielle mehr als 200 Millionen Infektionen, 4,25 Millionen Tote gezählt.

2022: Verrückt: vor zwei Jahren flog im Hafen von Beirut ein Düngerdepot in die Luft, gab es hunderte Tote, heute fragt mein palästinensischer Freund Maher an, ob ich Lust hätte im Herbst mit ihm nach Beirut, wo er aufwuchs, zu fliegen. Nein, habe ich nicht (mehr), sorry.

 

Jammern

für

Frances E. Allen / Hans Christian Andersen / Abdullah Atefi / Hubertine Auclert / Krzystof Kamil Baszyński / Sherko Bekas / Ernst Bloch / Lilja Jurjewa Brik / Eddie Condon / Simon de Montfort / Jango Edwards / Juan Sebastián Elcano / Walther Flemming / John Gosling / Bertha Gumprich / Johann Gottfried Lucas Hagemeister / Hermann Härtel / Wiktor Alexandrowitsch Hartmann / Lee Hazlewood / Étienne Lenoir / Isaak Iljitsch Lewitan / Little Milton / Mileva Marić / Georg Maurer / Marylin Monroe / Reuven Moskovitz / Gerd Natschinski / Kristian Jaak Peterson / Klaus Erhard Riedel / Siegfried Schnabl / Paul von Schönthan / Ernst Schubert / Sebastian I. / Hans-Georg Sehrt / Gottfried Silbermann / Louisa Stuart / Eugène Sue / Karola Weimar / Wenzel III. / Bernd Witthüser / Ruth Zechlin

 

An diesem Tage war uns nur noch nach Jammern zumute:

1704 erobert ein britische Flotte Gibraltar / 1845 strandet an der tasmanischen Küste das Auswandererschiff „Cataraqui“, 399 Todesopfer / 1906 rammt der Passagierdampfer „Sirio“ vor dem spanischen Cabo de Palos ein Riff und sinkt, 442 Menschen ertrinken / Indien, 1917: Bruch der Tigra-Talsperre, 1.000 Tote / Golf von Tonkin, 1964: angeblicher Angriff auf zwei US-Schiffe, der alsbald als Vorwand der Amerikaner für die Intervention in Vietnam gibt / 1997 stirbt in Artes im Alter von 122 Jahren Jeanne Calment, der bis dahin nachgewiesen älteste Mensch / Beirut, 2020: bei einer Explosion im Hafen kommen 207 Menschen ums Leben, mehr als 6.500 werden verletzt / 2023, Schowi, Georgien: Bergrutsch, mindestens 11 Tote.

 

 

5. AUGUST

 

Landung

mit

 

Ivar Aasen / Abbé Pierre / Niels Henrik Abel / Neil Armstrong / Claude Autant-Lara / Michael Ballhaus / Adele Baumann-Seyd / Peter Jozzeppi „Pete“ Burns / Antonio Cesti / Guy de Maupassant / John Huston / Marian Kudera / Steve Lee / Leonardo Leo / Ettore Majorana / Joseph Merrick / Artjom Iwanowitsch Mikojan / Rosi Mittermaier / Ilja Jefimowitsch Repin / Joseph Justus Scaliger / Rachel Joy Scott / Johann Friedrich Struensee / Robert Taylor / Rick van der Linden / Christian Wagner / Per Fredrik Wahlöö / Louis Wain /  Johann Adam Nathaniel Yauch

 

Da glaubten wir, gut gelandet zu sein:

Cleveland, 1914: die erste Verkehrsampel Nordamerikas geht in Betrieb / 1960 wird Obervolta unabhängig von Frankreich / Moskau, 1963: Großbritannien, die Sowjetunion und die USA unterzeichnen einen Vertrag über das Verbot von Kernwaffentests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser.

 

Ich notierte:

1982: Wider Erwarten auf dem Weg gen Riga noch immer in Berlin. Abfahrt des Freundschaftszuges wird erst gegen 14.00 Uhr sein. Davor noch Appell und Kranzniederlegung am Ehrenmahl Treptow. ‘Seid bereit! - Immer bereit!’... All die anderen Reiseteilnehmer, Kinder wie Betreuer, übernachteten in einer Schule. Massenquartier. Ich hatte mich davongestohlen, war bei Dieter. Gefühl des nicht so recht Dazu-Zugehörens. Oder sogar: etwas Verbotenes getan zu haben? Als ich am Morgen zurück schleichen will, nickt mir selbst der gestern bei der Begrüßung und Vorstellung noch völlig unnahbare Reiseleiter freundlich zu. Aha. Muss man hier also Ausbrechen, Anderssein um Akzeptanz, um seinen Stellenwert in der Gruppe zu finden? Dabei hatte ich nur darauf reagiert, nicht wie alle anderen sofort und wie selbstverständlich unter die allzu glatte Oberfläche des Gruppeseins tauchen zu können. Dann, ausgedörrt, ausgeglüht nach stundenlangem Stillstehen unter praller Sonne im Ehrenhain, endlich der Ostbahnhof: Einsteigen in die giftgrünen Waggons der sowjetischen Staatsbahn. Und die Vorfreude wächst.

1989 Nochmals auf Wunsch des Verlages „Neues Leben“ etwas an den „Annäherungsversuchen“ geändert, die nun „Graureiherzeit“ heißen werden. Dieses Buch muss endlich kommen, zu oft habe ich mittlerweile angekündigt, dass mein „Erwachsenen-Debüt“ endlich kommt, habe beim Schreiben wieder und wieder Prügel bezogen, doch mich durchgebissen. Dieses Buch muss endlich kommen!

1999: Presse: „Magdeburg/MZ/ Sachsen-Anhalts Innenminister Manfred Püchel (SPD) hat den Bürgern des Landes empfohlen, sich für die Jahrtausendwende einen Vorrat an Bargeld, Wasser und Kerzen oder Taschenlampen anzulegen. Hausbesitzer sollten darüber nachdenken, ob sie sich kleine Notstromaggregate zulegen...“ Vielleicht sollten Bürger landes-, nein weltweit besser darüber nachdenken, wie sie ihre „Notstromregierungen“ loswerden.

2005: Zoo Leipzig. Bisschen gewagt oder deplatziert vielleicht diesen Text (der mir wie alle notizartigen alles andere als belanglos, von vornherein symbolschwanger aufkommt), mit Eltern und Frau von Käfig zu Käfig schlendernd, gerade hier austragen zu wollen. Keine Ahnung aber, wie eine einmal aufgezischte Idee zu bremsen, geschweige denn zu unterdrücken wäre, zumal wenn dein Vater sich plötzlich vor Übelkeit krümmt. Gut, das ging alsbald vorbei und es schien ihm dann peinlich (wobei sein Bemühen, witzelnd alles ungeschehen zu machen, mir die Wortfindung nicht eben erleichterte). Warum waren wir überhaupt hier? Mit der Tochter wie mit der Enkelin hatte ich auf diesen Wegen unbeschwerte Stunden erlebt (meine ich mich zu erinnern, so fern, so unerreichbar sie uns nun auch sind). Und natürlich liefen einst auch meine Eltern mit ihrem Sohn, mit mir an der Hand hier. Schließt sich so ein Kreis? War das mein Ansinnen, meine Hoffnung – einander seitdem zugefügten Schmerz zu neutralisieren? Unseren Frieden zu finden, wenigstens den? Abschied nehmen zu können, langsam? Nein, diesen Text bringe ich nicht zu Ende, weder hier noch andernorts. Noch nicht.

2021: Mangels vertrauenswürdiger Nachkommen und sonstiger Angehöriger schließe ich heute Vormittag mit einem Bestattungsinstitut für den „Fall der Fälle“ Verträge, verfüge u. a., dass Jeanny und ich dereinst still auf der Grünen Wiese des Merseburger Stadtfriedhof beigesetzt werden sollen. Mittags mixe ich uns Sekt mit Orangensaft und Blue Curacao, wir trinken „Grüne Wiese“. Wohlsein!

2023: Pressemeldung: die Moralpolizei der Taliban verbrennt beschlagnahmte Musikinstrumente. Auf einem Foto des Nachrichtensenders Tolonews brennen zu einem Haufen aufgeschichtete Instrumente, nicht zuletzt Gitarren. Ein Taliban-Führer sagte: in Afghanistan sei Musik verboten, da sie „die Jugend in die Irre führt und die Gesellschaft zerstört“.

 

Letzter Weg

für

Emil Abderhalden / Uri Adelman / Ruth Asawa / Gintaras Beresnevičius / Liane Berkowitz / Bhimsen Thapa / Cato Bontjes van Beek / Dieter Borsche / Elfriede Brüning / Eva- Maria Buch / Richard Burton / George Sainton Kaye Butterworth / Hélène Carrére d’Encausse / George Duke / Friedrich Engels / Alec Guinness / Rudolf Hagelstange / Karl Hagemeister / Robert Häusser / Josef Hehl / Khangchenne / Walter Klingenbeck / Annie Krauß / Adam Kuckhoff / Fanny Lewald / Isaak Luria / Mezz Mezzrow / Carmen Miranda / Toni Morrison / Lena Muchina / Oswald von Northumbria / Eva Pflug / Jeff Porcaro / Ales Traphimawitsch Prudnikau / Oda Schottmüller / Rose Schlösinger / Mathias Schramm / Julius Stinde / Antonio Tempesta / Rosemarie Terwiel / Chavela Vargas / Gustav von Wangenheim / Otto von Wenckstern / Heinrich Wieland / Christoph Winters /

 

Da fürchteten wir, auf den letzten Weg geraten zu sein:

Neufundland, 1583: England nimmt seine älteste Kolonie in Besitz / Lachine, Quebec, 1689: Irokesen töten 24 französische Siedler /

1772 wird Polen erstmals geteilt / Magdeburg, 1944: bei einem alliierten Luftangriff sterben 683 Einwohner / Cowra, Australien, 1944: bei einem Ausbruch aus einem Internierungslager kommen 231 japanische Kriegsgefangene und vier Wächter ums Leben / 1949: Erdbeben in Ecuador, 6.000 Todesopfer / Jakarta, 2003: Bombenexplosion vor einem Hotel, 12 Tote.

 

 

6. AUGUST

 

Auslotung

mit

Dorothy Jeanne Ashby / Lucille Ball / Carl Bantzer / Jean Carrière / Diane DiPrima / Joseph Benedict Engl / Alexander Fleming / Giovanni Gentile jun. / Charlie Haden / Evelyn Hamann / Allen Holdsworth / Manfred Künne / Abbey Lincoln / Carl Lossow / Robert Mitchum / Hans Moser / Daniel O’Connell / Baden Powell de Aquino / Ales Pushkin / Nicola Salvi / Johann Andreas Schmeller /  Peter Simonischek / Sonoi Keiko / Elliott Smith / Helmut Symmangk / Alfred Tennyson / Andy Warhol / Kateb Yacine

 

Da meinten wir ein lohnendes Ziel ausgelotet zu haben:

1538: Gründung von Bogotá / Berlin, 1791: Einweihung des Brandenburger Tors / 1825 wird Bolivien unabhängig / 1893: Inbetriebnahme des Kanals von Korinth / 1932: Eröffnung der ersten deutschen Autobahn zwischen Köln und Bonn / 1932: die ersten Filmfestspiele von Venedig beginnen / 1962 erklärt Jamaika seine Unabhängigkeit von Großbritannien / 2012 sendet der Rover „Curiosity“ erste Bilder vom Mars.

 

Ich notierte:

1981: Wir liegen am Nachmittag am Kleinen Glasowsee, ein Wetter zum Preisen, eine Lust zu Leben! Vorhin fuhr mein Drummer-Freund Dieter nach Berlin zurück, der uns gestern hier besuchte. In seinem offenen VW waren wir durch die Wälder gefahren, hatten am Abend gequatscht und gequatscht. Gut, dass das möglich ist, dass man sich aussprechen, dass man sich verständigen kann.

1982: Brest. Wegen unterschiedlicher Spursätze der Bahnlinien müssen an der polnisch-sowjetischen Grenzstation die Radsätze der Eisen­bahnwagen gewechselt werden. Vorstellen der Uhren von 5.45 Uhr auf 7.45 Uhr. Ich komme mir dem zweiten „Ehrengast“ dieses Schülerfreundschaftszuges ins Gespräch, Wilhelm, Jungspartakusbund-Veteran. Kaum sitzen wir wieder im Abteil holt er ein umfängliches Fotoalbum aus dem Koffer, seine Memoiren offenbar. Noch interessanter sein Satz: „Den Jungen kann man nichts leh­ren, stellt man die Geschichte der Arbeiterklasse als Geschichte von Siegen dar.“ Mittag, halb eins, Ankunft in Minsk, der Hauptstadt Belorusslands. Spalier auf dem Bahnsteig, Pioniere, Blasmusik, aus den Bahn­hofslautsprechern dröhnt’s deutsch. Was für eine Begrüßung! Und schon geht’s ab zum hiesigen Lenin-Denkmal. Neuerliches Meeting unter praller Sonne. Wieder kippen Kinder um. Endlich ins Hotel. Mittagessen um halb vier. Doch schmackhaft, keine Frage. Dann mit Wilhelm Spaziergang durch Minsk. Große, breite Straßen, Bauten á la Stalinallee, wohl alles erst nach dem Kriege entstanden, mehr als die Hälfte der Millionenstadt soll von deutschen Truppen zerstört worden sein. Immerhin entdecken wir einige Häu­ser im altrussischen Stil, gruppiert um eine gelbgetünchte Zwiebelturmkirche. Nach dem Abendbrot erkunden wir das Etagenbüfett des Hotels. Kaum sitzen wir, spricht uns ein am Nebentisch sitzender Mann auf russisch an, „Nemez?“ - Deutsche? - „Da!“ - „Ja!“, bringt Dürrfisch, fordert uns freundlich zum Essen auf. Klar, ein fremdes Land muss man nicht nur mit Augen und Ohren, sondern auch mit der Zunge kennenlernen. Und mit der Nase. Doch nach was riecht dieser Fisch? - Moschus, Knoblauch, Schweiß, Dieselöl? Mühselig würge ich ein Stück hinunter, spendiere mir und dem Spender daraufhin ein Bier, was mir aber noch ein Stückchen Stinkefisch einbringt. Glücklicherweise kommen einige unserer Betreuer auf dem Weg zu einem nächtlichen Stadtbummel vorbei. Wir schließen uns sofort an, gelangen so in ein Lokal mit Tanzbetrieb. Die Betreuer, Lehrer oder Pionierleiter zumeist, bestellen schließlich Fisch. Oh, nein! Doch nachdem ich soeben erstmals in meinem Leben Dürrfisch kennenlernen musste, genieße ich nunmehr erstmals köstlich fri­schen Lachs. Das ist mehr als Neutralisierung. Danke. Und da ist noch eine Premiere an diesem Abend: In einem Park sehe ich Scharen von Männlein wie Weiblein mit roten Armbinden patrouillieren, um offenkundig Scharen von Besoffenen in Schach zu halten. Und zu guter Letzt bietet mir ein finster aussehender Typ in einer finsteren Ecke sogar seine Freundin an... Wie geht das mit dem Bild der heldenhaften Sowjetunion zusammen, das mir zeit Lebens vermittelt wurde? Gegen Mitternacht zurück im Hotel. Erschöpfung.

1999: Seni bittet mich mal mit zu Herbert, „unseren“ Klampfer zu kommen, da er meint, dessen Konzentrationsschwächen während der letzten Probe könnten auf persönliche Probleme deuten. Wir fahren nach Kleinkorbetha, einem gottverlassenen Nest zwischen Bad Dürrenberg und Weißenfels. Winklige Kopfsteinpflasterstraßen, halbverfallene Gebäude, ein vermüllter Platz, zwischen zwei Halbruinen, eine übermannshohe Bretterwand. Dahinter sitz Herbert, hier hat er seinen Garten, Gurkenzelt, Tomatenstauden, Blumenbeete, und hier wohnt er des sommers offenkundig in einem kleinen Flachbau. Und im Laufe unseres Gespräches kommt nach und nach zum Vorschein, dass Herbert nicht nur „äußerlich“ ausgestiegen ist, er ist nicht mal mehr sozialversichert. Verblüffend, wie Existenzen mitten in Deutschland, mitten in deinem Bekanntenkreis aussehen können... Stoff für eine Erzählung?

2011: Heute vor 20 Jahren lud Tim Berners-Lee Leute ein, erstmals das Internet zu besuchen: „The WorldWideWeb (WWW) project aims to allow links to be made to any information anywhere. The address format includes an access method (=namespace), and for most name spaces a hostname and some sort of path. (...) The WWW project was started to allow high energy physicists to share data, news, and documentation. We are very interested in spreading the web to other areas, and having gateway servers for other data. Collaborators welcome! I'll post a short summary as a separate article.” Ich feiere diesen Geburtstag mit einem internetfreien Tag, finde sogar Muße, meiner kleinen Enkelin Märchen zu erzählen. Und später höre ich von einem Japaner, der Hiroshima überlebt hatte, doch in Fukushima zum zweiten Male verstrahlt wurde, da man sein Pflegeheim nicht evakuierte.

 

Antithese

für

Theodor W. Adorno / Jorge Amado / Eugene „Gene“ Ammons / Anton Ažbe / Schapur Bachtiar / Johann Beer / Leon „Bix“ Beiderbecke / Vizma Belševica / Otto Buchholz / Bohdan Mychajlowytsch Chmelnyzkyj / Willy DeVille / Edsger Wybe Dijkstra / Franz Eckert / Frederik Ericsson / Ibrahim Ferrer / Henri Frenay / Manfred Hausmann / Hone Heke / John Hughes / Rick James / Jermak Timofejewitsch / Ben Jonson / Johannes Junius / Curt Langenbeck / Bernard Lovell / Dawa Khan Menapal / Memphis Minnie / Klaus Nomi / Gregor Piatigorsky / Ivo Pitanguy / Francis Ponge / Peter Ronnefeld / Ludwig Ross / Germán Rozenmacher / Jacopo Sannozaro / Wilhelm Scherer / Johannes Siemes / Sixtus II. / Andrei Alexejewitsch Stenin / Diego Velázquez / André Weil / Walter Werner / Emil Zsigmondy

 

Da reifte uns Widerspruch:

Jerusalem, 70: Einstellung des Tempeldienstes infolge des Jüdischen Krieges / Merseburg: 1558 erschien ein Komet „bleicher u. tunckeler farbe, er hat seinen Schwantz zwischen Nierdergang u. Mitternacht gestrecket, u. bis auff Bartolomaei gestanden“ / 1806: Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation / Auburn, New York, 1890: erste Hinrichtung auf einem elektrischen Stuhl / Hiroshima, 1945: ein amerikanischer Bomber wirft die erste Atombombe ab, bis zu 90.000 Menschen sterben sofort, mindestens 130.000 an den Folgen / Guam, 1997: Absturz einer Boeing 747, 228 Todesopfer.

 

 

7. AUGUST

 

Seefahrt

mit

 

Adolf Ivar Arwidsson / Liane Berkowitz / Robert Bernardis / Abebe Bikila / Jakob Bosshart / Ralph Bunche / Josef Krasoslav Chlemenský / Alonso de Ercilla y Zúñiga / Manitas de Plata / Monika Ertl / Rick Stephan Genest / Nelson Goodman / Elisabeth Aldia Haanen / Ann Harding / Mata Hari / Konrad Heiden / August Herold / Muhyī d-Din Ibn ’Arabi / Howard Johnson / Rahsaan Roland Kirk / Rainer Klis / Louis Leakey / Boy Lornsen / Werner Mittenzwei /Uwe Nettelbeck / Emil Nolde / Elinor Ostrom / James Randi / Nicholas Ray / Joachim Ringelnatz / Carl Ritter / Scipione Riva-Rocci / Shiba Ryōtarō / Georg Stiernhielm / Miroslava Breach Velducca / Helen Vita / Pete Way / Valentin Weigel / Fritz Winkler / Yun Hyon-seok

 

An diesem Tage schienen wir auf große Fahrt zu gehen:

Eisenach, 1869: Beginn des Gründungsparteitags der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands / Weimar, 1861: Gründung des Allgemeinen Deutschen Musikvereins / 1888 wird in den USA die Drehtür patentiert / 1947 erreicht Thor Heyerdahl mit seinem Kon-Tiki Floß den Tuamotu-Archipel / 1960 Unabhängigkeit der Elfenbeinküste von Frankreich / Helsinki, 1983: Beginn der ersten Leichtathletik-Weltmeisterschaften.

 

Ich notierte:

1980: Emil hat geheiratet. Wir waren drei Tage in Berlin. Anstrengend und gut und – vorbei.

1981: Schorfheide. Weiterhin prachtvolles Wetter, Baden, nur Baden, doch die Schreibutensilien stets dabei.

1982: Um fünf schon wieder im Bus. Dunkelheit, doch schon reger Verkehr auf den Boulevards. Fahrt zum Bahnhof, umsteigen. Und Tschüß Minsk! (Selbstredend ist mir die Verlogenheit dieses Ausrufs bewußt, denn wie sollte ich zu solcher Stadt in der Kürze des Aufenthalts eine Beziehung entwickelt haben. Aber da ist so ein laues Gefühl und vielleicht beginnt nun tatsächlich das, was ich eingangs mit „Eintauchen“ bezeichnet hatte: Im Zug sagt ein Schüler, nachdem ich ihm 5 Kopeken für Tee schenkte, statt Danke - Bolschoi spassibo! Und so ähnlich wie den Kindern geht’s mir wohl auch.) Weiteres Zugerlebnis: In einem Abteil sitzt ein Einheimischer mit einem Rhesusaffen, der alle vorbeikommenden Frauen und Kinder ankreischt. Und als ein Junge mit seinem eben geholten Schälchen Tee ängstlich vorbeihuschen will, krallt ihm der Affe in die Schulter. Der heiße Tee rinnt über die Hose. Geschrei. Der Mann rennt dem Jungen hinterher und hält ihm ein Büschel Affenhaare hin, radebrecht: soeben ausgerissen, als Talisman - auf dass du einmal so viel Kraft bekommst wie der Affe! Überhaupt der Tee, unablässig wird im Zug Tee getrunken, ewig frisch gekocht von der Zugschaffnerin, der Deschurnaja, Tee, Tee, Tee, und dazu rieselt und rieselt klebrige Estradenmusik aus den Deckenlautsprechern. Auf halber Strecke, in Vilnius, steigt eine Gruppe von Pioniere und FDJ-ler aus, die hier in Litauen erwartet werden. Endlich, kurz vor 16.00 Uhr, Ankunft in Riga. Neuerliches Meeting. Und ab geht’s in altersschwachen, bedenklich quietschenden und scheppernden Bussen in das für uns vorgesehene Ferienlager. 70 Kilometer durch Wald, vorbei am schier endlosen Kurort Jurmala, wieder Wald, Dünen, Wald. Hoffentlich kommt man aus dieser Einöde irgendwie nach Riga. Dann gegen 20.00 Uhr das Lager „Albatross“, unser Quartier für die nächsten knapp drei Wochen. Langgestreckte Baracken unter Kiefern. Die beiden Ehrengäste werden in ein Zimmer eingewiesen. Nun ja. Das Zimmer selbst erinnert mehr als ein Bad, denn an ein Wohn- und Schlafzimmer: Blaue Bodenkacheln, an einer Seite weiße Wandfliesen, darüber schwarze Rohre, die anderen Wände fadgrün gestrichen. Kein Schrank, kein Tisch. Zwei Betten und basta. Bad und Toilette übern Flur. Entschädigung: die Ostsee sei nur 3 Wegminuten entfernt, erfahren wir. Daraufhin Leitungsbesprechung. Ich schummele mich dazu, will wissen, was hier so auf mich zukommt. Am Ende kenne ich die Lagerordnung und den Tagesablauf und habe erstmals Schwarzen Balsam getrunken, eine lettische Spezialität, vielversprechend. Dann in aufblühender Dämmerung zum Strand. Feiner Sand, weite Bucht. So weit man blicken kann Wanderer. Lagerfeuer flammen auf. Weit draußen schwarz ein Fischkutter. Reiner, der Leiter, gesellt sich zu mir. Er ist Lehrer für Mathe und Chemie und vermutet, dass er zu diesem Ferienposten kam, da er recht erfolgreich Teilnehmer für Mathe- und Chemieolympiaden betreute. „Da war ich wohl zu gut...“. Später setzt sich Horst zu uns, Musik- und Geschichtslehrer, der ähnliches erzählt. Sanfter Abend. Nur die lettischen Fliegen sind lästig.

1999: Bevor es morgen mit Mine für ein paar Tage an die Ostsee geht (Mine ist schon ganz aufgeregt, fragt aller fünf Minuten, wann’s losgeht), noch mal fleißig gearbeitet. Ich schreibe meine neue Erzählung zu Ende: „Alba“.

2018: Invergordon, Schottland. Erster Zwischenstopp, da wir endlich etwas sehen möchten, was wir schon immer sehen wollten: Nessie. Vom Küstenstädtchen Invergordon mit dem Bus entlang des langen, reizvollen Meerarms Firth Cromanty durch Ausläufer der Highlands zum Loch Ness. Urquhart Castle. Etliche Boote und sogar ein Walbeobachter streben an der martialischen Burgruine vorbei auf eine Nebelbank im See zu, zielsicher, unbeirrbar. Und so starre den also auch ich in den Nebel, starre und starre, und – wow!... Weiter nach Inverness, malerisch am kürzesten Fluss des Landes gelegen (nur 9 Kilometer lang), am Ness. Quicklebendig und freundlich erscheint uns diese aufstrebende Stadt. Ich erstehe sogar ein wunderbares Exemplar für meine Basecape-Sammlung: im Kilt-Stil! Inverness soll die am schnellsten wachsende Stadt Großbritanniens sein, auf jeden Fall die fünftschönste. Gut, glauben wir. Zurück über die Black Isle, wobei die Reiseleiterin Robert-Burns-Lieder singt – sensationell! – zum Schiff.

 

Strandung

für

Red Adair / Virginia Apgar / Samuel Ekpe Akpabot / Jacob Barbireau / Agustín Pio Barrios / Jöns Jakob Berzelius / Alexander Alexandrowitsch Blok / Rosario Castellanos Figueroa / Ann Christy / Georg Ebers / Ernst Elsenhans / Friedrich August Eschen / Felix Fechenbach / William Friedkin / Heinz Gartmann / Johann Gottfried Gruber / Oliver Hardy / Heinrich IV. / Johannes Hiob / Thomas Hooker / Joseph-Marie Jacquard / Florian Köhler / Janusz Korczak / Friedrich Spee von Langenfeld / Wilhelm Liebknecht / Kary Banks Mullis / Willi Neubert / Esther Mae Philipps / David Popper / Christian Heinrich Rinck / Vincenzo Scamozzi / Konstantin Sergejewitsch Stanislawski / Rabindranath Tagore / Maksim Tank / Ursula Werner-Böhnke

 

Da fühlten wir uns übel gestrandet:

1884 wird Südwestafrika deutsche Kolonie / 1998 bei fast gleichzeitigen Bombenanschlägen auf die US-Botschaften in Daressalam und Nairobi kommen mehr als 200 Menschen ums Leben / Südossetien, 2008: Kriegsbeginn zwischen Russland und Georgien.

 

 

8. AUGUST

 

Aufklärung

mit

Abebe Aragai / Ajen Yohl Mat / Micha Josef Berdyczewski / Benny Carter / Casper II. / Cécile Chaminade / Paul Dirac / Sophia Duleep Singh / Urbie Green / Gabriel Grüner / Francis Hutcheson / Alija Izetbegović/ Ernest Orlando Lawrence / Otto von Loeben / Conrad Lycosthenes / Sam Nzima / John Renbourn / Robert Siodmak / Robert Holbrook Smith / Władisław Starewicz / Joe Tex / Tokugawa Ietsugu / Birgit Vanderbeke / Cornelis Vreeswijk / Jimmy Witherspoon / Victor Young / Emilio Zapata Salazar

 

Da fühlten wir uns aufgeklärt:

Ärmelkanal, 1588: besiegt die englische Flotte die spanische Armada / 1786: Erstbesteigung des Mont Blanc / Rawalpindi, 1919: Ende des Dritten Anglo-Afghanischen Krieges, Anerkennung Afghanistans als unabhängiger Staat / Berlin: 1924. die erste elektrische S-Bahn fährt / 1962 wird die Waschanlage für Kraftfahrzeuge patentiert / 1967: Gründung der ASEAN.

 

Ich notierte:

1982: Lettland. Punkt acht Trompetensignale im Flur: Wecken! Meingott. Und dann: Alles raustreten zum Frühsport! Ich starre auf die weiße Kachelwand, versuche in den Tag zu kommen. Vor dem Fenster üben FDJ-ler Stechschritt. Auf zum Morgenappell, auf zur Fahnenhissung! Sowjetische Pioniere trommeln. Ich schleiche mich davon, versuche eine Bushaltestelle ausfindig zu machen. Eltern strömen mir entgegen, alle schleppen schwere Taschen. Sowjetische Betreuer begrüßen die Eltern, verlesen Namenslisten. Besuchstag offenbar. Obwohl all diese Menschen irgendwo ausgestiegen sein müssen, finde ich keine Haltestelle, erfahre aber zumindest den Namen des Ortes: Kesterciems. Lichtblauer Himmel gefurcht von Kondensstreifen hoch fliegender Jets, auflandige Haufenwolken, strahlende Sonne. Also baden. Herrliches Wasser. Zwei unserer Jugendlichen haben Gitarren dabei. Wir kommen ins Gespräch. Ich zeige ihnen einige Tricks. Wir kommen überein, für anstehende Kulturwettstreite eine Gitarrentruppe zu bilden. Schon unserer Improvisieren lockt andere Schüler an. Ständig umsitzen uns Kinder. Fragen prasseln. „Sind sie wirklich Schriftsteller?“ „Wollen sie über uns schreiben?“ „Und Lieder machen sie auch?“... Bald kreisen unsere Gespräche um Zukunft, Liebe und Schuld, deutsche Kriegsschuld. Schließlich schlage ich sogar vor, dass diejenigen, die Lust zum Schreiben haben, ihre Erlebnisse zu Papier bringen sollten. Das gäbe eine noch bessere Diskussionsbasis. Von anfänglichen Berührungsängsten ist nichts mehr zu spüren. Auf dem Weg zum Mittagessen klagt Ewald, unser lettischer Dolmetscher, über die herrschsüchtige Art der Lagerleiterin Nadja Konstantinowna, eine Russin, die ihn ständig gängele. Ich frage (mehr im Scherz eigentlich), ob das für das Verhältnis von Letten oder Russen typisch sei, worauf er sich (sichernd?) umsieht und den Zeigefinger an die Lippen tippt „pst“! Später wieder am Strand rede ich mit Erik, lettischer Betreuer, Student am Rigaer Sportinstitut. Er flucht auf Stalin, der seine, Eriks, Großeltern auf dem Gewissen habe, spricht von russischer Unterdrückung und lettischem Nationalstolz, wünscht sich sogar eine eigenständige lettische Olympiamannschaft. Mir klingen die Ohren. Und auch Erik scheint unser Gespräch letztlich zu „heiß“ zu werden. Er wendet sich unseren Betreuerinnen zu. Nach dem Abendbrot spiele ich mit Volleyball, Erfrischung dann in der finsteren See. Und als ich schließlich mit Reiner, Horst und den anderen zusammensitze wird deutlich, dass auch sie mit hiesigen Verhältnissen ihre Schwierigkeiten haben. Monika, einer Russischlehrerin, die während des Studiums immerhin einige Zeit in Leningrad lebte, düpierte Erik beispielsweise damit , dass er erzählte, die erstbeste Gelegenheit nutzen zu wollen, um von hier zu verschwinden - eine Westeuropäerin heiraten, eine Deutsche vielleicht...? Aus der nahen Lagerkantine dringt Lachen. Die russischen Pionierleiter feiern. Seltsam, keine Einladung an uns, überhaupt ist stets eine Distanz, eine Mauer spürbar. Können etwa die beiden Natschalniks, die Leiter, der mittlerweile recht lockere Reiner und die feldwebelhafte, bärbeißige Nadja Konstantinowna, nicht miteinander? Gut möglich. Allerdings scheinen die Russen hier prinzipiell unnahbar.

1988: Montag. Der Computer beschäftigt langsam mein Unterbewusstsein, all diese neuartigen Spielmöglichkeiten lenken zunehmend ab. Also: Concentration, Baby...

1999: Fast unausweichlich wohl fährt man an einem Ferienwochenende in Deutschland wohl oder übel in einen Stau. Totalsperrung der Rostocker Autobahn bei Neuruppin. Dennoch kommen wir noch am Nachmittag in Kühlungsborn an. Pension „Jasmin“- na, wenn das nicht passt! Geräumige Ferienwohnung nahe der Seebrücke. Yasmin wird immer zappliger, will endlich an den Strand, quietscht schließlich vor Vergnügen als sie die Ostsee sieht und wir uns am Strand ein Plätzchen suchen. Aber ins Wasser traut sie sich trotz besten Zuredens nicht, baut nur und begeistert Kleckerburgen. Nach dem Abendessen (Labskaus) spazieren wir die Promenade entlang. Hier hat sich doch einiges verändert, seitdem wir das letzte Mal hier waren, 1993 (glaube ich), als ich von der Bibliothek eingeladen war. Erstaunlich, was so alles neu gebaut worden ist, dazwischen aber auch noch reichlich Ruinen einstiger FDGB-Heime. Und es wimmelt nur so von Urlaubern auf den Straßen, der Sprache und dem gehabe nach zu urteilen - überwiegend Wessis. Aha.

2022: Im Fernsehen Bilder von schweren Überschwemmungen im Death Valley, das seinen Namen eigentlich hat, da es als trockenster Ort der USA gilt…

 

Abpfiff

für

Julian Eswin „Cannonball“ Adderley / Juhani Aho / Ajen Yohl Mat / Lothar Bellag / Robert Bernardis / Salome Bey / Louise Brooks / Jacob Burckhardt / Glenn Campbell / Martha Chase / Hilde Coppi / Franz Eckert / Girolamo Fracastoro / Genki / Menahem Golan / Carl Heinrich Graun / Milton Greene / Karl Paul Immanuel von Hase / Christoph Friedrich Heinle / Erich Kurt Richard Hoepner / Werner Holz / Francis Hutcheson / Eva Kemlein / Friedrich Karl Klausing / Franz Alexander von Kleist / Ingeborg Klepzig / Robert Edgar Konrad / Leonid Maximowitsch Leonow / Kurt Maetzig / Gustav Adolph Michaelis / Albert Namatjira / Olivia Newton-John / Joseph Maria Olbrich / Elizabeth Peters / Edward F. Pimental / Rius / Sixto Diaz Rodriguez / Just Scheu / Hermann Harry Schmitz / Hellmuth Stieff / Frank Töppe / Trajan / Ueda Akinari / Peter Graf Yorck von Wartenburg / Hans Weber / Ilse Werner / Erwin von Witzleben

 

An diesem Tage ging uns etwas zu Ende:

Merseburg, 1661: „ergoß sich die Salah über alles vermuthen sehr groß, da es doch zuvor nicht sonderlich geregnet. Es gieng solch waßer hoch über die ufere, u. lieff nun gleich dazumahl die Erndte war, so führte solch waßer auf den Aeckern viel 1000 schock getreidigt, wie auch Heu hinweg, das andere so noch stunde, wurde verschlemmet, u. verderbet, es geschah also ein unaussprechlicher schade an dem gantzen Salah strom“ / 1741 beginnt der „Krieg der Hüte“ zwischen Schweden und Russland / Marcinelle, Belgien, 1956: Grubenunglück, 262 Bergleute sterben / 1975 brechen in China 62 Staudämme, 231.00 Menschen kommen ums Leben / 1990 annektiert der Irak Kuwait / Taiwan, 2009: Taifun, mehr als 100 Todesopfer.

 

 

9. AUGUST

 

Verwurzelung

mit

Robert Aldrich / Alfred Michael Otto Antkowiak / Wilhelm Reinhard Berger / Hasso von Boehmer / Martha Brunet / Athénaïs Clément / Heinrich Ehmsen / Caroline Auguste Fischer / Johann Christoph Friedrich GutsMuths / Laryssa Henijusch / Whitney Elizabeth Houston / Franz Jacob / Jakuren / Tove Jansson / Issai Kalistratowitsch Kalaschnikow / Dorothea Klumpke / Philip Larkin / Lee Cheong-jun / Heinrich Leuthold / Marvin Lee Minsky / William Thomas Green Morton / Hans Paul Oster / S. R. Ranganathan / Ernst Ludwig August von Rebeur-Paschwitz / Otto Ritschl / Gerd Ruge / Siegfried Schumacher / Robert Archibald Shaw / Michail Michailowitsch Soschtschenko / Werner Sylten / P. L. Travers / Adam von Trott zu Solz / Dana Vávrová / Berta Waterstradt / Wong Fei Hung / Wanda Young

 

An diesem Tage fühlten wir uns verwurzelt:

Pisa, 1173: Grundsteinlegung für einen Campanile, der zum „Schiefen Turm“ werden sollte / Fort Jackson, Alabama, 1814: Ende des Krieges zwischen den USA und den Creek / Würzburg, 1817: Gründung der ersten Druckmaschinenfabrik der Welt / 1890: wird Helgoland von den Briten in  deutsche Verwaltung übergeben / 1965 wird Singapur unabhängig.

 

Ich notierte:

1980: Wir sind – wie es die Tradition will, da sie heute Hochzeitstag haben – bei meinen Eltern. Und obwohl man sich nur einmal im Jahr sieht, ist es enttäuschend, wie wenig man sich zu sagen.

1982: Kesterciems. Gegen neun gibt mir Alla, die Co-Dolmetscherin, nach zweitägigem Drängen endlich einen Zettel mit den Abfahrtszeiten der Busse nach Riga. Und da fährt gleich einer! Also los! Wilhelm schließt sich kurz entschlossen an. Doch vor der Nase... Dann erweisen sich die Auskünfte doch als nicht ganz richtig, die falsche Haltestelle und so. Und wieso kommt plötzlich Erik wie zufällig vorbeigera­delt? Über einen Zwischenstopp in Tukums (ödes Nest) erreichen Wilhelm und ich dennoch gegen 13.00 Uhr die Hauptstadt Lettlands. Wilhelm fragt sich zur Post durch, will nach Hause telegrafieren, dass er angekommen ist. Nun gut. Ich bummle so lange durch Seitenstraßen, koste Kwaß vom Fass (nicht übel säuerlich), blicke in Geschäfte, tristes Viertel. Als Wilhelm endlich fertig ist (hat er seinen ganzen Lebenslauf durchgegeben oder was?) marschieren wir zur Altstadt. Erinnert irgendwie an Stralsund oder Rostock. Entlang am Ufer der Daugava. Hier ein Foto, da ein Foto. Sengende Hitze. Wir entdecken Sekt, die Flasche für 2,20 Rubel! Also mitnehmen. Und schon bleibt nicht mehr allzu viel Zeit bis zur Rückfahrt. Wir hasten durch die Markthallen, außen schmutziggelb, innen düster, buntes Gemüseangebot, sogar Südfrüchte, schau an!, südländische Verkäufer, Weintrauben en masse und Blumen, reichlich Blumen. Nirgendwo aber ein Erfrischungsstand. Auf meinen Lippen bildet sich Schleimschorf. Diese Hitze. Dann wieder der Busbahnhof, awtowoksal. In endlosen Schlangen stehen die Leute nach Fahrkarten an. Seltsames Prozedere als wie schließlich an der Reihe sind. Irgendwann begreife ich, dass man hier nur so eine Art Platzkarte ersteht und im Bus zu bezahlen hat. Nächste Schwierigkeit - den richtigen Bus erst einmal finden! Kaum setzt sich das klapprige Gefährt jedoch in Bewegung, schlägt plötzlich das Wetter um. Heftiger Regen, Kühle. Bis wir dann ins Quartier kommen, sind wir völlig durchnässt, frieren. Verrückt. Die im Lager gebliebenen Betreuer spendieren ein Schnäpschen, bestaunen uns, als hätten wir eine Weltreise hinter uns gebracht. Individuelles Über-Land-fahren von Ausländern scheint hier alles andere als selbstverständlich...

1999: Kühlungsborn. Entgegen der Wetterprognose Sonnenschein. Also an den Strand. Mine ist nach und nach sogar zu überzeugen, bis zu den Knien mit ins Wasser zu kommen, juchzt bei jeder Welle.

2000: Schreiben am Unstrutführer, dann zum Zahnarzt, das über Nacht neu angepasste Gebiss abholen... Nun gut. Ich muss vor Ort noch einiges zum Unstrutführer überprüfen, brauche auch noch einiges Material, fahre nach Nebra, Bad Bibra und Burgscheidungen. Am frühen Nachmittag zurück, einiges verarbeite ich gleich. In der Post heute ein Päckchen von Olaf, meinem alten Freund aus Armeezeiten, nunmehr Herr Kammersänger Olaf Bär, der mir als Reaktion auf die Sendung meiner gesammelten Werke, seine gesammelten Werke, an die 20 CDs, schickt. Belebungsversuche einer mit den Jahren verloren gegangenen Freundschaft vielleicht.

2020: Hochsommer, Temperaturen um 45°C in der Sonne. Gut dass wir in Corona-Zeiten im Hausgarten im Schatten sitzen und lesen, nach Belieben duschen können. Weltweit aktuell fast 20 Millionen Infizierte, fast 725.000 Tote.

2021: Merkwürdiger Traum vorm Erwachen: In dem Hotel, in dem ich abgestiegen war und in dem ich mich ständig verlaufe, tagen plötzlich der PEN und der FBK gemeinsam. Aber irgendwie erkenne ich keinen und niemand scheint mich zu erkennen. Als ich im Speise­saal jedoch Abendbrot essen will, werde ich angeschnauzt, dass ich nicht nur nassauern könne, gefälligst auch was beitragen müsse. Zur Eröffnung soll dann Herbie Hancock spielen, dessen Schlagzeuger ist auf einmal jedoch unpässlich und jemand meint, dass ich einspringen könne. Und obwohl Klaus Lenz mit mir noch die gängstigsten Hancock-Titel durchgeht, verkacke ich gleich den ersten Song. Dann geht’s aber doch ganz gut. In meiner Kaufhalle erhalte ich eine Scheibe Kochschinken gratis. „He, you’re the drummer of Herbie!“, und ich werde zu einem Vortrag in die Bundeswehr-Akademie nach Tutzing eingeladen.

2022: Perseiden-Zeit und sternklarer Himmel. Ich sitze mit Jeanny des Nachts im Garten. Wünsche hätten wir durchaus, doch Sternschnuppen können wir leider keine entdecken.

2023: Vorm Aufstehen träumte ich, ich habe im Leunaer Rathaus zur Lösung der neuen Heizungsgesetzgebung den kompletten Anschluss der Stadt ans Fernwärmesystem des Werkes gefordert. Realiter geht’s dann mal wieder nach Bamberg. Bei unserem letzten Besuch war der Dom verschlossen, und wir konnten Heinrich II. und Kunigunde nicht die Reverenz erweisen. Das holen wir nun nach, trinken natürlich auch herzhaft Schlenkerla, und: Überraschung – erleben das Eröffnungskonzert des diesjährigen Bamberger Blues- & Jazz-Festivals.

 

Versteppung

für

Fred Åkerström / Egon Ammann / Miguel Angá Díaz / Johann August Apel / May Ayim / Jutta Balk / Heinz Behrens / Hans Bien / Lily Braun / Emil František Burian / Bill Chase / Charles Cros / Damasus II. / Mahmud Darwisch / Bernd Daume / Harry Davenport / Eduardo Falú / Jerry Garcia / Guido Gozzano / Jenny Gröllmann / Ernst Haeckel / Hermann Hesse / Jaakov Jizchak Horowitz / Astrid Hutten / Franz Jägerstätter / Jun Tosaka / Leo Katz / Bruno Latour / Ruggero Leoncavallo / José Lezama Lima / Ernst Lossa / Maria Clementine Martin / Joe Orton / Hans Paul Oster / Ulrich Plenzdorf / Friedrich Ratzel / Robbie Robertson / Frankie Ruiz / Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowski / Edith Stein / Chaim Soutine / Robert Swan / Sharon Marie Tate / Edward Lee Thorndike / James Van Allen / Fernando Villavicencio / Ernst Volkmann / Klaus Wildenhahn / Marianne Wünscher / Jasmine You/ Heinrich Rudolf Zille / Jerzy Żuławski

 

Da fürchteten wir grassierende Versteppung:

Württemberg, 1514: Ende des Bundschuh-Aufstandes „Armer Konrad“ / 1568 „hat mann an etlichen orthen zur Nacht drey Monden am Himmel gesehen, welche sehr helle geschienen“ / Türkei, 1912:  Erdbeben, bis zu 3.000 Todesopfer / Nagasaki, 1945: Abwurf der zweiten Atombombe durch einen US-Flugzeug, 70.000 Menschen sterben sofort / Cusco, Peru, 1970: Absturz einer Lockheed Electra, 101 Tote / Xiaolin, Taiwan, 2009: durch eine Flut- und Schlammwelle kommen 400 Menschen ums Leben Belem, 2023: eine Konferenz gegen die weitere Abholzung der Amazonaswälder endet ergebnislos.

 

 

10. AUGUST

 

Platzkonzert

mit

Leyla Açba / Jorge Amado / Amalie von Sachsen / Walter Basan / René Crevel / Alfred Döblin / Tadeusz Dołęga-Mostowicz / Hugo Eckener / Sergio Frusoni / Alexander Konstantinowitsch Glasunow / Johann Georg Gmelin / Bobby Hatfield / Margarete Heymann / Jürgen Holtz / Les Humphries / Max Jacob / Milena Jesenská / Zofia Kossak-Szczucka / Jean-François Lyotard / Ramon Martí i Alsina / Philipp Nicolai / José Orabuena / Hans Otto / Phoolan Devi / Abai Qunanbajuly / Norma Shearer / Juri Wladimirowitsch Solowjow / Ronnie Spector / Erich Steinfurth / Claude Martin Thornhill / Daniel Gottlob Türk / Marie Versini / Prežihov Voranc / Sam Warner / Leopold Zunz

 

Auf diesem Platz fühlten wir uns angekommen:

1055 schwört Otto der Große vor der Schlacht auf dem Augsburger Lechfeld im Falle des Sieges über die Ungarn in Merseburg ein Bistum zu erreichten. Otto siegte / Sevilla, 1519: Magellan beginnt seine Weltumseglung / Pljussa, 1583: Friedensschluss im Livländischen Krieg zwischen Russland und Schweden / 1663: Frieden von Eisenburg zwischen dem Osmanischen und dem Heiligen Römischen Reich / 1680: Beginn des Pueblo-Aufstandes in Neuspanien / Paris, 1793: Eröffnung des Louvre / 1830 löst sich Ecuador von Großkolumbien / Bukarest: Friedensschluss im Zweiten Balkankrieg / 1990 tritt die Raumsonde „Magellan“ in eine Venus-Umlaufbahn Venus ein.

 

Ich notierte:

1981: Schorfheide. Am Wochenende bevölkerte die liebe Verwandtschaft die Datsche, nun sind wir wieder allein. Doch mir wird bewusst, dass schon die Hälfte dieses schönen Urlaubs rum ist. Wir fahren mit dem Moskwitsch in die Umgebung, und plötzlich gibt der den Geist auf – vor einer Moskwitsch-Werkstatt – unglaublich! Bald geht’s also weiter: Schiffshebewerk Niederfinow, Kloster Chorin, Tierpark Eberswalde. Cathi ist glücklich. Meine Gedanken ans baldige Urlaubende sind gedämpft.

1982: Kesterciems. Ein wolkenverhangener, grauer Tag. Regen. Laut Plan der „Tag der DDR“. Unsere Gruppen stellen sich mit Kulturprogrammen vor. Die Kinder und Jugendlichen sind eifrig dabei, geben sich große Mühe, singen, tanzen, spielen, turnen. Meine kleine Gitarrengruppe mittendrin. Unverständlich aber, warum der Saal halb leer bleibt, nur etwa hundert, hundertzwanzig Zuschauer gekommen sind. Achthundert einheimische Kinder sind im Lager, wurde uns erzählt, Kinder von acht bis sechzehn Jahren. Die Eltern der meisten arbeiten im Ra­diowerk Riga. Manche sollen aber aus asozialen Verhältnissen stammen. Jedenfalls bleiben alle 26 Tage hier. Die Eltern bezahlen dafür zwischen 8 und 18 Rubel - ca. 10% ihres Einkommens. Den jeweiligen Rest begleicht der Betrieb. „Albatross“ ist also kein Auszeichnungslager, wie man uns daheim glauben machte, sondern ein ganz gewöhnliches Betriebsferienlager. Doch kann das doch unmöglich die Erklärung für den hier herrschenden Drill, den rü­den Kommadoton und im Widerspruch dazu, diesen halbleeren Saal sein. Niemand scheint die Teilnahme am Kulturprogramm der deutschen Gäste „befohlen“ zu haben. Wie gesagt, irgendetwas stimmt hier nicht. Eine positive Überraschung ist Sergej. Der kleine, quirlige, zehnjährige Bursche brachte den Mut auf bis in unsere Zimmer vorzudringen, um sich „mit mir bekannt zu machen“, wie er sagte. Heute schenke ich ihm einen Schlüsselanhänger. Sergej scheint verblüfft, doch dann reckt er sich zu mir auf - ich denke, er will mir etwas ins Ohr flüstern - und küsst mich auf die Wange und rennt winkend davon. Am Nachmittag soll ich Mittelpunkt einer Gesprächsrunde sein. Mein erster Auslandsauftritt sozusagen. Ich werde in eine Art Waldbühne, in ein Amphitheater geführt. Meingott! Hier scheinen hunderte Kinder zu warten. Ich soll unten hinter einem Tisch Platz nehmen. Und dann fehlt auch noch Alla, die Dolmetscherin! Ich stehe da wie blöd. Mein Russisch reicht nicht mal für eine vernünftige Vorstellung. Soll ich englisch radebrechen? Hier? Sinnlos. Da fällt mir ein, dass ich eine Gitarre in der Hand halte. Klar, wir singen! Und dann erscheint sogar Alla. Ich erzähle und erzähle, gebe meine Geschichten zum Besten. Zwar „hängt“ Alla manchmal, doch geht alles besser als erhofft. Am Ende verteile ich Abzeichen, Karten, Aufnäher und dergleichen und gebe Autogramme. Was für ein Andrang, Gedrängel, Geschubse. Alla schenke ich für die Mühen des Übersetzens eine Flasche Apfel-Shampoo (so was gibt’s hier nicht). Verhaltene Freude? Zum Problem wird mehr und mehr das Abendbrot: Schon wieder gibt es gänzlich kalte Kartoffeln mit einem Klecks Quark, dazu ein Scheibchen Wurst, ein Scheibchen Brot, und das Eckchen Butter lässt sich nur mit einem Gabelstiel aufs Brot schmieren, da es im Lager absolut keine Messer zu geben scheint. Reiner versucht’s zu ironisieren, meint, zu Hause werde er alle Messer wegwerfen. Wozu brauche man die eigentlich? Ewald erklärt, dass er beim Gebietskomitee berichtet habe, wie wir hier behandelt würden, dass Nadja Konstantinowna jedoch alles vom Tisch gewischt habe und ihn seitdem nicht einmal mehr grüße. Und uns? Unsere Kinder und Jugendlichen veranstalten nach dem Abendbrot im Saal eine Disco. In unserem Gebäude herrscht zum ersten Mal eine ansonsten nur des Nachts mögliche Ruhe. Kein Gelärm von der Tischtennisplatte im Foyer, kein hektisches Hin- und Hergelaufe, kein Türenschlagen, keine Fanfarenstöße, Trommelwirbel etc. pp. Ich liege auf dem Bett, trinke ein Schnäpschen (hier erstaunlich preiswerten weißen Rum) und lese Katajew. Spät am Abend dann der sogenannte Empfang. Alles „in Schale“, selbst Nadja Konstantinowna. Die Rostocker Betreuerinnen haben alles liebevoll vorbereitet: kleines kaltes Büfett, Juice, Wodka, Bier, Geschenkbeutel... Ich übergebe irgendwann ein Autogrammbüchlein und eine Gedenkmünze an die gestrenge Lagerleiterin. Dann wird getanzt, Polonaise und so. Und gesungen wohl bis vier...

1999: Auch heute Strandwetter trotz Schlechtwetter-Vorhersage. Wir nutzen es reichlich aus. Gegen Abend Bummel durch Kühlungsborn und Fahrt mit dem Molli, der historischen Bahn, nach Heiligendamm, dem ältesten Seebad Deutschlands. Erschreckend allerdings, wie es hier 10 Jahre nach der Wende aussieht! Bei unserem letzten Besuch saßen wir noch unter belebten Kolonnaden und tranken Kaffee. Nun stehen die schlossähnlichen Villen leer und verfallen. Nichts mehr von „weißer Stadt am Meer“...

2018: Seydisfjördur. Wir passierten die schroff aufragenden, wiesengrünen Färöer Inseln, dann zweiter Zwischenstopp in einem der schönsten Fjorde Islands. Im gleichnamigen Ort waren wir schon mal vor zehn Jahren bei unserer Island-Rundreise. Viel verändert hat sich seitdem hier offenbar nicht, zumindest nicht im Positiven. Das Hotel, in dem wir damals übernachteten, hat geschlossen, und etliche der wenigen Häuschen sehen verdammt verlassen aus. Dafür fallen die Wasser der Wasserfälle der sommers noch schneebedeckten Fjordberge noch immer eindrucksvoll gen Fjordwasser. Und Schafe weiden wie eh und je auf den mattgrünen Wiesen ringsum.

2022: Ich spüre eine zunehmende Unlust zu Reisen. Da ich ich mich in meinen „Ruhestands-Alltag“, tunlichst Langeweile vermeidend, halbwegs eingerichtet habe? Da ich täglich, schreibend meine „Lebensreise“ aufarbeitend, versuche zur Ruhe zu kommen? Zur Ruhe finden muss – obwohl ich dies letztlich natürlich fürchte…

 

Point of no return

für

Øystein Aarseth / Akashi Kakuichi / Leo Apostel / Hans Georg Brenner / Otto von Faber du Faur / Jakob Friedrich Fries / Albrecht Gabriel / Robert Goddard / Walter Burley Griffin / Fritz Oskar Hampel / Isaac Hayes / Emmy Hennings / Carl Hinstorff / Alfred Kranzfelder / Laurentius von Rom / Werner Lichtner-Aix / Karl Wilhelm Otto Lilienhal / Mahmut Makal / Irene Morgan / Michela Murgia /Conlon Nancarrow / Ruben Rausing / Lillian Roxon / Karl Schmidt-Rottluff / Fritz-Dietlof von der Schulenburg / Sybilla Schwarz / Berthold Schenk Graf von Stauffenberg / Maarten Tromp / Paul Wallot / Bernd Alois Zimmermann

 

Dahin wollten wir eigentlich nie kommen:

612. v. Chr. wird Ninive zerstört / 1512 kommen in der Seeschlacht von Saint Matthieu 1.600 französische und englische Seeleute ums Leben / Stockholm, 1628: das schwedische Kriegsschiff „Vasa“ sinkt bei seiner Jungfernfahrt, bis zu 50 Todesopfer / Louisiana, 1856: Hurrikan, 400 Tote / Maui, Hawaii, 2023: bei Wald- und Buschbränden kommen mindestens 115 Menschen ums Leben.

 

 

11. AUGUST

 

Konservierung

mit

Enid Blyton / Erik Keith Brann / Lorenz Breunig / Erwin Chargaff / Käthe Haack / Alex Haley / Joseph Ephraim Casely Hayford / Johann Friedrich Henckel / Friedrich Ludwig Jahn / Takarai Kikaku / Diether Krebs / James Mancham / Uku Masing / Audrey Mestre-Ferreras / Jan Palach / Sofija Jakowlewna Parnok / Friedrich Reck-Malleczewen / Sandra Lee Scheuer / Ernst Stadler / Jindřich Štrský / Yoshikawa Eiji / Young Dolph / Emil Zsigmondy

 

Das hätten wir gern konserviert:

Nimwegen, 1678: Ende des Französisch-Niederländischen Krieges / Ascot, 1711: Start de ersten Pferderennens / 1858: Erstbesteigung des Eiger / 1899: Inbetriebnahme des Dortmund-Ems-Kanals / 1960 wird der Tschad unabhängig von Frankreich / 2023: Russland startet nach fast 50 Jahren wieder eine Raumkapsel zum Mond: „Luna 25“.

 

Ich notierte:

1981: Trifonwo lässt in „Der Alte“ Pawel Jewgrafowitsch sagen: „Das Alter ist die Zeit, in der man keine Zeit mehr hat.“ Eine erstaunliche, wenn nicht tragische, vielleicht von Idiosynkrasie getragene Feststellung. Wobei ich Alter hier nicht mir alt sein verstehe, den Alten nicht als Greis, sondern als kurz vor dem Tod stehend. Wird so erklärlich, warum Lebenswerke oft in verblüffend kurzer Zeit geschrieben worden, Büchner, Bobrowski… Hatten sie ihren vorzeitigen Tod geahnt?

1982: Lettland. Später ins Bett - früher aufstehen. Frühstück eine halbe Stunde vorgezogen, da Nadja Konstantinowna und überraschend ihre Dienstlimousine (schwerer, schwarzer Wolga) zur Verfügung stellte. Sechs Deutsche nach Riga, bestimmte sie. Und auf Reiners Geheiß sind Wilhelm und ich mit dabei. Nach einer halsbrecherischen Fahrt (sechs Erwachsene plus Fahrer, der seine Fähigkeiten demonstrieren will, oder hat er Geheimauftrag uns zu Verschüch­tern? - 150 Spitze über Feldwege, überholen wie’s und wo’s grad kommt...) sind wir gegen 10.00 Uhr in Riga.

In der Gruppe hasten von Geschäft zu Geschäft. Wer weiß, ob man nochmals zum Geschenkekaufen kommt? Schlangen, überall Schlangen von Menschen, chaotischer Verkehr - fährt hier jeder wie er denkt? In einem Bazar essen wir Melone, köstlich frisch. Dann in einer Fleischhalle versuche ich zu fotografieren. Sofort stürzt eine Verkäuferin mit weißer Spitzenhaube und fettblauem Lidschatten auf mich zu, schreit Zeter und Mordio. Menschenauflauf. Ich kann mich zum Glück verdrücken.

Mittagessen wird zum Problem. Überall Überfüllung, Schlangen, Schlangen. Kein Bier. Einmal furchtbaren Kaffee. Erst gegen 17.00 Uhr ein Stück Huhn, labberig, Tomaten mit saurer Sahne, Kwaß. Dazu dröhnt aus klobigen Lautsprecherboxen rumorend basslastig Discomusic. Damit einem der Appetit vergeht, oder was? Auffallend viele Frauenpärchen, sich wie Mann und Frau gebärdend, im Restaurant, auf den Straßen...? Auffallend viele Beschriftungen auf Finnisch? (Erik erzählt später hinter vorgehaltener Hand, dass mit der Fähre Freitag für Freitag Scharen von Finnen einströmten, um sich das Wochenende lang schrecklich zu besaufen.) Die Rückfahrt noch halsbrecherischer. Motto: Augen zu und durch! Ein Abend an dem ich mich mal nicht übers Abendbrot meckere. Babel lesen, ein bisschen am Strand sitzen. Dann nur noch schlafen, schlafen.

1999: Kühlungsborn. Während wir am Haltepunkt „Wittenbeck-Steilküste“ auf den Molli warten, sehen wir dank dunkler Wolkenstriemen mählich den Kernschatten des Mondes über die Sonne ziehen. Spezialbrillen (ohne die man auf keinen Fall das Jahrhundertereignis beobachten dürfe!) waren natürlich nur noch zu Schwarzmarktpreisen zu haben. Im Zenit unserer Aufmerksamkeit steht jedoch bald ein urplötzlich hinterm Bahndamm aufflammendes Feld. Mähdrescherfahren kommen mit Eimern und Schippen und Hacken, hochrot, aschfahl. Und in Kühlungsborn dann glotzen Urlauber vor einem Kaufhaus unter Gratiswerbemützchen mit Kaufhaussonderbrillen im steilselben Blickwinkel dicht an dicht aus der nun kühlfahlen Nacht am Tage wozu ihnen ein Diskjockey Sonnenmilch und dergleichen anpreist. Wir gehen Mittag essen.

2018: Akureyri. Dritter Zwischenstopp. Auch in diesem Polarkreisstädtchen, der Hauptstadt Islands Norden, waren wir schon, haben gute Erinnerungen, mögen auch die spielenden Krimis von Arni Thorarinsson. Doch nun erkennen wir am Morgen erstmal gar nichts wieder: Nebel! Wahrhaft erhaben dann zu beobachten, wie die Nebelbänke aus dem Fjord hinaustreiben, allmählich die Häuser, die Berge sichtbar werden. Gen Mittag steigen wir im schönsten Sonnenschein zur weithin sichtbaren Kirche und weiter zum nördlichsten Botanischen Garten der Welt auf. Seltsam, hier sind Stiefmütterchen und Lupinen riesenwüchsig. Wie das? Riesig auch die Bierrechnung: für zwei Glas Viking muss ich 2200 Isländischen Kronen berappen, gut 20 Euro. Na denn, Prost. Aus dem Hafen geleitet uns zu guter Letzt ein Lotsenboot namens Sleipnir. Sleipnir nach Odins achtbeinigem Ross. Als das Boot abdreht, winke ich zum Abschied, ja, durchaus wehmütig. Und mir scheint, als winkte die Zwei-Mann-Besatzung achtarmig zurück.

2021: Mal wieder raus, damit einem die Decke nicht auf den Kopf fällt, auch wenn’s mal wieder nur ein Kürzest-Urlaub ist: wir fahren nach Oybin. Erstaunlich, dass es nach all den Jahren, die ich als Rocker und Autor unterwegs war, noch eine Gegend in Deutschland gibt, die ich nicht kenne. Ja, in Oybin war ich noch nie. Und das wird (abgesehen von den Staus um Dresden) ein schöner Tag: Wir steigen auf den Berg Oybin, über den schon mein Willi Bartsch eines seiner ersten Gedichte schrieb, den Carus und Caspar David Friedrich malten, und der uns beeindruckt. Gut gesicherte Ruinen der Burg und des Klosters, wunderbare Rundwege mit weiten Aussichten. Und der Wirt der Klosterschänke hat sogar einen selbstgebrannten Gin auf Vogelbeerbasis im Angebot. Schönes Hotel im Kurpark, gutes Essen. Und stets freundliche Menschen. Am nächsten Tag über Herrnhut, wo sich Jeanny in der Manufaktur einen lang gehegten Wunsch erfüllt: einen originalen roten Herrnhuter Weihnachtsstern erwirbt.

2022: Per Video-Konferenz verständige ich mich mit Florian, dem Erben Walter Bauers, über die Aufrichtung einer Jankofsky-Bauer-Stiftung.

 

Korrektur

für

Humayun Azad / August Bohse / Israel Crosby / James Gordon Farrell / Lavinia Fontana / Willi Forst / Anne Heche / Eunice Kennedy-Shriver / Lydia Koidula / Koizumi Chikashi / Jiří Kolář / Trini Lopez / Linda Loredo / Hans Memling / Carlo Mense / V. S. Naipaul / Lorenz Oken / Jo Pestum / Paul Jackson Pollock / Sempé / Jón Steingrímsson / Klara Stoffels / Arieh Ludwig Strauss / Gustav Nikolaus Tiedemann / Charles-Françoise Tiphaigne de la Roche / Maurice Tornay / Ella Gertrud Trebe / Joop Westerweel / Edith Wharton / Robin Williams / Maximilian Alexandrowitsch Woloschin / Karl Ziegler / Simon Gottlieb Zug

 

Das hätten wir gern korrigiert:

1863 wird Kambodscha französisches Protektorat / Watts, Los Angeles, 1965: Beginn sechstägiger Unruhen, bei denen 34 Menschen ums Leben kommen / Morvi, Gujarat, 1979: Bruch der Machhu-II-Talsperre, bis zu 2.500 Todesopfer

 

 

12. AUGUST

 

Versuch

mit

Tony Allen / Raphael Armattoe / Jacinto Benavente / Margaret Burbidge / Robert Solli Burås / Cecil Blount DeMille / Hans Conrad Dietrich Ekhof / Saime Genç / Radclyffe Hall / Johann George Ludwig Hesekiel / Christoph Wilhelm Hufeland / Alfred Kantarowicz / Amadeu António Kiowa / Harry Kupfer / Fatima Meer / Silvio Meier / Karl Mickel / Clara Nunes / Ronald Paris / Karl Paryla / Mary Roberts Rinehart / Karl Rodbertus / Alexei Nikolajewitsch Romanow / Erwin Rudolf Josef Alexander Schrödinger / Sarah Schumann / Louisa Stuart / Hermann Teuber / Karl Jakob von Weber / Harold „Doc“ West /

 

Das hätten wir gern nochmals versucht:

Leeds, 1812: Inbetriebnahme der ersten Zahnradbahn / 1833: Gründung von Chicago / 1851: Patenterteilung für die erste funktionstüchtige Nähmaschine / Cormòns, 1866: Ende des Dritten Italienischen Unabhängigkeitskrieg / 1949: Unterzeichnung der modifizierten Genfer Konventionen / 1960 wird der erste Kommunikationssatellit „Echo 1“ von der NASA in einer Erdumlaufbahn gebracht.

 

Ich notierte:

1981: Schlechtes Gewissen fast, da ich auch im Urlaub mein Beobachten, Denken und Fühlen – Schriftstellerarbeit also - nicht einfach abstellen kann…

1982: Kesterciems. Erstaunlich, daß ich selbst nach solchem, wie bewusstlosem Schlag wenige Sekunden vor dem Weckruf von alleine wach werde. Ebenso war’s bei der Fahne. Was läuft da für eine Uhr? - Präziser Wunsch wenigstens einige ungestörte Augenblicke in der Masse und ohne befohlene Ordnung allein sein zu können? Wie zum Hohn höre ich dann statt des üblichen Trompetensignals lautes Hahnen­geschrei. Ach ja, heute soll eine Art Lagerfasching sein. Fängt also gut an. Nach dem Frühstück erscheint jedoch eine Delegation der Gebietsleitung des Komsomol und unsere Teilnehmer haben nochmals das eingeübte Estradenprogramm aufzuführen, nun schon recht müde. Die Ehrengäste, Wilhelm und ich also, werden befragt, wo­her und wohin und dergleichen, alles recht unterkühlt. Und was haben wir denn alles schon so besichtigt in der schönen lettischen Sowjetrepublik? Tja, was schon - ein bisschen Riga... (Aha, daher rührte die gestrige Freundlichkeit Nadja Konstantinownas, die Zurverfügungstellung ihres Autos samt Chauffeur und so.) Nun gut, die Genossen versprechen, dass da noch etwas stattfinden wird. Ja, sie werden sich persönlich darum kümmern! Schau an. Nicht minder erstaunlich: Zum Mittagessen im Speisesaal ist eine Tafel mit Tischtüchern, tatsächlich weißen Tischtüchern!, eingedeckt, und es gibt Salate, Vorsuppe, Gemüse, Fleisch, Kartoffeln - und: Messer, Gabeln und Löffel! Fast eine Sensation. Und dann wird sogar Schnaps ausgeschenkt. Na denn, es lebe der leninsche Komsomol! Eine Begegnung der ganz anderen Art dann am Nachmittag: Witali, ein im Lager weilender Student der Theaterwissenschaften, sagt, er habe begonnen eines meiner Lieder, das ihm sehr gefiel, zu übersetzen. Und er fragt, was ich sonst noch so schreibe und mache, lädt mich zu einem Gespräch ein. Doch zuerst lernt er mir ein typisch lettisches Spiel, wie er betont, namens Na-Uss, billardähnlich, in zwei Parteien mit je zwei Spielern zu spielen. Witali spielt stets mit mir. Dann das Gespräch in seinem Zimmer. Er ist mit seiner Frau Marina hier, stolzer, hochgewachsener, aristokratischer Typ, dabei sehr sympathisch. Zu meiner Überraschung legt sie mir die Noten meines Liedes vor. Ja, sie hat mitgeschrieben, arbeitet doch als Musiklehrerin. Ich korrigiere hier und da, doch bin, wie gesagt, sehr überrascht. Mit Witali gehe ich Wort für Wort des Textes durch. Monika, unsere Russischlehrerin, die zum Überset­zen mitkam, muss Schwerstarbeit leisten, die literarischen Bilder verständlich machen. Schließlich eröffnet mir Witali, dass er auch Lieder schreibe und greift zur Gitarre. Ein Kinderlied gefällt mir besonders. Ich verspreche ihm, es ins Deutsche zu übertragen. Sie schenken mir ein Souvenir, ich gebe Marina eine Flasche Shampoo. Freude. Noch einmal Na-Uss, dann baden in der See. Durch unser Gespräch scheinen wir den groß angekündigten Lagerfasching verpasst zu haben. Überall einheimische Kinder in allen möglichen Kostümen, doch stets streng in Gruppen und irgendwie überhaupt nicht fröhlich. Beim Abendbrot regt sich Wilhelm auf, dass als einziges Besteckteil pro Nase nur ein Löffel auf den Tischen liegt (kleiner Lagerfaschingsscherz oder was?), ein Löffel für Grießbrei und Fisch und zum Stullenschmieren. Wilhelm fordert im Namen der Ehrengäste ein Gespräch mit der Lagerleitung. Gleich nach dem Abendessen kommen Reiner und Horst und zwei weitere Betreuer in unser Zimmer und versuchen uns zu beschwichtigen. Na, wir wär’s denn mit einem Schnäpschen... Ich erwidere, ob sie etwa verhindern wollten, dass wir insbesondere für unsere Kinder etwas verbessern wollten? Vielleicht, dass künftig zumindest ein Teekübel in unserem Haus steht. Denn zu trinken und nicht eben reichlich gibt’s nur zu den festgeschriebenen Essenszeiten. Immer wieder sehe ich Kinder in den Waschräumen Wasser aus der Leitung trinken. Und was sie wirklich essen, wissen wir eigentlich auch nicht... Am Abend wieder Disco. Ich versuche im Zimmer zu schreiben. Dann gehe ich aber doch in den Saal, treffe auf Erik und zwei weitere Modellathleten, ein Eishockeyspieler und ein Zehnkämpfer, wie Erik vorstellt. Sie laden Wilhelm und mich zu sich ein. Einziger Zimmerschmuck: ein Expander am Fenster, Illustriertenfotos von Schiläufern und Eishockeyspielern an der Wänden. Aber ein japanischer Recorder, Stevie-Wonder-Cassetten, Sowjetskoje Schampanskoje und „the living conditions in Latvia“... Das hatten wir ja schon mal. Erik meint, es könnte den ihnen viel besser gehen, wenn das, was in Lettland produziert wird, in Lettland bliebe, statt in andere Unionsrepubliken gebracht zu werden. Das würde beispielsweise auch die Arbeitsproduktivität steigern! Es ist schon fast Mitternacht, als uns die drei Hünen bis zu unserem Haus begleiten.

1999: Des Nachts heulte Sturm ums Quartier, jaulte womöglich den Sommer weg und blies mir den Satz ins Ohr: Ohne Reisen würde man wohl alltägliche Abläufe für Normalität halten... Obwohl - unterwegs befällt mich irgendwann ebenso eine Sehnsucht nach geordneter Alltäglichkeit wie im nicht selten chaotischen Alltag der Wunsch weit, weit zu entfliehen. Sturm eben. Nachtrag zum „Jahrhundertereignis“: Bei einem Londoner Buchmacher verwettete ein Mann 5 Millionen Pfund auf den Weltuntergang anlässlich der Sonnenfinsternis. Besser kann man den Alltagszustand dieser Welt wohl nicht ins Bild setzen: Was hätte dieser Mann mit seinem Gewinn anfangen wollen, wenn er irgendwie hätte gewinnen können? Kühl ist’s über Nacht geworden, dunkle Wolken am Himmel. Wir fahren mit dem Molli nach Bad Doberan, Markt, Münster, es regnet immer mal wieder. Zurück in Kühlungsborn reißt der Himmel aber auf, und wir nutzen die ein, zwei Stunden Sonnenschein, legen uns (angezogen) an den Strand, d.h. ich wage mich sogar nochmals in die Wellen.

2000: Halb neun Abfahrt gen Westen. Obwohl es Sonnabend und Ferienzeit ist kommen wir gut voran, machen bereits halb zwei kurz vor der niederländischen Grenze Picknick (was sich Mine so sehr gewünscht hatte). Gegen vier sind wir dann bereits auf Zeeland, biegen in Goes von der Autobahn, fahren über die beeindruckende Zeelandbrücke, dann über den imposanten Oosterscheldedamm, gehen mal schnell in die Nordsee baden, erleben dann aber eine Odyssee: Kein Quartier, absolut kein Quartier zu finden weit und breit. Wir versuchen es in Domburg und Westerkapelle, in Vlissingen und Middelburg, und selbst in verschlafenen Nestern wir Krabbendijke ist nicht ein Hotelbett frei. Zurück also bis Bergen op Zoom, wo wir endlich (zu stolzen Preisen, versteht sich) ein Hotelzimmer finden. Spaziergang ins Stadtzentrum auf ein Witbier und einen Happen zu Essen (was auch nicht so ganz einfach ist – meist freundliche Inkompetenz oder Desinteresse des Personals), aber zu guter Letzt noch Ende gut alles gut. Müde fallen wir in die Betten.

 

Verklingen

für

Johanna Ernestine Adler / Jakob Adlhart / Fatima Ahmed Ibrahim / Artur Alliksar / Luther Allison / Nicola Amati / Samir Amin / Franz Antel / Arafat Muana / Lauren Bacall / Jean-Michel Basquiat / Johann David Beil / Salah Ben Youssef / Kurt Hans Biedenkopf / William Blake / Ludwig Borchardt / Josef Bulva / John Cage / Olof von Dalin / Itzik Feffer / Ian Lancaster Fleming / Henry Fonda / Hermann Frieb / Giovanni Gabrieli / Arthur Griffith / Paul Gurk / Wiktor Hambardsumjan / Godfrey Hounsfield / Huang Zongxi / Leoš Janáček / Gareth Richard Vaughan Jones / Kleopatra VII. Philopator / Leib Kwitko / Karl Leisner / Natalia LL / Solomon Abramowitsch Losowski / Thomas Mann / Perez Markisch / Rudolf Mayer / Metacomet / Hans Müler / Adolf Erik Nordenskiöld / Karl Oppermann / Les Paul / Jacopo Peri / Wolfgang Petersen / Franz Radziwill / Sakamoto Kyū / Sabina Naftulowna Spielrein / George Stephenson / Josef „Bebo“ Wager / Ernst Wendt / Yongle / Loretta Young / Zhu Ziqing

 

An diesem Tage verklang es uns:

Merseburg, 1506 erscheint ein „schrecklicher Comet am Himmel, den man 25 tage lang gesehen“ / 1898 annektieren die USA Hawaii / Sant’Anna di Stazzema, 1944: SS-Truppen ermorden 560 Einwohner des Dorfes, vor allem Frauen und Kinder / Moskau, Lubjanka, 1952: Hinrichtung von 30 jiddischen Autoren / 1953 zündet die Sowjetunion ihre erste Wasserstoffbombe / Griechenland, 1953: Erdbeben auf Kefalonia und Zakynthos, 476 Todesopfer / 1985 prallt eine Boeing 747 gegen den japanischen Berg Takamagahara, 520 Menschen sterben / 2000 sinkt das russsiche Atom,-U-Boot „Kursk“ in der Barentsee, alle 118 Seeleute an Bord kommen ums Leben.

 

 

13. AUGUST

 

Ornithologie

mit

Georges Aeby / Alfred Ahner / Anders Angstörm / Benny Bailey / John Logie Baird / Heinrich von Brühl / Fidel Alejandro Castro Ruiz / Anne-Joséphe Théroigne de Méricourt / Dan Fogelberg / Ilsabetha „Betty“ Gleim / Alfred Hitchcock / John Ireland / Salomon Jadassohn / August Jäger / Gareth Richard Vaughan Jones / Johann Georg Lahner / Leo Lania / Nikolaus Lenau / Karl Paul August Friedrich Liebknecht / Makarios III. / Jimmy McCracklin / Johannes Friedrich Miescher / Mulgrew Miller / Christopher Richard Wynne Nevinson / Annie Oakley / Balthasar Permoser / Johannes Prassek / Carl Rahl / Rasmus Rasmussen / Frederick Sanger / George Shearing / Randy Shugart / George Gabriel Stokes / Felix Wankel

 

An diesem Tage fanden wir alles federleicht:

1727: Gründung der Herrnhuter Brüdergemeinde / 1876: Eröffnung der ersten Bayreuther Festspiele / Genf, 1936: Gründung des jüdischen Weltkongresses / 1979: Beginn der Rettung von vietnamesischen Bootsflüchtlingen durch die „Cap Anamur“.

 

Ich notierte:

1982: Kesterciems. Nach dem Frühstück steht eine literarische Gesprächsrunde für FDJ-ler auf dem Programm. Obwohl fakultativ, kommen viele. Ich lese Texte Gleichaltriger, mit denen ich zu Hause arbei­tete. An der Gedichtzeile „Ich bewundere und bedauere dich“, bezogen auf einen Vater, entfacht eine kontroverse Diskussion. Die Offiziersbewerber unter den FDJ-lern können oder wollen das nicht verstehen - „Man müsse doch einen festen Standpunkt haben...“, halten solches „Geschreibsel“ am Ende für Quatsch. Andere Jugendliche fragen an, ob wir das Gespräch am Nachmittag weiterführen könnten... Nach dem Essen und einem kleinen Mittagsschläfchen spiele ich mit dem „Zuhause“ gebliebenen Teil des Betreuer-Teams, Horst, Viola und Anett, noch immer etwas schläfrig und träge Doppel­kopf. Der andere Teil erkundet heute Riga. Und dann erscheint tat­sächlich ein Mädchen und hat noch Fragen zu den Vormittag-Texten. Ich nehme sie mit zu Witali. Ein Junge schließt sich an. Wir diskutieren und spielen Na-Uss. So recht will bei mir dennoch keine Freude aufkommen, irgendwie fühle ich mich heute schwermütig, ja traurig. Heimweh? Gut möglich. Vielleicht ist aber auch meine Neugier durch diese Lager-Tristesse verbraucht. Höhepunkt: Nach dem Abendbrot Friedensmeeting in der „Waldbühne“. Nach endlosen russischen Reden sollen alle Teilnehmer irgendeine Resolution unterschreiben. Schön hierarchisch, versteht sich: Die Mitglieder der Lagerleitung, allen voran Nadja Konstantinowna, unterschreiben auf der Bühne. Selbstapplaus. Dann werden die Parteimitglieder unserer Delegation aufgerufen zu unterschreiben - vor der Bühne. Dann die Dolmetscher, dann die FDJ-ler...

Normalerweise hätte ich mich wohl irgendwo anschließen müssen, doch fühlte ich mich auf einmal so hilflos, so fehl am Platze hier, dass ich mich über die Dünen davonschlich. Hinter mir flammt ein gewaltiges Lagerfeuer auf. In dessen Schein sehe ich nun auch die Pioniere, schön in Reihe und Glied, an die Unterschriftenliste herantreten. Ich lege mich in den Sand, starre die ständig wechselnden Farb- und Formenkombinationen der über die Rigaer Bucht treibenden Wolken an, nehme erstmals bewusst wahr, wie lange es hier abends hell bleibt, weiße Nächte. Dennoch lege ich mich bereits gegen zehn Uhr schlafen, will niemanden mehr sehen heute, geschweige denn sprechen.

1999: Kühlungsborn: Freitag. Letzter Tag des Urlaubs mit Mine. Diese schöne, intensive gemeinsam gelebte Zeit wird also bald wieder Vergangenheit sein, vielleicht reicht aber noch die eine oder andere Erinnerung weit in kommenden Alltag hinein.

2000: Gutes Frühstück, wir langen tüchtig zu (auch um den für das schmuddlige Zimmer schlichtweg unverschämten Preis etwas zu mildern – dann stellt sich aber heraus, dass Frühstück not inclusive ist...). Dann merken wir, dass wir auch noch Mines Schmusekissen im Hotel vergessen haben, und die Scheldefähren werden bestreikt, fahren nicht. Da wird uns wohl nicht allzu viel Gutes über die Niederlande in Erinnerung bleiben... In großem Bogen fahren wir also über Antwerpen in Richtung Brügge, erreichen als erstes Knokke, dann immer an der Küste entlang bis Zeebrügge. Hier bleiben wir für ein paar Stunden am weiten Strand. Mine tollt herum, fühlt sich offenbar sehr wohl. Mit der hereinkommenden Flut fahren wir gegen zwei Uhr weiter nach Brügge. Telefonische Verabredung mit Jan, er holt uns am Ortseingang ab. Begrüßung und zum Haus seiner Mutter, die heute 85 wird. Sein Onkel, ein Karmelitermönch, ist schon da. Zwei seiner Kinder, sein Sohn, ein Stewart, und seine älteste Tochter, eine Englischlehrerin, sowie seine Freundin Kathleen, die in einem Krankenhaus arbeitet, kommen noch. Wir erleben also eine belgische Familienfeier, sind sofort einbezogen, Plausch, Kaffeetrinken, Abendbrot. So können wir auf sehr angenehme Art und Weise Jans Lebensumfeld kennen lernen. Dann zeigt er uns die erste Etage, wo wir schlafen werden, auch das Zimmer, in dem er groß wurde. Zahlreiche Familienfotos, regelrechte Ahnenreihen, Jan erläutert. Nur sein Hochzeitsfoto, das ihn als ranken, hehren Jüngling mit seiner nun längst geschiedenen Frau zeigt, erscheint ihm fast peinlich. Gegen acht fahren wir mit Jan und Kathleen in die Innenstadt, vorbei am Gymnasium, das Jan besuchte, vorbei an etlichen Stätten seinen Jugenderinnerungen. Brügge – was für ein grandioses, mittelalterliches Stadtzentrum! Die Wallanlagen, die Kanäle, der Beguinenhof, die Kirchen, die Burg, das Rathaus, der Groote Markt... Heute Abend kommen wir bei dieser Fülle von historischer Substanz selbstredend nur zum Anschnuppern, zumal von der See her ein schweres Gewitter aufzieht.

2011: Heiligendamm. Kühles Bier tranken wir hier noch in den 90ern, aßen ein gutes Stück Fisch, als dieses Seebad, das ältestes Deutschlands immerhin, vollends zu verfallen schien. Nun können wir die bewundern, die’s hinter die weitläufigen Hotelzäume, in die restaurierte Mondäne geschafft haben, die sich hier ein gutes Stück Fisch und ein kühles Bier leisten können. Bei Sauwetter wie heuer aber wäre uns ein steifer Grog eh lieber gewesen.

 

Orakel

für

Brian Adams / Mary Hunter Austin / John Banim / King Curtis / Giovanni da Bologna / Ignaz Bubis / Lance Cade / Eugène Delacroix / Johann Christoph Denner / Nino Ferrer / Jakob Gapp / Julien Green / Victor Hofmann / Jakub Kolas / René Laennec / Jules Massenet / Florence Nightingale / Tigran Wartani Petrosjan / Hans-Martin Pleßke / Julius Carl Raschdorff / Paul Richter / Bernhard Romberg / Johann Elias Schlegel / Ignaz Philipp Semmelweis / Wladimir Sergejewitsch Solowjow / Mieczysław Szczuka / Christian Bernhard Tauchnitz / Joe Tex / William Wallace / Herbert George „H. G.“ Wells / Hans-Hasso von Weltheim / Wilhelm Wolfsohn / Alexander Konstantinowitsch Woronski

 

Das kam uns wie ein böses Orakel vor:

1521 übernimmt der spanische Eroberer Hernán Cortéz  die Azteken-Hauptstadt Tenochtitlan / 1849: Niederschlagung der ungarischen Revolution / 1914 fährt der Passagierdampfer „Baron Gautsch“ vor Istrien auf eine Mine und sinkt, 147 Tote / Ligurien, 1935: Bruch der Staumauer Alla Sella Zerbino, mehr als 100 Menschen kommen ums Leben / Canberra, 1940: Flugzeugabsturz, 10 Todesopfer /1961: Bau der Berliner Mauer / 2002: Beginn der „Jahrhundertflut“ in Sachsen und Sachsen-Anhalt, mehr als 45 Tote.

 

 

14. AUGUST

 

Comic

mit

Sibilla Aleramo / Virginia Bell / Kost Stepanowytsch Burewij / Mercedes Composada / Edwin James „Eddie“ Costa / David Crosby / Richard Robert Ernst / John Galsworthy / René Goscinny / Jurij Iwanowytsch Janowskyj / Jaroslav Jeremiáš / Christoph Kaufmann / Richard von Krafft-Ebing / Edmund Meisel / Wilhelm „Willi“ Münzenberg / Hans Christian Ørsted / Willy Ronis / Johann Leonhard Rost / Erwin Strittmatter / Emmy Surén / Christian Friedrich Tieck / Oles Uljanenko / Antonio Urceo „Codro“ / Lina Wertmüller

 

Das betrachteten wir mit einem Lächeln:

Väräla, 1790: Ende eines Russisch-Schwedischen Krieges / Paris, 1893: Absolvierung der ersten Fahrtprüfung der Welt / Deutschland, 1919: Verkündung der Weimarer Verfassung / 1947: wird Pakistan unabhängig von Großbritannien.

 

Ich notierte:

1979: Krakow. Nur zwei Stühle waren noch frei im Café in den Tuchhallen. Also setzten wir uns zu jenen freundlich nickenden Alten mit den Ordenskreuzchen auf der Jackenbrust. Und als die hörten, wie wir heißen, wollten sie uns partout nicht glauben, daß wir kein Polnisch sprächen. Dennoch kam nach gegenseitig spendierten Schnapsrunden ein Gespräch in Gang. „Sto lat!“ Und so hörten wir schließlich erstmals von Katyn. Katyn, Katyn - wollten es, konnten es nicht glauben: Sowjets sollten tausende polnische Offiziere erschossen haben damals? Ja, Kameraden dieser beiden Alten hier. Und wie weiter nun, Pane, Pane Jankofsky?

1981: Gestern den ganzen Tag in Berlin. Einkaufen, Brandenburger Tor, Pergamon Museum. Dann zu Emil, Sabine, seine Frau, hatte Geburtstag – was wir allerdings nicht wussten. Dann zu Dieter – noch ein Schwätzchen. Er zeigte mir stolz Trommelstöcke die ihm Art Blakey geschenkt hatte – signiert! So recht wohl war mir eigentlich nicht, gerade am 13.8. nach Berlin zu fahren – aber alles schien so normal. Der Urlaub geht zu Ende, meine Akkus sind aufgeladen, ich sehe der Entscheidung: weitermuggen Ja oder Nein, optimistisch entgegen. Nachdenkenswert, dass mir Dieter wie Alma (der mit Ilona mal von Oranienburg, wo sie Urlaub machten, rübergekommen war) unabhängig voneinander geraten hatten, weiter Musik zu machen. Nun ja, vielleicht können sie sich nicht vorstellen, was mich umtreibt, was ich mir erhoffe. Oder meinen sie, dass es mit meinem Schreiben nichts wird? Ach, Quatsch – dafür habe ich doch noch viel zu wenig geschrieben! Urlaub ist wohl auch: unbekümmert Geld ausgeben solange es in scheinbarem Überfluss vorhanden ist. In der ersten Urlaubswoche hatte man noch eine pralle Brieftasche – was sich zum Erholungseffekt beitrug – der immer schmaler werdende Etat brachte dann aber Alltagssorgen ins Bewusstsein…

1982: Kesterciems. „Bergfest.“ Mitnichten jedoch gedenke ich der verrinnenden Zeit, möchte sie im Gegenteil (wenn es denn in meiner Macht stünde) beschleunigen, abgleiten am besten in den Schlaf und den Traum als einzig mögliche Realität wahrnehmen, nicht diese zunehmend alptraumhaften Tage hier. Ein Gefühl wie es der Insektenfänger in Kobo Abe’s „Frau in den Dünen“ verspürt haben dürfte, als er, wie Sisyphos dem ewig nachrieselnden Sand zu entkommen versuchte... An den Gesichtern der anderen sehe ich, dass ich gestern, als ich diese Unterschrift nicht leistete, wohl einen Fehler gemacht habe. Sei’s drum. Ich setze mich allein an den Strand. Windstille. Aufsteigende Sonne. Und Ruhe! Kein Schnarchen, keine scheppernde Lautsprechermarschmusik, kein Johlen, kein Anschnauzen, kein Befehlen. Sachte Brandung, leises Vogelgezwitscher, ab und zu nur krächzt eine Möwe, dummer August. Als ich gegen Mittag ins Lager zurückschlendere dröhnt mir Discomusik, überlagert von lautstarken Kommandos: ras, dwa, tri, tschetierje, ras, dwa, tri, tschetierje... entgegen - der Zirkel „moderner Tanz“ übt auf dem Appellplatz! Ich fliehe zurück zum Strand, versuche zu schreiben, doch es fängt an zu regnen, regnet schließlich den ganzen Nachmittag. Um nicht völlig triefsinnig zu werden, gehe ich wieder Doppelkopf spielen. Ablenkung also, und mir wird klar, dass hier niemand ist, mit dem ich offen und vernünftig reden könnte, dass ich hier Masken tragen muß, um halbwegs unbeschadet aus diesem „Sandloch“ wieder herauszukommen, nicht das Schicksal von Kobo Abe’s Insektenfänger zu erleiden... Spät am Abend, 23.00 Uhr, beginnt ein sogenanntes Freund­schaftstreffen mit allen Pionierleitern und Betreuern des Lagers. Nur Witali darf nicht teilnehmen. Monika teilt mir vorwurfsvoll mit, dass Nadja Konstinowna es ihm verboten habe, Strafe dafür, dass wir beide zu lange und oft allein miteinander sprachen. Na denn, her mit dem Wodka!

1999: In jeder Ecke unserer Ferienwohnung liegen Beutel, Bücher, Schuhe, Ferienordnung, die sich erst beim Einräume der Sachen in den Kofferraum auflöst. Irgendwie erinnerte mich dieses Chaos aber an den Zustand der Wohnung der Kinder daheim. Sind sie irgendwie noch nicht so richtig eingezogen, im Dauerurlaub? Und eine Schreib-Idee nehme ich aus dieser Urlaubswoche mit nach Hause. Einen Vorsatz gar? - Jeden Tag forderte mir Mine kleine Geschichten ab, alltägliches Erleben musste ich in phantastische Gestalt bringen, musste erzählen von der Spinne, die sie gesehen hatte, oder vom Eisessen oder vom Brötchenholen und immer forderte sie hinsichtlich der Personage: „Mit Yasmin und Opa!“ Ja, sie will auch in Phantasiewelten unbedingt selbst dabei sein. Könnten daraus nicht richtige kleine Geschichten werden, nach und nach? Mit den Nachrichten die Ernüchterung, dass in dieser Woche mal wieder ein Krieg ausgebrochen ist: Russland gegen Islamisten in Dagestan.

2000: Brügge. Nach dem Frühstück arbeite ich mit Jan an unserem Buch. Wir gehen die Texte durch, korrigieren, streichen, stimmen ab, legen fest, was von wem noch zu tun ist. Alles sehr konzentriert. So wird unser Gesamtmanuskript sicher bald fertig sein können. Kleines Mittagessen und mit Jan auf Besichtigungstour durch die umliegende reizvolle Polderlandschaft mit den schnurgeraden, pappelgesäumten Kanälen. Damme, Oosterkerke, schließlich zum Zwin, einem Naturschutzgebiet oberhalb Knokkes, wo im 12. Jahrhundert eine Sturmflut jene weite Ausbuchtung ins Land riss, die Brügges Aufschwung als Handelszentrum bewirkte, längst jedoch versandet und verpoldert ist. Mine ist begeistert von den zahlreichen Störchen und Scharen von Wildgänsen. Auf dem Rückweg Halt an Kathleens Häuschen, das direkt hinter dem Kanal steht, der einst die See mit dem Hafen Damme verband. Sehr stimmungsvolle, ruhige Gegend. Schließlich zurück nach Brügge, schnell umziehen und zum Abendessen. Jan hat uns ins beste Fischrestaurant der Stadt eingeladen. Tatsächlich ist Jeanny on ihren Muscheln in Weißwein ebenso begeistert, wie ich von meinem Seeteufel an Porree... Dann spazieren wir weiter durch die Stadt, vorbei am Ursprung heutiger Börsen, am einstigen Hotel eines Herrn van ter Beurse, umliegend die einstigen Handelshäuser der Genueser und Florentiner, ein Stück weiter das Oosterlingenhaus, das Haus der deutschen Kaufleute, und um die Ecke sind Straßen nach den Spaniern oder Biscayern benannt... Schließlich laufen wir am inneren Graben, wo die erste Stadtummauerung stand, entlang, romantisches Viertel. Ich lade unsere kleine Delegation endlich noch zu einem kleinen Nachtdessert ein, und dann zurück ins Quartier, rechtschaffen müde.

2018: Prinz-Christian-Sund. Nun also Grönland. Und gleich Grönland vom Feinsten. So zumindest wird die Passage durch diesen Sund an der Südspitze Grönlands in Reiseprospekten angepriesen. Als wir uns nähern, herrscht allerdings so dichter Nebel, dazu kotzhoher Wellengang, dass die Passage nicht möglich ist. Keine Gletscherzungen, Eisberge, Wale, Robben etc. pp. also. Immerhin verfliegt sich ein Wachtelchen und trippelt nervös auf Deck hin und her. Im grönländischen Fernsehen live die Übertragung eines Fußballspiels. Die Mannschaften haben keine Namen, heißen B44 und C37 oder so ähnlich. Und entsprechend täppisch wirkt das Spielgeschehen. Die wenigen Zuschauer sitzen auf Felsen, die das Spielfeld begrenzen. Die Fernsehgrafik aber ist kaum von der von Weltmeisterschaftsspielen zu unterscheiden. Als im Sommer 1818 – vorgenau 200 Jahren also - John Ross als erster Weißer Siedlungen von Polareskimos erreichte, beschrieben die sein Schiff als: „eine ganze Insel aus Holz, die sich auf dem Meer auf Flügeln bewegte und in deren Innerem es viele Häuser und Räume voller lärmender Menschen gab. Kleine Boote hingen an der Reling entlang und diese wurden mit Männern darin zu Wasser gelassen, und wie sie das Schiff umrundeten, schien es, als ob das Monster lebende Junge gebäre.“ Kenn Harper zitiert dies in seinem Buch „Minik – Der Eskimo von New York“ und beschreibt darin den Lebensweg des Inuit Minik, den Peary (der angeblich als Erster den Nordpol erreichte) 1897 als Kind einfach so mit in die USA nahm und wie ein Souvenir herumzeigte. Die Zeiten damals waren eben so, unglaublich, doch man erinnere sich nur an „Menschenschauen“, die es selbst und ganz selbstverständlich bei Hagenbecks in Hamburg gab.

 

Camouflage

für

Salah Abd as-Sabur / Georg Balthasar / Werner Bräunig / Julian Bream / Bertolt Brecht / Henri Breuil / Sophie Bryant / Roy Buchanan / Johnny Burnette / Robert Newton Calvert / Elias Canetti / Carl Carl/ Sergiu Celibidache / Hugo Eckener / Marianne Ehrmann / Enzo Ferrari / Ida Frick / Miriam Goldschmidt / Johann Friedrich Herbart / Frédéric Joliot-Curie / Hermann Kant / Lew Jefimowitsch Kerbel / Kidinnu / Klabund / Maximilian Maria Kolbe / Hans-Joachim Kulenkampff / Abbey Lincoln / Czesław Miłosz / Annelise Modrze / Wano Muradeli / Grigore Pintea / John Boynton Priestley / Larry Rivers / Wilhelm Rüstow / Alice Schwarz-Gardos / Peter Swyn / Maria Uhden / Joe Venuti / Pete Way / Gerda Johanna Werner

 

An diesem Tage fühlten wir uns schwer getäuscht:

Florida, 1842: Ende des Zweiten Seminolenkrieges bei dem fast alle Seminolen umgebracht wurden / Sable Island, Nova Scotia, 1888: der dänische Passagierdampfer „Geiser“ sinkt nach einer Kollision, 118 Tote / Hamburg, 1892: Beginn einer Cholera-Epidemie, bei der mehr als 8.600 Menschen kommen ums Leben / 1958 stürzt ein Propellerflugzeug der KLM vor Irland in den Atlantik, alle 99 Insassen sterben / Königs Wusterhausen, 1972: Absturz einer IL-62, 156 Todesopfer / Dannenwalde, 1977: Explosion in einem Munitionslager der Sowjetarmee, mindestens 70 Soldaten sterben / Athen, 2005: Absturz einer Boeing 737, 121 Tote /  Nordirak, 2007: bei Autobombenanschlägen auf Jesiden kommen 796 Menschen ums Leben, mehr als 1.600 werden verletzt / Genua, 2018. Einsturz des Polcevera-Viadukts, 43 Tote / Himachal Pradesh, Indien, 2023: infolge starker Monsunregen sterben mindestens 58 Menschen und in Machatschkala, Dagestan kommen bei einer Tankstellen-Explosion mindestens 30Menschen ums Leben.

 

 

15. AUGUST

 

Emanzipation

mit

Albert Otto Walter Albrecht / Lourdes Alves Araújo / Aurobindo Ghose / Tatjana Barbakoff / Ethel Barrymore / Napoleon Bonaparte / Manfred von Brauchitsch / Matthias Claudius / Samuel Coleridge-Taylor / Gerty Cori / Walter Crane / John Cyril Cranko / Louis de Broglie / Thomas De Quincey / Hedy Epstein / Nino Ferrer / Georg III. „Der Gottselige“/ Wolfgang Hellmert / Nipsey Hussle / Zelimkhan Sultanowitsch Khangoschwili / Karl Korsch / Stieg Larsson / Mária Lebstück / Hans Lorbeer / Johann Nepomuk Mälzel / Peter Mayr / Stanley Milgram / Edith Nesbit / Leonie Ossowski / Laure Perls / Oscar Peterson / Nicholas „Nick“ Piantanida / Nicolaus Roeg / Óscar Romero / Rotlandus (Hruotland) / Gottlieb Schick / Liselotte Schinke / Walter Scott / Siamanto / Gunhild Tegen / Henit Trökes / Usui Mikao / Anna Walentynowicz / Roger Willemsen / Janusz Andrzej Zajdel

 

An diesem Tage glaubten wir an Emanzipation:

1235 wird der Mainzer Landfrieden beschlossen / 1248 Baubeginn des Kölner Doms / Vatikan, 1483: Einweihung der Sixtinischen Kapelle / 1519: Gründung von Panama-Stadt / 1537: Gründung von Asunción / Kopenhagen, 1843: Eröffnung des Tivoli / 1914: Inbetriebnahme des Panama-Kanals / Weimar, 1923: Eröffnung der ersten Bauhaus-Ausstellung / 1945: verkündet Tenno Hirohito die bedingungslose Kapitulation Japans / 1945: die ehemaligen japanischen Provinzen Formosa (Taiwan) und Chōsen (Korea) werden unabhängig / 1946 wird die koreanische Hauptstadt Gyeogseong in Seoul umbenannt / 1947: Ende der britischen Kolonialherrschaft in Indien / 1960 erlangt die Republik Kongo ihre volle Unabhängigkeit von Frankreich / Bethel, New York, 1969: Beginn des Woodstock-Festivals / 1971 erhält Bahrein seine Unabhängigkeit von Großbritannien / 2005: Vertragsunterzeichnung  zur Beendigung des Bürgerkriegs in der indonesischen Provinz Aceh.

 

Ich notierte:

1980: Wir sind in Wismar, schlafen in Martins Gartenhaus, haben auch schon einen schönen FKK gefunden, nicht allzu weit entfernt – Timmendorfer Strand. Das Wetter ist passabel. Ich fühle mich wohl.

1982: Noch reichlich benebelt, verkatert Abfahrt nach Riga. Unsere Kinder und Jugendlichen werden heute zu Gast bei sowjetischen Familien sein. So steht’s auf dem Plan. Vorm Rigaer Komsomolgebäude werden sie abgeholt. Plötzlich bleibt nur noch die kleine Betreuergruppe übrig. Doch für uns ist auch gesorgt. Mit einem großen Reisebus, in dem wir uns fast verlieren, werden wir in Richtung Sigulda gefahren. Besichtigung eines großzügig angelegten Freilichtmuseums: Bauernhöfe, Häuser, Kirchen, Mühlen wie sie einst in den Dörfern Lettlands standen. Erstmals höre ich von ethnografisch zu unterscheidenden Landesteilen wir Kurland oder Lettgallen. Vor den Häusern sitzen freundliche Frauen in den Trachten dieser Regionen. Einblicke in niedrige, nach Johanniskraut duftende Stuben, Saunen, Schuppen, Ställe... Ein riesiges und hochinteressantes Areal, Bebilderung eines offenbar vergangenen Lebens. Man bräuchte Tage um alles zu besichtigen. Immerhin erfahre ich noch, dass all diese einzigartigen Gebäude in den zwanziger und dreißiger Jahren hierher gebracht wurden, als Lettland für kurze Zeit Nationalstaat war. Nach zwei Stunden etwa geht’s aber schon weiter. Mittagessen in einer Autobahnraststätte namens Pilzchen. Nach der alltäglichen Lagertristesse kommt sie mir regelrecht mondän vor. Und Speisen im Überfluss, und was für Speisen! Die schwer festlichen Tische sind mit kalten Platten eingedeckt. Lachs und Schinken und Fleisch und Käse. Wir greifen heißhungrig zu, trinken dazu köstlich dunkles Bier, das fast wie Brotwein schmeckt. Unglaublich was es hier alles gibt! Und dann sagen die Komsomolgenossen, das wäre erst die Vorspeise! Und tatsächlich wird nun erst richtig aufgetafelt: köstliche Pasteten und Pastetchen mit Bouillon, Hackfleisch, Pilzragout und alles überreichlich, und immer wieder Bier, dann Kaffee und Kaffeelikör... Wie sind wir alle in Stimmung, als wir wieder im Bus sitzen! Und weiter durch grünes, hügelig werdendes Land, durch das sich malerisch so manches sandufrige Flüsschen schlängelt. Lettische Schweiz wird diese Landschaft genannt. Gut nachvollziehbar. Auf Bergrücken thronen Schlösser, sogar eine Seilbahn ist zu entdecken. Anmutiges Tal der schnell fließenden Gauja, zahlreiche Höhlen, die Alas. Besichtigung der Höhle von Sigulda, dann der hiesigen Bob- und Rodelbahn. Wir ersteigen eine Höhe über einer Quelle, in der man sich, der Sage nach, alle Sünden abwaschen könne. Auf der Höhe die Burg von Turaida, Turaidas Pils, in Rekonstruktion befindlich, aufwendig. Ewald führt uns ans Grab der Maija, genannt „Rose von Turaida“.

Am späten Nachmittag zurück nach Riga, im Hotel „Sigulda“ (wie passend) wartet das nächste Büfett auf uns. Ein Vertreter des Volksbildungsministeriums hält eine Rede, bringt schließlich einen Trinkspruch aus, Prosit! Und auch von jedem von uns wird ein Trinkspruch erwartet. Angestoßen wird mit Kristavs, einem soge­nannten Cocktail - ein Teil Schwarzer Balsam, vier Teile Wodka, mein Gott. Und ständig wird nachgegossen. Zwei beflissene Kellner, einer gießt Wodka, der andere Balsam, wie im Märchen, ein Glas, das nie leer wird... Es ist schon dunkel, als wir wieder im Lager sind. Ich laufe zum Strand. Donnernd rollen die Wellen mit leuchtendweißen Schaumkronen auf. Sternenhimmel über schwarzen Wolken. Keine Frage, dieser Tag erfüllte Erwartungen, Hoffnungen vielleicht sogar.

1988: Drei Wochen war Cathi im Krankenhaus. Heute konnten wir sie endlich wieder heimholen. Sie hatte sich in einem polnischen Ferienlager Salmonellen zugezogen, musste hier in Quarantäne. Was für eine Wiedersehensfreude!

1999: Am Abend zum 50. Geburtstag unseren alten Klampfers, zu Lotte. Tja, so alt sind wir also schon... Schöner Abend voller Anekdoten und Erinnerungen. Schon lange blieben wir nicht mehr so lange auf einer Party.

2000: Am Vormittag Sightseeing mit Jan. Er fährt uns zu weiter entfernten Stadtteilen, auch zu schönen alten Mühlen. Dabei geraten wir in eine Prozession mittelalterlich kostümierter Leute. Heute ist Maria Himmelfahrt und das ist Feiertag im katholischen Flandern. Mine bestaunt vor allem die Ritter hoch zu Ross... Nach dem Mittagessen setzt uns Jan in der Stadt ab und wir erkunden Brügge nun auf eigene Faust, befahren im Boot die Kanäle, erleben im Stadtzentrum eine Kutschenparade, bestaunen in der Liebfrauenkirche Michelangelos Madonna mit Kind, besichtigen den Beguinenhof, aber auch die Hausbrauerei Straffer Hendrik. Gegen sechs holt uns Jan am Parkplatz hinter dem idyllischen Minnewater wieder ab und wir fahren zu einer Familienfeier zu Kathleen. Fröhliches Runde im Häuschen hinterm Damm. Mit ihrem Bruder und ihrem Schwager, der im übrigen Historiker ist, verstehe ich mich auf Anhieb gut. Kathleen tafelt reichlich auf, unzählige Käsesorten sind beispielweise zu probieren. Mine tollt mit der sechsjährigen Laura, und so sind wir dann am Ende einmal mehr müde, doch zufrieden im Quartier.

2022: Gegen Mittag zieht mein Urologe den vor 5 Monaten gelegten Blasen-Katheder. Was für eine Erleichterung! Doch unglaublich, an was man sich alle so gewöhnen kann…

 

Evakuierung

für

Alexander Agricola / Ghazi al-Gosaibi / Valentin Bakfark / John Barclay / Bertram Borden Boltwood / Pierre Bouguer / Big Bill Broonzy / Rafael Chirbes / Euclides da Cunha/ Gracia Daledda / Constantin Fahlberg / Gustav Flügel / Johan Gadolin / Peter Gast / Max Greger / Egbert Hayessen / Hruotland / Bobby Hutcherson / Hannes Hüttner / Ibn al-Farrā’ / Wsewolod Wjatscheslawowitsch Iwanow / Joseph Joachim / Bernhard Klamroth / Stanislaus Kostka / Thomas Kyd / Konstantinos Laskaris / Marin Marais / René Margritte / Macbeth / Maura Monaghan / Johann Friedrich Naumann / Pascual Orozco Vásquez / Oskar Picht / Wiley Hardeman Post / Mujibur Rahman / Will Rogers / Artur Schnabel / Paul Signac / Te Atairangikaahu / Johann Nikolaus Tetens / Jesse Thoor / Wiktor Robertowitsch Zoi

 

Da hätten wir am liebsten rundum evakuiert:

1744: Beginn des Zweiten Schlesischen Krieges zwischen Preußen und Österreich / Tinos, Ägäis, 1940: ein italienisches U-Boot torpediert den griechischen Kreuzer „Elli“, neun Tote / Assam, 1950:  Erdbeben, 1.530 Tote / 1965: Beginn des Zweiten Indisch-Pakistanischen Krieges / Celebes, 1968: Erdbeben, 200 Menschen sterben / 1973 kommen in Indien 330 Menschen bei schweren Überschwemmungen ums Leben / 1976 verschwindet eine Vickers Viscount mit 59 Menschen an Bord auf dem Flug von Quito nach Cuenca / Omagh, Nordirland, 1998: Bombenattentat, 29 Todesopfer / Peru, 2007: Erdbeben, mindestens 450 Tote / Kocho, Irak, 2014: Islamische Terroristen ermorden 600 Jesiden.

 

 

16. AUGUST

 

Schulung

mit

Roque Joaquín de Alcubierre / Jean de La Bruyère / Gustav Friedrich Heinrich Paul von Diest / Don Bosco / William John „Bill“ Evans / Jewstignei Ipatowitsch Fomin / Ara Güler / Hans von Hoffensthal / Hans Koch / Kyaw Hla Aung / Jules Laforgue / Thomas Edward „T.E.” Lawrence / Tina Modotti / Christopher Ifekandu Okigbo / Sakaria Paliaschwili / Marian Rejewski / Philipp Jakob Riotte / Wendell Meredith Stanley / Wallace Henry Thurman / Wolfgang Völz / Mal Waldron / Wilhelm Wundt

 

Darüber ließen wir uns gern schulen:

1866: nimmt zwischen Hamburg und Wandsbek eine Pferdebahn den Betrieb auf / 1935 wird auf der Berliner Funkausstellung ein Magnetophon präsentiert / Hamilton, Ontario, 1930: Eröffnung der ersten Commonwealth Games / 1960 erlangt Zypern seine Unabhängigkeit von Großbritannien / 2004 entdeckt die Raumsonde „Cassini-Huygens“ zwei Saturnmonde.

 

Ich notierte:

1980: Wismar. Nach dem Mittagessen – Möhrensuppe – liege ich im Liegestuhl in Martins Garten und versuche zu arbeiten, zu schreiben. Doch da sind mannigfaltige Ablenkungen: das Radio, der Garten, lauthalse Gespräche in Nachbars Garten… Auf einmal kommt Cathi angerannt und fragt: „Papa, wo ist der Prinz?“ „Was?“ Ich schicke sie fort, sie möge nicht stören. Dabei hat sie mir offensichtlich so viel voraus, geht völlig in ihrer Welt auf  – Prinzesschen…

1981: Wieder daheim aus der Schorfheide. Nach der Datschenzeit erscheint die Wohnung so seltsam hoch, groß, geräumig… doch aus dem Wasserhahn kommt braunes Wasser und der Fernseher hat eine Macke und schon türmt sich überall schmutzige Wäsche.

1999: In der Post ein Päckchen aus Victoria, B.C.: Angelika schickt mir ein Vorabexemplar ihres Buches „Documents of Protest and Compassion - The Poetry of Walter Bauer“, das im Herbst in Montreal erscheinen wird, natürlich auf Englisch. Da werde ich wohl nur langsam und mit dem Wörterbuch an der Hand vorankommen. Schmunzeln muss ich, wie Angelika mich im Vorwort erwähnt, als fellow enthusiast an writer!

2014: Ahlbeck. Noble Tafel an einer Strandvilla: Thomas Mann weilte im August 1924 für drei Tage hier und vollendete den „Zauberberg“. Gut, obwohl ich sogar vier Tage in diesem Urlaubsort verbringe, dürfte an der Herberge, in der ich nächtige, davon dereinst wohl nichts künden. (Schließlich habe ich kein Manuskript dabei.)

2018: Nuuk. Nördlichste Hauptstadt der Welt (Dänisch: Godthaab). Mannen Eirikur raudi Thorvaldssons, Erik des Roten also, gründeten hier vor gut 1000 Jahren Vestribygd, die Westsiedlung. Gesiedelt wurde hier jedoch schon seit etwa 4500 Jahren durch verschiedene Inuit-Kulturen. Stadtrundfahrt. Unübersehbar, dass dieses 15.000 Einwohner Städtchen prosperiert. Allenthalben wird gebaut. Moderne Bauten mit großen Glasfenstern, Glasfronten. Die für hiesige Verhältnisse sehr große Stadt lockt immer mehr Leute an und die Geburtenrate beträgt 3,8 Kinder pro Frau. Zudem wird Grönland immer interessanter für Bergbaufirmen, und auch die Erdöl- und Erdgasförderung scheint rentabel zu werden. Nicht verwunderlich also, dass hier derzeit eine Kampagne „#2200meteri“ läuft – der Flughafen von Nuuk, der aufgrund der zu kurzen Startbahn nur Inlandsflüge ermöglicht, soll (gegen Behördenbedenken) ausgebaut werden. Im farbenfrohen Holzhauszentrum der Stadt besuchen wir das Nationalmuseum, mit den beeindruckenden Eskimo-Mumien. In einer der Vitrinen eine skurrile Walknochenschnitzerei: Eskimo auf dem Rücken liegend, die Fellhosen heruntergezogen und ein Eisbär kniet vor ihm und bläst ihm einen… Wir entdecken schließlich das Godthaab Bryghus – wo es Bier gibt, das mit Gletscherwasser gebraut wurde. Köstlich!

2020: Mit Begeisterung lese ich mich weiter durch das Werk von Philip K. Dick, beginnen nun auch mir die Verfilmungen zu erschließen. In dieser Nacht „Total recall“ – Hollywood vom feinsten: Dicks Plot kaum wiederzuerkennen, doch heftigstes, zukunftsträchtiges Ballern.

2023: "Jankopedia" und "Kalendaricon" sind auf meiner umgestalteten Homepage online!

 

Schicksalsschlag

für

Adolf Abrahamowicz / Benny Andersen /Jean-Hilaire Aubame / Charles Bukowski / Robert Wilhelm Bunsen / Dorival Caymmi / John Barnes Chance / Eddy Chibás / Loyset Compère / Francesco Datini / Georg Samuel Dörffel / Ronnie Drew / Ralph Earl / José Maria Eça de Queiroz / Nusrat Ali Fateh Khan / Peter Fonda / Aretha Franklin / Frère Roger / Stewart Granger / Eva-Maria Hagen / Einar Heimission / Ibn Hazm / Robert Johnson / Louis Jouvet / Valter Kaaver / Matthias Klotz / Rick Langenstein / Jean-Marie Jules Léotard / Wayne Lotter / Joseph Norman Lockyer / Bela Lugosi / Andrew Marvell / Menantes / Margaret Mitchell / Wilhelm Morgner / Roman Padlewski / Marcel Pauker / John Stith Pemberton / Aloys Pollender / Elvis Aaron Presley / Ramakrishna / Nico Max Richter / Maxwell Lemuel „Max“ Roach / Johann Martin Schleyer / Kurt Paul Schlosser / Peter Scholl-Latour / Selman Abraham Waksman

 

An diesem Tage spürten wir einen schweren Schicksalsschlag:

Merseburg, 1272 „an einem Dienstag, dem Tage nach Mariä Himmelfahrt, als das Nachtgebet gesprochen war und wir beim Heiligen Abendmahle saßen, daß nach göttlicher Führung über uns ein gewaltiges Unwetter hereinbrach, über alle Maßen furchtbar und schrecklich, mit einem ungeheuren Wirbelwind von Norden mit Hagel, Regen und Finsternis. Das fuhr mit unzähligen, von der Gewalt des Sturmes mitgerissenen Steinen in zwei Türme und die Dächer unserer Dom-Kirche und warf das sacrarium über die Mauer in die Salah, verletzte aber durch Gottes Gnade hiemand“ / Manchester, 1819, bei einer Demonstration werden 11 Personen getötet und mehr als 400 verletzt / Schottland, 1899: Untergang der Meile Ferry, 99 Tote / Valparaiso, 1906: Erdbeben, 20.000 Todesopfer /  1919: Beginn des Ersten Oberschlesien-Aufstandes / 1942 versenkt ein deutsches U-Boot vor der brasilianischen Küste nacheinander drei Passagierschiffe, 451 Menschen sterben / Mindanao, 1976: Erdbeben, 8.000 Tote / Detroit, 1987 stürzt ein Passagierflugzeug nach dem Start auf eine Straße, 156 Todesopfer / Nigeria, 1988: Bruch des Baugada-Staudamms, 23 Menschen kommen ums Leben / Machiques, Venezula, 2005: Absturz einer MD-82, alle 160 Insassen sterben / San Cristobál, Dominikanische Republik, 2023: Großbrand in einer Markthalle, mindestens 27 Tote.

 

 

17. AUGUST

 

Tour

mit

Ossi Aalto / Mohamed Abdelaziz / Francesco Albani / Luther Allison / Johann Valentin Andreae / Adam von Bartsch / Sébastien Briat / Heðin Brú / Theodor Adolph Johannes Eduard Däubler / Maria Deraismes / Charles Dominique Joseph Eisen / Ada Falcón / Tsegaye Gabre-Medhin / Marcus Mosiah Garvey / Samuel Goldwyn / Johann August Heinrich / Kurt Herdemerten / Kurt Hiller / Ted Hughes / Panajotis Kondylis / Jakob Levitzki / Roger Lille / Helen McCrory / Menelik II. / Johannn Kaspar Merz / V. S. Naipaul / Maureen O’Hara / Roger Peyrefitte / Ike Abrams Quebec / Patrick Houston Shaw-Stewart / Richard of Shrewsbury / Larry Rivers / Sempé / Henri Tomasi / Thilo von Trotha / Richard von Volkmann / Fritz Wepper / Mae West / Clara Gertrud Wichmann / Paul Wiens

 

So gingen wir gern auf Tour:

Nürnberg, 1852: Gründung des Germanischen Nationalmuseums / 1945 erklärt sich Indonesien für unabhängig von den Niederlanden / 1960 wird Gabun unabhängig von Frankreich / 1970: Start der sowjetischen Venussonde „Venera 7“ / 1982: Präsentation der ersten Audio-CDs.

 

Ich notierte:

1982: Kesterciems. Am Morgen das übliche Gelärm. Ich denke: bald bist du wieder zu Hause, wirst bei deiner Frau liegen, deine Zimmer bewohnen, wieder dein eigener Herr mit selbstbestimmtem Tagesablauf sein. Also Durchhalten und nicht etwa in einen Lagerkoller verfallen! Nach dem Frühstück fahren wir mit zwei Bussen nach Jurmala, dem größten Kurort Lettlands, erst 1949 aus 14 kleinen Gemeinden entstanden (doziert Alla), Jur das Meer und Mala, der Strand. Ein wunderschönes, sich durch den Küstenwald schlängelndes Städt­chen, das nach Jalta und Sotschi der dritte Kurort der Sowjetunion sein soll. Prominente kämen zuhauf hierher, Kosmonauten, Künstler, und sogar Kossygin habe in Jurmala eine Datscha gehabt. Weitere Besonderheit: Bernstein werde hier in Massen und in zweihundert Schattierungen, von gelb zu rot bis braun und grün und farblos, angespült. Den Nachmittag verbringe ich einmal mehr am Strand, bade sogar, obwohl es schon empfindlich kühl wird, wage mich dann erstmals in das Dorf Kesterciems vor, weitflächige Anlage, ärmliche Holzhäuser fast ganz im dichten Grün verschwindend. Riesige Köter schnüffeln mich an, doch sind sie friedlich, zum Glück. Am Abend dann ein albernes Tanzfest im Lager, ras, dwa, tri, tschetierje... Danke, ohne mich.

1999: Weiterschreiben einer im Urlaub skizzierten neuen Erzählung. Fahrt nach Halle, Korrekturlesen für eine neue Anthologie im Marktschlösschen, Bürokram im Künstlerhaus. In Merseburg Beantragen eines Internet-Zuganges, da mir die Bosch Stiftung zur Verbesserung der Kommunikation zwischen den Ausstellungsmachern einen Internet-Computer zur Verfügung stellen wird. Start in eine Qualität von Kommunikation? Wieder zu Hause Arbeit fürs Stones-Programm, Quiz erfinden, Titel üben.

2018: Ilulissat / Ilimanaq. Bis zur Disco-Bucht hinterm Polarkreis scheint Erik der Rote vorgedrungen zu sein, bis hierher also. Und sein Sohn Leif Eriksson scheint irgendwo von hier aus um das Jahr 1000 todesmutig weiter gen Westen gesegelt zu sein, die Baffin Bay erreicht und dann mit dem Labrador Strom gen Süden getrieben und Neufundland (das Vinland der Wikinger) betreten haben – also rund 500 Jahre vor Kolumbus Amerika entdeckt haben! Wir sollten vor Ilulissat, dem Ort, wo der Knud Rasmussen, der bedeutende Grönlandkenner und Autor, geboren wurde, auf Reede liegen. Allerdings lässt die Eissituation dies nicht zu. Zu dicht treibt die endlos weiße Kette der frischgekalbten Eisberge des Sermeq Kullaleq Gletschers wie eine unüberwindbare Barriere vor dem Städtchen. Nach stundenlanger, erfolgloser Suche nach einer sicheren Passage gehen wir schließlich südlich der Eisberge in den Schären vor dem Dorf Ilimanaq vor Anker. Wie zur Begrüßung schwimmt eine Walfamilie gemächlich backbords vorbei. Mit einem Inuit-Fischkutter dann zum Eisfjord Kangia, UNESCO-Weltnaturerbe, mitten in die Welt also der soeben erst gekalbten Eisberge hinein. Giganten dabei, unglaubliche Formen, Kathedralen, Zugspitzen, Hallen, gleißendes Weiß, fantastische Blautöne… Und immer wieder Wale, Buckelwale offenbar, flutsch die Fluke! - und neugierig aus dem Eiswasser lugende Robben. Eine Traumwelt. Spaziergang durch Ilimanaq, wenige bunte Häuschen, immerhin ein Laden, eine Post, ein Gasthaus. Und ganz neue Touristenhütten. Aber möchte man hier begraben sein?

2023: Am Nachmittag besuchen Klaus-Dieter Urban und ich die seit kurzem in Merseburg ansässige Künstlerin ANTOINETTE in ihrem Atelier in der Sitte-Galerie. Da auch sie sich mit den Zaubersprüchen beschäftigt hat, will ich versuchen, sie in meine „Zauberspruch-Kampagne“ einzubeziehen, fände es gut, wenn sie vielleicht gemeinsam mit Klaus am Vorlesetag im November Schülern die Zaubersprüche und davon inspirierte Kunstwerke präsentierte. Und das Gespräch läuft gut, fast habe ich das Gefühl, ich renne offene Türen ein. Ja, sie wird dabei sein, wie genau werden Klaus und Michael Finger, der Galerie-Chef ausloten.

Abendessen mit Jürgen Mannke in der „Sonne“. Mit Jürgen hatte ich so einige Projekte gemeinsam durchgeführt als er noch Stellvertretender Direktor des Merseburger Dom-, dann des Weißenfelser Goethe-Gymnasiums war. Im Zuge zunehmender Flüchtlingsströme mahnte er jedoch als einer der ersten, die Probleme, die durch massenhaft ankommende junge Männer aus anderen Kulturkreisen entstehen könnten, ernst zu nehmen – und wurde dafür von den Massenmedien verunglimpft. Und irgendwie verloren wir uns dann, als auch ich aus dem Amt gemobbt wurde, aus den Augen. Keine Frage, dass wir uns einiges zu erzählen haben. Und da auch er mittlerweile schreibt, zwei Bücher auf dem Markt hat, haben wir sogar etwa zum Kaupeln.

 

 

 

Trübsal

für

Mariama Bâ / John N. Bahcall / Wilhelm Heinrich Immanuel Bleek / Hermann Blumenthal / Umberto Boccioni / Ġanni Bonnici / Gustav Adolf Breymann /  Alfredo Catalani / Eberhard Cohrs / José de San Martín / Bridget Driscoll / Carlos Drummond de Andrade / Pierre Octave Ferroud / Ira Gershwin / Charlotte Perkins Gilman / Jost Glase / Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen / Hans Fredrik Gude / Fynn Henkel / Gottfried Herold / Tom Jütz / Peter Kreuder / Ludvík Kundera / Fernand Léger / Ludwig Mies van der Rohe / Miriam Magall / Grażyna Miller / Billy Murray / Irène Némirovsky / Bruno Paul / Charlotte Perkins-Gilman / Ioan Slavici / Wage Rudolf Soepratman / Fadwa Soliman / Christian Heinrich Spieß / Otto Stern / Takami Jun / Oles Uljanenko / Alexander Walentinowitsch Wampilow / Paul Williams

 

Da bliesen wir Trübsal:

Nordanatolien, 1668: Erdbeben, 8.000 Todesopfer / 1929: Beginn des Sowjetisch-Chinesischen Grenzkrieges / 1969 trifft der Hurrican „Camille“ auf die Küsten von Alabama, Louisiana und Mississippi, 143 Menschen kommen ums Leben / Qued Ourika, Marokko, Überschwemmungen, 730 Tote / Gölcuk, Türkei: Erdbeben: 17.217 Menschen sterben, 43.959 werden vereltzt / Barcelona, 2017, islamistischer Terroranschlag, 13 Todesopfer.

 

 

18. AUGUST

 

Gewinn

mit

Anna Ancher / Maximilian Hugo Bettauer / Paul Bodmer / Marcel Carné / Dschāmi / Tilla Durieux / Hermann Finsterlin / Benjamin Godard / Paul Grimm / Jean Guitton / Edwin Hawkins / Franz Seraph Henseler / Wolfgang Hütt / Helmut Kajzar / Alma Johanna Koenig / Volker Lechtenbrink / André Léo / Meriwether Lewis / Otto von Loeben / Manuela / Marko Marulić/ Carl Marx / Luc Montagnier / Elsa Morante / Franz Oppenhoff / Heiner Pudelko / Alain Robbe-Grillet / Ambrosius Rhode / Antonio Salieri / Johann Scheubel / Scholom Schwartzbard / Leo Slezak / Juan Soriano / Edward Jerzy Stachura / Patrick Wayne Swayze / Fritz Umgelter / Birol Ünel / Ladislao Vajda / Auguste Villiers de L’Isle-Adam / Carl Wayne / Shelley Winters / Robert V. Wynne /

 

Da glaubten wir an einen Gewinn:

1866: Gründung des Norddeutschen Bundes / Cannstadt, 1896: Präsentation des ersten motorgetriebenen Lastkraftwagens / 1896 tritt das Deutsche Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) in Kraft / 1945: Auflösung des japanischen Marionettenstaates Mandschuko / USA, 1960: die ersten Antibabypillen kommen auf den Markt.

 

Ich notierte:

1982: Kesterciems. Nach dem Frühstück Appell zu Ehren Thälmanns. Wilhelm hält eine Rede. Es fällt mir aber schwer ihm zu folgen, da ich ihn noch schlafend sehe und schnarchen höre. Und als Wilhelm der Lagerleitung symbolisch eine Thälmann-Biographie überreichen will, stellt sich heraus, dass niemand von der Lagerleitung anwesend ist. Peinlich und von Symbolkraft. Wie zur Entschuldigung besteht danach wieder mal die Möglichkeit nach Riga zu fahren. Natürlich bin ich dabei. Ein schon herbstlicher, dunstiger Tag. Dennoch zum Auftakt Blick von der Aussichtsterrasse des Hotels „Latvija“, 24. Stock, schöne Aussicht. Außer mir scheint dann aber niemand Interesse zu haben, die Alt­stadt genauer zu erkunden. Also stiefele ich allein los. Verwinkelte Gassen, Hauch von Jahrhunderten, lauschige Hinterhöfe, doch überall wird gebaut, nirgendwo kommt man näher heran. Schade. Und auch all die Kirchen sind geschlossen, verriegelt und verrammelt. Und dann fängt es auch noch an zu regnen... Es scheint wie verhext, sobald wir nach Riga kommen, fängt es hier an zu schütten. Ich flüchte in die Markthallen, lasse mich vom Menschengewimmel durch die bahnhofsartigen Hallen treiben, an all den prallvollen Gemüse-, Backwaren-, Fisch-, Fleisch- und sonstigen Ständen vorbeischieben. Nicht wenige der Anbieter sind Kaukasier oder Asiaten gar, scheinen von weither eingeflogen, um hier Markt zu halten. Entsprechend teuer das alles, obwohl, die große Fülle verblüfft. Mitten im Gewühl eine alte, ehedem wohl sehr hübsche Frau ohne Beine im Rollstuhl, aber was heißt Rollstuhl: ein rostiges Fahrrad mit halbem Lenker für die linke und abenteuerlich hochgelegtem Pedal für die rechte Hand. Behutsam, wehmütig fast kurbelt sie an die Stände heran, muss Grobheiten, muss Flüche einstecken, ihre ganze Haltung jedoch Stolz.

Die meist alten Verkäuferinnen vom anschließenden Gemüse- und Blumenmarkt hocken unter Regenschirmen und Plastehauben zwischen ihren Beere, Kräutern, Äpfeln, Birnen, Salatköpfen, Möh­ren... Noch ein Stückchen weiter eine Art Trödelmarkt. Viele Zigeuner und wieder alte Frauen, Pullover, Schmuck, Tand feilbietend. Ich kaufe ein paar Kleinigkeiten, Mitbringsel, Geschenke, gebe meine letzten Rubel aus. Blödes Gefühl, mitten in der Fremde völlig mittellos dazustehen, nachtauschen nicht möglich, Reiseschecks mussten schon daheim erworben werden. Und natürlich überkommt es mich gerade jetzt, ein Bierchen trinken zu gehen, diesem klebrigen Regen zu entkommen. Doch eh keine Chance, nitschewo, kein Ausschank weit und breit. Immerhin scheint im Lager dann wieder die Sonne. Und es gibt gutes Essen, reichlich zumindest. Nun ja, noch zwei Tage, dann geht’s heim...

Beim abendlichen Sitzen in Reiners Zimmer stellt sich aber plötzlich heraus, dass eine weitere Ungeheuerlichkeit droht: die hiesigen Reiseverantwortlichen haben vergessen für uns Rückfahrkarten zu buchen. Unglaublich, doch leider wahr. Da Gruppen wie unsere für die Bahnreise eine Reservierung bräuchte, steht in den Sternen wie wir zumindest erst einmal bis Minsk kommen. Ich schlage vor, zu fliegen. Säuerliches Lächeln. Dabei war dies durchaus nicht als Witzelei gedacht. Man kann uns doch nicht hier hängen lassen, irgendwie müssen wir hier doch wegkommen, was soll denn da auf die Kinder zukommen, verdammt! Und wie immer das ausgeht, fordere ich, dass das, was uns hier so alles zugemutet wurde, in einem Abschlußbericht, den Reiner, doch sicherlich zu schreiben hat, deutlich benannt wird. Reiner beschwichtigt, dass die Delegation, die im letzten Jahr hier weilte, letztlich auch wieder wohlbehalten zu Hause angekommen sei. Klar, sage ich, Friede, Freude, Eierkuchen, Hauptsache wir waren in der Sowjetunion, nicht wahr, da muss ja einfach alles gut sein, von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen... An einigen Betreuergesichtern sehe ich, dass wahrscheinlich eher meine Diskussionshaltung, denn deren Auslöser in einem Bericht stehen könnte. Als wäre ich für die Kinder verantwortlich, verrückt. Dennoch (oder/und auch deswegen) ich bleibe dabei, beharre auf meiner Meinung. Verstimmungen, die noch zunehmen, als sich Anett beim Volleyballspielen verletzt, möglicherweise reiseunfähig ist. Bin etwa ich daran schuld? Auch daran nun noch?

2020: Thomas Rackwitz besuchte mich, einer der wenigen jungen, von mir geförderten Autoren, die mich nicht verrieten, im Gegenteil, Thomas setzte sich mehrfach und auch in den Medien für mich ein. Fast 5 Stunden sitzen wir im Garten zusammen, haben einander viel zu erzählen, übers Schreiben und eigene Projekte, Gott und die Welt und über Corona selbstredend nicht zuletzt. Als Vater zweier kleiner Töchter war er in Blankenburg, wo er nun wohnt, doch zunehmend in die Isolation gerutscht. Mal sehen, vielleicht bringen wir beide ja sogar eine weiterzuführende Gesprächsmöglichkeit für Isolierte zustande, Ideen kommen mir…

 

 

Verarmung

für

Kofi Annan / Khaled Asaad / Johann Theodor Baargeld / Fritz Baumgarten / Honoré de Balzac / Tibor Déry / Dschingis Khan / Leonhard Frank / André-Jacques Garnerin / Urbain Grandier / Rick Griffin / William Henry Hudson / Rolf Kühn / Chris McCandless / Scott McKenzie / Johannes „Hans“ Mertens / Tarquinia Molza / Axel Monjé / Erdmann Neumeister / Oliver Rath / Guido Reni / Iwan Rilski / Jacques Roumain / Erwin Schulhoff / Walahfrid Strabo / Ernst Thälmann /  Helmut Weiß

 

An diesem Tage spürten wir nachhaltiges Verarmen:

Deutschland, 1939: das Euthanasieprogramm der Nazis beginnt / China, 1966: Beginn der Kulturrevolution / Algerien, 1994: Erdbeben, 159 Menschen kommen ums Leben.

 

 

19. AUGUST

 

Parfümierung

mit

Jerzy Andrzejewski  / Peter Edward „Ginger“ Baker / Michael Beer / Arnolt Bronnen / Kaspar Brusch / Coco Chanel / Pierre-Jean de Béranger / Iñigo López des Mendoza / John Dryden / Eddie Durham / George Enescu / Philo Farnsworth / Lodovico Guicciardini / Heinrich Hansjakob / Edward Hincks / Humphrey Jennings / Leonid Alexejewitsch Kulik / Frank McCourt / Muborakscho Mirsoschojew / César Moro / Joseph Müller / Johnny Nash / James Nasmyth / Michael Naura / Matthew Parry / Hector Pieterson / Samuel Richardson / Gene Roddenberry / Ottokar Runze / Karl Wilhelm Salice-Contessa / Adele Sandrock / Leonid Wassiljewitsch Solowjow / Gerbrand van den Eeckhout / Roman Vishniac / Alexander Walentinowitsch Wampilow / Orville Wright

 

An diesem Tage erschien uns alles duftig:

Paris, 1839: Louis Daguerre stellt erstmals sein fotografisches Verfahren vor / 1911: erster Frachtflug in Deutschland von Berlin-Johannisthal nach Frankfurt an der Oder / Baikonur, 1960 startet „Sputnik 5“ mit den Hündinnen Belka und Strelka an Bord in eine eintägige Erdumlaufbahn / Cap Caneveral, 1964 wird der Syncom 3“, der erste geostationäre Satellit ins All geschossen.

 

Ich notierte:

1981: In der Post noch nichts vom Erhofften. Alles scheint mal wieder eine Nummer kleiner als gedacht. Man muss wohl versuchen, Enttäuschungen von vornherein zu kompensieren. Allerlei Kleinkram ist zu erledigen, wegen der Wohnung, wegen der Band. Ach, wenn ich doch nicht so unentschlossen wäre! Weiter als Musiker arbeiten und leben, oder nicht? Aber wahrscheinlich hätte in meiner jetzigen Situation ein klares Nein oder ein klares Ja existentielle Folgen, die zu einer völligen Umpolung dieser Entscheidung führen könnten. Also ist wohl dieser Schleichweg, dieses Jein Jein der einzig mögliche Weg. Auch wenn ich mir selbst Feigheit vorwerfe, eigentlich radikal sein möchte. Ich bin eben nicht nur mich allein verantwortlich, habe Familie…

1982: Kestercioems. Ich versäume das Frühstück, bleibe im Bett, versuche zu lesen, dann gegen den Tischtenniskrach und meine miese Stimmung anzuschlafen. Tatsächlich muss ich eingeduselt sein, denn Reiner weckt mich, sagt ich solle mal mit in sein Zimmer kommen. Was denn, schon wieder Zoff? Nein, zum einen ist es mit Anetts Fuß nicht so schlimm wie befürchtet, zum anderen will er als Reiseleiter Abschiedsgeschenke überreichen. Da wir alle schon beim Kofferpacken seien, meint er. Nun gut.

Nach dem Mittagessen verarztet Monika Wilhelm, der plötzlich über Herzschmerzen klagt, mein Gott auch das noch. Wahrscheinlich hat er sich aber nur erkältet oder brauchte Zuwendung. Jedenfalls witzelt er schon bald wieder, sagt, da auch ich an diesem grauen unwirtlichen Tag wieder ins Bett krieche, hier sei offenbar „das Krankenhaus am Rande der Stadt“... An Nachmittag spaziere ich nochmals nach Kesterciems, inspiziere den Dorfkonsum, kaufe vom allerletzten Geld eine spottbillige Flasche Rotwein, setze mich an den Strand. Hohe Wellen, schmutzige Gischt. Im Lager dann fade, müde Gespräche, Doppelkopf, ich reiche die Rotweinflasche herum, brr ist der sauer! Irgendjemand findet noch eine angebrochene Flasche Wodka. Reiner kommt und verkündet, wir würden mit Bussen nach Minsk gebracht, dort wieder übernachten, schließlich mit dem Zug bis Berlin. In Gedanken fahre ich schon mit. Am Abend geht ein schwerer Regen mit Gewitter nieder. Immer wieder flackert das mickrige Licht im Zimmer, verlischt sogar zeitweise. Unmöglich zu lesen. Nachdenken über die Reibereien, die nun schon zwischen der Delegationsleitung aufbrechen. Rolf warf Reiner vorhin Autoritätsverlust vor, da er Abend für Abend die Frauen umschwirre. Eifersüchteleien, da sich zarte Partnerschaften als Ersatz für allgegenwärtigen Mangel entwickelten, oder was? Mir kommt ein Film in den Sinn, den ich unlängst sah, ein Film von Buñuel, in dem Personen plötzlich in einem Zimmer festsaßen und es offenbar keinerlei Ausweg mehr gab, Zusammenseinmüssen ohne Ende…

1999: Nach Schreiben, Üben und Lesen kommt am Abend ein alter Leunaer zu mir, der seit einiger Zeit an seinen Memoiren schreibt und mir immer schon mal Passagen zum Lesen gab. Nun sehe ich eine Möglichkeit Auszüge als Zeitzeugenbericht im Rahmen eines Projekts zu veröffentlichen. Wir stimmen geeignete Passagen aus seinem umfänglichen Text ab. Da werde ich also mal wieder auch als Herausgeber tätig werden.

2000: Ohne Probleme schreibe ich heute den letzten Text fürs Jan-Buch zu Ende, bin fast ein bisschen selbst erstaunt, wie glatt das ging und dass da schon wieder mal etwas zu Ende zu sein scheint. Gut, Jan muss noch Korrekturenzuarbeiten, ich muss noch eine einheitliche Form finden, und nicht zuletzt müssen wir einen Verleger finden (Harry Ziethen hoffen wir)...

2018: Qaqartoq. In der Region hinter dem Kap Farvel, der Südspitze Grönlands, gründete Erik der Rote die Ostsiedlung Eystribygd und siedelte selbst hier in Brattahild, etwa 60-70 Kilometer nördlich des heutigen Qaqartoq. Leider ist Brattahild aufgrund seiner topografischen Lage und fehlender Straßen an einem Tag nicht zu erreichen. Da sich alle Ortsnamen der Region aber in den Grönlandsagas deuten lassen, versuchen wir ins etwa nur 10 Kilometer entfernte Hvalsey zu kommen, wo noch immer eine gut erhaltene Kirchenruine der Nordmänner steht. Früh um 7 legen wir in Qaqartok an. Klar ist in diesem Nest um diese Zeit noch alles zu, Kaufhalle, Kirche. Tourist-Info. Und ein Taxifahrer, den wir dann tatsächlich auftreiben, zeigt schläfrig keinerlei Interesse daran, Geld zu verdienen, uns nach Hvalsey zu fahren. Wir sollten ein Boot mieten. Danke! Offenbar komme ich Erik näher, wenn ich zu Hause mal wieder „Eric the red“ von TYR höre…

 

Pflege

für

Abū Yazīd Machlad ibn Kaidād / Dulce Almada Duarte / Albert Androt / Wassili Alexandrowitsch Archipow / Augustus / Egon Bahr / Blind Willie McTell / Chief Mkwawa / Valentin de Boulogne / Andrea del Castagno / Sergei Pawlowitsch Djagilew / Tevfik Fikret / Karl Otto Götz / Joseph Hill / Iwan Iwanowitsch Katajew / Federico García Lorca /  Groucho Marx / Franz Xaver Messerschmidt / Gestur Pálsson / Blaise Pascal / Linus Pauling / Karl Rössing / Raúl Ruiz / Henads Schutau / Tony Scott / George Smith / Frans Snyders / Jaroslav Tichý / Walther Victor / Sérgio Vieira de Mello

 

Das erschein uns wie ein Ende von Pflege:

Merseburg, 1179 „ist der Mond am Himmel schön u. klar gewesen, bald darauff ist er gantz blutfarb worden u. hat also gestanden biß an den Morgen“ / 1878: österreichische Truppen besetzen Sarajevo / 1920: Beginn des Zweiten Oberschlesien-Aufstandes / 1936: Beginn des ersten Moskauer Prozesses um Zuge der „Stalinschen Säuberungen“ / 1941 versenkt ein deutsches U-Boot südlich der irischen Küste dem britischen Passagierdampfer „Aguila“, 157 Menschen kommen ums Leben / Varto, Türkei, 1966: Erdbeben, 2.500 Tote / Abadan, Iran, 1978: Brandanschlag schiitischer Terroristen auf ein Kino; 430 Menschen sterben / Riad, 1980: nach einer Notlandung einer Lockheed L-1011 kommen alle 301 Insassen durch Barndgase ums Leben /  Hungerford, England, 1987: Amoklauf, 17 Tote /  Moskau, 1991: Putschversuch gegen Gorbatschow / Bagdad, 2003: Bombenanschlag auf das UN-Hauptquartier im Irak, 22 Todesopfer / Bagdad, 2009: Bombenattentate auf Ministerien, mehr als 100 Menschen kommen ums Leben.

 

 

20. AUGUST

 

Spurt

mit

Wassili Pawlowitsch Aksjonow / Rachid Baba Ali Ahmed / Jakub Bart-Ćišinki / Bernd Becher / Jöns Jakob Berzelius / Franz Bölsche / Burchard Brentjes / Charles Théodore Henri De Coster / Dimebag Darrell / Carla Fracci / Rajiv Gandhi / Jean Gebser / Isaac Hayes / Regine Heinecke / Sneaky Pete Kleinow / Käthe Leichter / Howard Philipps Lovecraft / Philip Parris „Phil“ Lynott / Eduard Müller / Bernardo O’Higgins / Jacopo Peri / Debra White Plume / Bolesław Prus / Salvatore Quasimodo / Jimmy Raney / Eero Saarinen / Martin Schwantes / Dulcie Evonne September / Roger Shattuck / Sophie Elisabeth zu Mecklenburg / Meldon Leo „Jack” Teagarden / Tarjei Vesaas / Fritz Wartenweiler / Marie Luise Weissmann

 

Da glaubten wir uns kurz vorm Ziel:

1960 wird der Senegal unabhängig / 1977 starte die Raumsonde „Voyager 2“ zum Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun / 1988: endet der Erste Golfkrieg zwischen dem Iran und Irak / 1991 erklärt Estland seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion.

 

Ich notierte:

1982: Letzte Exkursion, als Höhepunkt geplant, Ziel: die KZ-Gedenkstätte Salaszpils unweit Rigas. Weitflächige Anlage inmitten eines Kiefernwaldes, überlebensgroße, beeindruckende Figuren auf einer großen Lichtung, eingangs ein langer, rhombischer Quader, Inschrift (übersetzt): „Hinter diesem Tor stöhnt die Erde“. Aus einem nahen Basaltstein klopft es laut und beklemmend: Herzschlag, wird uns erklärt. Auf diesen Strauß legt man die Sträuße, die Kränze, die Blumen. Hunderttausende wurden in Salaszpils von den Nazis umgebracht, auch viele Kinder. Für jeden Tag des Schreckens hieb man eine Kerbe in den Basalt, dann am 12. X. 1944 ein Stern, der Tag der Befreiung hier. Es ist schon ein hilflos machendes Gefühl auf heimischem Boden auf Zeugen dieser Vergangenheit zu treffen, Scham, Schande, wie sehr erst also hier, auf fremden Boden, als Deutscher. Und mir kommt wieder in den Sinn, was ich am liebsten vergessen, verdrängt hätte, mir kommt wieder in den Sinn, in welch ungeheuere Kumpanei man so hineingezogen werden könnte: „Heil Hitler!“ hatte mir in Riga ein alter Lette zugeraunt, als er hörte, daß ich deutsch sprach... Auf der Rückfahrt fällt mir in einem Vorort eine goldglänzende Zwiebelkirchenkuppel auf. Ich bitte Alla um Auskunft, und als verrate sie mir ein großes Geheimnis, wispert sie mir zu, das diese Kirche noch in Betrieb und sehr reich sei. Aha. Alle anderen Kirchen, die ich bislang im Lande entdeckte, waren ja zu Museen, Konzerthallen, Planetarien, Kinos, Schwimmhallen oder zu was auch immer noch umfunktioniert, waren bestenfalls noch Hüllen. Doch hier also hatte eine Kirche offenbar noch seine Gemeinde, erstaunlich. Am Abend Abschiedsempfang. Lagerleitung, Vertreter des Komsomol, Vertreter des Rigaer Radiowerkes, Reiner, Wilhelm und ich. Trinksprüche, Trinksprüche. Auf die Freundschaft, auf die große deutsch-sowjetische Freundschaft, die unverbrüchliche, na starowje, Prost, Prost! Dann kommen die Betreuer hinzu, Spielchen werden gespielt, Adam hatte sieben Söhne und was weiß ich, an den Händchen fassen und im Kreis herum, immer schön im Kreis herum und lachen, lachen, und dann paarweise, und ich habe das große Glück mit Nadja Konstantinowna, nein, das wird man dann doch zu blöd. Draußen geht ein Wolkenbruch nieder.

1999: Für den Abend laden uns die Kinder zum Kinobesuch ein. Sie haben stolz Karten für den neuen Star Wars Film ergattern können. Nun gut, und wann waren wir schließlich zum letzten Mal im Kino? In Benignis rührenden „Das Leben ist schön“, Ende letzten Jahres, falls ich mich recht entsinne. Selbstredend ist Star Wars was ganz anderes, aber eine Kritik, die ich vorab hörte, erscheint mir doch ungerecht, dass dies nämlich nur eine Art Werbefilm für das ganze Star Wars Spielzeug sei. Perfekt animierte Bildfolgen eines modernen Märchens. O.k.

2014: „Poet?“ spricht mich ein Mann an, als ich durch die Ankunftshalle des Flughafens Skopje irre.

„Da!“

Tatsächlich sammelt er mit offenkundig sicherem Blick die Ankömmlinge ein, die er als Autoren erkennt. Fahrt mit klapprigen Autos zu einem Hotel in den Innenstadt. Und während die erste Fuhre schon bei Schaschlyk und Bier sitzt, kommen nach und nach weitere Festivalteilnehmer aus der ganzen Welt hinzu. Unkompliziert kommt man ins Gespräch. Interessant der junge Engländer Harry Man, der Brasilianer Márcio André, die Chinesin Zhao Si. Und schon geht’s mit einem großen Bus gen Struga. Drei Stunden Gekurve durch gebirgiges Land, vor allem von Albanern offenbar bewohnt, den überall prangen im Westen Mazedoniens albanische Flaggen. Der Festivalort liegt direkt am Ausfluss des Crni Drin aus dem Ohrid-See, landschaftlich ähnlich dem Südufer des Gardasees. Und sogar eigener Hotelstrand! Das sieht nach unbeschwerten Tagen aus. Und die Preise sind himmlisch: ein Bier (umgerechnet) 1,10 €, ein Schoppen Wein 2 € … Nach dem Dinner ein erster Erkundungsgang durchs Festival-Städtchen. Überall Plakate und sogar die Flaggen der Herkunftsländer der Teilnehmer sind entlang des Crni Drin, der Struga in zwei Hälften teilt, gehisst. Promenaden rechts und links, Gaststätten, Läden, buntes Treiben bis in die Nacht.

2018: Prinz-Christian-Sund zum Zweiten. Dichter Nebel wieder am Sundeingang. Alsbald lichtet sich der jedoch und die Wunderlandschaft dieser etwa 175 Kilometer langen und an der schmalsten Stelle nur 60 Meter breiten Passage wird sichtbar: Hochaufragende, schneebedeckte Berge, Wasserfälle, Schluchten, Cliffs, atemberaubende Gesteinformationen, Geschiebe, Gletscherzungen bis ins Sundwasser hinein, Eisberge. Schön, einfach schön. Grönländer scheinen den Klimawandel janusköpfig zu sehen. Diverse Eskimo-Kulturen kamen und gingen im Laufe der Jahrtausende. Die Nordmänner lebten etwa 400 Jahre hier, verschwanden im Zuge sich rapide verschlechternder Klima-Verhältnisse. Nun wird vor allem das früher im Jahr auftauende und später zufrierende Meereseis zum Problem, da Eingeborene wie Eisbären auf diese Eisflächen als Jagdreviere angewiesen sind. Das stark zurückweichende Inlandeis hingegen eröffnet neue und länger nutzbare Anbauflächen und legt zudem ungeahnte Erschließungsmöglichkeiten für Bodenschätze, nicht zuletzt für Seltene Erden, frei. Grönland dürfte sich, vor allem Dank dieser zu erwartenden neuen Finanzquellen als Staat von Dänemark alsbald vollständig loslösen, erstmals unabhängig werden. Schwer zu sagen, ob das wiederum janusköpfig sein wird, hier am Rande der Welt, da es auf jeden Fall und in jeder Hinsicht Randgebiet bleiben wird…

2020: Erstaunlich, was die Corona-Krise an Positivem bewirkt: Heute hatte ich eine Nachricht von Indy auf dem Handy. Indy, unser Guide aus dem Jahre 2012 während unseres Sri-Lanka-Trips. Oft hatten wir seitdem über ihn gesprochen, wie es ihm gehen mag, auch hatte ich immer mal wieder versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen, da er ein wunderbarer Guide war. Doch all meine Anruf- oder Postkarten-Versuche waren ins Leere gelaufen. Und nun plötzlich diese Whats-App-Nachricht. Es gehe ihm nicht gut, keine Touristen, er sei am Verzweifeln, ob ich nicht vielleicht helfen könne, damals sei ich doch auch großzügig gewesen… Keine Frage, dass ich helfe. Und da ich Indys Stolz kennengelernt hatte, biete ich ihm an, meinen Anna-Hood-Text ins Singhalesische zu bringen, also sich nicht beschenken zu lassen, sondern etwas für mich zu tun. Natürlich sagt er sogleich zu, und als er die Vertragssumme sieht, die ich ihm für diese Leistung anbiete, fragt er, ob er das Buch auch drucken soll…

 

Spur

für

Albert Otto Walter Albrecht / Rita Arnould / Uri Avnery / Adolf von Baeyer / Frankie Banali / Bernhard von Clairvaux / William Booth / Zuzana Brabcová / Friedrich Arnold Brockhaus / Joe Dassin / Johan de Witt / Solomon Dodaschwili / Johnny Dunn / Justin Townes Earle / Paul Ehrlich / Charles Floyd / Silvio Francesco / Margot Hielscher / Fred Hoyle / B.K.S. Iyengar / Ulla Mai Jacobsson / Thad Jones / Paul Keller / Alfred Kubin / Lothar Kusche / Jules Laforgue / Jerry Lewis / Gerd Mackensen / Erik Neutsch / Martin Opitz / Rio Reiser / Philipp Jakob Riotte / Alexander Roda Roda / Schāh Walī Allāh ad-Dihlawī / Friedrich Eilhelm Joseph Schelling / Charles Sedley / Heinz Tetzner

 

Dieser Spur wollten wir nicht folgen:

Akkon, 1191: Kreuzfahrer töten 2.700 muslimische Gefangene / Jamestown, Virginia, 1619: die ersten schwarzen Sklaven treffen auf einem niederländischen Schiff in Nordamerika ein / Sydney, 1857: bei der Hafeneinfahrt zerschellt der Klipper „Dunbar“ an einem Felsen, 121 Tote / Albergele, Denbighshire, 1868: Eisenbahnunglück, 33 Menschen sterben / 1968 marschieren Truppen des Warschauer Paktes in der ČSSR ein, Ende des „Prager Frühlings“ / 1988: Erdbeben in Indien und Nepal, 1.450 Todesopfer / Madrid, 2008: Absturz einer DC-9 nach dem Start, 154 Menschen kommen ums Leben.

 

 

21. AUGUST

 

Ordnung

mit

Gennadi Nikolajewitsch Aigi / Count Basie / Aubrey Vincent Beardsley / Lili Boulanger / Stéphane Charbonnier / Conor Clapton / Guarneri del Gesù / Jens Christian Djurhuus / Art Farmer / Thomas Garrett / Joseph Groll / Richard W. Higgins / Karl Hans Janke / Rob Knox / Franz Kruckenberg / William Murdoch / Lim Boo Liat / Brian Penton / Mário Pinto de Andrade / Rudolf von Österreich-Ungarn / Wiktor Sergejewitsch Rosow / Jacques Roux / Bartolomäus Sastrow / Christian Schad / Joe Strummer / Bernard Verlhac / Carl Gottlieb Weisser / Rik Wouters

 

An diesem Tage hofften wir auf Ordnung:

1888 erhält William Seward Burroughs das Patent für seine Addiermaschine / 1991 wird Lettland unabhängig von der Sowjetunion.

 

Ich notierte:

1982: Kesterciems. Zum letzten Mal die nervtötende Morgenfanfare, ta ta ta ta! Doch bleibt erstmals die sich sonst stets anschließende jugendlich frische Marschmusik aus. Soll uns der Abschied etwa schwerfallen oder was? Koffer werden zugequetscht, Bettzeug wird abgezogen... Kühl ist es, ein klamm-grauer Tag. Dann klopft es und es gibt doch noch so etwas wie Abschiedsgefühle: Sergej, mein kleiner Freund, bringt mir Abschiedsgeschenke, ein Passbild und einen Kugelschreiber und ein landestypisches Souvenir, ein kleines Sigulda-Stöckchen, so dass ich kaum gegenschenken kann, Skatkarten habe ich noch und ein Buch und Kekse. Und dann der Höhepunkt: Austausch der Adressen. Gut Sergej, ich verspreche dir, dass ich daheim einen gleichaltrigen Brieffreund für dich finden werde, einen meiner schreibenden Schüler vielleicht... Die Busse kommen, Koffer werden verstaut. Plötzlich heißt es aber, es ginge noch nicht los. Erst noch Mittagessen hier. Schulterzucken, verständnislose Minen. Aber soll’s. Das überstehen wir nun auch noch. Ich gehe noch einmal zur Ostsee. Ganz sanft ist sie heute. Der Leuchtturm am Ende der Bucht verschwimmt im Dunst, kein Schiff zu sehen, kein Mensch, kaum ein Vogel, wie auf einem Madonnengemälde bricht die Sonne hinter schweren Quellwolken hervor. Und die Fliegen sind noch immer so aufdringlich, wie man in Geschäften, an Ständen oder sonst wo hier robust weggedrängelt wird, wie Kinder hier wie blind auf dich zulaufen und du ihnen letztlich ausweichen musst, willst du nicht ständig angerempelt werden. Nun denn, ahoi! Kurz nach zwölf rumpeln die drei alten Busse endlich los. Harte, verschlissene Sitze, stickige Luft, kaum noch Interesse, die Landschaft zu verfolgen. Erst in Vilnius erwacht wieder Aufmerksamkeit, eine schöne, in einem tiefen Talkessel gelegene, kirchenreiche Stadt, winklige Gassen, anmutige Plätze. Schade, dass keine Zeit zum Besichtigen bleibt. Gerastet wird erst mitten auf freiem Feld, schwer verständlich das alles. Und was trinkt denn unser Fahrer die ganze Zeit - Wodka? Dann liegt nach haarsträubender Fahrt mit riskanten Ausweich- und Überholmanövern auch Litauen hinter uns. Über den weiten Wiesen Belorusslands schwebt gegen Abend Nebel wie ein geheimnisvoller See. Und endlich, gegen zehn Uhr abends und etwa achthundert Kilometer Fahrt, Minsk. Dasselbe Hotel. Schnell noch ein Bier. Wilhelm spendiert, Gott sei Dank, denn ich bin ja völlig blank. Und dann scheint keiner der Betreuer so recht schlafen zu können, und so manche als Mitbringsel gekaufte Flasche wird noch geleert.

1983: Über der letzten Sandbank vor schwarzgrün werdender See - ein Pfauenauge aus den Wellen gepflückt, mir ins Haar gesetzt und trotz schwerer Dünung sicher heimgeschwommen. Erinnerung an den Christopherus in Wismars St. Georgen-Ruine, der mittschiffs überlebte trotz Phosphorbrandschwärze und einst für sicheres Segeln über alle sieben Meere stand. Mit getrockneten Flügeln dann torkelt mein Falter jedoch wieder in den ablandigen Wind.

1986: Nach einem lange versprochenen, feuchtfröhlichen Herrenabend bei Klaus Schumann, meinem ehemaligen Chef, in Halle übernachtet. In Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit sagte er: ich hätte den Durchbruch durch meine Arbeit mit den schreibenden Schülern geschafft, all das, mit all dem, was ich da aufgebaut habe. Das sei mein „Standbein“. Darüber muss ich nachdenken.

2003: Die Ferien sind vorbei. Mine geht wieder in die Schule, in die 2. Klasse nun. Wie stolz das klingt! Und was war das für ein Sommer, nein, ist es noch immer: Versank im vergangenen Jahr hier alles in der Hochwasserflut, fiel heuer so gut wie kein Tropfen Regen, Sonnenschein pur und wochenlang tropische Temperaturen. Der heißeste Sommer wohl seit Menschengedenken. Tja, das ist da nun wirklich die Frage – was soll man darüber denken: sich einfach nur freuen und das Wetter genießen, so lange es so bleibt, oder schon mal sorgenvoll in die Zukunft blicken, gen Versteppung, Waldbrände, Wassernot etc. pp.? Und wenn nicht alles täuscht. Wird sich ein „Jahrhundertwinter“ anschließen – die meisten Zugvögel haben sich längst gesammelt und sind gen Süden entschwunden, obwohl es hier noch heißer als in Afrika ist…

2002: 20.00 Uhr. Jetzt sollte ich in Seegrehna die Bühne betreten, tausend Leute (hatte der Veranstalter erwartet), Star-Club-Stimmung (hatten wir erhofft): Ich als Bassist der Vor-Band von Tony Sheridan, der dereinst mit den Beatles spielte. Ein Traum. Stattdessen sehe ich in der Tagesschau unseren Konzertort geflutet, hier, exakt hier brach ein Deich. Was also bleibt, als zur Klampfe zu greifen und sich einen von Tonys Hits zu zupfen: My Bonnie is over the ocean.

2014: Der Ohrid-See gilt als ältester See Europas, mehr als eine Million Jahre alt, und ist der tiefste des Balkans. Hier leben noch Wassertiere, die andernorts nur noch als Fossilien zu bewundern sind, UNESCO-Schutzgebiet seit 1980. Am späten Nachmittag (Cocktail)Empfang der mazedonischen Kulturministerin im Hotel. Madam lässt gut eine Dreiviertelstunde auf sich warten. Dann die offizielle Eröffnung des Festivals auf der Freilichtbühne des Hauses der Poesie, live im mazedonischen Fernsehen und reichlich bombastisch: Fackelträgerinnen in Kostümen aus der Zeit des großen Mazedoniers Alexander des Großen, Feuerwerk, Rede der Kultusministerin (gefühlt eine Dreiviertelstunde lang), und Gedichte werden schließlich auch vorgetragen. Seit den frühen 1960er Jahren, seit den Anfängen des Struga-Festivals, wird hier Jahr für Jahr auch ein Literaturpreis vergeben: The golden wreath. Da sind große Namen unter den Preisträgern zu finden: Pablo Neruda, Allen Ginsburg, Senghor, Ted Hughes, Seamus Heaney, Tadeusz Ròzéwicz, Tomas Tranströmer, Enzensberger… Jeder Preisträger pflanzt einen Baum, so ist neben dem Haus der Poesie ein kleiner Park entstanden. Tafeln mit Foto und Texten der Preisträger darin. Der diesjährige Gewinner der Golden Wreath ist der Südkoreaner Ko Un. Ich gratuliere.

2018: Reykjavik. Ins Café „Loki“ flüchten wir ob urplötzlich peitschendem Blasenregens, so wie wir vor zehn Jahren schon einmal vor urplötzlich peitschendem Blasenregens ins Café „Loki“ geflüchtet waren. Vielleicht hätten wir besser ein Café „Balder! Suchen sollen, damals?

2022: Sonntag. Eigentlich wollten wir heute nach langer Zeit mal wieder zu einer Radtour starten: „klassische“ Route rund um den Wallendorfer See. Aber es wird einmal mehr zu heiß. So setze ich die Satzung für die „Jankofsky-Bauer-Stiftung“ auf.

 

Anarchie

für

H. G. Adler / Benigno Simeon jr. „Ninoy“ Aquino / Adam von Bartsch / Ettore Bugatti / Dimitrie Cantemir / Ildefons Cerdà / Adelbert von Chamisso / Agostinho José da Mota / Siobham Dowd / Ingeborg Drews / Albert Ebert / Rodolfo Fogwill / Buddy Harman / Wolfgang Hildesheimer / Friedrich Gustav Jaeger / Paul Juon / Kambazembi wa Kangombe / Norbert Conrad Kaser / Helmut Kajzar / Danka Košanová / Constant Leonhard Lambert / Mary Wortley Montagu / Robert Moog / Henrik Pontoppidan / Christoph Maria Schlingensief / Sonoi Keiko / Leo Trotzki / Ugyen Wangchuck / Robert Uhrig / Wolfgang Vogel / Leona Vicario / Laure Wyss

 

Das kam uns anarchisch vor:

Lawrence, Kansas, 1863: 183 Gegner der Sklaverei werden im Zuge des Amerikanischen Bürgerkrieges massakriert / Kamerun, 2005: plötzlich aus dem Nyos-See austretendes Kohlendioxid tötet 1.700 Menschen.

 

22. AUGUST

 

Ahoi

mit

Sebastian Abratzky / Wladimir Iljitsch Amlinski / Willem Johan Cornelis Arondeus / Elisabeth Bergner / Ray Bradbury / Jonas Breitenstein / Henri Cartier-Bresson / Charles Clerke / Achille-Claude Debussy / Giuseppe dell’Orefice / Élise Léontine Deroche / Malachi Favors / Gorch Fock / Gustaf Fröding / Ludwig Gandorfer / Wanda Anita Green / Arthur Holitscher / John Lee Hooker / Panait Istrati / Lydia Rabinowitsch-Kempner / Charles Augustus Lindbergh III / Walter Lübcke / Irmtraud Morgner / Uğur Mumcu / Paul Nipkow / Okada Yukiko / Denis Papin / Dorothy Parker / Carlo Pisacane / Micheline Presle / Lydia Rabinowitsch-Kempner / David Reimer / Beatus Rhenanus / Karl Schapper / Max Ferdinad Scheler / Wolfdietrich Schnurre / Layne Thomas Staley / Jochen Stay / Karlheinz Stockhausen / Andimba Toivo ya Toivo / Alfred Wellm

 

So meinten wir gut zu starten:

1485 enden die englischen Rosenkriege / 1649 erscheint „in Merseburgk mitten am tage ein strahlender Stern“ / 1791: Beginn des Sklavenaufstandes im französischen Teil Hispaniolas / Isle og Wight, 1851: erster Start des America’s Cup / 1864: Unterzeichnung der ersten Genfer Konvention / Deutschland, 1950: Gründung des Technischen Hilfswerks (THW) / West Virginia, 2000: Inbetriebnahme des Green-Bank-Observatoriums.

 

Ich notierte:

1981: Nun ist die neue Band „Phantadu“ angemeldet – doch ich bin nach wie vor unentschlossen. Das schlägt sich in meiner Arbeitsleistung nieder. Was ich sonst so an einem halben Tag erledige, braucht nun eine ganze Woche. Edith Bergner sagt mir am Telefon, dass es wohl eine Vakanz im Bezirkskabinett für Kulturarbeit geben würde, ich solle versuchen, mit Sachs zu reden.

1982: Minsk. Halb acht weckt uns die Deschurnaja durch lautes Klopfen an der Tür. Noch leicht taumelig unter die Dusche, Frühstück, die Koffer wieder in die Busse und zum Bahnhof laufen. Warum das denn nun schon wieder? Am Bahnhof stehen wir dann bis kurz vor Abfahrt des Sonderzuges herum, angeblich weiß keiner von welchem Bahnsteig und so. Und dann plötzlich Hektik, Gerenne, Geschubse, Abfahrt in drei Minuten! Und kaum sind alle Kinder in den Wagen fährt dieser Zug auch tatsächlich schon los. Sind auch wirklich alle Kinder eingestiegen? Ist alles Gepäck eingeladen? Was für ein Chaos! Unglaublich. Und kaum sitzen wir, wird von Mund zu Mund die Information weitergegeben: In einer halben Stunde Mittagessen! Aber wir haben doch gerade erst gefrühstückt, und es ist doch längst noch nicht Mittag... Egal, Essen! Und dann, beim Ausfüllen meiner Ausreisedeklaration fehlt auf einmal meine Einreisedeklaration. Die hatte Reiner mir abverlangt... „Ach, mach dir doch keinen Kopf. Irgendwie kriegen wir dich schon mit raus!“ Was für ein Trost. Ich muss mich verdammt beherrschen, nicht laut zu fluchen, aufzubrüllen, irgendwas. Nur weg, nur raus hier! Und siehe da, das Papierchen findet sich schließlich doch wieder an, war nur falsch ausgeteilt. „Kann doch mal passieren, nicht wahr.“

In Brest den neuerlichen Radsatzwechsel beobachten, sich ablenken. Unruhe in der Gruppe, die auf der Hinreise in Vilnius ausgestiegen war, heftiges Gestikulieren, Geschrei auf dem Bahnsteig. Ein Betreuer wird von Grenzern abgeführt. Was geht denn nun los? Nach und nach, als der Zug schon durch Polen rollt, erfahren wir, daß diese Gruppe in ihrem Lager ständig bestohlen worden war, Jeans, Jacken, Geld. Und diesem Betreuer hatte man den Ausweis geklaut. Na, da hatte ich, da hatten wir wohl noch Glück. Wenig später macht ein Gerücht die Runde: Drei der „Litauer“ stünden unter Ruhrverdacht. Wahrscheinlich würden wir in Berlin alle unter Quarantäne gestellt... Ablenken, ablenken, aus dem Fenster starren, Doppelkopf spielen, lesen... Dann Warschau, der neue Untergrundbahnhof, sehr modern. Die Leute sehr leger. Gegen Abend wird uns schlecht, wir vermuten von der Wurst aus dem Verpflegungsbeutel. Oder etwa schon die Ruhr? Mischung aus Hysterie und Galgenhumor. Doppelkopf. Mitternacht hat Rolf Geburtstag. Gratulationscour in seinem Abteil, zehn Mann und von irgendwoher tauchen zwei Flaschen Schnaps auf. Danach wird ein kurzer, flacher Schlaf möglich. Geweckt werde ich von deutschen Stimmen: „Die Ausweise bitte zur Kontrolle!“ Erleichterung angesichts von schwerbewaffneten Grenzern, verrückt. Nun kommt alles und immer schneller ins Laufen. Ein jeder will sich von jedem verabschieden. Viele unserer Kinder wünschen meine Adresse, versichern, mir unbedingt schreiben zu wollen. Schon taucht Berlin auf, der Ostbahnhof, ein letztes Tschüß und weg, schnell weg. Am besten mit dem Taxi nach Schönefeld, zu meinem Anschlusszug, schließlich doch mit der S-Bahn. D-Zug nach Halle, nochmals Umsteigen, Merseburg, in die Straßenbahn und nur eines noch: Ankommen, endlich Ankommen.

1999: Nach einigem Hin und Her mit dem Arbeitsamt scheint mehr als unwahrscheinlich, dass Jeanny nochmals mit einer Arbeitsbeschaffungs-Maßnahme gefördert wird. Erst einige Minuten nach dem Telefonat geht mir nach und nach auf, dass das nicht nur all unsere Planungen durchkreuzen, sondern auch unser finanzielles Gleichgewicht zerstören kann.

2014: Struga. Am nächsten Vormittag ein Symposium „Poetry and the political“. Leider ziemlich oberflächlich, zu allgemein. Dann zur nächsten Lesung ins Kloster Kalishta. Sehr stimmungsvoll.

Am Abend wieder Lesungen im Haus der Poesie: slowakische Matinee, mazedonische Matinee. Und ich traue meinen Ohren, traue meinen Augen nicht: einer der drei lesenden Kollegen ist Vlada Urosevic! Nach der Veranstaltung gehe ich auf ihn zu. Leider spricht er kein Englisch, kein Deutsch. Dennoch versteht er offensichtlich, dass ich seinen Roman „Meine Cousine Emilia“ in wärmsten Tönen lobe, ihn für dieses Werk danke, ihn als wunderbaren Autor bezeichne. Er drückt meine Hände, lächelt mich an. Seltsam, irgendwie erinnert er mich an den betagten Walter Bauer.

 

2023: Jürgen Mannke hatte mir „Die Nachhut“ von Hans Waal (Holger Witzel) empfohlen. Rasch besorgt und gelesen, bin ich erstaunt: Warum wurde so eine originell-komödiantische, tiefgründige Aufarbeitung deutscher Geschichte nicht längst verrfilmt? Rhetorische Frage, selbstredend, angesichts der effekthascherigen deutschen Filmindustrie.

 

Letzter Akkord

für

John Abercrombie / U. R. Ananthamurthy / Nickolas Ashford / Günther Birkenfeld / Jaimie Branch / Edith Breckwoldt / Will Brüll / Oskar Brüsewitz / Kate Chopin / Charles Clerke / Michael Collins / Maria Cunitz / Toto Cutugno / Roger Martin du Gard / Sophia Duleep Singh / Michel Fokine / Paul Goesch / Stella K. Hershan / Jomo Kenyatta / Ed King / Hermann Knaus / Olaf Koch / Jan Kochanowski / Nikolaus Lenau / Loriot / Luca Marenzio / Favell Lee Martimer / Rudolf Medek / Michel Montignac / Jan Neruda / Grace Paley / Jonathan Petersen / Rudolf Alexander Schröder / Ida Siekmann / Ota Šik / Ignazio Silone / Stilicho / Toots Thielemans / Johann Heinrich Tischbein d. Ä.

 

An diesem Tage meinten wir, es verklänge:

1642 beginnt der englische Bürgerkrieg / 1711 kentern im St. Lorenz-Strom acht britische Truppentransporter, 890 Soldaten und Seeleute ertrinken / 1851: Ausbruch des Goldrauschs im australischen Victoria / 1910 annektiert Japan Korea / 1942 kollidiert der amerikanische Zerstörer „Ingraham“ vor Halifax mit einem Tankschiff, 189 Todesopfer / Nepal, 2002: eine Twin Otter prallt gegen ein Bergmassiv, alle Insassen sterben / Alcântara, Brasilien, 2003: Raketenexplosion, 21 Tote / 2006 stürzt bei Donezk eine Tu-154 ab, 170 Menschen kommen ums Leben / Dadia, Griechenland, 2023: Waldbrände, mindstens 20 Tote.

 

 

23. AUGUST

 

Introduktion

mit

Marie Magdalene Charlotte Ackermann / Nazik al-Mala’ika / Hanna Berger / Jürgen Bernt-Bärtl / Maxi Böhm / Vicki Brown / Kobe Bean Bryant / Georges Cuvier / Jean-François de Galaup de La Pérouse / Raul de Souza / Johann Georg Eccarius / Lisa Fittko / George-Jules Fournier / Jakob Friedrich Fries / Walter Giller / Erich Gloeden / Alexander Grin / Theobald Hock / Franciscus Hotomanus / Jimi Jamison / Allan Kaprow / Gene Kelly / Ephraim Kishon / Mogens Klitgaard / Hilda Kuper / Constant Leonard Lambert / Eva Leidmann / Alfred Lichtenstein / Hubert von Meyerinck / Keith John Moon / Gerd Natschinski / River Jude Phoenix / Eduard Rhein / Ida Siekmann / Sridevi / Evangelos Zappas

 

Das hielten wir für eine zielsichere Einführung:

Hettstedt, 1786: Inbetriebnahme der ersten Dampfmaschine in Deutschland / 1821 wird Mexiko unabhängig von Spanien / 1833: Abschaffung der Sklaverei in den britischen Kolonien / Prag, 1866: Friedensschluss im Deutschen Krieg zwischen Preußen und Österreich / 1948: Gründung des Weltkirchenrates / 1966 sendet die Raumsonde „Lunar Orbiter I“ das erste Foto der Erde vom Mond aus / 1999 wird Deutschland wieder von Berlin aus regiert / 2023: erstmals landet eine indische Raumsonde "Chandrayaan-3" auf dem Mond.

 

Ich notierte:

1986: Olaf singt in der Semper-Oper, hatte uns eingeladen, Don Giovanni. Wohltuend, entspannend, anregend, ermutigend…

1987: Sonntag. Nun war seit Freitag Sommerwetter und ich hatte sogar etwas Freizeit, doch konnte ich damit irgendwie nichts Rechtes anfangen, war ich irgendwie lethargisch, konnte nur auf das, im September Kommende starren, auf diese mir zur Organisation aufgedrückten Gegenwartsliteraturtage… Möge die Zeit bis dahin schnell verrinnen und dann – Augen zu und durch! Doch sollten diese Veranstaltungen erfolgreich sein, keimt schon in mir der Gedanken, danach um einen unverschämt langen Arbeitsurlaub nachzusuchen, um – Schreiben zu können – Gegenwartsliteratur!

2000: Jeanny ruft an und sagt, dass sie soeben eine neuen Job erhalten hat. Unglaublich, doch wahr! Ab 1.9. wird sie eine ABM-Stelle als Betreuerin behinderter Kinder in Merseburg haben können. Für ein Jahr selbstredend wie üblich. Aber wie sehr bringt uns das schon weiter! Am Nachmittag Gespräch mit unserem Versicherungs- und Kreditmann, wie es nach der Ablösung des Hauskredits weitergehen kann. Ich will fürs erste eine Kapital-Lebensversicherung, die ich als Sicherheit für den Hauskredit abschließen musste, loswerden. Am Abend in die Ölgrube zur Probe. Musikalisch läuft’s ganz gut, doch dann fängt Seni auf einmal mit einer seltsamen, mir schlichtweg unverständlichen Sache an: Herbert (!) habe im neulich gesagt, dass er damals im Januar ausgestiegen sei, da ihm Jeanny (!) gesagt habe, dass er mal endlich richtig üben solle! Das ist de facto wie auch in mir allen denkbaren Zusammenhängen so absurd, dass ich letztlich anbiete, dass der nächste Oldie-Abend der letzte sein sollte. Zu Hause sitze ich mit Jeanny noch bis lange nach Mitternacht, und wir rätseln, woher dieser Angriff kam...

2014: Struga: Am nächsten Morgen ein Treffen der Teilnehmer, die auch Festivalleiter sind und/oder Literaturzeitschriften herausgeben. Kurzweilige Runde mit Vertretern aus Kanada, Indien, Israel, Spanien, Albanien, der Mongolei. Mein Bericht über die „InterLese“, vor allem, dass wir in Sachsen-Anhalt hauptsächlich vor Schülern lesen lassen, findet Interesse, und auch, wie wir unsere Literaturzeitschrift „Ort der Augen“ in diesem System nutzen, hier beispielsweise Texte von InterLese-Teilnehmer nicht selten zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlichen. Diverse Nachfragen. Am Ende verabredet man sich, ein möglichst weltweites Netzwerk zu schaffen, um möglichst viele interessierte Autoren – und vor allem junge! – künftig zu Festivals und zu Veröffentlichungen einladen zu können – und nicht zuletzt für Autoren aus small language countries, die sonst nur geringe Chancen hätten, weltweit wahrgenommen zu werden und sich wiederum untereinander zu vernetzen. Mein Konzept seit langem – es wäre wunderbar, wenn es hiermit nun noch weiter und besser voranginge. Visitenkarten und Mail-Adressen werden auf jeden Fall schon mal gezielt ausgetauscht. Bei Sonnenuntergang lesen wir an der malerischen kleinen Kirche in Kaneo mit weitem Ausblick über den Ohrid-See. Dieser Ort trüge allein schon Sehnsüchte und Poesie genug, aber keine Frage: jeder der Teilnehmer liest einen Text, jeder in seiner Muttersprache (mit jeweils folgender englische Übersetzung) – das ergibt dann am Ende ein wirklich einprägsames Stimmungsbild. Nach einem Rundgang durch die unbedingt sehenswerte Altstadt Ohrids, Ehrung für den Preisträger Ko Un in der großen St. Sofia Kirche. Dabei wird ausschließlich Koreanisch und Mazedonisch gesprochen, was nach anderthalb Stunden allerdings etwas ermüdet…

2018: Lerwick, Hauptstadt Shetlands, etwa 7000 Einwohner. Und obwohl hier im Jahr mittlerweile 70-80 Kreuzfahrer anlegen, und das unbedingt mehr werden sollen, ist das Städtchen auf Tourismus so gut wie nicht eingestellt: keine (auffindbaren) Pubs, keine Souvenirläden, zwei nepalesische (??) Imbisse, ein Hotel (das allerdings und Gott sei Dank mit Bar…), und pünktlich 5.30 p.m. werden die Bürgersteige hochgeklappt. Die Hauptinsel selbst erweist sich aber als sehr sehenswert. Wir fahren bis zu Südspitze, imposantes Cliff mit Myriaden von Seevögeln. Dann zum historischen Jarlshof, herrschaftliche Ruinen aus frühen schottischen Zeiten, der ursprünglich aber wohl auf die Wikinger-Besiedlung zurückgeht. Gut vorstellbar, wie hier einst ein Jarl residierte.

2020: Auch in Deutschland steigen die Corona-Zahlen wieder an: mehr als 2.000 Neuinfektionen täglich, so viele wie seit April nicht mehr. Weltweit mehr als 23 Millionen Infizierte, mehr als 800.000 Tote. Immerhin fallen die Temperaturen.

2022: Am Abend kommt mein Freund und Lektor André Schinkel zu Besuch. Wir sitzen im Garten, trinken, grillen, schwatzen. Keine Frage, wenn man sich einige Monate nicht mehr gesehen, nur per Mail kommuniziert hatte, gibt es reichlich zu erzählen. So höre ich, dass Kolleginnen und Kollegen, die ich ob ihrer Beteiligung an meinem Sturz in den „Martyburg Surrogaten“ verspotte, ihn bedrängt hatten, die Drucklegung diese Buches zu verhindern. PEN-Mitglieder samt und sonders, die ja eigentlich für die Freiheit des Wortes einstehen sollten… Aber na bitte, haben meine Pfeile offenbar getroffen.

 2023. Nach langer Zeit mal wieder eine Lesung: Auszeichnungsveranstaltung für die Leunaer Schüler, die den Sommer über die meisten Bücher lasen. Da schönes Wetter herrscht, findet das Ganze im Plastikpark statt. Und dann einmal mehr eine Duplizität der Ereignisse: Am Abend im Biergarten bei „unserem Italiener (der eigentlich Montenegriner ist) erzähle vom „Lese-Nachmittag“ und höre, ich seinen Sohn (der heute für uns kellnert) vor 10 Jahren mal in Magdeburg als besten Vorleser Sachsen-Anhalts geehrt, ihm die von mir erfundene „Lesekrone“ aufgesetzt hatte. Also wenn das Zufall ist…

 

 

Inkasso

für

Gerbrand Adriaenszoon Bredero / Domenico Manuel Caetano / Gladys Casely-Hayford / Charles Augustin de Coulomb / Balys Dvarionas / Maynard Ferguson / David Garrick / August Neidhardt von Gneisenau / Rolf Herricht / Zelimkhan Sultanowitsch Khangoschwili / Harald Korall / Wilhelm Ludwig von Küchelbecker / Adolf Loos / Jean Molinet / Johannes Pullois / Félicien Rops / Ferdinando „Nicola“ Sacco / Corona Elisabeth Wilhelmine Schröter / Walter Serner / Rudolph Valentino / Bartolemo Vanzetti / Ferdinand Georg Waldmüller / William Wallace / Alexander Wilson

 

Da spürten wir Entzug:

1839 besetzen britische Truppen Hongkong / 1849: Niederschlagung der revolutionären Republik Venedig durch österreichische Truppen / Hebron, 1929: 67 Juden werden von Arabern massakriert / 1950: Bruch des indischen Subansiri-Dammes, 532 Todesopfer / China, 1976: Erdbeben, mehrere tausend Tote / Bahrein, 2000: Absturz eines Airbus A320 beim Landesanflug, alle 143 Insassen kommen ums Leben.

 

 

24. AUGUST

 

Stunt

mit

Lea Aaliste / Ferhat Abbas / Jassir Arafat / Ruth Berlau / Jorge Luis Borges / Antonia S. Byatt / Christine Chubbuck / John Cipollina / Alex Colville / Dulce Almada Duarte / Léo Ferré / Lavinia Fontana / Kirsten Heisig / Ken Hensley / Gregory Bruce Jarvis / Duke Kahanamoku / Herbert Kaufmann / Johann Balthasar Kehl / Ruthard Ködel / Friedrich Luft / Astrid North / Ruth Rebakka Poritzky / Jean Rhys / Caroline Rudolphi / Nancy Spero / Flurin Spescha / John Taylor / James Tiptree junior / Julius von Voß / James Weddell

 

Da wagten wir Waghalsiges:

Rätikon, 1610: Erstbesteigung der Schesaplana / Weimar, 1617: Gründung der Fruchtbringenden Gesellschaft / Saratoga Springs, New York, 1853 erste Zubereitung von Kartoffelchips / 1963: errster Spieltag der Fußball-Bundesliga / 1991: wird die Ukraine unabhängig von der Sowjetunion / 2016: Entdeckung des erdnächsten Exoplaneten Proxima Centauri b.

 

Ich notierte:

1999: Arbeit an meiner Graureiher-Vorlesung an der Merseburger Hochschule, dann mit Jens Installation meines ISDN-Anschlusses, damit ich nach Lieferung des Bosch-Computers reibungslos ins Internet komme. Am Nachmittag komme ich im Garten mit Angelika Arends Bauer-Buch zu Ende. Ein gutes, wichtiges und interessantes Buch, das im Epilog die Forderung nach einer Bauer-Gesamtausgabe aufmacht. Gut so. Ich denke, Angelika ist mit dieser Veröffentlichung Anwärterin auf den nächsten Walter-Bauer-Preis, der im November 2000 in Leuna vergeben werden wird. Ich werde auf jeden Fall versuchen, mich in der Jury dafür stark zu machen.

2000: Intensive Büroarbeit, aber ich hoffe auch manches vorangebracht zu haben. Am Nachmittag nach Naumburg, zur Verleihung des Nietzsche-Preises des Landes an Rüdiger Safranski. Im Umfeld diverse Projektabstimmungen mit anderen „Würdenträgern“. Die Laudatio fällt ein bisschen zu philosophisch aus, die Dankesrede Safranskis hält, was sein Nietzsche-Text versprach. Von Naumburg ins Klubhaus Leuna, wo in der Galerie ausgerechnet heute und zeitgleich eine Ausstellung des Fotoclubs Merseburg eröffnet wird. Immerhin komme ich noch in die Auflösungsphase, kann mit den Fotografen wie Dr. Späthe, einige Worte wechseln. Am Abend im Garten, schönes Wetter.

2004: Patschkau. Es gab Zeiten, da war mir dieser Name zuwider. Denn zwangsläufig kam jede Familienfeier, die ich heranwachsend erlebte, irgendwann dahin, dass Geschichten über die alte Heimat aufgetischt wurden, ausgiebigst. Was ging das mich an? Ich glaubte an eine Welt im Aufbruch, wollte nicht zurückblicken, mochte das alles nicht mehr hören. Unterwegs in Polen, Ende der siebziger Jahre wohl, suchte ich auf einer Straßenkarte schon mal nach diesem Ort, nach der Vaterstadt meines Vaters, scheute dann aber den Umweg, ja, scheute sogar leisestes Interesse zu zeigen, als meine Eltern mit Geschwistern oder Anverwandten gen Oberschlesien reisten. Was sollte ich dort? Weder emotional, geschweige denn materiell hatte ich irgendwelche Ansprüche an dieses Land, fand den Gedanken schier unerträglich, in revanchistische Schubladen sortiert werden zu können. Und touristisch wäre mir eine solche Annäherung selbstredend nie möglich. Allmählich wurde mir aber klar, dass es nicht um Landschaften oder Orte, sondern um meinen Vater ging, um sein Leben, das nun mal durch den Verlust der Heimat geprägt war und somit auch mich geprägt hatte, um Familiengeschichte, der ich mich schlichtweg zu stellen habe, da es auch meine Geschichte ist, um Verständnis also letztendlich. Bis hierhin war ich nur ausgewichen, war genau genommen nicht desinteressiert, sondern feige.

2014: Am nächsten Morgen Bootsausflug zum Kloster St. Naum, am Südufer des Ohrid-Sees, nahe der albanischen Grenze. Reichlich zwei Stunden Fahrt. An Speisen und Getränken mangelt es dabei nicht: köstlicher Schafskäse, süffiger Wein. Und auch in diesem Kloster wird wieder gelesen. Und es gibt sogar einen Wettbewerb um den besten Text zum Thema Wein. Wer wollte, konnte vorab einen entsprechenden Text einreichen. Ich wollte, ließ Auszüge aus meinen „Blütengrundblättern“ übersetzen, die ich vor dieser historischen Kulisse nun auch zum Besten gebe. Geehrt wird am Ende aber der Australier Les Wicks. Wahrscheinlich haben die Australier auch die besseren Weine. Seinen Preis – eine 5-Liter-Box mit rotem mazedonischem Wein teilt Les jedoch spendabel mit den Konkurrenten. Na denn, auf den Wein weltweit! Am Abend schließlich der Höhepunkt des Festivals: Lesungen auf einer der Brücken über den Crni Drin. Genial: auf dieser zur Bühne umgebauten Brücke nehmen wir Teilnehmer Platz, lesen nochmals einer nach dem anderen. Das Publikum sitzt entlang der beiden Ufer bis zur nächsten Brücke – und auf derselben natürlich – etwa 500 Meter entfernt. Was für eine Kulisse! Und alles einmal mehr live im mazedonischen Fernsehen – zur besten Sendezeit! Jeder liest wieder in seiner Muttersprache, eine englische Version erscheint auf der riesigen Bühnenleinwand, und die Moderatoren lesen die mazedonische Version. Mitten in eine der Lesungen krakeelt aber plötzlich der Muezzin vom Turm der nahen Moschee. Da haben wir dann gleich auch noch live was zur Völkerverständigung auf Arabisch… Überall in der Festivalstadt waren übrigens auch große Plakate zu entdecken, auf der die albanisch-muslimische Minderheit, die hier aber offenbar (mittlerweile) eine Mehrheit ist, Respekt für die albanische Sprache einfordert. Wer weiß, vielleicht werden dann beim nächsten Struga-Festival die Texte der Teilnehmer auch oder ausschließlich ins Albanische übersetzt. Möglicherweise sogar die der Mazedonier?

2018: Orkney.. Seit 12.000 Jahren wird hier gesiedelt. Etliche frühzeitliche Stätten sind UNESCO-Weltkulturerbe. Wir besichtigen den Ring of Brodgar, stonehangeähnlicher Steinkreis, jedoch größer und eingebettet in die sanfte Wiesen-und-Hügel-Landschaft, rötliches Heidekraut. Dann vorbei an Scapa Flow, Schauplatz in beiden Weltkriegen. Und in der wuchtigen St. Magnus Cathedral zu guter Letzt dies: auf dem Altar steht neben Kreuz und Bibel das Modell eines Wikingerschiffes.

2021: Die Corona-Zahlen steigen wieder und steigen, und bevor möglicherweise wieder Restriktionen greifen, fahren wir kurz entschlossen nach Eisenach, wo wir eigentlich schon Jeannys Geburtstag feiern wollten, wegen schlechten Wetters aber stornierten. Aufgrund der seit gestern geltenden neuen Gesetzeslage hatten wir befürchtet, aller nasenlang unseren Impfnachweis vorzuweisen. Doch dem ist nicht so. Gut so. Schöner Tag mit Bach-Haus, Bratwurst, Wald und Wartburg.

2022: Am Abend lese ich an einem Bauwagen unterhalb des Merseburger Schlosses. Eine junge Frau hat hier am Saaleufer einen provisorischen Ausschank eingerichtet und organisiert Kultur-Aktionen, so eben auch Lesungen, um das Gesprächsmöglichkeiten jenseits der „offiziellen“ Einrichtungen zu eröffnen. Da hatte ich gern zugesagt, freue mich über jede Initiative, die brache Kulturlandschaft meiner Vaterstadt zu beleben. Tatsächlich lauschen mir dann etwa 25 Leutchen und wir kommen auch sehr gut ins Gespräch. Allerdings (was sogar im Publikum bemerkt und angesprochen wird) mal wieder kein Offizieller, kein Ratsmitglied, keine Amtsinhaber oder sonstiger Würdenträger. Klar, wie angekündigt stellte ich ja Merseburger Geschichte in Geschichten vor. Da gibt’s offenbar Wichtigeres für hiesige Würdenträger…

 

Stupor

für

Richard Attenborough / Bai Bureh / Michel Butor / Don Byas / Gaspard II. de Coligny / Jaramillo Nevith Condés / Carl Friedrich Curschmann / Joaquim Pedro de Oliveira Martins / Fernanda de Utrera / Irmgard Düren / Alfred Eisenstaedt / Hansjörg Felmy / Sanford Robinson Gifford / Nikolai Stepanowitsch Gumiljow / Sarah Guppy / Oskar Jerschke / Uri Katzenstein / Ewald Christian von Kleist / Paul Kuhfuss / Günter Litfin / Liu Baiyu / Tadeusz Mazowiecki / Jan Ernst Matzeliger / Friedrich Naumann / Paul Nipkow / Herbert Otto / Ernst Ottwalt / Heikki Paasonen / Parmigianino / Brian Penton / John Polidori / Louis Prima / Petrus Ramus / Ambrosius Rhode / Bayard Rustin / Pentti Saarikoski / Nicolas Léonard Sadi Carnot / Toni Sailer / James Saunders / Marcellus Schiffer / Arleen Sorkin / Nancy Storace / Su Shi / Takebe Katahiro / Charlie Watts / Simone Adolphine Weil / Eduardo White / Ernst Wiechert

 

An diesem Tage fühlten wir uns wie versteinert:

410 plündern die Westgoten Rom / Köln, 1349: Beginn eines Pogroms, mehrere tausend jüdische Einwohner werden getötet oder vertrieben / Paris, 1572: Bartholomäusnacht, bis zu 20.000 Hugenotten werden ermordet / Llandudlo, Wales, 1848: Schiffsbrand vor der Küste, 178 Tote / Wien, 1866: Beginn einer Pest-Epidemie bei der in den nächsten drei Monaten 15.000 Menschen ums Leben kommen / Hull, 1921. das britische Luftschiff R38 stürzt in den Humber, 44 Todesopfer / Moskau, 1939: Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts / 1968 zündet Frankreich seine erste Wasserstoffbombe / 2006 wird der Pluto zum Zwergplaneten zurückgestuft.

 

 

25. AUGUST

 

Beatmung

mit

Martin Amis / Karl Friedrich Bahrdt / Leonhard Bernstein / John Randolph Bray / Gustav Bunsen / Sean Connery / Victor Conrad / Diego Corrales / Louis Antoine de Saint-Just / Willy DeVille / Dorothy Dunnett / Mel Ferrer / Bret Harte / Johann Gottfried Herder / Eglantyne Doey Jebb / Mario Jeckle / Theodor Kocher / Herbert Kroemer / Johan Philip Lansberg / Erich Liebermann-Roßwiese / Ludwig II. / Bruno Manser / Pat Martino / Gerda Maurus / Gustaw Morcinek / Theodor von Neuhoff / Ludwig Pfau / Allan Pinkerton / Hermann von Rotteck / Wayne Shorter / Py Sörman / Robert Stolz / George Stubbs / Dorothea Tanning / Christian Bernhard Tauchnitz / Keith Tippett / Tchicaya U Tam’si / Võ Nguyên Giáp / Mia Katherine Zapata

 

An diesem Tage bekamen wir Luft:

1778: Erstbesteigung des Triglav in den Julischen Alpen / 1810 wird in Großbritannien das Patent auf die Konservendose erteilt / 1825 erklärt Uruguay seine Unabhängigkeit von Brasilien / Brüssel, 1830: Beginn des Aufstands gegen die niederländische Herrschaft / 1839: Vereinigung von Nord- und Süd-Peru / China, 1912: Gründung der Kuomintang / 1945: August-Revolution in Vietnam, Ho Chí Minh übernimmt die Macht / 1989: sendet die Raumsonde „Voyager 2“ Fotos vom Neptun / 1991 proklamiert Belorussland seine Unabhängigkeit / 2012 verlässt die Raumsonde „Voyager 1“ unser Sonnensystem.

 

Ich notierte:

1982: Zurück aus Riga, mache ich mich schon wieder auf, nun nach Güstrow, für ein Arbeitsstipendium im Schloss, wo der Kinderbuchverlag entsprechende Räume hat. Zur „Einstimmung“ darf ich meine Familie, darf ich Jeanny und Cathi mitnehmen.

1985: Nun, da die Form fest scheint, zwei Teile meines Leuna-Projektes fertig sind, nur noch der dritte und letzte geschrieben werden muss, wird mir auf einmal das Ganze, wird, mir die Geschichte stabil, wird tragfähig.

2000: Alptraum: Ich bin mal wieder zur Armee eingezogen worden, muss unter menschenunwürdigen Bedingungen vegetieren... Büroarbeiten, hunderte Telefonate (kommt mir zumindest so vor), einiges könnte aber ein paar Millimeter vorangebracht sein... Am Abend dann in die Ölgrube, natürlich kommen Jeanny und Cathi nach dem Probendebakel nicht mit, und ich bin gespannt, wie sich Seni verhält. Aber der kommt erst mal viel zu spät, spricht mit niemanden, faucht selbst Bernd, den Trommler, an, da es mit dem Sound mal wieder nicht so recht klappt. Musikalisch klappt allerdings alles so gut wie selten. Wahrscheinlich wirkt sich der erzeugte Druck aus. Aber dabei bleibt’s auch, am Ende kommt’s dann, nach der üblichen Balladen-Orgie zum Eklat, nichtiger Anlass einmal mehr: die Disco-Leute sind noch nicht auf der Bühne, ich will gleich weiterspielen, beginne schon zu moderieren, da faucht Seni dazwischen, dass er noch keine Texte rausgesucht und die Klampfe nicht gestimmt habe... Nun gut. Aber dann steht er vor der Ölgrube und will überhaupt nicht mehr weiterspielen. Gehe ich also. Mit Traurigkeit und großem Bedauern zwar, aber diesen Punkt hatten wir vor 25 Jahren schon mal erreicht, ich hatte schlichtweg gehofft, dass er sich mittlerweile geändert hätte...

2001: Endlich das gemacht, was ich schon seit langem vorhatte: einmal im Garten zu übernachten. Zum einen war das Wetter danach, herrliches Sommerwetter nach wie vor, nun aber, an diesem Wochenende besonders schön, zum anderen erfuhr Jeanny gestern, dass sie für zwei weitere Jahre Arbeit hat, Das bringt Gelöstheit, da entkrampft man und verwirklich kindliche Ideen.

2012: Als ich meiner Frau eröffnete, der armenische Schriftstellerverband habe mich eingeladen, nach der Jerewaner Premiere des von mir mit herausgegeben zweisprachigen, deutsch-armenischen Buches „Als die eisigen Tage endlich vorüber waren“ mit Kollegen nach Bergkarabach zu fahren, war sie alles anderen als erfreut, nein, schien ziemlich besorgt. Bergkarabach, das war doch ein Zankapfel zwischen Armeniern und Aserbaidschanern seit langem, Gebietsstreitigkeiten, angeheizt nicht zuletzt durch willkürliche Grenzziehungen zu Sowjetzeiten, eskaliert beim Zusammenbruch des Sowjetimperiums bis hin zum offenen Krieg zwischen den beiden Nachbarvölkern von 1992 bis 1994, der dazu führte, dass die 1991 von armenischen Separatisten einseitig ausgerufene Republik Bergkarabach, die bis dato von keinem anderen Staat der Erde, nicht einmal von Armenien, anerkannt ist, in ihrer Existenz stabilisiert und „ethnisch gereinigt“ wurde. Und en passant wurde ein beachtliches aserbaidschanisches Gebiet zwischen dem Staat Armenien und dem einst autonomen Gebiet Bergkarabach der Republik Bergkarabach einverleibt, de facto herrscht hier also seit Ende des Krieges bestenfalls Waffenstillstand. Trügerische Ruhe also, denn ein in den Massenmedien immer wieder hoch gekochter möglicher Angriff Israels auf nahe iranische Atomanlagen könnte dann in einer zu erwartenden Zuspitzung des kaukasischen Wirrwarrs die ölreichen Aseris ermutigen, zumindest Gebietsverluste rückgängig zu machen. Offiziell gilt Bergkarabach (nicht zuletzt auf Beschluss der UNO und des Europarats) nach wie vor als Teil Aserbaidschans…

2020: Im Garten heute morgen eine Schar kreischbunter Bienenfresser. Exotik daheim.

2022: Am Vormittag mit Jeanny zum Notar, Beurkundung unserer Testamentsänderung zugunsten der Jankofsy-Bauer-Stiftung. Am Nachmittag treffen wir uns mit Rosches, unseren alten Hausnachbarn im Kloster Nimbschen bei Grimma. Spaziergang zur Mulde, mit der Fähre nach Höfgen, Mühlen besichtigen, Kaffeetrinken, Abendessen in der Klosterschänke, Absacker im lauschigen Innenhof des Klosterhotels. Ein guter Tag.

 

Blitzschlag

für

Aaliyah / Ndyakira Ntamahiira Amooti / Neil Armstrong / Antoine Henri Becquerel / Charlotte Birch-Pfeiffer / John Blankenstein / Leo Blech / Zacharias Brendel / Truman Capote / Thomas Chatterton / José Antonio Carlos de Seixas / Joey DeFrancesco / Thomas Dekker / James Douglas of Douglas / Thomas Alva Edison Jr. / Josef Benedikt Engl / Max Eyth / Michael Faraday / Wilhelm Herschel / Christoph Wilhelm Hufeland / David Hume / Kurt Ihlenfeld / Karl Leberecht Immermann / Eyvind Johnson / Niccolò Jommelli / Lew Borissowitsch Kamenew / Lindsay Kemp / Stan Kenton / Alfred Charles Kinsey / Herbert Kitzel / Alexander Iwanowitsch Kuprin / Kurt Küther / Wolfgang Langhoff / Elizabeth Montagu / Enrico Giovanni Battista Nencioni / Friedrich Nietzsche / Sally Njie / Julius Oengo / Katja Paryla / Anton Passauer / Leo Perutz / Götz Bernhard Freiherr von Seckendorff / Grigori Jewsejewitsch Sinowjew / Samatha Reed Smith / Ludger Stratmann / Josef Tal / Georg Thomalla / Musa Mostafa ulı Cälil / Rudy Van Gelder / Gustav Weidanz / Walerian Wróbel / James Watt

 

Da fühlten wir uns wie vom Blitz getroffen:

1861 sterben bei einem Eisenbahnunglück im Clayton-Tunnel bei Brighton 23 Menschen / Heraklion, Kreta, 1898: Türken massakrieren mehrere hunderte griechische Einwohner / 1927 sinkt der japanische Zerstörer „Warabi“ nach der Kollission mit einem Kreuzer vor Bungo-Suido, 102 Seeleute kommen ums Leben / Buir, Kerpen, 1929: Eisenbahnunfall, 16 Todesopfer / Diexi, China, 1933: Erdebeben, mehr als 9.000 Tote / Pakistan, 2022: Ausrufung des Notstandes infolge verheerender Überschwemmungen, durch die bis Oktober 33 Millionen Menschen ihre Bleibe verlieren und 1.700 sterben.

 

 

26. AUGUST

 

Ballonfahrt

mit

Guillaume Apollinaire / Rudolf Belling / Daphne Caruana Galizia / Eddy Chibás / Erich A. Collin / Julio Cortázar / Lee De Forest / Antoine Laurent de Lavoisier / Theodore Dreiser / Maxime A. Faget / James Franck / Peggy Guggenheim / Auguste Haase / Christopher Isherwood / Walther Killy / Johann Heinrich Lambert / Angelika Mechtel / Joseph Michel Montgolfier / Nikolaus Moreau / Mutter Theresa / Marie Ann Nichols / Lidia Poët / Bronisław von PoźniakCharles Richet / Jimmy Rushing / Wolfgang Sawallisch / Ludwig Michael Schwanthaler / Olov Svedelid

 

So stiegen wir in unbekannte Höhen auf:

Dresden, 1726: Grundsteinlegung für die Frauenkirche / 1807 führt Bayern als erstes Land weltweit die Pflichtimpfung gegen Pocken ein / 1981 liefert die Raumsonde „Voyager2“ Fotos vom Saturn / Johannesburg, 2002: Beginn des ersten Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung.

 

Ich notierte:

1981: Erste Probe mit „Phantadu“, doch ich glaube, dass das alles nichts wird. Lotte beispielsweise wird nie die notwendige Disziplin aufbringen. Er ist wie ein kleines Kind, nie tut er das, was er gesagt bekommt, sondern meist das, was er nicht soll. Schon zur ersten Probe kommt er zu spät… Oh nein, ich habe keine Lust mehr, Leute zu disziplinieren. Was aber soll ich tun? Von Cathi höre ich heute eine erstaunliche Lebensweisheit, sie sagt beiläufig: Wenn ich mir wünsche, dass etwas schön wird, wird es schlecht. Also wünsche ich mir besser, dass es schlecht werde…

1997: Leuna. Vom Westen her wird’s zum Feierabend Nacht, Sturmwolken, graugrüngelb, brechen, fluten Straßen, Gärten, Keller. Und ich sehe meine Bücher schwimmen. Danach aber erblüht die Datura vor unserem Haus in ungeahnt exotischer Pracht.

1999: Am Vormittag eine Veranstaltung für Kinder in Halle. Erfolgreich. Dann zu Dr. Pleßke nach Taucha. Er hat das Manuskript des Siegfried-Berger-Lesebuchs fertig, das ich im Künstlerhaus Verlag (vorbehaltlich einer noch ausstehenden Landesförderung) in der Art des Walter-Bauer-Lesebuches herausbringen will. Ansonsten kommen wir natürlich wie stets in ein intensives Gespräch über Gott und die Welt, machen uns sogar schon Gedanken über Walter Bauers 100. Geburtstag im Jahre 2004...

2000: Um Legendenbildungen vorzubeugen schreibe ich Seni heute eine Karte, auf der ich nochmals ausdrücklich betone, wie unverständlich mir der ganze Vorgang ist, alles, was er Jeanny und Cathi unterstellte, und dass ich sein Verhalten zutiefst bedaure. Eigentlich hatte ich nach diesem so hoffnungsvollen Neuanfang gehofft, dass man miteinander rockend alt werden könne... Obwohl Samstag, erledige ich einiges an Büroarbeit, Routinen sind nicht das Schlechteste nach solchem Knacks. Am Abend grillen wir. Mine fordert am Gartenkamin, dass wir Geschichten erzählen, reihum, und sie selbst erzählt auch ihre wohl erste erfundene Geschichte, etwas mit Gespenstern, die aber ein Mädchen im Bettchen in den blauen Himmel schweben lassen... Herrlicher Sternenhimmel, ich liege mit Jeanny eine ganze Weile auf dem Rasen und wir beobachten diese herrliche Nachtlandschaft.

2004: Ich steige hinter meinem Vater in einen der Busse, die eine Reisegruppe zur 750-Jahr-Feier Patschkaus bringen. Wie nicht anders zu erwarten, bin ich einer der jüngsten hier. Bis auf zwei, drei Ausnahmen alles Vertriebenengeneration.

„Ach, haben sie die Patschkauer Dohlen auch so gern gegessen?“

„Der Bäcker am Glatzer Tor, an der Straße nach Kosel, feines Geschäft.“

„Ja, aber nach Kosel ging’s da nicht!“

Der Busfahrer reißt Polenwitze und nach schier endlosem Gerüttel und Gehoppel erreichen wir irgendwann tatsächlich Patschkau. Freundlicher Empfang im Hotel (man spricht Deutsch), ordentliche Zimmer, gutes Abendessen. Dann erster Gang in die Altstadt. Wie eine Mischung aus Wismar, Halberstadt und Oschatz erscheint mir das so genannte Schlesische Rothenburg, allerdings mit fast vollständiger Stadtmauer samt Türmen. Nicht gerade auf Hoch­glanz das Ganze, aber leidlich erhalten. Und das Städtchen lebt. Nach 22.00 Uhr flanieren noch etliche Leutchen durch die Straßen, Jugendliche vor allem. Ich schlendere mit Vater über den Altstadtring, sehenswerte Barock-Fassaden, Rathaus mit hell angestrahltem Turm. Er führt mich zu seinem Gymnasium, zeigt mir, aus welcher Richtung er angeradelt kam und wo er in den Schulhof einbog. An der Ecke der Briefmarkenladen, in den es ihn in den Pausen oft zog. Dann das Haus in dem Onkel Paul wohnte, das Spital, in dem mein Vater geboren wurde, schließlich die wuchtige Wehrkirche. Beim Bier in einer Altstadtkneipe sagt Vater, wie sehr er sich freue, nun auch mit mir hier zu sein. Vor sechs Jahren war er bereits mit seiner Frau, meiner Mutter, in Patschkau. Und vor mehr als dreißig Jahren, im Mai 1973, hatte er mit seiner Mutter, meiner Großmutter Maria, erstmals das Wagnis einer Reise zu unseren Ursprüngen unternommen. Noch heute mache er sich jedoch Gedanken darüber, dass seine Mutter drei Wochen darauf starb. Sollte sie sich über die damaligen Zustände in Schlesien zu sehr gegrämt haben?

 

Burn out

für

Tex Avery / Wolfgang Bauer / Georg Benjamin / Sarniza Bilcescu / Laura Branigan / Charles Boyer / Alessandro Cagliostro / Lon Chaney sen. / Matthias Erzberger / Kay Francis / Hermann Geiger / Frans Hals / Wolfgang Herrndorf / William James / Theodor Körner / Lotte Lehmann / Reimar Lenz / Charles Lindbergh / Johannes Friedrich Miescher / Migjeni / Johann Philipp Palm / Bert Papenfuß-Gorek / Denis Papin / Sofija Jakowlewna Parnok / Mário Pinto de Andrade / Ales Rasanau / Adolph Schlagintweit / Ruben Sewag / Friedrich Silcher / Sesshū Tōyō / Irving Stone / Werner Sylten / Ludwig Thoma / Antoni van Leeuwenhoek / Adam von Trott zu Solz / Vilhjálmur Stefánsson / Daniel Gottlob Türk / Mika Waltari / Daniel Waruzhan / Franz Viktor Werfel / Ralph Vaughan Williams / Douglas Allen Woody

 

Da fühlten wir uns ausgebrannt:

1883: Ausbruch des indonesischen Vulkans Krakatau und löst Tsunamis aus, bei denen tausende Menschen ums Leben kommen / Istanbul, 1896: armenische Separatisten besetzen die Ottomanische Bank, infolge werden bis zu 50.000 Armenier massakriert / 1922 sinkt der japanische Kreuzer Niitaka im Sturm vor Kamtschatka, 400 Seeleute sterben / Königsberg, 1944: erster Bombenangriff der Royal Air Force, hierbei und bei dem folgenden Bombardement kommen 5.000 Menschen ums Leben und 200.000 werden obdachlos / Cizre, Türkei, 2016: Bombenterror der PPK, 11 Todesopfer / Kabul, 2021: Bombenanschläge am Flughafen, mindestens 95 Tote.

 

 

27. AUGUST

 

Verschönerung

mit

Eric Borchard / Carl Bosch / Constantin Brunner / Jaxon Buell / Halet Çambel / Alice Coltrane / Richard Dauber / Charles G. Dawes / Theodore Dreiser / Cesária Évora / James Finleyson / Cecil Scott Forester / Iwan Franko / Willi Geiger / Johann Georg Hamann / Georg Wilhelm Friedrich Hegel / LeRoy Wilton Homer jr. / Lisa Jobst / Heidi Kabel / Margarete Kahn / Daniel Küblböck / Heinz Liepmann / Man Ray / Taylor Mitchell / Amado Nervo / Roden Noel / Georg Wilhelm Pabst / Helena Patursson / Giuseppe Peano / Norman Ramsey / Carl Ernst Rathgens / Paul Reubens / Charles Stewart Rolls / Albrecht Roscher / Natalija Iljinitschna Saz / Karl Schapper / Hans Scheibner / Warren Harding „Sonny“ Sharrock / Joke Smit /  Sri Chinmoy / Leon Theremin / Aris Velouchiotis / Flossie Wong-Staal / Jakob Thomasius / Maria van Oosterwijk / Lester Willis „Prez” Young

 

Da kam uns alles viel schöner vor:

1820: Erstbesteigung der Zugspitze / Titusville, Pennsylvania, 1859: Beginn des Öl-Booms / Rostock, 1939: Testflug des ersten Strahlflugzeuges der Welt, der He 178, 1955 erscheint erstmals das Guinness-Book /  1962 entdeckt die Raumsonde „Mariner 2“ den Sonnenwind / 1991: die Republik Moldau wird unabhängig.

 

Ich notierte:

1982: Nun schon den dritten Tag in Güstrow. Ich bewohne im Nordturm des Schlosses das obere Zimmer, hinterm Schreibtisch Blick weit über Stadt und Land. Doch es hat die ganze Nacht geregnet, alles ist diesig. Ich versuche mich einzuarbeiten, schaffe einige Riga-Impressionen. Doch ich muss dem Erfolgsdruck des Verlages begegnen, muss mit dem Kinderbuch konzentriert vorankommen – deshalb wurde ich hierher geschickt, in diese exotische Umgebung, in diese Klausur. Mal sehen, vielleicht stört mich alsbald schon das ewige Lärmen der Touristen im Schlosshof nicht mehr. Am späten Nachmittag verfinstert sich der Himmel und ein schwerer Hagelgewitterregen prasselt auf das Kupferdach über mir. Gelbgraues Licht über der Welt, dazwischen zucken Blitze auf.

1989: Der Hochsommer scheint vorbei. Nieselregen. Ich stehe durch die Vorbereitungen für die 2. Tage der Gegenwartsliteratur, die ich mal wieder zu organisieren hatte, unter Druck. Gut, dass ich mich darauf konzentrieren kann, da der Verlagsvertrag für „Graureiherzeit“ mittlerweile nicht nur unterzeichnet, sondern sogar schon die erste Rate geflossen ist! Insofern bleibe ich sogar gelassen als ich höre, dass sich Steinmann bei der Partei um meine Stelle im Literaturzentrum beworben habe. Das hieße dann also de facto. Baldiger Rausschmiss.

1999: Am Vormittag ins Künstlerhaus, diverse Planungsrunden im Verlag und im Büro, auch eine Veranstaltung im Rahmen eines laufenden Projektes. Am Abend dann der Stones-Abend. Schweißtreibende Angelegenheit, aber voller Erfolg. Karten ausverkauft, gute Stimmung, viel Spaß. Es wird also weitergehen, Ende September: The Who - My Generation!

2004: Patschkau. Treff mit Anna. Anna ist Polin und war einst Magd bei Onkel Josef in Kosel, auf dem Hof also, auf dem mein Vater die ersten Jahre seines Lebens verbrachte. Offenbar im Zusammenhang mit Rentenbescheinigungen schien sie vor Jahren den Kontakt zur Onkel-Josef-Familie, die es nach der Vertreibung ins Oldenburgische verschlagen hatte, gesucht zu haben. So kam letztlich auch Vater zu ihrer Patschkauer Adresse. Die beiden hatten vereinbart, dass Anna ein Auto besorgt, um gemeinsam ins einige Kilometer entfernt gelegene Dörfchen Kosel zu gelangen. Am Treffpunkt Rathaus sind jedoch weder Anna noch das Auto (dessen Typ und Nummer sie Vater samt Handynummer des Fahrers in ihrem letzten Brief mitgeteilt hatte) zu entdecken. Und als ich das Fahrerhandy anzuwählen versuche, höre ich: „…the number you have called, is not valid...“. Vater wird sichtlich nervös. Sollte der letzte kleine Schritt zum Ort seiner frühen Kindheit nun nicht zu bewältigen sein? Ich schlage vor, Anna zu Hause aufzusuchen. Vielleicht ist sie krank geworden? Immerhin dürfte sie mindestens achtzig sein. Schweißtreibender Marsch an den Stadtrand, doch vergebens. Zurück zum Rathaus, mehrmals um den Altstadtring, hinauf zur Kirche: nichts, überall nichts. Also zum Hotel. Und als wir an der Rezeption gerade an das einzige offizielle Taxi Patschkaus heranzukommen versuchen, steht plötzlich Anna vor uns, hochrot. „Ach, entschuldigen bitte, entschuldigen, aber…“. Ja, der Fahrer hatte sie versetzt und sie hatte kurzfristig tatsächlich einen neuen aufgetrieben. So gelangen wir denn doch noch nach Kosel (Kozielno). Der Onkel-Josef-Hof erstreckt sich in schöner Hanglage im weiten Tal der Glatzer Neiße. Zu Vaters Erstaunen ragt unweit flussabwärts nun aber eine Staumauer auf und die alten Felder und Wiesen werden gerade geflutet. Vor dem Hof zwei Zuhältertypen bei ihren aufgemotzten Audis, Goldringe, Goldkettchen. Den einen erkennt Vater als Nachkomme der Polen, die den Hof einst übernahmen. Und auch der scheint sich an Vaters letzten Besuch noch zu erinnern. „Ah, Jankofsky!“ Der Hof, das Wohngebäude, die Stallungen, der Garten sind die absolute Kehrseite des Besitzer-Outfits: Unkraut, Modder, Schrott, Müll, Verfall. Landwirtschaft spielt hier mit Sicherheit längst keine Rolle mehr. Er gehe auf die Jagd, höre ich ihn, als könne er Gedanken lesen, radebrechen. Doch immerhin gestattet er auf Annas Nachfrage, dass wir nicht nur den Hof betreten, sondern auch auf den dahinter sanft ansteigenden verwilderten Schulberg (Vaters Rodel- und Pilzparadies) steigen dürfen, um einen besseren Überblick zu bekommen. Als sei dies jedoch die Grenze des Erfahrbaren, platzt jäh ein Wolkenbruch los. Flucht ins Auto. „Do wiedzenia!“ – „Do wiedzenia.“ Anna bittet uns inständig, mit zu ihr nach Hause zu kommen. Und kaum sitzen wir in ihrem Wohnzimmer, tafelt sie auch schon auf: Kaffee und Kuchen, Käse, Wurst, Tomaten, Brot. „Greifen zu, zugreifen bitte!“ Aus einem Schrank, der wie alles Mobiliar auch von den deutschen Vorbesitzern übernommen scheint, kramt sie eine Schachtel voller Fotos, zeigt ihre Familie, will wissen, wie es in Deutschland geht. Erst nach reichlich zwei Stunden können wir Anna verständlich machen, dass wir noch weiter wollen, deswegen ja auch der Fahrer (seltsamer junger Mann, versteht offenkundig nicht mal simpelste englische, geschweige denn deutsche Floskeln) stumm die ganze Zeit mit am Tische saß. Fahrt nach Kamitz (Kamienica), extrem lang gestrecktes Reihendorf im einstigen Dreiländereck Ober- und Niederschlesien/Sudetenland, wo Vater mit seinen Eltern und Geschwistern bis zur Vertreibung lebte. Vor ihrem frisch renovierten Wohnhaus erzählt Vater vom Blaubeerenpflücken auf der nahen Heidekoppe, aber auch, wie Ende Januar, Anfang Februar 1945 SS hier Auschwitz-Häftlinge durchtrieb. Erster, unkittbarer Riss in seinem jugendlichen Weltbild: Vor seinen Augen wurden erbärmlich erschöpfte Menschen verprügelt, erschlagen, erschossen. Staatsfeinde? Regimegegner? Nein, das war mit christlicher Erziehung nicht mehr vereinbar… Am Abend Konzert anlässlich der 750-Jahrfeier im Dom Kultury, dem ehemaligen Deutschen Haus. Klassik, versteht sich, doch dargeboten von erfreulich jungen Musikern mit oft originellen Ideen: Bachs h-Moll Messe beispielsweise mit Marimbaphon. Etwas deplatziert hingegen der Conferencier (beim Klassikkonzert!), der obendrein zu häufig Grand Prix de Eurovision geguckt zu haben schien. Anschließend Reden. Wohltuend, dass weder von deutscher noch von polnischer Seite nicht der leiseste Hauch von Vergeltung mitschwingt. Alles ist getragen vom Versuch des Ausgleichs, des Bemühens um Normalität. So sehr diese Stadt einst deutsch war, ist sie jetzt polnisch - wobei ihre noch lebenden einstigen Bewohner (ein polnischer Redner spricht von den „Nachkommen der Erbauer dieser Stadt“!) zum Bindeglied zwischen den Zeiten geworden scheinen. (Schon am ersten Tag war mir an der Kirche eine zweisprachige Gedenktafel aufgefallen: „Dem Gedenken/ der Toten derer,/ die bis 1945/ in Patschkau Wohnung/ und Heimat hatten. – Pamieci zmavlych/ dla klovych Paczków/ do 1945 v/ byl domen/ i mala ojczyzna.)“ Auch alle Pausen- und Tischgespräche mit alten Patschkauern (denen ich zugegeben mit recht gemischten Gefühlen entgegensah) laufen in ähnliche Richtung. Ich höre keinerlei revanchistische, von irgendwelchen offenen Rechnungen getragene Töne. Da schien es einen Schlussstrich samt konsequentem Neuanfang gegeben zu haben. Keine landsmannschaftlichen Tiraden, keine Sympathien für Brunnenvergiftereien der so genannten Preußischen Treuhand.

2009: Anfang des Sommers, als Hierzulande noch isländisches Klima herrschte, begann ich mich in die Welt der Sagas und der Edda einzulesen. Besser: mich dieser zu erinnern, zu vergegenwärtigen, denn nachdem mir in den Achtzigern ein Schnäppchenkauf gelungen war, ich die komplette Thule-Ausgabe der altisländischen Literatur äußerst günstig antiquarisch erwerben konnte, hatte ich all diese Bände nebst diverser Begleitliteratur auch komplett durchgelesen, nein, verschlungen, hatte mir Karteikarten, dann Karteikästen über germanische Mythologie angelegt, hatte Notizen, hatte Skizzen gemacht, hatte vor, diese (mich) so faszinierende Welt in ein Kinderbuch zu bringen. Mit der Wende änderte sich jedoch abrupt so manche Planung (sic!), und in den Neunzigern hatte ich weiß Gott anderes als Germanentum im Sinn. Anfang diesen Sommers, als Hierzulande noch isländisches Klima herrschte und ich gerade begann mich wieder in die Welt der Sagas und der Edda einzulesen, fragte mich ein Galerist, für den ich Kalendergeschichten geschrieben hatte und der absolut keine Ahnung von meinen aktuellen Planungen haben konnte, nein, weder von Urlaubs-, noch von Lektüre-, noch von Schreibplanungen, absolut nicht, fragte mich also ein Galerist, was ich von germanischer Mythologie halte. Ich dürfe das nicht falsch verstehen, bei ihm gebe es keinerlei völkischen oder dergleichen Hintergrund, aber diese Figuren, diese Geschichten, diese Metaphern, die kannte er bislang noch nicht, die habe er sich soeben zufällig erlesen, und das alles habe ihn wie ein Blitz getroffen, habe ihn im Innersten berührt. Damit habe er sich augenblicklich identifiziert, da sei in ihm sofort etwas mitgeschwungen, das hatte vom ersten Wort an irgendwie mit ihm zu tun, wie genetisch. Natürlich kenne und schätze er auch griechische oder biblische oder fernöstliche Mythologien, keine Frage, aber das hier sei etwas völlig anderes. Ob ich, als Schriftsteller, ihm das erklären könne? Nein, konnte ich nicht, zumal mich nunmehr und intensiv beschäftigte, warum er gerade jetzt und gerade mich das fragte, das konnte doch kein Zufall sein, oder? So was passiert doch nur in Kitsch-Romanen, so was von Koinzidenz ist seriösem Schreiben doch suspekt, so was tickt doch schon in Richtung Schizophrenie, oder? Ich konnte ihm aber sagen, dass ich ihn gut, dass ich ihn sehr gut verstehe, ja, sogar dass ich ähnlich empfinde – vielleicht weil ich aus Merseburg stamme, der alten Zauberspruch-Stadt, und wieder und wieder versuche meine Wurzeln zu fassen? Damit ist dieser Mann aus der Geschichte. Island. Selbstverständlich lag auch diese Trauminsel zu Zeiten, als mich Edda und Sagas zu bannen begannen, weit hinter dem Ende der mir real existierenden Welt. Und wer weiß, womöglich hätte ich mich Anfang diesen Sommers auch noch nicht wieder in die altisländische Literatur (und nun zudem in die moderne) hineingelesen, wäre Island noch nicht in den Fokus meiner konkreten Reiseplanungen geraten, wäre der Staat Island durch die Weltfinanzkrise nicht übel ins Schlingern geraten. Drohender Staatsbankrott, politische Turbulenzen, gewaltige Anlagenverluste, massive Währungsabwertung. Was dem eenen sin uhl… Plötzlich wurde bezahlbar, was bis dahin Luxus schien. Und so hoben wir, Jeanny und ich (natürlich auch voller Neugier auf die, schon in Filmen, auf Fotos, in Reiseprospekten einzigartig erscheinende Natur dieser Insel), denn Ende des Sommers ab gen Island.

2020: Heute Nachmittag besuche ich mal wieder (entsprechend der Corona-Vorschriften) meine Mutter im Pflegeheim. Sie liegt im Bett, schwach, dämmrig, erkennt mich wie schon seit Tagen offenbar nicht mehr (was nicht an der Maske, die ich tragen muss, liegt). Danach fahre ich nach Großkorbetha zum behandelnden Arzt. Der bestätigt mir, dass meine Mutter in die palliative Phase eingetreten ist, aber keine Schmerzen hat, nur immer schwächer wird, sich verbraucht hat. Wir stimmen ab, wie weiter zu verfahren ist, wenn es meiner Mutter noch schlechter gehen sollte.

 

Verlust

für

Neville Alexander / Max Black / Constantin Brunner / Bampfylde Moore Carew / Alice Coltrane / Jessica „Jessi“ Combs / Lope de Vega / Francisco de Zurbarán / Josquin Desprez / Martin Disler / W. E. B. Du Bois / Brian Samuel Epstein / Johanna Ey / Oscar Lorenzo Fernández / Adolf Grimme / Haile Selassie / Frank Harris / Horaz / Dawda Jawara / Petar Kočić / Ernest Orlando Lawrence / Le Corbusier / Niklaus Leuenberger / Anandamayi Ma / Erika Mann / Sergei Wladimirowitsch Michalkow / Robert Müller / Abie Nathan / Cesare Pavese / Peret / Jesse Pintado / Benno Pludra / Michel Rodange / Gail Russell / James Thomson / Tizian / Stephen „Stevie“ Ray Vaughan / Margaret Bourke-White

 

An diesem Tage spürten wir einen herben Verlust:

Merseburg, 1226 „ist groß gewäßer gewesen, daß die Sahl, Unstrut und andere waßer ausgetreten und großen schaden getahn“ / 1896 beginnt und endet der Britisch-Sansibarische Krieg, der kürzeste Krieg der Geschichte / Kamenez-Podolsk, Ukraine , 1941: SS-Truppen erschießen 23.600 Juden / 1955: schwere Unwetter in Mitteleuropa, allein in Norddeutschalnd kommen 12 Menschen ums Leben / China, 1993: Bruch des Gouhou-Dammes, mindestens 240 Todesopfer.

 

 

28. AUGUST

 

Meisterleistung

mit

John Betjeman / Charles Boyer / Edward Burne-Jones / Olga Costa / Antoine-Augustin Cournot / Robertson Davies / Albert Dietrich / Hermann Essig / Janet Frame / Umberto Giordano / Johann Wolfgang von Goethe / Ivor Bertie Gurney / Harro Harring / Boris Michailowitsch Hessen / Barbro Hiort af Ornäs / Godfrey Hounsfield / Kanō Motonobu / Jack Kirby / Louis Le Prince / Loïc Leferme / Robert Merle / Charles Wright Mills / Annemarie von Nathusius / Liam O’Flaherty / Andrei Platonowitsch Platonow / Hans Ralfs / Dmytro Jurijowytsch Sahul / Wladimir Grigorjewitsch Schuchow / Phillip William „Phil“ Seaman / Karl Simrock / Augustin Souchy / Julius Stinde / Arkadi Natanowitsch Strugazki / Juri Walentinowitsch Trifonow / Constant Troyon / Michael Tschechow / Karl Heinrich Ulrichs / Karl Michael Vogler / Rudolf Wagner-Régeny / Ernst Weiß / Gerda Johanna Werner / Bernard Wolfe / Daniel Zamudio Guerrero

 

Das kam uns meisterlich vor:

1789 entdeckt Wilhelm Herschel den Saturnmond Enceladus / Frankfurt am Main, 1949: Gründung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung / Berlin, Funkausstellung 1963. erste Präsentation einer Kompaktkassette und eines Kassettenrekorders.

 

Ich notierte:

1980: Ich sitze nachts allein in unserer Wohnung, das erste Mal wohl. Jeanny arbeitet seit heute im Werk, zwei Nachtschichten die Woche.

1988: Sonntag. Noch einmal herrliches Spätsommerwetter, aber der Sommer scheint vorbei. Da waren schon Tage wie im Herbst, die Abende sind merklich kürzer schon. Konnte man noch vor einem Monat bis neun, halb zehn im Hellen im Garten sitzen, wird es nun schon wieder gegen acht dämmrig. Wie stets, wenn etwas merklich vorbei ist, kommt in mir eine kleine Traurigkeit auf. Und ich muss Vorausblicken: fünf Wochen noch, dann muss alles geschafft sein, was ich mir selbst vorgenommen hatte. In fünf Wochen wird mein Schreiburlaub zu Ende sein.

2000: Am Morgen nach Halberstadt. Ich habe die Ehre in der gestern eingeweihten neuen Bibliothek die erste Lesung für Kinder durchzuführen. Ein beeindruckendes Haus, der Petershof, ehemaliger Bischofssitz, in 5 Etagen alte, hervorragend sanierte Gemäuer mit modernster Ausstattung. Gut, so etwas zu sehen und im Gewölbekeller sogar Kinder begeistern zu können. Von Halberstadt weiter nach Magdeburg, Vorstandssitzung der LKJ, diverse Abstimmungen, Planungen. Auf der Rückfahrt nehme ich Dieter Bähtz bis Halle mit. Gute Gelegenheit, um mal wieder ausführlich, wie dereinst im Künstlerhaus, miteinander zu plaudern.

2004: Ausflug nach Jauernig (Javornik), Freiwaldau (Jesenik), Ziegenhals (Gluchulazy), Neiße (Nysa) und Ottmachau (Otmuchów). Dass die ersten beiden Städte heute in Tschechien liegen, wird mir so recht erst bewusst, als der Bus nach wenigen Kilometern die Grenze passiert. In Vaters Kindheit und Jugend gab’s die hier nicht, problemlos konnte er sommers noch Radtouren durch die vor uns liegende Gebirgskette unternehmen, winters sich im Abfahrtslauf üben. Besichtigungen, Fußmärsche, Wartezeiten geben mir Gelegenheit, Details und Zusammenhänge unserer schlesischen Familiengeschichte nachzufragen und zusammen zu puzzeln.

Vater wurde 1930 als uneheliches Kind geboren und wuchs auf dem Hof seiner Großeltern und seines Onkels Josef in Kosel auf. Was für ein Stigma mag diese Geburt für seine Mutter Maria und ihn in jener Zeit, in einer erzkatholischen Gegend, in einem 300-Seelen-Nest gewesen sein! Sein Vater, ein Herr Sauter, war Fabrikant in Ratibor und in der Gegen vor allem dadurch aufgefallen, dass er im offenen Wagen mit jungen Damen zum Ottmachauer Stausee fuhr. Wie er Maria kennen lernte, kann Vater nur vermuten: Vielleicht (da Vater ein im September geborenes Sieben-Monats-Kind ist) beim alljährlichen Koseler Faschingsball? Oder bei einem Verwandtenbesuch in der Kreisstadt Neiße? Spekulation auch, ob er Maria geehelicht hätte, da er bereits Anfang der dreißiger Jahre bei einem Motorradunfall ums Leben kam. Immerhin soll er 10.000 Reichsmark auf einem Patschkauer Sperrkonto angelegt haben, damit sein Sohn später einmal versorgt sei… Acht Jahre nach Vaters Geburt lernte seine Mutter den Mann kennen, den ich als Kind für meinen leiblichen Großvater hielt, Gerhard Jankofsky, heiratete und zog zu ihm nach Oberpomsdorf, wo er als Inspektor auf der Domäne arbeitet. Viel weiß Vater nicht über die Herkunft Gerhards (bedauert sogar, seinerzeit nicht so nachgefragt zu haben, wie jetzt ich es tue…). Nur so viel: Gerhards Vater war Förster im Kreis Münsterberg und wurde wohl von einem Wilderer erschossen. Gerhard musste mit achtzehn als Soldat in den Ersten Weltkrieg ziehen, geriet in französische Kriegsgefangenschaft, studierte dann Landwirtschaft und begann eine Laufbahn als Gutsverwalter. In Oberpomsdorf kommen Vaters Brüder Klaus und Norbert auf die Welt. 1941 wurde Gerhard dann jedoch versetzt. Die Familie zog nach Petzenkirchen in Österreich. Hier wurde Vaters Schwester Marianne geboren. 1943 musste Gerhard aber neuerlich eine neue Dienststelle antreten, dieses Mal im so genannten General­gouvernement, in Polen also. Maria wollte mit den Kindern nicht allein in der Ferne bleiben, ging zurück nach Schlesien, fand Un­terkunft in Kamitz. Vater besuchte nun das Patschkauer Gymnasium. Ende 1944 war schließlich auch diese Episode zu Ende. Die Schule wurde ge­schlossen, alle Schüler mussten zum Volkssturm. Vater hatte das Inventar ausgewählter Patschkauer Geschäfte zu verpacken und gen Westen zu verschicken. Was das bedeutete, sei ihm damals nicht klar gewesen, sagt er. Und als sein Volkssturmtrupp eines Frühlingstags Richtung Front durch Kamitz marschierte und Vater sagte: „Da drüben wohnen wir!“, habe ihr Feldwebel geschnauzt: „Dann aber ab, Jingla, heim zu Muttern, los, los!“. Am liebsten hätte er sich da noch dagegen gesträubt, bald aber wusste er, dass ihm dieser alte Haudegen möglicherweise das Leben gerettet hatte, kamen doch längst nicht alle Volkssturmjungs heil heim, wenn überhaupt…

Nach dem Einmarsch der Roten Armee musste die Familie aus dem Haus, treckte aber nicht allzu weit fort, nur bis ins niederschlesische Plottnitz, hielt sich doch das Gerücht, dass Polen nur Ober-, nicht aber Niederschlesien zugeschlagen bekäme. Und als nach Tagen klar wurde, dass noch immer keine Polen nach Kamitz gekommen waren, kehrte man einfach zurück. Dieser Scheinfrieden währte jedoch nur bis Juni. Dann mussten sie morgens um vier bin­nen einer Stunde das Haus verlassen haben, wurden in der Kamitzer Schule interniert, hatten den Sommer über die Ernte mit einzubringen. Und Anfang September 1945 dann der letzte Akt der Austreibung: Auf dem Patschkauer Bahnhof mussten die Jankofskys mit vielen anderen Familien Viehwaggongs besteigen. Vierzehntägige Irrfahrt, Ankunft in Görlitz, Unterbringung im Auffanglager alte Weberei Niederoderwitz, im November weiter nach Mitteldeutschland, ins Lager Hettstedt. Hier hörten sie Anfang 1946, dass Arbeitskräfte für die Merseburger Königsmühle gesucht würden. Königsmühle, das klang nach Mehl, nach Brot, klang nach einer Chance für einen studierten Landwirt! Hätte es die Jankofskys auch nach Merseburg, meine Vaterstadt, verschlagen, wenn sie gewusst hätten, dass es sich um eine Papierfabrik handelte? Wie auch immer. Zwischenstopp in Merseburg, eine Woche im Bunker Bahnhofstraße, dann ins vormalige E-Lager Zöschen, Zwangsentlausung. Zu guter Letzt, am 8. Februar 1946, bezog die Familie die Wohnung in Friedensdorf (das damals noch Kriegsdorf hieß), wo ich Jahre darauf meine Großeltern väterlicherseits kennen lernen sollte, die ich für ihr angestammtes Zuhause hielt. Am 11. Februar traten mein Vater und sein Vater ihre Arbeit in der Königsmühle an. Und tagtäglich führt ihr Weg nun an dem Haus vorbei, in dem meine Mutter seit ihrer Geburt wohnte, die schweren Bombardements Merseburgs überlebt hatte… Genug der Zufälle.

Zurück in Patschkau. Vater und ich gehen zum Schlesischen Abend. Das ist nun gewiss nicht mein Ding, doch wie gesagt, wenn schon, denn schon… Und ich bin erstaunt, wie die etwa 150 Reiseteilnehmer sich im Saal de facto selbst unterhalten. Jemand stimmt ein schlesisches Lied an, ein jeder greift zu den zuvor aus­geteilten Liederbüchern und alles singt inbrünstig mit. Vater macht mich auf eine hochinteressante Besonderheit aufmerksam: In einem der Lieder müsste es heißen: „…Riesengebirge, deutsches Gebirge…“, man singt aber „…Riesengebirge, schönes Gebirge…“ – so weit also geht die Rücksichtnahme auf etwaige polnische Empfindlichkeiten. Respekt. Zwischen den Liedern wird auf der Bühne des Dom Kultury immer mal wieder in schlesischer Mundart vorgetragen. Dabei wird mir allmählich bewusst, dass ich hier mit hoher Wahrscheinlichkeit ein aussterbendes Idiom zu hören bekomme. Oder sollte ich als Angehöriger der ersten „Nach-Vertriebenen-Generation“ diese Mundart erlernen? Doch von wem? Vater kann’s offenbar auch schon nicht mehr so richtig. Und wann und wo und weshalb schlesisch sprechen? Spät am Abend erlebt Vater dann noch ein unerwartetes Wiederse­hen. Da unsere Namen auf der offiziellen Teilnehmerlist stehen, fragt ein Herr die Organisatoren, wer die Jankofskys seien. Und so steht Vater plötzlich Rudolf, seinem besten Freund aus Kindheitstagen gegenüber, der ihm sofort erzählt, wie er ihm nach dem Umzug nach Österreich Briefe schrieb, zu Vaters Verblüffung sogar noch die genaue Petzenkirchner Adresse weiß. Vater hingegen schien Rudolf völlig ausgeblendet zu haben. Umso größer die Wiedersehensfreude.

„Weißt du noch, wie wir immer im Steinbruch spielten?“

„Ja, und immer die Kinderwagen dabei, da wir auf unsere jüngeren Geschwister aufpassen mussten.“

Zwei Mittsiebziger, die sich für fast 65 Jahre aus den Augen verloren hatten…

 

Marginalisierung

für

Clara Arnheim / Jean Arnolds / Augustinus von Hippo / Chadwick Boseman / Isidor Caro / Hans Clarin / Glenn Cornick / Mireille Darc / Michael Ende / Shulamith Firestone / Juan Gabriel / Ruth Gordon / Herbert Paul Grice / Peter Hacks / Anton Hallmann / Rudolf Herrnstadt / Guy Hocquenghem / Leigh Hunt / John Huston / Zygmunt Zenon Idzikowski / K’inich Janaab Pakal I. / Julius Leopold Frederik Krohn / Paulo Machava / Bohuslav Martinů / Hermann Misch / Eilhard Mitscherlich / Yoel Racah / Théo Sarapo / Friedrich Schrader / Robert Archibald Shaw / Bernard Silver / Elisabetta Sirani / Emmett Louis Till / Francisco Umbral / Willy Vandersteen / Hugo Vogel / Robert Walker / Mario Witt Fritz Wotruba

 

Da meinten wir, alles würde nichtig:

1867 annektieren die USA die Midway-Inseln / 1924: Beginn des August-Aufstandes in Georgien, nach dessen Niederschlagung bis zu 7.000 Aufständische von Sowjets erschossen werden / 1941; Beginn der Zwangsumsiedlung von Wolga-Deutschen nach Sibirien und Kamtschatka / Mexiko, 1973: Erdbeben, 1.200 kommen ums Leben / Ramstein, 1988: Flugschau-Katastrophe, 70 Todesopfer, mehr als 500 Verletzte.

 

 

29. AUGUST

 

Happy End

mit

Aleijadinho / Iris Apfel / Richard Attenborough / Ingrid Bergman / Sybille Bergemann / Aimé Bonpland / Olof von Dalin / Agnethe Davidsen / Werner Forßmann / William Friedkin / Peter Fröhlich / Gary Gabelich / Hermann Paul Werner Gäbler / Karel Hlaváček / Jean-Auguste-Dominique Ingres / Michael Joseph Jackson / Gottfried John / Ernst Kreuder / Hedwig Lachmann / John Leech / John Locke / Hermann Löns / Maurice Maeterlinck / Sterling Morrison / Çingiz Mustafayev / Wilhelm zur Nieden / Hermann Nitsch / Janus Pannonius / Charlie „Bird“ Parker / Philipp von Frankreich / Salomon Reinach / Paul Robert Schneider / Hans-Georg Sehrt / Georg Friedrich Treitschke / Dinah Washington / Ehm Welk / Johann Just Winckelmann

 

An diesem Tag glaubten wir an ein Happy End:

Heidelberg, 1751: Fertigstellung des größten Weinfasses der Welt / Nanking, 1842: Ende des Ersten Opiumkrieges zwischen Großbritannien und China / 1885 erhält Gottlieb Daimler das Patent für seinen „Reitwagen“, den Prototyp des Motorrads / 1893: US-Patent für den Reißverschluss / Basel, 1897: Beginn des ersten Zionistischen Weltkongresses / Leipzig, 1924: Gründung der Büchergilde Gutenberg / 1944: Beginn des slowakischen Nationalaufstandes gegen das deutschfreundliche Tisos-Regime / Darmstadt, 1982: Erste Erzeugung des Elements Meitnerium / 1997: Gründung von Netflix.

 

Ich notierte:

2000: Büro, dann diverse Termine: Abstimmung mit Claus Kämmerer in der Leunaer Galerie zur Vorbereitung der Novembertau-Premiere, Abstimmung mit Frau Gaudig, der Spergauer Schulleiterin, zur Weiterführung des Leseprojektes, Abstimmung mit Wolfgang Fritz im Regierungspräsidium Halle über Projekte fürs nächste Jahr, Abstimmung mit Anette Wunderlich im Kreativ Büro über Aktuelles, Abstimmung mit Konrad über das Zeitzeugen-Projekt und vieles andere, Abstimmungen über das bevorstehende Bödecker-Jubliäum und über den Sachsen-Anhalt-Tag... Am späten Nachmittag wieder zu Hause, diverse Telefonate, weitere Abstimmungen, ein langer Arbeitstag eben.

2003: Um 3,4°C soll jeder Tag dieses Sommers durchschnittlich zu warm gewesen sein, somit war dies der wärmste Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, sagen Statistiker (heute, da das Wetter mies wird). Wenn dieser Sommer ein sicheres Zeichen für die bevorstehende Klimakatastrophe gewesen sein soll, war er doch unglaublich schön.

2004: Patschkau: Festgottesdienst, dreisprachig. Polen und Deutsche, klar - aber es reisten wohl vorbereitet auch etliche Tschechen an. Der die Messe zelebrierende Bischof aus Opole wird hofiert, als wäre er der Papst. Fanfaren beim Einmarsch etc. pp.! Überhaupt hat die Musike einige Besonderheiten zu bieten: neben Orgel und Chor schrammelt auch eine Blaskapelle von der Empore. Und am Ende wird dann nicht nur gemeinsam gesungen, sondern sogar geschunkelt. Fehlt eigentlich nur noch Carolin Reiber. Nach der Messe Agape im Kirchhof, gemeinsames Brotbrechen und Weintrinken. Wein ist aber Büchsenbier und für die Deutschen gibt’s sicherheitshalber auch noch polnische Würstchen…

Dann sind wir mit Rudolf verabredet, der uns nach Oberpomsdorf (Pomianów Górny) fährt, wo er und Vater glückliche Tage ihrer Kindheit erlebten. Rundgang durch das idyllisch gelegene, jedoch arg vom Verfall gezeichnete Dorf. Insbesondere der weitläufige Gutshof, wo mein Großvater ja Inspektor war, ist nur noch Ruine. Brauchte man auch solche landwirtschaftlichen Strukturen nicht mehr? Die beiden alten Männer tauchen aber schnell in ihre Kindheit hinab, erzählen sich lachend Anekdoten über Anekdoten. Der eine kann sich an dies erinnern, der andere an das. Mir wird einmal mehr deutlich, wie sehr sich Zufälligkeiten zu Schicksal verdichteten: Rudolf wurde, da er gut ein Jahr älter ist als Vater, noch Soldat, geriet in russische Kriegsgefangenschaft, kam erst 1950 frei. Seine Familie wurde aus einem anderen Dorf als die Jankofskys und zu anderer Zeit vertrieben, das hieß andere Transportroute, anderer Ort des Ankommens (hier Bremerhaven), völlig anderer Neuanfang und weiterer Lebensweg. Im Laufe des Tages habe ich immer wieder interessante Gespräche mit höchst unterschiedlichen Reiseteilnehmern, vom pensionierten Handwerker bis zum emeritierten Professor. Und fürchtete ich irgendwo immer noch leise, an Leute zu geraten, die die alten Zeiten und die alte Heimat wiederhaben wollten, höre ich nichts derglei­chen. Im Gegenteil. Einhellige Meinung scheint zu sein, dass es gut ist, wieder ganz selbstverständlich hierher kommen zu können und freundlich empfangen und respektvoll behandelt zu werden. Nicht wenige scheinen ihre Polen sogar tatkräftig zu unterstützen, Care-Pakete und ähnliches. Eine Frau präsentiert am Abend stolz ein Gemälde, Stadtansicht Patschkau, das ihr heute geschenkt wurde. Sie war von der polnischen Familie eingeladen, die nun in ihrem Vaterhaus wohnt, wurde herzlich bewirtet. Und man hatte sogar einen Dolmetscher besorgt, um sich ausführlich und bestmöglich verständigen zu können. Ausgeräumt am Ende womöglich letzte Zweifel, ob die Deutschen noch Besitzansprüche hätten. Geste des Gemäldeschenkens…

2009: Landung in Keflavik gegen Mitternacht. 5° C (25 weniger als daheeme). Übernahme des Mietwagens, knapp 50 Kilometer über gut ausgebaute Straßen ins Zentrum der isländischen Hauptstadt. Und schließlich finden wir sogar unser Hotel. Halb drei. Koffer fallen lassen. Schlafen. Frühstück (recht ordentlich, im Gegensatz zur nächtlichen Null-Diät bei der offenbar krisengebeutelten Icelandair, nicht mal ein Wasser gab’s kostenfrei!), und auf zur „Heiligen Stätte“ des Landes, dem Thingvellir.

Hinter Mosfellsbaer kurzer Zwischenstopp an Laxness’ Haus. Referenz! Foto vor seinem alten Wagen (muss sein, als Vehikel zwischen unseren Orten, den Zeiten viel mehr…). Und dann also der grandiose Ort des isländischen Althings an der Mündung des Flüsschens Oxará in den See Thingvallavatn, wo die amerikanische und die europäische Erdplatte schaurig-schön aufeinander treffen. Ragnarök lässt grüßen. Thingvellir: Ende des 9. Jahrhunderts begann die Besiedlung der bis dahin so gut wie unbewohnten Insel vor allem durch Norweger, die Landnahme, die mit der ersten Einberufung des Althings nach Thingvellir im Jahre 930 als abgeschlossen gilt. Hier wurden Gesetze diskutiert und beschlossen und es wurde Recht gesprochen. Die 36 (später 39) weltlichen und geistlichen Amtmänner des Landes, die Goden, und deren Gefolgsleute nahmen jährlich, Ende Juni, Anfang Juli, am Althing teil. Auch wenn der isländische Freistaat später über Jahrhunderte unter Fremdherrschaft geriet, blieb das Althing als Gesetzt gebende Versammlung doch bestehen, wurde nur im 19. Jahrhundert nach Reykjavik verlegt und modernisiert. Somit ist das Althing das älteste ununterbrochen agierende Parlament der Erde!

Weiter mit Natur pur, will sagen: wie aus der Schöpfungsgeschichte (welcher auch immer). Zuerst der Geysir, der allen anderen heißen Springquellen der Welt den Namen gab, dann der wahrhaft wunderbare Kaskadenwasserfall Gulfoss, später ein weiterer Wasserfall, der Skógarfoss, mit Regenbogen und Goldschimmer, so dass die Legende, hier sei ein Schatz versteckt, ziemlich glaubhaft erscheint. Zu guter Letzt Kap Dyhorlaey, Lavafels-Formation, Meer umgischtet, und eigentlich sollte es hier von isländischen „Nationalvögeln“, von Papageientauchern, nur so wimmeln. Leider lässt sich nicht einer blicken, dennoch ist’s auch hier urwüchsig schön. Dazu wunderbares Wetter, Sonnenschein, auf Island für Ende August ungewöhnliche 19° C… Und zwischen all der Natur auch reichlich Kultur: Der alte isländische Bischofssitz Skalholt, errichtet 1056, vom 11. bis zum 18. Jahrhundert Zentrum der isländischen Geisteskultur, nunmehr noch eine neue, einsame Kirche vor säuberlich frei gelegten alten Fundamenten. Gut, dass in meiner Vaterstadt Merseburg, die vor 1000 Jahren in Deutschland eine vergleichbare Bedeutung hatte, wenigstens noch ein bisschen mehr zu sehen ist aus jener Zeit, neuerdings sogar wieder die altehrwürdigen Zaubersprüche gebührend zu bewundern sind.

Mit Hlidaraendi erreichen wir einen Ort, der in der wohl bekanntesten Saga, der Saga vom weisen Njal, immer wieder eine Rolle spielt. In Hlidaraendi hatte Gunnar, der beste Freund Njals, sein Gehöft, hier kam Gunnar schließlich um, da ihm seine Frau, die ihm eine Kränkung nie verziehen hatte, im entscheidenden Moment nicht half. Auch Njal wurde am Ende in seinem, unweit von hier gelegenem Hof, in Bergthórsvol, umgebracht, Mordbrand. Grausam mahnende Stories aus den Zeiten des Übergangs vom Heiden- zum Christentum. (Fußnote: Das Althing kannte anfangs die Todesstrafe nicht, sprach härtestenfalls mehrjährige Verbannungen aus, womöglich um Blutrache-Kreisläufe zu brechen…) Weltliteratur aus dem Mittelalter, einzigartig und mir sehr modern vorkommend.  Lange Zeit glaubten die Isländer, dass die Sagas Chroniken seien, alles so geschehen war, wie es die Skalden, die Saga-Dichter, schrieben. Sie verwendeten jedoch eine hochinteressante (und mir sehr nahe stehende) Methode: nahmen reale Orte und Ereignisse, zogen gezielt Edda-Geschehen ein und ordneten alles geschickt, so, dass Sinn übermittelt werden konnte. Genialer Kunstgriff! Am Abend sitzen wir nach Lachsgenüssen im Hot Tub unseres heutigen Hotels: angenehm entspannendes, schweflig riechendes, warmes Untergrundwasser (fast wie im Geysir…).

2019: Nördlich Berlins, nahe Oberkrämer, schwebt mir ein beängstigendes Etwas entgegen. Ich denke zuerst an ein Flugzeug, Leichtflugzeug vielleicht, vom Airport Tegel, erkennen dann jedoch Vogelkonturen, ja, einen Vogel – doch was für ein Trumm! Ein Adler? Hm, das könnte, das könnte tatsächlich der Bundesadler aus dem Reichstag sein. Immerhin ist dort Sommerpause. Oder mehr?

2021: Scheußliches Wetter, Regen, 15°C. Seit langem höre ich mal wieder „Pain of Salvation“. Interessanter Titel-Gedanke: „I am where I like to hide“.

2023: Am Nachmittag erscheint endlich ein Handwerker, um das Rolleau unserer Gartentür, die im letzten November kaputtgegangen war, zu reparieren. Nach einem Vierteljahr also – soviel zur Handwerkersituation in Deutschland…

 

Am Abend kommt mal wieder mein Freund und Lektor André zu Besuch. Er hatte sich zu Jahresbeginn eine Auszeit genommen, wollte versuchen, seinen Gesundheitszustand zu verbessern, abzunehmen vor allem. Nun gut, neun Kilo, sagt er. Aber wir haben vor allem die Drucklegung von „Figuricon“ und der beiden nächsten Walter-Bauer-Bände zu besprechen.

 

Horror

für

Lale Andersen / Ed Asner / Adele Baumann-Seyd / Ingrid Bergman / Ron Bushy / Louis Couperin / Max Dauthenday /  Cristóvão da Gama / Éamon de Valera / Nahum Goldmann / Pierre-Félix Guattari / Ulrich von Hutten / Frigyes Karinthy / Habil Kılıç / Charlbi Dean Kriek / Béla Kun / Morten Nielsen / Lee Marvin / Nicholas „Nick” Piantanida / Siegfried Pitschmann / Jimmy Reed / Kurt von Rohrscheidt / Georges Sorel / Uli Stein / Thomas Strittmatter / Hans-Christian Ströbele / Paul Taylor / Focko Ukena / Gene Wilder / Jaroslav Žák

 

Das hielten wir für blanken Horror:

Oshima-Oshima, Japan, 1741: Tsunami nach einem Vulkanausbruch, mehr als 1.600 Todesopfer / 1756: Beginn des Siebenjährigen Krieges / Solent, 1782: das britische Linienschiff „Royal George“ kentert und sinkt, bis zu 950 Menschen ertrinken / 1907: Einsturz der Québec-Brücke über den Sankt-Lorenz-Strom, 75 Bauarbeiter sterben / Semipalatinsk, 1949: die Sowjetunion zündet ihre erste Atombombe / Aachen, 1985: Amokfahrt, fünf Tote / Spitzbergen, 1995: eine Tu-154 prallt gegen eine Berg, alle 141 Insassen kommen ums Leben / Nadschaf, 2003: Autobombenanschlag, mehr als 100 Todesopfer / New Orleans, 2005: Sturmflut durch den Hurrican „Katrina“, mehr als 1.000 Menschen kommen infolge ums Leben.

 

 

30. AUGUST

 

Orgeln

mit

Josef Ahrer / Georg Graf von Arco / Johann Georg Benda / Antonio da Corregio / Virginie Déjazet / Leonor Fini / McKinley Howard „Kenny“ Dorham / Théophile Gautier / Paul Goesch / Gary Ivan Gordon / Alexandra Griepenberg / Fred Hampton / Max Hodann / Alfred Huth / Bodil Ipsen / Adam Kuckhoff / Friedrich Ladegast / Isaak Iljitsch Lewitan / Lin Zexu / Bruce McLaren / Julius von Minutoli / Jiří Orten / John Phillips / Anna Stepanowna Politkowskaja / Friedrich Ratzel / Ernest Rutherford / Johann Schwarz / Mary Wollstonecraft Shelley / Rauli „Badding“ Somerjoki / Georgios Sphrantzes / Andrew Thorndike / Theo van Doesburg / Jacobus Henricus van’t Hoff / Julian Alden Weir

 

Da ließen wir’s jubilieren:

1835 entsteht Melbourne / 1973: Entdeckung von Franz-Josef-Land / Hongkong, 1945: Ende der japanischen Besetzung / 1963: Installation des „Roten Telefons“ zwischen Moskau und Washington / 2021: das letzte US-Militärflugzeug verlässt Afghanistan nach 20jähriger Kriegsbeteiligung.

 

Ich notierte:

1981: Die Lola antworte in Fassbenders gleichnamigen Film auf die Frage, ob sie denn in einer Welt voller Korruption leben wolle, ihr Problem sei eher, dass man sie nicht richtig mitmachen lasse…

1982: Wieder zwei Tage vertan, nicht vorangekommen. Mit Jeanny in Wismar bei Martin. Auch alle anderen Geschwister Jeannys waren da: Emil, Evi, die ewig gleichen Gespräche, tote Zeit, Langeweile, also trinken. Dann laufe ich durch die Stadt, sitze am Hafen…

2000: Am Nachmittag in die Kreissparkasse zur Redaktionssitzung für die Chronik. Die Damen haben einige Änderungswünsche. Nun gut. Weiter zum Heimatverein Leuna, an dessen Tagungen ich schon eine Weile nicht mehr teilgenommen hatte. Man freut sich. Abend zur Generalprobe für die Eröffnung der neuen Jahrhunderthalle in Spergau. Jürgen, der Bürgermeister hatte mich gebeten „mal vorbeizuschauen“. Beeindruckendes Bauwerk, was da aus dem Boden gestampft wurde. Und das Programm scheint auch interessant. Klar, dass mir der Beitrag der Tanzmäuse am besten gefällt, schließlich zeichnen dafür Cathi und Jeanny verantwortlich und Mine tanzt auch mit...

2004: Ausflug nach Wartha (Bardo), Glatz (Klodzko), Landeck (Ladek Zdrój) und Reichenstein (Zloty Stok). Gelegenheit, sich auch immer mal wieder mit dem Mann zu unterhalten, der diese ganze Reise, all diese An- und Einsichten, all diese Begegnungen erst ermöglichte: Vaters Klassenkamerad Leo. Sein beharrliches Engagement baute die Beziehungen zu den Paczkówern allmählich auf. Er gründete einen Patschkauer Heimatverein, gibt regelmäßig eine Patschkauer Heimatzeitung heraus, regte die Städtepartnerschaft Einbeck-Paczków an und und und… Im Gespräch mit Leo begreife ich, wie sehr das, was ich hier erlebe, wie diese speziellen Ausgleichsbemühungen, vom geschickten Wirken dieses einen Mannes abhängen. Und als Leo mich fragt, ob ich für seine Heimatzeitung schreiben, mir vielleicht sogar vorstellen könnte, diese eines Tages weiterzuführen, wird mir klar, dass das Engagement der Vertriebenengeneration in absehbarer Zukunft verblassen wird. Und wie es dann weitergeht, dürfte von Glücksfällen abhängen, in den Sternen stehen… Selbstverständlich sage ich Leo einen Artikel zu, mehr wäre aber schlichtweg unseriös, wäre unfair, unverantwortlich, nein, mehr geht für mich natürlich nicht. Und selbst wenn mein Zeitfonds es erlauben würde, fehlten mir die Bezüge, fehlte mir der Urgrund des Engagements, wäre das Ganze letztlich nichts als ein Job. Nein, das sollte es nicht sein. Wie gesagt, dass ich überhaupt bei dieser Reise dabei war, hatte weniger mit landsmannschaftlichen, denn mit familiären Beweggründen zu tun, war höchst privat. Wobei mir aber gerade diese Reise verdeutlichte, wie sehr meine Familiengeschichte das Ergebnis großer Geschichte, von den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts nicht zu trennen ist. Ob das Engagement anderer der wenigen hier mitreisender Söhne oder Töchter womöglich eines Tages weiter geht? Schwer zu sagen, doch wohl eher nicht.

2008: Banja Luka / Zmijanje. Vorm Kunstmuseum, dem alten habsburgischen Bahnhof, blasen Zigeuner morgens für eine Hochzeit auf. Im Gewimmel der Kočić-Korida (Bullenreiten in memoriam ihrer Dichter-Ikone – sic!), reicht mir ein Alter seinen Flachmann und radebrecht, kaum dass er hört, dass ich Deutscher bin: er sei im Lager gewesen, damals, dort… „Komm! Trinken!“ Vorbei Beim Spanferkelessen singt das Damenkränzchen am Nachbartisch inbrünstig Volkslieder. Unwetter wirbelt Unrat hoch, sage ein Sprichwort, sagt der Festivaldirektor, deshalb habe er nach dem Kriege eine antinationalistische Partei gegründet. Der Bürgermeister stößt mit mir aufs Wohl der Poesie an. Ein graumähniger Kollege erzählt, wie er neulich im Stadtpark eine Nackte fotografierte. Am Abend lesen wir live im TV. Trotzdem frage ich mich, warum ich mich hier so ungemein wohl fühle.

2009: Island. Geradenwegs durch schier unendliche Lava-Felder, hier wird urgewaltige Zerstörungskraft deutlich, ja, überdeutlich – da hie und da Schilder in den heutigen Mondlandschaften längst verwüstete und eigentlich nicht mehr aufzufindende Stätten der Siedlungsgeschichte markieren: ein altes Benediktinerkloster – nur noch Parkplatz mit Erklärungstafel inmitten schwarzer Sandereinöde, eines der ersten nach der Landnahme aufgebauten Gehöfte – nur noch kleine, von Vorbeikommenden zum Glücksbringen errichtete Steinpyramiden… und den längst aufgelassenen Friedhof einer alten Siedlung betritt man durch den noch einsam stehenden Türpfosten der zugehörigen Kirche. Ein Rabe krächzt dabei über uns – würde mich nicht wundern, wenn’s Hugin oder Munin wäre, einer von Odins Raben. Wie klein (in mehrfacher Hinsicht) kommt man sich hier inmitten dieser weiten, lebensfeindlichen Einöden vor, im Hintergrund stets die drohenden Vulkane, dann die Gletscher… Halt am größten Europas, dem Vatnajökull, wohl so groß wie Korsika, unglaublich. Von der Küste aus sind natürlich nur die bis in die Sanderebenen herunter reichenden Gletscherzungen zu erkennen, doch schon die erzeugen Ehrfurcht, erzeugen Demut. Allein dieser Eishauch bei strahlendem Sonnenschein, wenn man sich im Skaftafell-Nationalpark per pedes einer dieser Gletscherzungen nähert…  Und dann erst die Gletscherlagune Jökulsárlon: hier kalben sogar Eisberge, ziehen gemächlich gen Meer. Wir nutzen das Angebot, mit einem Amphibienfahrzeug diesen Eisbergsee zu befahren, bestaunen die bizarren Formationen in Weiß, Blau, Schwarz, ja, manche Eisberge sind deutlich von Lava-Aschen gezeichnet. Und schließlich angelt die Bootsführerin sogar einen glasklaren Klumpen aus dem Wasser, zerteilt ihn und lässt uns kosten – etwa 1.500 Jahre altes Eis zerschmilzt in meinem Mund! Köstlich ist für diese Empfindung nicht das richtige Wort. Am nächsten käme wohl eine Umschreibung (selbst auf die Gefahr hin, blasphemisch zu sein) mit der Hostienaufnahme während der Kommunion… Am späten Nachmittag erreichen wir Höfn, verschlafenes Nest mit malerischem Hafen. Unser Hotel steht weit außerhalb, inmitten von Feuchtwiesen, leider kein Hot Tub, und hat außer zwei Betten auch sonst nichts zu bieten, nun gut, immerhin die. Spürbare Naturgewalt macht genügsam, nein, gefügig, will sagen: Ich kippe zwei, drei Brandivin (Islands Nationalschnaps), bei Laxness immer mal wieder als „Schwarzer Tod“ vorkommend. Wohlsein!

2012: Entgegen den Ratschlägen meiner Frau und der Mahnung eines Botschaftsrates (der mir bei der Buchpremiere sagte, dass wir uns praktisch in Niemandsland begeben und die Aseris mich zur persona non grata erklären könnten, ich ergo zeitlebens nicht mehr nach Aserbaidschan einreisen dürfte, da ich illegal ins Land gekommen sei) sitze ich mit meinen Schriftstellerkollegen Levon Ananyan, Vahram Yegiazaryan und André Schinkel im Auto und fahre von Jerewan nach Stepanakert, der Hauptstadt Bergkarabachs. Vierspurige Ausfallstraße, zur Rechten lange Zeit der gewaltige Gebirgsstock des Ararat, dann wird’s zweispurig und kurvig, und nach dem Abzweig zur geschlossenen Grenze nach Nachitschevan geht’s links ab ins Gebirge. Zwischenstopp an der Gedenkstätte für den großen armenischen Dichter Paruyr Sevak, der 1971 siebenundvierzigjährig unweit von hier bei einem Autounfall ums Leben kam, auf eben dieser Straße. Oberhalb seines Wohnhauses nun ein Museum, Lesesaal mit Fresken, kleine Sevak-Bibliothek, weiter unten am Hang ein imposanter Gedenkstein. Und von einem großen Walnussbaum, den Sevak selbst gepflanzt haben soll, pflücke ich mir eine schöne Frucht. Der Direktor der Gedenkstätte lädt uns spontan in sein Haus ein, besser: auf seinen Bauernhof. Und schon steht der Tisch im staatlichem Herrenzimmer voll: Matsoun (eine Art Joghurt) mit selbst gemachtem Honig, selbst gemachter Ziegenkäse, köstlich frische Melonen aus dem Hausgarten und selbstredend: armenischer Cognac aus einem kleinen Fässchen… Weiter geht’s. Auffällig die zahlreichen Autos mit iranischem Kennzeichen, Schwerlaster und Tanker vor allem,. Über diesen Transitweg also scheint das Binnenland Armenien mit seinen geschlossenen Grenzen zur Türkei und zu Aserbaidschan und seinen beiden offenen, doch abenteuerlichen Hochgebirgsgrenzübergängen zu Georgien einen Großteil seiner Versorgung abzuwickeln. Nach 225 Kilometern erreichen wir Goris, letzte armenische Stadt vor der einstigen Grenze zu Aserbaidschan. Nicht verwunderlich, dass es hier reichlich Militär gibt, auch schon mal Panzer über die Straße rollen. Und dann geht’s hinunter in den Landstreifen, den Aserbaidschan im Krieg an Armenien verlor und der nun de facto Bergkarabach zugeschlagen scheint, und nach einer Alibi-Grenzstation mit den Flaggen Armeniens und Bergkarabachs hinauf zur eigentlichen Republik Bergkarabach, landessprachlich: Artsakh - schier endlose Serpentinen der erst nach dem Krieg mit Spenden von im Ausland lebenden Armeniern gebauten Straße. Wie bloß kam man davor hier hinauf? Wir stoppen in Shushi, eine der am meist umkämpften Städte gelegen auf einem kleinen, festungsähnlichen Hochplateau (sogar der berüchtigte Tschetschene Schamil Bassajew focht hier an der Seite der Aseris), besichtigen die restaurierte Kathedrale, sehen aber auch noch diverse Ruinen und am Ortsausgang den ersten armenischen T72-Panzer, der hier heraufrollte - als Denkmal. Und schließlich erreichen wir nach insgesamt etwa 320 Fahrkilometern in einem weiten Talkessel Stepanakert. Alles wie geleckt, Hotel am großen zentralen Platz gleich neben dem neuen Parlamentsgebäude vom Feinsten, riesiges Zimmer, rote Samtvorhänge. Ich hatte mir schon gedacht, dass diese Stadt und vor allem das Zentrum ein Vorzeige-, ein Prestigeobjekt sein soll – schau her Welt, was wir Karabacher alles leisten können! – bin also nicht sonderlich überrascht, genieße meine Marmordusche nach der mehr als achtstündigen Fahrt bei Gluthitze. Zum Abendessen lädt der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes Bergkarabachs, Vartan Hakobyan, ein. Wohlsein! Kleiner nächtlicher Verdauungsspaziergang danach. Der etwa 500 Meter lange und 100 Meter breite zentrale Platz ist schon für den in drei Tagen zu feiernden 21. Tag der Unabhängigkeit geschmückt und beflaggt, Bühne und Tribünen sind aufgebaut. Schon heute Abend (oder so wie jeden Abend hier?) flaniert man in Scharen über den Platz, meist zu zweit, meist zwei Jungen, zwei Mädchen, und stets von einem Ende des Platzes, kehrt, zum anderen, kehrt… Bei den Mädchen scheint gerade die Amy-Winehouse-Frisur angekommen, auffällig viele stolzieren mit diesen turmhohen Haargebilden umher. In einem nahen Park spielt wie in besten Sowjetzeiten ein Estradenorchester, alle Bänke besetzt: Mütter, Kinder und wiederum Jugendliche vor allem. Und wenn ich es des Nachts richtig sehe, sind alle, den großen Platz flankierenden stattlichen Gebäude Neubauten, schien hier kein Stein auf dem anderen geblieben zu sein. Männer trinken in Gruppen palavernd nicht Bier, sondern Tee. Im Hotelfernsehen neben armenischen fast ausschließlich russische Programme. Schau an.

2020: In diesem Jahr waren noch nicht einmal zu unserer tradierten Radtour zum und um den Wallendorfer See gestartet. Mal war’s zu kalt, mal zu windig, mal regnete es. Und wenn das Wetter mal gepasst hätte, hatten wir was an­deres vor. Aber heute endlich passt alles. Einkehr bei Pomian: Gose, Sülze, Schwätzchen. Ein Hauch Normalität. (Obwohl der Wirt eine Maske tragen muss.) Am Abend der zauberhafte Film „A boy called sailboat“ von Cameron Nugent.

 

Obolus

für

Cemal Kemal Altun / Ariyoshi Sawako / Henri Barbusse / Wilhelm Karl Eduard Bölsche / Charles Bronson / Taylor Caldwell / Donald Davidson / Baltasar Eloy de Medinilla / Josep Lluís Facerías / Fiacrius / Glenn Ford / Michail Sergejewitsch Gorbatschow / Gustav Graul / Seamus Heaney / Joseph Rudolph „Phylli Joe” Jones / Herbert Kranz / Nagib Mahfuz / Govan Mbeki / Pietro Micca / Sterling Morrison / Dimitar Nenow / Christine Pascal / Julius von Payer / Ptolemaios XV. „Caesarion” / Carl Ernst Rathgens / Ad Reinhardt / Peter Rocha / John Ross / Alice Salomon / Adele Sandrock / Jean Dorothy Seberg / Jack Sonni / Carl-Heinrich Rudolf Wilhelm von Stülpnagel / Theoderich / Jean Tingualy / Ilia Tschawtschawadse / Joseph John Thomson

 

An diesem Tage drückte uns eine Obulus-Last nieder:

Merseburg, 1629 ist „ein heller Feuerstrahl mit einen sehr klaren Blitze am Himmel erschienen, hat eine gute viertel stunde gestanden, hernach wie ein V wurden, und nach dem er wieder etwas gestanden, wie ein rother Rauch vergangen“ / Danger Point, Südafrika, 1881: der britische Passagierdampfer „Teuton“ rammt ein Riff und sinkt, 233 Todesopfer / 1917 kollidiert der französische Passagierdampfer „Natal“ vor Marseille mit einem Frachtschiff, 105 Tote / 1965: Gletscherabbruch beim Bau des Mattmarksee-Staudamms im Wallis, 88 Arbeiter sterben / Zagreb, 1974: Eisenbahnunfall, 153 Menschen kommen ums Leben / Gabun, 2023: Militärputsch.

 

 

31. AUGUST

 

Erblühen

mit

Josef Achhammer / Daniel Adam z Veleslavina / Aleksander Antson / Elisabeth von Arnim / Vitus Bering / Marianne Bruns / Miguel Ángel Bustos / Eldridge Cleaver / Gabriel Cramer / Isabella Romola de’ Medici / Klaus Froboese / Alice Schwarz-Gardos / Emanuel Goldberg / Hermann von Helmholtz / Wolfgang Hilbig / Vladimir Jankélévitch / Hans John / Ida Kerkovius / Ernst August Friedrich Klingemann / Bernard Lovell / Gino Lucetti / Alma Mahler-Werfel / Fredric March / Sanford Meisner / Harry Meyen / Maria Montessori / Walter Mossmann / William Saroyan / Altiero Spinelli / Edward Lee Thorndike / Maurice Tornay / Ramón Vinay / Gary Webb / Bob Welch

 

An diesem Tage sahen wir’s erblühen:

1962 wird Trinidad und Tobago unabhängig von Großbritannien / 1991: Kirgisien wird unabhängig von der Sowjetunion / Kuala Lumpur: 1999: Eröffnung der Petronas Towers.

 

Ich notierte:

1980: Gestern war Cathis Einschulungsfeier, ab morgen wird sie also in die Schule gehen, unvorstellbar fast, unsere Tochter, so groß schon. Ja, nun wird also so einiges in unsere kleine Familie hineingeschulmeistert werden.

1981: Am Abend erfahre ich, dass mein Onkel Peter in Schwedt vergangenen Freitag unter recht mysteriösen Umständen, völlig unerwartet Selbstmord beging, in seinem Betrieb. Mein Vater sagt, bis heute sei die Leiche nicht freigegeben, so dass noch nicht mal der Beerdigungstermin feststehe. Peter war für eine neue, von Japanern errichtete Chemieanlage verantwortlich. Er hatte in Merseburg Chemie studiert, war ehrgeizig und war sensibel, hatte beruflich offenkundig viel erreicht, war aufgestiegen, aufgestiegen… Und nun war er von einem Kolonnenturm gesprungen… Chemie-Ingenieur, wollte ich das nicht auch mal werden? Etwas in mir sträubt sich dies hier aufzuschreiben: aber vielleicht war Peters Tod nicht sinnlos, ist dem allem ein Sinn zu geben. Ich fühle irgendwie, dass sein Tod mir die Türen zu einem Roman aufstößt, indem ich Parallelen begreife und aufschreibe. Ist das nicht die Situation, die ein Erzählen über meine Ausstiege bis hin zu meiner jetzigen Situation möglich macht? Und vielleicht bringt mir diese Arbeit sogar ein Verständnis für Peters unfassbaren Tod? Oder überschritte ich so Grenzen zwischen Literatur und Wirklichkeit?

1983: Letzter Ferientag für Cathi, da geht wieder mal eine Zeit zu Ende. Aus Prag hatten wir ein Säckchen Walnüsse mitgebracht, knackten die dann Stück für Stück an schönen Ferientagen. Aus Spaß hatte ich manchmal behauptet, eine schlechte erwischt zu haben – nur, um ihr noch gleich eine knacken zu können. Und soeben knackte ich die letzte, noch im Säckchen liegende Nuss: sie war schlecht.

1998: Jeanny sagt, sie habe bereits zum zweiten Male von Flugzeugabsturz geträumt und sieht mich beruhigungsbedürftig an. Klar, eine Reise nach Kanada, die wir vorhaben,  ist kein Wochenendausflug. Und obwohl (oder gerade) da wir vor drei Jahren schon einmal drüben waren, beschleicht auch mich leise Unruhe, hatte ich (wie in Vorwegnahme des Jetlegs) schon Schlafschwierigkeiten bis hin zu Herzflattern. Offenbar erzeugen die Dimensionen dieses riesigen Landes (und nicht nur die territorialen) neben Erwartungen, Hoffnungen und Sehnsüchten auch Urängste. Was kommt da auf dich zu? Was kannst du vielleicht nicht beherrschen, welcher Herausforderung bist du nicht gewachsen? Was bringt dich an einen Point of no Return? Wie gesagt, durchaus dialektisch das Ganze - beschwichtigt der Verstand, im Bauch aber grummelt’s. Wobei ich mich durch Kartenstudien, Planung von Reiserouten und Telefonaten mit zu Besuchenden vielleicht schon ein bisschen selbst beruhigte, während für Jeanny nun der Abflug ins Ferne (dessen Dimension eben durch Unwissenheit nicht zu verniedlichen ist) unausweichlich näher kommt. Ja, eine Herausforderung im wahrsten Wortsinne ist solch eine Reise zweifellos, Herausforderung, sich und sein Leben mal mit Abstand zu betrachten (obwohl man sich natürlich in Gänze auch „selbst mitnimmt“), Chance Alltag zu überdenken aber wohl allemal. Und von mir aus auch: Abenteuer (denke ich an die von mir vorgeplanten Routen). Nun gut. Wie muss es Walter Bauer erst ergangen sein, als er nicht für drei Wochen, sondern für den Rest seines Lebens nach Kanada aufbrach?

1999: Ich beginne an einer Artikelserie zu arbeiten, die ich mit der Mitteldeutschen Zeitung verabredete: eine feuilletonistische Betrachtung der letzten 1000 Jahre Merseburger Geschichte... In Merseburg treffe ich mich mit meinem Malerfreund Klaus, wir besprechen ein Goethe-Projekt für die Merseburger Goethe-Schule, gehen zum Direktor der Schule, stimmen die Projektplanung ab.

2000: Büro, dabei ein beunruhigendes Fax vom Kultusministerium, ein „Fragekatalog für die Evaluierung der institutionell geförderten Einrichtungen und Vereine“. Die Fragen darin sind so, dass man wohl mit Abwicklung rechnen darf. Entweder man weist nach, dass man auch andere Zuwendungsgeber für Projekte hat, dann könnte das Ministerium seine Förderung einstellen, oder man weist nach, dass man keine anderen Partner hat, dann dürfte man mit Sicherheit als unfähig und die Landesinteressen nicht wahrnehmen könnend eingestuft werden, Also auch: Hahn zu. Da scheint irgendwann also doch zu kommen, was ich von Anfang an befürchtet hatte: dass ich der „Totengräber“ des Bödecker-Kreises werden könnte (und Thea fein raus ist...).

2009: Geruhsam entlang der Buchten und Fjorde der isländischen Ostküste. Die Ringstraße, vergleichbar einer um die Insel führenden (schmalen) Autobahn wird hier zuweilen zur Schotterpiste. Doch das Wetter scheint uns hold zu bleiben. Odin sei Dank! Über eine Küstengebirgskette dann hinüber zum Lagarflót, lang gestreckter See in dem die Schwester Nessies leben soll, der Lagarflót-Wurm. Doch so sehr wir uns anstrengen… Dafür sehen wir hier so viele Bäume, wie noch nie auf Island. Das, was es an kärglichem Baumbestand vor der Landnahme gab, wurde rasch verbraucht, verbrannt oder für Häuser und Boote verbaut. Spätestens da war es dann auch vorbei mit der Wikinger-Herrlichkeit… Doch der Wald hier, der Hallormsstadarskógur, gilt als der älteste und größte Wald der Insel, wird nun in jedem Reiseführer als unbedingt sehenswert gepriesen. Nun gut, daheeme wär’s was völlig Normales und keiner Empfehlung wert. Weiter nach Egilsstadir, Kaffeetrinken, und über einen weiteren Pass hinüber nach Seydisfjödur, wo die Fähren nach Dänemark und Norwegen anlegen (nach etwa 2 Tagen auf See – erstaunlich, die Wikinger sollen mit ihren schnellen Booten dafür auch nur gut 3 Tage gebraucht haben!) und wo wir heute übernachten. Malerischer Hafen am Ende eines tief eingeschnittenen Fjords, blaue Holzkirche, pittoreskes Hotel, Zimmer mit Hafenblick. Und sogar Abendbrot gibt’s hier. Herz, was willst Du mehr.

2012: Stepanakert. Szenenwechsel am Morgen: nun hasten einzelne Frauen mit schweren Handtaschen, zuweilen noch Kinder an der Hand, über den Platz, zur Arbeit wohl, die jüngeren nicht selten auf abenteuerlichen High-Heels, und Männer stehen uniformiert vor Hauseingängen oder gockeln in Uniformen herum oder starren geschäftig in die Luft. Ausflug zum Bergkloster Gandzasar, auf dem Rückweg Fotostopp am berühmten Karabach-Monument „Unsere Berge“ – von den Hiesigen meist „Oma und Opa“ genannt. Mir kommt der Gedanke, ob dieses in den sechziger Jahren errichtete Denkmal nicht vielleicht die beiden hier einst zusammenlebenden Volksgruppen, die Armenier und Aseris symbolisieren sollte. Nachfragen sinnlos, da mir kurz zuvor in einem Dorf eine Zaunwand präsentiert worden war, die aus den Kennzeichen der Autos bestand, welche die vor dem Krieg fliehenden Aseris zurückgelassen hatten. Zum Lunch Borschtsch und Stör, dann zum Haus des Schriftstellerverbandes, ja, so was gibt’s hier auch. Das Kabuff, in dem das Treffen mit den hiesigen Autoren stattfindet, hat dann aber bestenfalls ein Drittel der Größe meines Hotelzimmers. Etwa zehn Kollegen, Fernsehen, Rundfunk, Presse. Und alles redet durcheinander. Während eine Fernsehkamera auf mich gerichtet ist und ich gerade die kitzlige Frage zu beantworten habe, wie ich mir die Zukunft Bergkarabachs vorstelle, klingelt bei meinem Sitznachbarn das Handy und er beginnt lautstark mit seiner Frau oder Mutter oder wem auch immer zu quatschen, völlig ungerührt. Dazu ein ständiges Kommen und Gehen, das in dem muffig-heißen Zimmerchen aber auch keine Ventilation ersetzt – der eine springt plötzlich auf – wollte der etwa nur Kaffee trinken? – und schon sitzt ein anderer auf dessen Stuhl und stopft sich Obst in den Mund. Es lebe die deutsch-armenische Freundschaft! Nach diesem Chaos aber Staatsempfang. Ja, wir marschieren quer über den zentralen Platz direkt hinein in eines der klotzigen Regierungsgebäude und werden (nach eingehender Personen- und Taschenkontrolle versteht sich) vom kürzlich wiedergewählten Präsidenten der Republik Bergkarabach, Bako Sahakyan, empfangen. Freundlicher small talk, aber immerhin! Klar, dieses Land giert nach Anerkennung. Die Weichen für diesen Empfang hatte der möglicherweise einflussreichste Autor des Landes, hatte Zori Balayan, gestellt, 78-jähriger Haudegen, Weltumsegler und ehemaliger Redakteur der „Literaturnaja gaseta“. Er führt mich vor dem Präsidentenpalais zu der Stelle wo einst (wie auf jedem großen Platz der Sowjetunion) das obligate Lenin-Denkmal stand, heute dient der Sockel als Blumenrabatte. Symbolisch sei von hier die erste Bresche in die Berliner Mauer geschlagen wurden, erklärt er, denn als Anfang 1988 der Bergkarabach-Konflikt zu eskalieren begann, es hier zu Massendemonstrationen kam, seien er und sein Kollege Silva Kaputikyan zu Gorbatschow nach Moskau gefahren, wurden tatsächlich vorgelassen und haben mit ihm ausführlich diskutieren können. Doch sei die Sowjetunion schon so schwach, schon so angeschlagen gewesen, dass keine Lösung dieses Konflikts zwischen zwei Sowjetrepubliken mehr möglich war, das Schicksal unweigerlich seinen Lauf nahm und letztlich zum Zusammenbruch des Systems beitrug. Die Frage nach der Zukunft dieses Landes, hatte ich dem hiesigen Fernsehen schlicht mit: Frieden! beantwortet. Und im Bewusstsein, dass es bis dahin noch ein verdammt weiter Weg sein wird, werden wir am nächsten Morgen die schier endlosen Serpentinen wieder nach Armenien hinabkurven.

2020: Unglaubliche Nachricht: Hauke Hückstedt, Leiter des Literaturhauses Frankfurt und Sprecher des Netzwerkes der Literaturhäuser in Deutschland, Österreich und der Schweiz, meint, zeitgenössische Literatur sei zu kompliziert, Literatur müsse in einfacher Sprache geschrieben sein… Warum, damit dieser geldgeile Depp versteht, um was es seit dem Gilgamesch-Epos geht (und was eigentlich seit Jahrtausenden verstanden wird)? Unglaublich.

2022: Seit einigen Wochen meinten Jeanny und ich in Leunaer Straßen aus der Ferne immer mal wieder eine junge Frau gesehen zu haben, die unserer Enkelin Yasmin ähnelt. Doch wie ihre Mutter schon vor langer Zeit, hatte sie ja vor drei Jahren auch die Beziehungen zu uns abgebrochen, warum auch immer, und war weggezogen. Zudem schien diese junge Frau schwanger. Vor drei Tagen diskutierte diese Frau nun, mit dem Rücken zu mit stehend mit der Postfrau, und ich hörte beim Vorbeifahren also auch deren Stimme. Und das klang nach Yasmin. Eine Nachfrage beim Einwohnermeldeamt brachte mir heute die Bestätigung: unsere große Enkelin hat sich keine 100 Meter Luftlinie von uns entfernt einquartiert. Unglaublich. Und als Jeanny ihre Schwester anrief, schien die davon absolut nicht überrascht, ja, wusste sogar, dass Yasmin tatsächlich schwanger ist. Unglaublich. Und dann stellte sich heraus, dass sich die ganze Familie vor zwei Monaten, zur Jugendweihe unserer jungen Enkelin, von deren Geburt wir seinerzeit zufällig aus der Zeitung erfahren hatten und die wir seit fast zehn Jahren nicht mehr sehen durften, getroffen hatte – und dabei Jeannys Bruder Martin, der auch schon seit langer Zeit nicht mehr mit uns „verkehrte“, gestorben sei. Unfassbar. Und das alles wurde uns nicht gesagt. Das alles hatte Jeannys Schwester, obwohl die beiden seitdem immer mal am Telefon geplaudert hatten, vorenthalten?! Ja, Martins Witwe habe das so gewollt… Wir sind fassungslos. Was geht hier vor? Was soll das alles? Das ist von all dem Üblen was in unserer Familie geschah, wie sie bröckelte und zerbrach, die totale Umkehrung. Als hätten wir Beziehungen abgebrochen! Als wären wir an dieser Misere schuld! Was für ein Scheißtag. Absurd.

 

Verwelken

für

Juan Vitalio Acuña Núñez / Aidan von Lindisfarne / Dodi Al-Fayed / Atala Apodaca Anaya / Stefan Banach / Charles-Pierre Baudelaire / Georges Braque / Tamara Bunke / John Bunyan / Luigi Luca Cavalli-Sforza / Louis Antoine de Bougainville / Kasimir Edschmid / Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg / Booker Ervin / John Ford / David Frost / Ottmar Gerster / Matthias Grünewald / Wolfgang Güllich / Egon Günther / Lionel Hampton / Mickey Hawks / Trude Hesterberg / Jimi Jamison / Horst Janssen / Waldemar Ernst Jungner / Eberhard Koebel / Konrad von Würzburg / Ferdinand Lassalle / Karl Theodor Richard Lessing / Lucy Lloyd / Rocky Marciano / Gerty Molzen / Henry Moore / Mary Ann Nichols / Johann Andreas Oswald / Andranik Ozanian / Alexander Nikolajewitsch Radischtschew / Józef Rotblat/ Levin Schücking / Jóhann Sigurjónsson / Karl von Utenhove / Immanuel Wallerstein / Carl Wayne / Bruno Wille / Wilhelm Wundt /Bernhard von Zech / Rosel Zech / Marina Iwanowna Zwetajewa

 

Da sahen wir’s verwelken:

Nancy, 1790: bei der Niederschlagung einer Meuterei der Garnison kommen 89 Menschen ums Leben, 22 Soldaten werden später hingerichtet / 1812 strandet der Truppentransporter „Salvador“ im Mündungsgebiet des Rio de la Plata vor Uruguay, 470 Todesopfer / Charleston, South Carolina, 1886: Erdbeben, 100 Tote / 1939: fingierter Überfall von SS-Leuten auf den Sender Gleiwitz / Luxemburg, 1942. blutige Niederschlagung eines Generalstreiks gegen die deutsche Besatzung / Wegberg, 1952: Rennunfall auf dem Grenzlandring, 13 Menschen sterben / Iran, 1968: Erdbeben: bis zu 20.000 Todesopfer / Zagreb, 1974: Zugunglück, mehr als 150 Tote / 1986 kollidiert das sowjetische Kreuzfahrtschiff „Admiral Nachimow“ bei Noworossik mit einem Frachter, 423 Menschen kommen ums Leben / Bagdad, 2005: Massenpanik, 1.011 schiitische Pilger sterben / Johannesburg, 2023: Großbrand in einem Wohnhaus, mindestens 74 Tote .

 

 

1. SEPTEMBER

 

Normalisierung

mit

Edward Alleyn / Innokenti Fjodorowitsch Annenski / Carl Wilhelm Julius Blancke / Edgar Rice Burroughs / Roger David Casement / Stanley Cavell / Blaise Cendrars / Bob Curtis / Johan de Haas / Leif Ragnar Dietrichson / Torsila do Amaral / Justin Elie / Fritz Freitag / Pawlo Petrowytsch Fylypowytsch / Vittorio Gassmann / Wilhelm Leberecht Götzinger / Batya Gur / Eugene „Gene“ Harris/Carl Herleßsohn / Willem Frederik Hermans / Auguste Magdalene von Hessen-Darmstadt / Kurt Hübner / Engelbert Humperdinck / Friedrich Georg Jünger / Andreas Latzko / Rocky Marciano / Ahmad Schah Massoud / Ernst Ortner / Arthur Edward „Art“ Pepper / Max Pfeifer Watenpuhl / Amilcare Ponchielli / Peter Rocha / Emanuel Schikaneder / Othmar Schock / Rudolf Schuster / Soshana / Hertha Sponer / Martin Stade / Henrik Stangerup / Oswald Wiersich / Engelbert Zaschka

 

Da hofften wir auf Normalisierung:

San Francisco, 1873: die Cable Cars nehmen ihren Betrieb auf / Belgrad, 1961: Beginn der Konferenz zur Gründung der „Bewegung Blockfreier Staaten“ / 1963 wird Singapur unabhängig von Großbritannien / 1979 passiert die Raumsonde „Pioneer 11“ den Saturn / Algerien, 2021: zum letzten Mal wird weltweit verbleites Benzin verkauft /

 

Ich notierte:

1982: Gestern habe ich Jeanny und Cathi nach Hause gefahren. Nun sitze ich wieder allein in meinem Güstrower Turmzimmer. Was war das für ein seltsames Gefühl, die Wendeltreppe allein hochzusteigen, zu wissen, dass ich hier für die nächsten drein Wochen allein sein werde. Mitternacht: Blick aus meinem Klausurfenster über die schlafende Stadt, schwarzes Häuserviertel. Ich arbeite, durchlaufe ähnlich einer Phylogenese Vorstufen meiner Prosa, unumgängliche, quälende Vorstufen. Und ich sehe, dass ich, will ich nicht alsbald vor einer unüberwindlichen Mauer anlangen, Konsequenzen für mein Leben ziehen muss. Keinerlei Ausflüchte mehr! In den bevorstehenden drei Wochen gänzlich allein, sollte ich wohl endlich erfahren, wer ich wirklich bin. Oder – ich zweifle nicht nur an mir selbst – ich verzweifle. Und die Konsequenzen daraus würden wohl vom Grad meiner Feigheit bestimmt…

1983: Tagelang war in allen Zeitungen zu lesen, wie gründlich und hervorragend sich „unsere“ Pädagogen auf den ersten Schultag vorbereitet hätten. Cathi kommt aggressiv nach Hause und alle Lernlust, die wir ihr wochenlang behutsam einzugeben versucht hatten, ist schlimmer Unlust gewichen: Werken bei Herrn Soundso sah heute so aus: Unaufmerksame wurden gekniffen und dann mussten alle auf dem Schulhof Unkrautrupfen… Am Abend im Fernsehen (am Weltfriedenstag!): Sowjetische MIG-23 schießen zwischen Sachalin und Hokkaido südkoreanischen Jumbo-Jet ab! Und US-Außenminister erläutert „die Vorgänge“ höchst persönlich? Sender Gleiwitz, oder was?

1985: Sonntag. Und eine Zäsur: „Ich bin traurig, dass der Raps verblüht…“, schrieb Theodor Kramer. Ja, da liegt Cathis Ball im Kellergang und mir ist schlagartig bewusst, was ich diesen Sommer, was ich ihre Ferien lang, alles nicht mir ihr unternommen habe… Ich bin wohl ein muffiger, stinkiger Vater, allzu sehr mit den eigenen Problemen beschäftigt. Aber auch Ja – das Leuna-Buch quält mich. Wieder und wieder geht es nur zögerlich vorwärts, Selbstbewusstsein, Sendungsbewusstsein wird angekratzt, man vergisst alles ringsum, um Bleiben zu können…

1998: Jeanny sagt (in krassem Gegensatz zum gestern Gesagten): ihr sei überhaupt noch nicht nach Reisen zumute. Klar, blanker Selbstschutz, scheiterten uns in diesem Jahr doch bislang alle Reisen. Im Frühjahr konnten wir nicht in den Schwarzwald fahren, da Probleme mit den Kindern auftauchten. Nach London kamen wir nicht, da das befreundete Ehepaar, mit dem wir reisen wollten, plötzlich in finanzielle Bedrängnis geriet. Für einen Ostseeurlaub blieb das Wetter diesen Sommer zu schlecht. Und eine für den Herbst geplante neuerliche Gruppenreise nach Israel sagten wir wegen Unstimmigkeiten mit der Reiseleitung ab. Bleibt also Kanada. Das aufregendste, weiteste, ersehnteste Ziel von allem obendrein. Verständlich, dass da Understatements angesagt sind. Für mich scheint’s allerdings gleitender vom Alltags- in den Reisezustand überzugehen, nicht zuletzt wohl, da im Künstlerhaus noch reichlich Stress und Hektik anfallen, ich noch reichlich meinem „Brotjob“ nachgehen, noch täglich managen muss. Und zudem scheine ich mir mein „Hinübergleiten“ durch diese Einstimmungen ins Reisetagebuch anzuschieben versuchen zu wollen...

2000: Büro Leuna, Büro Merseburg, dann weitere Sparkassenmanuskript-Überarbeitungen und schließlich nach Spergau zur Einweihung der „Jahrhunderthalle“. Ich fahre mit meinen Eltern, die natürlich auch erleben wollen, wie Jeanny, Cathi und Mine tanzen. Und zweifelsohne ist die Darbietung der „Spergauer Tanzmäuse“ mit den Aerobic-Frauen einer der meist beklatschten Programmteile. Das sind sie stolz. Und zu Recht. Mine ist völlig aufgedreht, tanzt nach Programmschluss noch immer durch die Halle, verbeugt sich... Für Jeanny ein doppelt wichtiger und schöner Tag außerdem, denn heute war auch ihr erster Tag im Heim für behinderte Kinder. Hoffnungen und kleine Perspektiven also mal wieder. Im Laufe des Tages ruft dann sogar Seni an und möchte sich aussprechen...

2008: Belgrad. Keimstätte von Metamorphosen sei diese weiße (heute eher graue) Stadt: erschreckend angesichts allgegenwärtiger Losungen, Hauswandschmierereien, Plakate: Free Karadzic! Andererseits wurde dieser Bosnienkriegskopf hier auch jüngst verhaftet und ausgeliefert.

2018: Entsorgung alter Visitenkarten, Sektfrühstück und Ängste: ab heute bin ich Rentner!

2020: Mehr als 25 Millionen Corona-Infizierte weltweit, fast 850.000 Tote.

2021: Letzten Sommer war Thomas Rackwitz bei mir, nun starte ich zum Gegenbesuch nach Blankenburg. Gut, dass wenigstens einer meiner „Zöglinge“ noch den Bedarf hat, sich mit mir auszutauschen. Seine neunjährige Tochter Fine, die „Anna-Hood-Fan“ ist, sogar schon selbst eine Geschichte geschrieben hat, empfängt mich im Anna-Hood-T-Shirt und Thomas hat zur Einstimmung Pizza gemacht – wow! Dann wandern wir zur Burgruine Regenstein und quatschen, quatschen, quatschen – tut gut.

2022: Am Nachmittag lese ich für eine Seniorengruppe in Merseburg-West. Ein Hauch von Normalität.

 

Niederlage

für

Irene Abendroth / Otl Aicher / Luis Walter Alvarez / Peter Anich / Ataï / May Aufderheide / Stefan Bellof / Jan Brueghel d. J. / Jacques Cartier / Santos Cifuentes / Samuel Coleridge-Taylor / Sebastiano Conca / Fritz Cremer / Vicenç Cuyàs / Otto Ehrenfried Ehlers / Gislebert von Mons / Ann Harding / Ludwig Christoph Heinrich Hölty / Gagik Howunz / Ilio Sōgi / Gottfried John / Dean Jones / Claude Le Petit / Abbas Maroufi / François Mauriac / Nellie McClung / Jiří Orten / Ludwig Pfältzer / Gabrielle Roussier / Eero Saarinen / Kamal Salibi / Franziska Stoecklin / August Stramm / Ethel Waters / Wols / Edo Zanki

 

An diesem Tage schmerzten uns Niederlagen:

Lanzarote,1730: fünf Jahre andauernder Ausbruch des Vulkans Timonfaya / Hinckley, Minnesota, 1894: Waldbrand: mehr als 400 Tote / Yokohama, 1923: Erdbeben: 143.000 Menschen kommen ums Leben / 1939: Beginn des Zweiten Weltkriegs / Qazvin, Iran, 1962: 12.230 Todesopfer / Leipzig-Schkeuditz, 1975: Absturz einer Tu-134 beim Landeanflug, 27 Tote / 1983 sowjetische Anfangjäger schießen eine koreanische Boeing 747 bei Sachalin ab, alle 269 Insassen sterben / Beslan, Nordossetien, tschetschenische Terroristen überfallen eine Schule und nehmen Geiseln, bei deren Befreiung kommen drei Tage später 331 Menschen ums Leben /

 

 

2. SEPTEMBER

 

Marsch

mit

Laurindo Almeida / Marge Champion / Johann Friedrich von Cronegk / Amadou Diallo / Esteban Echeverría / Fania Fénelon / Eugene Field / Heinrich von Sachsen-Merseburg / Johann Georg Jacobi / Genja Jonas / Clifford Jordan / Klaus Koch / Lili’uokalani / Liu Baiyu / Toni Msu / Christa McAuliffe / José Álvaro Morais / Wilhelm Ostwald / Joseph Roth / Julius von Payer / Billy Preston / Paul Robien / Pentti Saarikoski / Vincenzi Scamozzi / Caroline Schelling / Heinz Harro Max Wilhelm Georg Schulze-Boysen / Horace Silver / Michał Sprusiński / Ercole Strozzi / Giovanni Verga / Hildegard Wegscheider / Friedrich Wilhelm Wolters

 

Da meinten wir, gut im Takt weiter marschieren zu können:

1192 endet der Dritte Kreuzzug / Paris, 1667: Inbetriebnahme der Straßenbeleuchtung / 1913: Entdeckung von Sewernaja Semlja / Leipzig, 1913: Einweihung der Deutschen Bibliothek / 1945: Unterzeichnung der Urkunde über die Kapitulation Japans, Ende des Zweiten Weltkriegs, in dessen Verlauf etwa 50 Millionen Menschen ums Leben kamen / 1990: die UN-Kinderrechtskonvention tritt in Kraft / Cleveland, Ohio, 1995: Eröffnung der „Rock and Roll Hall of Fame“.

 

Ich notierte:

1982: Am Morgen lärmt tief unten ein Lautsprecherwagen: „Eltern und Verkehrsteilnehmer, Unfälle mahnen zur Vorsicht! Achtet auf Schulkinder, denn auch ihr Kind…“ Scheußliches Erwachen vor dem Erwachen.

1990: Im August stiefelte ich zum Arbeitsamt, sah keine andere Möglichkeit mehr für mich. Glück im Unglück – offiziell war ich ja noch bis Ende letzten Jahres Direktor des Bezirksliteraturzentrums und nicht (wie realiter) „freischaffend“, also angestellt, somit berechtigt Arbeitslosenunterstützung zu erhalten. Und nach einigem Hin und her erhielt ich die tatsächlich. Und dann sogar das Angebot, der Mitteldeutschen Zeitung, jeden Sonnabend eine Kultur-Kolumne zu verfassen. Und dann sogar das Angebot des Arbeitsamtes (das mein Vorschlag war) mir eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zu bezahlen, sprich: Stadtschreiber in Merseburg zu werden, die Geschichte aufzuarbeiten, die Chronik zu schreiben, Touristenführer und dergleichen – in den nächsten zwei Jahren, unglaublich! Ich traue mich noch gar nicht zu hoffen, dass das wirklich so klappt. Jeanny ist mittlerweile in Kurzarbeit. Da würde es uns jetzt verdammt schwerfallen, die Existenz zu sichern, wenn es nicht dieses Licht am Ende des Tunnels gäbe. Morgen werde ich erstmals Merseburger Stadtschreiber sein.

1998: In Walter Bauers Tagebuch „Ein Jahr“ (in dem ich mich einstimmend lese) finde ich den Satz: „Wer ein Logbuch führt, ist immer aufmerksam, immer wach. Der Beobachter ist zugleich der für die Reise Verantwortliche.“ - Und fühle mich tatsächlich sofort in dieser Rolle. Somit hat unsere nächste Kanada-Reise also begonnen, unwiderruflich, oder besser: der Reise-Count-Down in mir.

2009: Godafoss, hufeisenförmiger Wasserfall, ähnlich den Horseshoe-Fällen bei Niagara, allerdings nur 10–12 m hoch (bzw. tief…). Bedeutsamer jedoch: Im Jahre 1000, nach dem Übertritt zum Christentum durch Althing-Beschluss, stürzte der Gode dieses Gebietes seine germanischen Götterfiguren den Wasserfall hinunter. Und zum Staunen des Volkes – und siehe da – nichts geschah… Vielleicht sollten die Isländer heute mal ihre Bänker hier baden gehen lassen! Dann Akureyri, größte Stadt des Nordens, etwa 15.000 Einwohner. Da mich interessiert, wie in Deutschland die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen ausgegangen sind, halte ich Ausschau nach einer heimischen Zeitung. Die aktuellste, die ich entdecken kann, ist jedoch vom 20. Mai 2009, eine „Zeit“ (sic!). So weit „draußen“ sind wir also… Dann Örlygsstadir, das Feld, wo im August 1238 die größte Schlacht Islands stattfand. Die 39 Godentümer waren im Laufe der Jahrhunderte seit der Landnahme von drei Großfamilien vereinnahmt worden. Und selbstredend wollte nun möglichst einer der Clans die Gesamtherrschaft über die Insel. Etwa 1600 Krieger standen sich gegenüber, etwa 50 fielen, darunter die Anführer der Sturlungen, des Clans, der jener Zeit den Namen gab und zu dem auch Snorri Sturluson, der Edda-Skalde, gehörte. Nach dieser Schlacht waren die isländischen Verhältnisse derart zerrüttet, alle Clans so sehr geschwächt, dass es nach langem vergeblichem Bemühen dem norwegischen Königshaus nunmehr gelang, Island unter seine Kontrolle zu bringen. Und nachdem durch Erbfolge im 14. Jahrhundert Norwegen an Dänemark fiel, setzte eine endlos lange Unterdrückung und Verarmung der Isländer ein. Erst im 19. Jahrhundert gab es erste Wiederbelebungsversuche des isländischen Nationalbewusstseins und Freiheitswillens, durch einen Autor vor allem (sic!), durch Jón Sigurdsson. 1919 wurde Island Staat in Personalunion mit Dänemark und 1944 (unter Nutzung der Schwächung Dänemarks durch die deutsche Besatzung) endlich wieder unabhängig. - Dann Glaubaer, liebevoll restaurierter Hof mit Grassodenhäusern, die bis ins 19. Jahrhundert hinein typisch im ländlichen Island waren. Wenn einem das Holz ausgeht, wird man halt erfinderisch, schichtet Wände kunstvoll mit säuberlich ausgestochenen Grassoden auf, hüllt dann ebenso die Dächer. In diesen muffig, warmen Häuschen fühle ich mich in die Buden versetzt, die wir uns als Kinder bauten, im Garten, im Wald. - Dann Bjarg. Von hier stammte der starke Grettir, Held einer der bekanntesten Sagas. Seltsamerweise weist jedoch kein Schild den Weg (überhaupt ist es schwer auf Island Orte zu finden, nirgendwo Vorwegweiser, urplötzlich taucht an einer Abzweigung ein klitzekleiner, selbst bei der isländischen Höchstgeschwindigkeit von 90 km/h kaum zu entziffernder Wegweiser auf, rumms, schon bist du mal wieder vorbei…). Bjarg also. Gut, dass ich mich daheim anhand der Sagas genau orientiert, zu identifizierende Saga-Orte in meiner Karte markiert hatte! Auf Gut-Glück fahren wir eine Schotterpiste entlang bis auf einer Felsformation deutlich so etwas wie ein Denkmal auftaucht. Und kaum halte ich, stoppt schon ein Jeep neben mir. „Hae!“ Der Fahrer nickt mir zu, hilfswillig offenkundig. Und als ich erkläre, dass ich hier sei, da ich die Grettir-Saga sehr schätze, wird er sehr freundlich. Er sei heute der Bauer auf Bjarg, sei hier ebenso geboren wie vor mehr als 1000 Jahren Grettir, sei mit diesem jedoch nicht verwandt. Und er zeigt mir hinter seinem Haus den tonnenschweren Stein, den Grettir der Saga nach angehoben haben soll, was ihm niemand nachzumachen vermochte, weswegen es im Isländischen das geflügelte Wort „Grettirs Hub“ gibt, vergleichbar einer Sisyphus-Arbeit. Und ich entdecke inmitten seiner Hauswiese auch den Stein, unter dem Grettirs Kopf begraben sein soll… Übernachtung einmal mehr in einem völlig abgelegenen Gehöft mit Hotelbetrieb. Immerhin Grillbüffet, Lamm in allen Variationen.

2010: Jerewan. Gespräch in der deutschen Botschaft. Der Kulturattaché interessiert sich dafür, was ich hier vorhabe und signalisiert Unterstützung, wenn der angestrebte Text- und Autorenaustausch tatsächlich zustande kommt, möchte von nun aber auf jeden Fall unterrichtet sein. Das klingt gut. Besichtigung des Matanadaran, der Aufbewahrungsstätte alter armenischer Handschriften. Vorm Museum ein imposantes Denkmal für Mesrop Maschtot, dem Begründer des armenischen Alphabets. Verständlich, dass solch ein Ort für ein Volk, das seit dem 11. Jahrhundert zur Hälfte in der Diaspora lebt und im 20. Jahrhundert unter dem Verlust weiter, heute zur Türkei gehörender Landesteile einen Genozid überleben musste, dass solch ein Ort den Status eines Heiligtums hat. Profunde deutschsprachige Führung, absolut sehenswerte Ausstellungsstücke. In der Mittagsglut zum Haus des Schriftstellerverbandes. Ja, hier hat das alte Verbandssystem offenbar überdauert: stattliches Haus in Innenstadtlage mit Bibliothek (niemand drin) und vielen Räumen (hie und da Damengruppen selbstbeschäftigt im intensiven Gespräch) und Deschurnajas mit höchstwichtigen Telefonen… Und im Sitzungssaal dann die mich erwartenden Kolleginnen und Kollegen. Ständiges Hin und Her, und meine Tasche (mit den Vertragsentwürfen) ist plötzlich verschwunden, und Reporter beginnen auf mich einzufragen, und die Vorredner setzen ein, und mein Dolmetscher haucht mir mit schlechtem Atem ins Ohr, und lustig klingeln in der Runde Kollegenhandys und wird (sogar während nun der Vorsitzende spricht) selbstverständlich telefoniert… Aber dann habe ich irgendwie sagen können, was sein soll und – habe Applaus bekommen. Und dann haben wir (Levon Ananjan, der Vorsitzende, und ich) die Vereinbarung unterschrieben – herzlicher Applaus. Und dann geht das wilde Fragen los: ob in Deutschland Goethe noch eine Rolle spielt? – ob der deutsche Schriftstellerverband dagegen protestiert, dass in einer deutschen Gaststätte Menschenfleisch angeboten wird??? - ob wir neben armenischen Gedichten auch armenische Romane übersetzen und veröffentlichen wollen? - Und in langer Schlange stehen dann Kolleginnen und Kollegen und geben mir ihre Visitenkarten und radebrechen, dass sie auch schon übersetzt haben oder übersetzt worden sind… Und schon werde ich zum Prasdnik mit dem Präsidium gezogen/geschoben: armenischer Cognac und Aprikosen (diese Frucht stammt von hier!, also esse sogar ich Aprikosen, obwohl ich die sonst nie esse) und Trinksprüche auf die deutsch-armenische Zusammenarbeit im allgemeinen und die große Seele des Schriftstellers im besonderen… Tatsächlich: gute Gespräche in abenteuerlicher englisch-russisch-deutscher Mixtur, da gute Gesprächspartner: Hendrik Edojan, Howhannes Grigorjan, Artem Harutjunjan. Und mir fiel ein Satz eines berühmten Armenien-Reisenden ein, ein Satz Ossip Mandelstams: Drei Äpfel fielen vom Himmel: der erste für den, der erzählt, der zweite für den, der zugehört, der dritte für den, der verstanden hat. So schließen die meisten armenischen Märchen. Schnell ins Hotel, Duschen, Klamotten wechseln (völlig durchgeschwitzt) – und ins Historische Museum. Augenfällig auf dem Weg, dass es in Jerewan offenbar keine Altstadt mehr gibt, derzeit durchs Zentrum gesichtslose breite Straßen im Allerweltsstil gezogen werden, im Parterre Schickimickiläden, darüber Büros… Die Ausstellung des Historischen Museums bietet jedoch wieder Großartiges, wunderbare Artefakte einer hier seit Jahrtausenden sesshaften Hochkultur, die jedoch immer und wieder und furchtbar angegriffen und beschädigt, verstümmelt, partiell zerstört wurde. Die sehr gut Deutsch sprechende und sehr kundige Führerin erzählt mir vor den Karten und Tafeln zum armenischen Genozid, dass sie noch immer ihre Großmutter weinen sieht, die zwar überlebte, doch ihre Familie verlor, damals 1915. Und sie sagt, dass sie heute zur Majorität der Armenier zählt, die dafür ist, dass die Grenzen zur Türkei geschlossen bleiben. Offene Grenzen nützten nur den Reichen und Mächtigen, dienten nur der Unterdrückung. Wenn es darauf ankam, seien die Armenier von den Großmächten immer verlassen und verraten wurden. Das hätten sie nun begriffen. Doch es sei gut nun, sagt sie mehrmals, sie seien am Leben! Und stolz erzählt sie mir dann noch, dass sie jüngst Großmutter geworden sei, zeigt ein Foto… Dinner mit dem Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes, den ich alsbald Levon und er mich Jurgen nennt. Keine Frage, da wird heftig aufgetafelt und kräftig zugelangt – und möglicherweise auch die eine oder andere Idee für gemeinsame Projekte geboren, wir werden sehen.

2020: Am Abend mein Freund André Schinkel zu Besuch. Wir haben uns seit dem Lockdown im Frühjahr nicht mehr gesehen. Nun hat er meine beiden, demnächst erscheinenden Bücher lektoriert, den neuen Bauer-Band „Herbergen und Wege“ und „Die Martysburg-Surrogate“. Allein darüber lässt es sich ergiebig schwatzen. Und wir haben den PEN-Aufnahmeantrag für Thomas Rackwitz fertig zu machen. Ansonsten: Bierchen, Bratwürstchen. Wohlsein!

 

Moritat

für

Levon Ananyan / Tadeusz Baird / Christian Barnaard / Johannes Bobrowski / William Hill Brown / Andrea C. Busch / Antonio Casimir Cartellieri / Jusepe de Ribera / Frank Drake / Viktor Frankl / David Rolfe Graeber / William Rowan Hamilton / Marsden Hartley / Walpurga Hausmännin / Ho Chí Minh / Alan Kurdi / Francesco Landini / Otto Luening / Herbert Mataré / Barbara McClintock / Franz Julius Ferdinand Meyen / Václav Neumann / Ingeborg Rapoport / Dewey Redman / Henri Rousseau / Sachari Stojanow / Simeon Stylites d. Ä. / Mikis Theodorakis / John Ronald Reuel „J.R.R.“ Tolkien / Franz Xaver von Zach

 

Das erschien uns nicht mal einer Moritat würdig::

London, 1666: Beginn des viertägigen großen Brandes, der die Stadt weitestgehend zerstört / Goldau, Schweiz, 1806: Bergsturz, 457 Tote / Kopenhagen, 1807: Beginn des dreitägigen englischen Bombardements, bei dem bis zu 2.000 Memschen zu Tode kommen / Florida Keys, 1935: durch einen Hurrikan sterben 423 Menschen / Philippinen, 1984: Taifun, mehr als 1.400 Todesopfer / 1998: Absturz einer MD-11 vor Halifax, alle 229 Insassen kommen ums Leben.

 

 

3. SEPTEMBER

 

Schlichtung

mit

Ales Adamowitsch / Uri Adelman / Ahkal Mo’ Nahb II. / Nicola Amati / Samir Amin / Vivi Bach / Max Wilhelm Waldemar Dungert / Eduardo Galeano / Ludwig Gies / Friedrich Wilhelm Gotter / Onaje Allan Gumbs / Willy Jannasch / Jean Jaurès / Freddie King / Tim Lobinger / Pietro Locatelli / Kishan Maharaj / Irene Papas / Fritz J. Raddatz / Memphis Slim / Sofja Andrejewna Tolstaja / Birol Ünel

 

An diesem Tage vertrauten wir Schlichtungen:

301: Gründung von San Marion / 1783: mit dem „Frieden von Paris“ wir die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika anerkannt / Karlsruhe, 1860: Beginn der ersten internationalen Chemie-Fachtagung / Berlin, 1926: Einweihung des Funkturms / Genf, 1927: Abschluss der ersten Weltbevölkerungskonferenz / 1953 tritt die Europäische Menschenrechtskonvention in Kraft / 1971 wird Katar unabhängig / Berlin, 1971: Unterzeichnung des „Viermächteabkommens“ / 1976 landet die Raumsonde „Viking 2“ auf dem Mars / Genf, 1992: Verabschiedung der Chemiewaffenkonvention.

 

Ich notierte:

1979: Auswertung meiner Auswertung mit den Brigadetagebuchschreibern. Und Klubhausleiter Riedel sagt mir, dass mein Grundvertrag mit Deuben wohl um ein Jahr verlängert wird. Was für eine Überraschung. Da stinkt doch der Deubener Kohlemief gleich nicht mehr so miefig.

1982: Nichts scheint unproduktiver, als gleichgültig gut zu sein.

2009: Am Morgen passieren wir Bifröst (in der Edda die Himmelsbrücke) und besteigen einen Ringvulkan, Grábrok, einigermaßen beruhigend, dass der letztmals vor 3000 Jahren Feuer spie. Schließlich erreiche wir Reykholt, wo Snorri Sturluson, der große Dichter, lebte und 1241 von Schergen des norwegischen Königs, da er in politische Ränkespiele geraten war (s. Schlacht bei Örlygsstadir), ermordet wurde. Reykholt erweist sich als das völlige Gegenteil von Bjarg. Modernes Museum (leider und trotz der Literaturspezifik viel zu textlastig), moderner Museumsshop, in dem seltsamerweise aber vor allem Schickimicki-Schmuck feilgeboten wird), moderne Kirche, modernes Hotel… Bis auf Snorris altes Freiluft-Badebecken, die Snorralaug, in dem er mit Getreuen gesessen haben soll (es gibt sogar eine zeitgenössische Zeichnung davon) - nichts mehr aus den „alten Tagen“. Alles wie geleckt. Keine Chance sich emotional zu nähern. Zurück zur Natur: beeindruckend die beiden, ganz anders strukturiert als alle bisher gesehenen Wasserfälle: Hraunfossar und Barnafoss. In Borganes besuchen wir dann aber doch noch eine Ausstellung, das Reiseführer empfohlene Landnahmemuseum. Und diese Präsentation kann sich wirklich sehen lassen, ist geschickt und interessant audio-visuell aufbereitet. Borganes gilt auch als Saga-Ort: auf dem Hof Borg war der Held Egil zu Hause, im Städtchen findet man allenthalben gut beschilderte historische Handlungsplätze der Egil-Saga. Und zu guter Letzt wieder Reykjavik (wo im Großraum der Hauptstadt etwa 2/3 der rund 300.000 Isländer leben!), unser Kreis schließt sich – Island, einmal ringsum – rund 2000 Kilometer sind wir gefahren. Mieses Wetter. Und Reykjavik zählt gewiss nicht zu den Städten dieser Welt, die bei Regen gewinnen. Dennoch: Laufen bis die Füße nass sind: Hallgrimskirkja mit Denkmal für Leif Eriksson, den wahren Entdecker Amerikas, zum Stadtsee Tjörnin mit Rathaus, das Parlamentsgebäude, vor dem am Jahresbeginn aufgebrachte Isländer, Frauen vor allem, auf Kochtöpfe schlugen (was hier wohl einer Revolution gleich kam), demonstrierten bis die Regierung stürzte, die die Wirtschaftkrise mit verschuldet hatte. In der Nacht im Hotel habe ich allerdings nicht den Eindruck, als ob’s hier kriselt. Scharen von Jugendlichen entsteigen lautstark protzigen Autos und torkeln wie Lemminge durch den Eingang einer im Nachbarhaus befindlichen Diskothek. An der Hotelrezeption wusste man offenbar schon, warum man uns beim Einchecken mit einem Schulterzucken und einem mitleidigem Lächeln neben dem Zimmerschlüssel auch Ohrenstöpsel ausgehändigt hatte… Doch so kann man solch eine Entdeckungsfahrt nicht beenden, nein, so nicht. Am Morgen regnet es nicht mehr, also schlendern wir hinunter zur Bucht, zur Rauchbucht (so heißt Reykjavik übersetzt). Ein letztes Foto: Das silbrige Denkmal eines Wikinger-Schiffes am schwarzen Lavastrand. Ja, so lässt sich’s mit gutem Gefühl nach Keflavik, zum Flughafen fahren - zumal der nach Leif Eriksson benannt ist. Hae – we’re coming!

2010: Tsitsernakaberd, Genozid-Gedenkstätte. Ich lege mit Hermine an der ewigen Flamme für die 1,5 Millionen Opfer des Jahres 1915 einen Strauß weißer Nelken nieder. Heute leben etwa 7 Millionen Armenier, davon etwa 4 Millionen im Ausland (wovon ca. 1 Million erst in postsowjetischer Zeit das Land verließen). Vom Schwalbenhügel (wie Tsitsernakaberd übersetzt heißt) sehe ich zum ersten Mal den Ararat. Es ist dunstig, da noch immer drückend heiß, doch kann man bei genauem Hinsehen den Schneegipfel wie eine Wolke mitten im Himmel entdecken. Passt doch! Und so wird hier wohl auch Noahs Arche angelandet sein und so das erste nachsintflutliche Volk (die Armenier eben, nach ihrer Überzeugung) entstanden sein, und (keine Frage), dass ich Arche-Schemen im wolkig Schneeigen sehe… Im Genozid-Museum nach erschreckend mahnenden Fotos der Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus der heutigen Osttürkei eine eindrucksmächtige Installation: Auf Podesten unter Glasstürzen Erde aus Städten des einstigen West-Armeniens: Van, Erzurum, Urfa, Kars, Musch… Nach endlosem Hin und Her wurde das ehemalige Armenien (einschließlich Kalikien) von einer Fläche von rund 300.000 km² auf heutige etwa 30.000 km² geschrumpft. Wie schrieb doch Franz Werfel in seinem berühmten Buch „Die 40 Tage des Musa Dagh“: „Armenieraugen sind fast immer groß, schreckensgroß von tausendjährigen Schmerz-Gesichten…“ Auf dem Weg zurück vom Schwalbenhügel zum Wolga frage ich Hermine nach Berg-Karabach. Das offiziell Aserbaidschan zugesprochene armenische Gebiet wurde in den 1990ern von armenischen Truppen freigekämpft, heißt nun Republik Berg-Karabach (die allerdings nur von Armenien anerkannt ist) und bildet mit Armenien eine Konföderation. Wenn ich wollte, könnte ich also von Jerewan nach Stepanakert (der Hauptstadt Berg-Karabachs) fahren, von dort aber nicht weiter nach Baku (der Hauptstadt Aserbaidschans), denn mit diesem Nachbarland befindet man sich noch immer im Kriegszustand. Was für eine Lage dieses Hochebenen-Staates: im Osten geschlossene Grenzen, im Süden ein Zipfelchen Grenze zum Iran (aber wohl auch nicht so recht durchlässig), im Südwesten und Westen geschlossene Grenzen zur Türkei, einzig im Norden zwei offene Grenzübergänge nach Georgien (das sich nun aber seinerseits vor zwei Jahren einen Kriegsgang mit Russland leistete…)! Absurd: im Zuge der Globalisierung ist und hat sich Armenien isoliert. Wahrscheinlich nähren die Auslands-Armenier ihre Familien, so das Land… Weiter zum Parandjanow-Museum. Sergej Parandjanow, in Tbilissi geborener Armenier, Regisseur und bildender Künstler, galt zu Sowjet-Zeiten als Dissident, saß mehrmals im Lager, drehte aber auch berühmte Filme wie einen über den Maler Pirosmani oder den über den Dichter und Sänger Sajath Nova (an den ich mich, als ich Szenenfotos sehe, sofort erinnere). Hier, oberhalb der Hrazdar-Schlucht, nahe der Sarkis-Kirche, wollte Parandjanow seinen Lebensabend verbringen, starb aber nach der Übersiedlung aus Tbilissi 1990 an Lungenkrebs. Er muss ein genialer, lustiger, hochintelligenter Mann gewesen sein – allein all die skurrilen, von ihm gefertigten Objekte in diesem Haus! Auf seinem Bett liegt beispielsweise eine rote (!) Tagesdecke mit dem Aufschrift: Proletarier aller Länder vereinigt euch! Und erst die Stories: Zur Beerdigung seines Vaters, eines Barbiers, kam er mit zwei Koffern voller Scheren, die er an die Trauergäste verteilte und die dem Verstorbenen dann mit Scherengeklapper das letzte Geleit gaben… Um 13.00 Uhr lese ich in der Isahakjan-Nationalbibliothek, voller Saal, vor allem junge Leute, Germanistikstudenten wohl. In der Zeitschrift des Schriftstellerverbandes sind von Hermine übersetzte Texte von mir erschienen, die liest eine Bibliothekarin, ich gebe quasi den O-Ton dazu. Dazwischen gibt’s an einem schrecklich verstimmten Klavier immer mal wieder Musik, wagnerts fürchterlich. Weiter per U-Bahn. Mit Melanya, der Lehrstuhlinhaberin für Foreign Languages an der Brjusow-Universität hatte ich mich schon vorab per Mail verabredet (den Kontakt hatte eine deutsche Kollegin hergestellt). Sehr angenehme, kluge alte Dame. Sie lädt mich zum Arbeitsessen in eine Gaststätte ein, die ich nie gefunden hätte: Eine ihrer Freundinnen betreibt seit den dunklen Tagen, der oftmals stromlosen Zeit des Krieges mit Aserbaidschan, in einem Kellerraum eines heruntergekommenen Wohnblocks ein privates Restaurant – zuerst, um als ehemalige Konservatoriumslehrerin, die so gut wie kein Gehalt mehr bekam, irgendwie zu überleben, nun offenbar aus Freude am Kochen und Bewirten: alles wunderbar frisch und originell und einfach köstlich. Ich verspreche Melanya am Ende, die von ihr organisierten Tage der deutschen Literatur im nächsten Jahr zu unterstützen. Mit dem Taxi zurück ins Hotel, unglaubliche Hitze nach wie vor, mehr als 40°C! Doch als der Taxifahrer von Melanya hört, dass ich ein Schriftsteller aus Deutschland bin und was ich hier vorhabe, will er partout kein Geld für die Fahrt. Unglaublich – wenn ich das im Sender Jerewan gehört hätte, hätte ich’s für ’nen Witz gehalten…

2022: Heute vor 60 Jahren wurde der Plastikpark Leuna eingeweiht, Skulpturen in einem weitläufigen Gelände oberhalb der Saale. Am Abend schauen Jeanny und ich mal auf ein Bierchen mit unserem Freund Volker, dem Leunaer Rathausvize, vorbei.

 

Schlusssequenz

für

John Ashbery / Max Bodenstein / Frank Capra / Oliver Cromwell / E. E. Cummings / Carlo Alberto dalla Chiesa / Chandra Bahadur Dangi / Bart de Ligt / Paul Camille von Denis / Morton Feldman / Ernst Maria Johann Karl Freiherr von Feuchtersleben / Steve Fossett / Ludwig Frank / Robert Greene / Rolf Italiaander / Paul Lincke / Peter Lindbergh / Rudolf Mandrella / Frederick Louis MacNeice / Nicolae Neacşu / Wiktor Platonowitsch Nekrassow / Ekkehard Schall / Alexander Ignatjewitsch Tarassow-Rodionow / Gerhard Sasso / Iwan Sergejewitsch Turgenjew / Alan „Blind Owl“ Christie Wilson / Jan Zábrana / Zacharias Zeraeua

 

Damit, meinten wir, sei alles vorbei:

1685 kam „abends um 8 Uhr zu Schkeuditz ein Feuer auf, daß in anderthalb Stunde 132 Häuser und mehr als 54 Scheunen samt Ställen und viel Wohnungen in der Asche lagen, es kamen auch einige Menschen und sehr viel Vieh um, denn es war da wegen des starcken Windes keine Rettung“ / 1691 stranden im Plymouth Sound die britischen Kriegsschiffe „Coronation“ und Harwich“, 1.000 Seeleute kommen ums Leben / Preußen, 1814: Einführung der allgemeinen Wehrpflicht / 1878 kollidiert der Ausflugsdampfer „Princess Alice“ auf der Themse mit einem Kohlefrachter, 640 Todesopfer / Hugstetten, Baden, 1882: Eisenbahnunglück, 64 Tote / 1900 annektiert Großbritannien Transvaal / 1939: beim „Bromberger Blutsonntag“ kommen bis zu 4.500 „Volksdeutsche“ zu Tode / 1939 versenkt ein deutsches U-Boot den britischen Passagierdampfer „Athenia“ im Nordatlantik, 112 Tote / Havanna, 1989: eine IL-62 stürzt auf ein Wohnviertel, 171 Menschen sterben.

 


4. SEPTEMBER

 

Vergoldung

mit

Joan Delano Aiken / al-Bīrūnī / Leo Apostel / Antonin Artaud / Peter Behrens / Ġanni Bonnici / Anton Bruckner / Daniel Burnham / François-René de Chateaubriand / Max Delbrück / Hans Axel von Fersen / Leonhard Frank / Jo Jastram / Walter Kauer / Geoff Love / Pál Maléter / John McCarthy / Darius Milhaud / Albert Joseph Moore / Ludwig Müller-Uri / Dadabhai Naoroji / Adolf Pichler / Christen Pram / Hertha Pauli / Oskar Schlemmer / Marinus Schöberl / Rudolf Schock / Hans-Jürgen Steinmann / Siegfried Straub / Natela Swanidse / Wilhelm Wetekamp / Gerald Stanley Wilson / Richard Nathaniel Wright / Walter Zapp

 

Da kam uns alles goldig vor:

1479: Ende des Erbfolgekrieges zwischen Kastilien und Portugal / 1781: Gründung von Los Angeles / Altenburg, 1813: erste Erwähnung des Skat-Spiels / 1837 führt Samuel Morse erstmals seinen Schreib-Telegraphen vor / New York City, 1885: Eröffnung des ersten Selbstbedienungsrestaurants / Berlin: 1949: Erfindung der Curry-Wurst / 1998 wird Google gegründet.

 

Ich notierte:

1981: Soeben zurück von zwei schönen, wichtigen Tagen mit den Leuten des Kinderbuchverlages, Frau Dr. Pieper und Frau Dr. George auf Burg Falkenstein. Ich hoffe, dass diese Tage den Beginn meiner Zusammenarbeit mit einem Verlag markieren. Und was finde ich zu Hause: eine Schreiben des Wehrbezirkskommandos – „Berichtigung der Wehunterlagen“. Was soll das? Und immer und immer wieder, wird ein jeder Hoffnungskeim sogleich wieder erstickt, erfolgt der Dämpfer, wenn die Stimmung hoch geht. Muss das so sein? Vielleicht ja, da sonst Illusionen aufkämen…

1982: Güstrow. Am Abend sitze ich in der Schlossgaststätte und merke, dass ich kaum noch sprechen kann. Das Maul scheint mir wie zugeklebt, kein Wort scheint herauszukommen. Ich trinke also Bier, allein…

1985: Bis Ende September, bis zum Ende des Arbeitsurlaubes, muss ich mit „Annäherungsversuche“ (wie ich meinen Leuna-Stoff“ nun genannt habe) einmal durch sein, ja, das wird ein dünner und zugleich dichter Roman.

1998: Cathi fährt uns zum Flughafen Schkeuditz. Schwül, graues Wetter. Kein Wunder vielleicht, dass in den letzten Tagen Tod durch unsere Gedanken geisterte. In der Alltagshektik (nicht zuletzt dieses Jah­res) geriet Lebenssinn, Lebenslust, Lebensziel wohl etwas aus den Handlungsantrieben. Möglicherweise sogar unser Elan, da sich berufliche Perspektiven für Jeanny wie nun offenbar auch für mich zunehmend verengen. Jeanny scheint zum Jahresende wieder arbeitslos zu werden, und wie’s mit dem Künstlerhaus ab Januar weitergeht, steht in den Sternen... Wie weiter? ist immer eine düstere, beängstigende Frage. - Doch nun erst einmal und hoffentlich und notwendigerweise reisen, vielleicht sogar neu motivierend, orientierende, drei Wochen Leben fernab all dieser häuslichen, dieser persönlichen Sorgen, Leben, Welt sehen, Welt erleben! Flug von Leipzig nach Frankfurt ohne Probleme. Sofort Anschluss. Dann 10 Stunden bis Vancouver, Ankunft Ortszeit (mit 9 Stunden Zeitverschiebung) nachmittags halb drei. Bis zur Ostküste Kanadas lag die Flugroute leider völlig im Nebel, nichts zu sehen von Island oder Grönland. Dann jedoch in entlegenen Buchten (der Hudson Bay?) tief unten Myriaden von Eisbergen, dann fahlbraune Tundren, riesiges unbewohntes Land. Und schließlich sogar die Rocky Mountains in bestem Licht und der Anflug auf Vancouver vom Feinsten. (Auch ließ sich mit meinem Sitznachbarn, ein Hesse offenbar, der seine Tochter in Vancouver besuchen will, angenehm plaudern, nicht zuletzt wohl, da er die Saale-Unstrut-Region ganz gut kennt - ein Freund von ihm habe sogar erwogen, Schloss Burgscheidungen zu kaufen...) Ohne Probleme übernehmen wir den bestellten Mietwagen, finden uns nach Tsawwassen, zur Fähre, landen auf Vancouver Island, finden die Pension, nice Cottage (dieselbe Herberge in der wir schon vor drei Jahren untergekommen waren! - als erfüllte sich mein damaliger Wunsch, die Reise fortsetzen zu können...), trinken um die Ecke noch schnell ein Ale und dann (am Ende der Welt, wie uns Angelika Arend auf einer im Zimmer liegenden Karte zur Begrüßung schrieb) nach gut fünfundzwanzig, sechsundzwanzig Stunden auf den Beinen erstmal schlafen, nur noch schlafen.

1999: Schlagzeile des Tages: „D-Mark wird offizielle Währung im Kosovo!“ Ansonsten ein herrlicher Spätsommertag, Schreiben und Lesen im Garten.

2010: Im Marschroutki, einem klapprigen Minibus, von Jerewan nach Tbilissi, meinen georgischen Schriftstellerfreund Dato besuchen. Alles ist bestens organisiert, man hat mir sogar den „Ehrenplatz“ neben dem Fahrer reserviert. Erstaunlich, dass neben dem Marschroutki nach Tbilissi auch eines steht, mit dem ich (laut an der Frontscheibe lehnenden Pappschild) auch nach Wladikawkas hätte gelangen können. Aber wie geht das? Da müsste man doch von Georgien aus ins separatistische, hermetisch abgeriegelte Südossetien und von da ins zu Russland gehörende Nordossetien? Der Fahrer dieses Marschroutki sieht allerdings so aus, als ginge das… Wir durchqueren die karge armenische Hochebene, Gebirgsstöcke allenthalben. Dann erreichen wir das Gebiet, wo 1988 die Erde bebte und mehr als 25.000 Menschen starben. In den Dörfern noch so manche Haus- oder Kirchenruine, in den größeren Städten Spitak und Vanadzor sind innerstädtische Baulücken neben neuen, meist wellblechdedachten Reihenhäuschen unübersehbar. Und alle Industriegebäude und -anlagen, dieser heute offenbar einzig vom Kohlanbau lebenden Region, scheinen ruiniert. Nach Vanadzor werden die Berge grün, erreichen wir den Kleinen Kaukasus, das Grenzgebirge zu Georgien, tiefe Schluchten und streckenweise abgrundtief schlechte Straßen. Endlich die Grenze nach Georgien, eine Spur raus, eine rein. Geduld, Geduld, Geduld in brennender Mittagsglut auf armenischer Seite. Auf georgischer Seite hat man mit gesamtem Gepäck per pedes die Kontrollen zu passieren, nicht weniger schweißtreibend… Die sich nun öffnende Landschaft erscheint mir als Mischung aus Provence und Voralpenland, allerdings mit voller riesigen Maispflanzen. Und auch hier wohin man blickt, Haus- und Industrieruinen, Verfall. Die Verständigung per Handy klappt jedoch bestens und so empfängt mich Dato am Busbahnhof. Im Taxi sogleich zur Herberge, eine Privatwohnung mitten in der pittoresken Altstadt Tbilissis, von Freunden offenbar, dennoch nicht minder pittoresk… Dato möchte mir in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit möglichst viel von seiner Heimatstadt zeigen. Und das ist dann sehr beeindruckend, aber extrem schweißtreibend: Rustaweli-Prospekt, Festung Narikala, Wachtang-Gorgassali-Platz, Irakli-Platz, Georgs-Denkmal, Platz der Republik, diverse Kirchen… In der neuen, großen, nein, riesigen Kathedrale wimmelt’s nur so von Menschen. Dabei ist augenscheinlich kein Gottesdienst, ja, man trifft sich hier einfach am Abend, bekreuzigt sich heftig und hält ein Schwätzchen. Und direkt vorm Altar sehe ich einen der rot gewandeten Priester inbrünstig Handy-Telefonieren. Mit wem der wohl spricht? Und selbstredend werde ich von meinem Freund zu einem ausgiebigen georgischen Gastmahl eingeladen: wunderbar frisches Bier, Unmengen Salate, riesige Hackfleischrollen und dann Chinkali (Teigtaschen), köstlich, köstlich, doch einfach viel zu viel… Und dann hat Dato noch eine besondere Überraschung parat: Tbilissi war und ist berühmt für seine heilkräftigen, heißen Schwefelquellen. Und im Königsbad hat Dato für mich ein Einzelbecken im Separee gebucht! Das allerdings ist nun der Gipfel des Schweißtreibens. Und dann kommt auch noch ein Masseur und rubbelt und seift mich auf einer Steinliege ab und knetet und walkt mich gehörig durch… Tatsächlich fühle ich mich nach dieser Tortur in der kaukasischen Hitze jedoch verdammt wohl. Da mundet das Nachtmahl-Bier im Freien doch bestens!

 

Versteinerung

für

Louis Adamic / Wladimir Klawdijewitsch Arsenjew / Dan Bar-On / Samira Bellil / Werner Bergengruen / Rūdolfs Blaumanis / Bartolomeo Bulgarini / José Miguel Carrera Verdugo / Oleksa Wassyljowytsch Dowbusch / Nodar Dumbadse / Turan Dursun / José Echegaray / Herbert Eulenberg / Fritz Erich Fellgiebel / Edvard Grieg / Stephen Robert „Steve“ Irwin / Rainer Kirsch / Paula von Lamberg / Matsumura Goshun / Steve Harwell / Max Kruse / Ludwig August Johann Peter Salomonovich Mendelssohn / Zsigmond Móricz / John Ogilby / Gary Peacock / Jean-François Regnard / Rico Rodriguez / Aldo Rosi / Isolde Schmitt-Menzel / Robert Schumann / Ludwig Philipp Albert Schweitzer / Georges Simenon / Wassyl Semenowytsch Stus / Wladimir Titow / Hervé Jean-Pierre Villechaize / Gary Wright

 

An diesem Tage fühlten wir uns wie versteinert:

476: Ende des Weströmischen Reiches / 1564 erobern schwedische Truppen das dänische Ronneby und massakrieren mehr als 2.000 Einwohner / 1618: Bergsturz im Bergell-Tal, 2.430 Menschen sterben / 1631: „Die gantze Keyserliche Armada unter dem Heneral Tilli ist in die 40 000 strack von Magdeburgk und Halla anhero nach Merseburgk kommen, die Stadt mit Accord eingenommen. Darauff hat solcher feind alle umliegenden örther Brandtschatzen und plündern laßen, wie davon hieraus starcke partheyen auf das Städtlein Mücheln gangen, welches ie ausgeplündert u. angezündet, ferner auff Freyburgk, Naumburgk, Zeitz u. auch an andere örther über die unstrut in Thüringen eingebrochen, u. alles ausgeplündert, mit den Leuten auf das grausamste gehandelt, viel von den frauen volck geschändet, u. alle leichtfertigkeit getrieben. Es hat also der Tilli dazumahl ein solch schrecken unter die Leute bracht, daß sich die meisten Leute mit weib u. kind in die flucht begeben, zum theil in die Wälder u. Höltzer sich verkrochen, zum theil sich an sichere örther begeben, wie denn auch viel sich aus Leipzigk hinweg gewendet, u. an andere örther geflohen“ / Juneau, Alaska, 1971: eine Boeing 727 prallt gegen einen Berg, alle 109 Insassen kommen ums Leben / Buinaksk, Dagestan, 1999: Explosion einer Autobombe, 64 Todesopfer / Kundus, Afghanistan, 2009: bei einem Luftangriff kommen 142 Menschen ums Leben.

 

 

5. SEPTEMBER

 

Perspektive

mit

Johann Christian Bach / Otto Bauer / Amy Beach / Christa Borchert / John Cage / Tommaso Campanella / Francisco de Holanda / Anton Diabelli / Heimito von Doderer / Caspar David Friedrich / Sebastião Rangel Gomes / Henriette Herz / Tilman Jens / Arthur Koestler / Julius „Julo“ Levin / Goffredo Mameli / Albert Mangelsdorff / Eduardo Mata / Freddy Mercury / Giacomo Meyerbeer / Buddy Miles / Margarete Misch / Nicanor Parra / Frank Schirrmacher / August Wilhelm Schlegel / Alexandra Freiin von Schleinitz / Mathias Schramm / Fritz-Dietlof von der Schulenburg / Sirarpi Mihrani Ter-Nersessjan / Alexei Konstantinowitsch Tolstoi / Raquel Welch / Christoph Martin Wieland

 

So eröffneten sich uns Perspektiven:

Algier, 1805: Friedens- und Freundschaftsvertrag zwischen dem Osmanischen reich und den USA / Wien, 1830: Eröffnung des „Tivoli“ / Berlin, 1866: Einweihung der Neuen Synagoge / 1960: Léopold Sédar Senghor wird zum ersten Präsidenten des unabhängigen Senegal gewählt / 1980: Eröffnung des Gotthard-Straßentunnels.

 

Ich notierte:

1988: Gestern endlich in einer ersten Fassung durch mit dem Leuna-Manuskript. Das übliche Gefühl der Leere nun. Ich nutze es, um an einem Text für Kinder, den lange brach lag, weiterzuarbeiten. Vielleicht schaffe ich den auch noch bis Ende September. Da könnte ich dann einiges voller Hoffnungen in die Post geben…

1998: Victoria, B.C. Keine Spur von Jetlag. Wir sind also tatsächlich bestens angekommen. Sehr schönes Wetter hier am Pazifik, langsam wächst etwas wie Abenteuerlust. Vor dem Frühstück erst einmal ein Spaziergang zur Cadboro Bay. Die Möwen schreien, warmes Morgenlicht, üppig blühende, exotische Pflanzen in den Gärten, Meeresgeruch. Und die Hand, die mein Herz in letzter Zeit gelegentlich zusammenzupressen schien, scheint verschwunden. Ein Squirrel springt über den Weg, beäugt uns neugierig, ein Blue Heron schwebt vorbei, erste Spaziergänger mit ihren Hunden am Strand. „Good morning, Sir.“ „Morning.“ „What a nice day!“ „Oh, yes, it is!“ Frühstück: Melone mit Ginger, pochiertes Ei und Muffins. Köstlich. Und natürlich Conversation. Die Dame des Hauses stellt alle ihre Gäste einander vor „Hi. Redge, this is Jurgen. Jurgen, this is Redge...“ Ein alter Herr aus Edmonton und ein Paar aus dem nördlichen Alberta. Gut, dass ich einigermaßen mitplaudern kann. Wetter und Ferien und Lebenshaltungskosten und so. Wir schlendern am Inner Harbour entlang, fühlen uns fast wie zu Hause. Genau dieser Platz hier hatte uns vor drei Jahren nachgerade bezaubert. So setzen wir die erste Reise an deren Endpunkt quasi fort und werden am Ausgangspunkt der damaligen Tour diese Reise beenden, somit vielleicht einen Kreis geschlossen haben, einen Kreis, der über Reiseerfahrungen hinausreicht, Verständnis für Walter Bauers Exil einschließt und möglicherweise sogar eigene Fluchtgedanken ordnet. Vom Inner Harbour starten wir eine erste Insel-Erkundung, gelangen auf den Trans-Canada-Highway und so ein Stückchen nach Norden. Phantastische Aussichten vom Malahat-Drive über die Gulf Islands. Dann Duncan, Stadt der Totempfähle. Besichtigung des Native Heritage Centers, nachempfundenes Indianerdorf am Cowichan River. Technisch perfekte und inhaltlich anrührende Multimedia-Show über die Ureinwohner Vancouver-Islands, deren Weltvorstellen, Mythen, Sitten und Gebräuche. Beeindruckend die wohl so gut wie ausgestorbene Sprache der Cowichan einmal gesprochen zu hören, schmerzhafte Exotik. Und dann sehen und hören wir noch einiges über Potlatches (von denen uns erstmals Henry damals in Ottawa berichtete). Potlatch: bedeutsames Fest der hiesigen Indianer, bei dem der, der im Laufe der Zeit mehr angesammelt hatte, als er selbst benötigte oder verbrauchen konnte, Bedürftigen seines Stammes abgab. Großes Fest und großer Gedanken, meine ich. Könnte ein umfassendes Potlatch nicht heute die drängendsten der Weltprobleme lösen? Nach einem Bummel durch Duncan mit seinen unzähligen Totempfählen Fahrt zum Cowichan Lake. Baden in der Honeymoon Bay! Dann über eine wahrhaft abenteuerliche Schotterpiste gut 60 Kilometer querfeldein bis zur Westküste, bis Port Renfew. Die Piste ist so abenteuerlich, dass plötzlich sogar ein Schwarzbär vor uns steht. Schreck am Nachmittag. Wegen mieser Ausschilderung (klar auf dieser Piste) geraten wir sogar auf den berühmten Westcoast-Trail, einsamer Wander- und Radelweg entlang der urtümlichen Pazifikküste. Wenig weiter tummeln sich am wild-idyllischen Strand dutzende Zivilisationsflüchter, wohl abertausende von Kilometer angereist, nun Zelte dicht an dicht, beizender Qualm von Lagerfeuern, Geschrei. Wahrscheinlich wandeln sie dann auch auf diesem als Refugium gepriesenen Trail wie auf ‘nem Highway. Zurück in Victoria essen wir auf einem Balkon mit Gaslampenheizung und freier Sicht auf den pazifischen Mond zu Abend. Herz, was willst du mehr! Nach Mitternacht werden dann allerdings im Nachbargarten unseres Cottage Jugendliche lauter und lauter, irgend ‘ne Fete. Nicht an Schlaf zu denken. Doch offenkundig reicht mein Englisch, um meinem Groll lautstark und unmissverständlich Ausdruck zu verleihen.

2000: In aller Herrgottsfrühe los gen Norden. Ich habe eine große Dienstberatung in Möser angesetzt, um alle in diesem Jahr noch anstehenden Aktivitäten mit den Bödecker-Mitarbeitern durchzusprechen. Anschließend weiter nach Genthin, Absprache in der Bibliothek in Vorbereitung der Landesliteraturtage und einer Bödecker-Jubiläumsausstellung, von da weiter nach Wildenbruch, wo Jens und Mine und Helga seit gestern auf dem Grundstück sind. Mine freut sich sehr, dass ich komme. Klar, dass wir gleich spielen, dann auch spazieren. Wie verabredet holt mich dann Dr. Künzel, mit dem zusammen ich den Bosch-Ausstellungskatalog erstellte und der in Wildenbruch wohnt, zu Abendessen und Quatschen ab. Da er mit seiner Frau vor Jahren wie wir in Kanada war, kommt unser Gespräch alsbald auf die Weiten und Schönheiten dieses Landes. Das schwingen sofort Sehnsüchte mit und es gibt reichlich zu erzählen.

2010: Tbilissi. Am Vormittag bei erträglichen Temperaturen (oder gewöhne ich mich langsam ein) allein durch die fast noch menschenleere Altstadt bis zum malerischen Steilufer der Mtkwari, dem Denkmal König Wachtangs. Und dann die Überraschung: Dato holt mich zur Zugfahrt nach Batumi ab und sagt, dass er leider nicht mitkommen könne, ja, sein Hund liege im Sterben, er müsse bei der Familie bleiben, die Kinder trösten. Es sei aber alles organisiert! In Batumi am Bahnhof werde ich abgeholt. Tja, was soll man dazu sagen? Keep smiling und Abenteuer nimm deinen Lauf… Zum Abschied werden mir nochmals gut ein Dutzend Chinkali-Teigtaschen aufgetafelt und habe ich mit frisch gezapftem Bier nachzuspülen. Und schon sitze ich im Express-Zug, der am Ende für die 380 Kilometer bis Batumi 10 Stunden brauchen wird! Aus unerfindlichen Gründen steht man gleich mal zwei Stunden auf freiem Feld, dann ruckelts mal wieder kurz an und rollt aus, und erneut steht alles für eine halbe Stunde, und natürlich hat die Blechbüchse in der ich hocke (die man offenkundig nicht zum vorderen nicht zum hinteren Waggon verlassen kann) keine Klimaanlage, und es stinkt wie im Raucherpuff und es lässt sich kein Fenster öffnen… Kurz nach Gori, unterwegs mit der zuckligen georgischen Eisenbahn, geht plötzlich nichts mehr: keine Klimaanlage, kein Lautsprecher: kein Schritt vor, keiner zurück, nichts, bange drei Stunden lang, nichts, nur der Anblick hitzeflirrender, verschlampter Landschaft. Baust Du, Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, etwa immer noch Scheiße?

Die innergeorgischen Landschaften, die der Zug durchschleicht, haben offensichtlich schon bessere (Sowjet)Zeiten gesehen, allenthalben Industrieschrott und –ruinen, verkommene Häuser, Autowracks, kaputte Züge, Kräne, Unkraut, Müll, Verfall. Das ganze, eigentlich so fruchtbare, schöne, reizvolle Land sieht aus wie das aufgelassene Gelände einer LPG irgendwo in MeckPomm in den Neunzigern… Und dabei komme ich nun sogar ins sagenumwobene Kolchis, wo die Argonauten einst das Goldene Vlies lockte… Nachts gegen 11 komme ich endlich in Batumi, der Hauptstatdt Adchariens, an. Und natürlich klappt erst mal gar nichts. Ich stehe blöd im Bahnhof rum. Niemand da, mich abzuholen. Und Englisch scheint hier niemand zu sprechen. Zum Glück gibt’s Handys. Ich rufe Dato in Tbilissi an, der seine Leute in Batumi, und nach einer Weile erscheint dann tatsächlich seine einstige Kommilitonin (nunmehrige Professorin) Lali samt Lebensgefährten und Sohn. Nächste Hürde: die beiden Erwachsenen sprechen auch nicht Englisch (geschweige denn Deutsch). Zum Glück lernt der etwa zehnjährige Sprössling jedoch in der Schule Englisch. Na, das kann ja was werden, Mann, Dato, da hast du mir was Schönes eingebrockt… (Verrückt umso mehr, da der Kaukasus ja als „Berg der Sprachen“ gilt, es hier Sprachen über Sprachen gibt, es offenkundig aber an einer –nicht zuletzt für Ausländer- brauchbaren lingua franca mangelt.) Der Dolmetscher-Sohn übersetzt eine Frage seiner Mutter mit: ob ich jetzt spazieren gehen möchte? Das kann doch nur ein Missverständnis sein, oder? Nach einigem Hin und Her bringen sie mich schließlich nach halsbrecherisch rasanter Autofahrt zu einer kleinen Wohnung, sitzen vor mir und schauen mich erwartungsvoll an. Aber was soll ich denn sagen? Irgendwie und nachdem Dato noch zweimal angerufen wurde verstehe ich schließlich, dass ich hier allein bleibe, sie woanders übernachten, wo Brot und Butter und Honig fürs Frühstück stehen. Und dass sie mich morgen um 9.00 Uhr abholen werden, um mir Batumi zu zeigen. Na denn, schauen wir mal.

2020: Meine Mutter ist gestorben, am Geburtstag ihrer Mutter. Bis gegen Mitternacht saßen Jeanny und ich noch an ihrem Bett im Pflegeheim, sahen, wie sie das Leben langsam aushauchte, der Körper sich immer nochmals aufbäumte, doch dann ruhig wurde. Und heute Morgen gegen 6 starb sie, friedlich. Im November wäre sie 90 geworden. Seit 3 Jahren, nach dem Tod meines Vaters, hatte ich Ihr ein schönes Zimmer im Leunaer Pflegeheim besorgt. Hier schien sie sich wohl zu fühlen auf ihrer letzten Lebensstation. Ja, sie schlief letztlich ohne Schmerzen in den Tod hinüber. Seit etwa 3 Wochen zeichnete sich ihr Ende ab, dement seit langem, erkannte sie mich eines Tages nicht mehr, sprach nicht mehr, aß kaum noch. Ihr Körper hatte sich verbraucht, doch könnte dieser Prozess durch die Corona-Pandemie durchaus bescheunigt worden sein. Seit dem Besuchsverbot im Frühjahr bis zu dessen Lockerung zum Juni, etwa ein Vierteljahr also, hatten wir sie nicht mehr sehen, nicht mehr mit ihr sprachen können. Ihre Verstörung, ihre Vereinsamung war bei meinem ersten Besuch nach dem Lockdown durchaus zu spüren. Dann schien sich eine zeitlang alles zu normalisieren… Sie starb in etwa in der Morgenstunde, an der sie mich einst geboren hatte.

2022: Am Abend mit Jeanny mal wieder zu „unserem Italiener“. Treff mit Roman, meinem Freund und Verleger. Gutes Essen, gutes Gespräch. Im nächsten Jahr wird per Frühjahrskatalog der nächste Band in unsere Walter-Bauer-Reihe, wird „Logbuch“, und im Herbstkatalog mein „Figuricon“ angekündigt werden und entsprechend erscheinen. Und für mein Mammut-Vorhaben „Seins Fiktionen“ / „Kalendaricon JJ“ vereinbaren wir, das als eine Art Hypertext zu verstehen, aus dem sich Leser / Nutzer (zusätzlich zur „klassischen“ Nutzung) jeweils auch individuelle Bücher zusammenstellen können, z.B. alles aus meinem mehrtausendseitigem Angebot über den 5. September – oder Italiener – oder Leuna… und dessen Veröffentlichung irgendwie über Internet zu realisieren, dafür noch entsprechende Fachleute / Ideengeber ins Boot zu holen.

 

Predigt

für

Donald Oskar „Don“ Banks / Maria Becker / Neerja Bhanot / Ludwig Boltzmann / Federico Borrell García / Beppo Brem / Isidore Marie Auguste François Xavier Comte / Crazy Horse / Lucas da Costa / Anton Fliegerbauer / Gert Fröbe / Thomas Hansen / Sarah Harding / Robert Emmett Harron / Jan Hecker / Margitta Jankofsky / Hermann Albin Köbis / Laclos / Jiří Menzel / Kurd Friedrich Rudolf von Mosengeil / Mutter Theresa / Henry Oldenbourg / Catherine Parr / Charles Péguy / Ferdinand Jakob Raimund / Karl Jochen Rindt / Arno Rink / Josef Romano / Georg Solti / Joe South / Francisco Toledo / Erdmann Uhse / Rudolf Virchow / Lars Vogt / Mosche Weinberg / Joshua „Josh“ Daniel White

 

Darüber würden wir nicht predigen wollen:

1590 war in Merseburg ein Erdbeben zu verspüren / 1793 beschließt die französische Nationalversammlung „Maßnahmen gegen konterrevolutionäre Aktivitäten“, denen in den nächsten acht Monaten bis zu 40.000 Menschen zum Opfer fallen / 1800 erobern die Briten Malta / 1944: Beginn schwerer britischer Luftangriffe auf Le Havre bei denen bis zu 5.000 französische Zivilisten sterben / München, 1972: palästinensische Terroristen überfallen das Olympische Dorf, nehmen Geiseln / Medan, Sumatra, 2005: Absturz einer Boeing 737 in ein Wohngebiet, 148 Todesopfer / Sölden, 2005: Seilbahnunglück, neun Touristen kommen ums Leben.

 

 

6. SEPTEMBER

 

Anerkennung

mit

Abd el-Kader / Jane Addams / W. Ross Ashby / Christian Boltanski / Andrea Camilleri / John Dalton / Pierre de Ronsard / Fouad El Mouhandes / Julien Green / Barbara Hanrahan / Francisco de Holanda / Sebastian Knüpfer / Carmen Laforet / Luis Federico Leloir / Heinrich Karl Eckard Helmuth von Maltzan / Moses Mendelssohn / Robert Bowyer Malise Nichols / Christopher Nolan / Luise Nordmann / Sylvanus Olympio / Hermann Pistor / Jimmy Reed / Dolores Mary Eileen O’Riordan / Felix Salten / Wilhelm von Schadow / Levin Schücking / Sebastiano Serlio / Miguelito Valdés / Micky Waller / Karl August Wittfogel / Samuel Kofi Yeboah

 

Das erkannten wir gern an:

1885: Vereinigung Bulgariens / 1968 wird Swasiland unabhängig von Großbritannien / Köln, 1986: Eröffnung des Museums Ludwig und der Philharmonie / 2021: Ende des Afghanistan-Krieges.

 

Ich notierte:

1981: Gestern, zu Omas Geburtstag, sagte mir mein Vater, dass mein Onkel Peter bereits Freitag beerdigt wurde, und er mir nicht Bescheid gab, da er mich wegen Burg Falkenstein nicht belasten wollte… Ach, wie muss ich meine kleinen Erfolge nur teuer erkaufen! Als Oma von Peters Beerdigung hörte, fürchtete sie wohl im ihre Geburtstagsfeier und inszenierte einmal mehr einen Schwächeanfall: „Ich muss sterben…“. Und heute fuhren meine Eltern nun in den Urlaub – ohne Oma. Nie möchte ich – mehr oder weniger selbstverschuldet – auf jemanden so angewiesen sein, wie meine Oma auf meine Eltern.

1989: Die (erneut von mir organisierten) 2. Tage der Sozialistischen Gegenwartsliteratur rücken näher. Heute Pressekonferenz, verkünden, dass dieses Mal Landolf Scherzer den (von mir erfundenen) Hans-Lorbeer-Preis kriegt. Fast hätte ich gesagt, dass Organisieren von Schreibfestivals durchaus ein Pendant zum Schreiben sein kann, dass man erleben könne, wie Ausgedachtes Wirklichkeit wird… Schlimm nur, wenn sich kein Realitätsgewinn einstellt – und man dafür nichts, aber auch gar nichts kann…

1998: Victoria, B.C. Nach Morgenspaziergang und Frühstück Fahrt nach Butchart Gardens. Was für ein Blumenmeer in grandioser Parkanlage! Sogar einen stilechten japanischen Garten gibt’s zu bewundern. In einer malerischen Bucht entdecken wir Seesterne, rosa und bläulich und violett. Exotik pur eben. Gegen Mittag Verabredung mit Angelika A. Nach einigem Suchen finden wir ihr Haus. Aber was heißt Haus! Eine Villa am Hügel mit Blick über die Gulf Islands hinüber zum Mount Baker Massiv. Traumhaft. Nachdem uns das Du angeboten und uns Horst (der Hausbesitzer und neuer Lebensgefährte Angelikas) vorgestellt wurde, kredenzt Horst eine Gläschen selbstgemachten Wein und erzählt, dass er 1953 (in meinem Geburtsjahr also) nach Kanada gekommen sei und zuerst in Alberta als Holzfäller, dann als Möbeltischler und schließlich als Immobilienmakler gearbeitet habe. Und als er 45 war (so alt wie ich heute) habe er sich hier in Victoria zur Ruhe gesetzt. Tja, so geht das also. Die beiden laden uns zum Lunch ein. Feines englisches Restaurant mit Seeblick, versteht sich. Ich esse Shrimpsklößchen auf Lauch, Jeanny frische Muscheln. Horst erzählt von seinen ersten Jahren in Kanada (als auch W.B. hier neu zu beginnen versuchte). Da sei noch wahrer Pioniergeist zu spüren gewesen, da war das Land noch größtenteils unerschlossen, kaum oder nur schlechte Straßen, da sei man noch auf sich gestellt gewesen, in der Wildnis zumindest, wo Horst lebte. Ähnliches hatte im Übrigen auch Redge, unser Frühstücks-Konversations-Partner, berichtet. Scheint wohl was dran zu sein, daß sich hier einiges rasant entwickelte, das Land sich explosionsartig verändert. Nach dem Essen fahren wir zum East Sooke Trail, märchenhafter Wanderweg an der Pazifik Küste entlang: riesige bizarre Arbutus, wild romantische Buchten voller Kelb, Reiher, Möwen, Robben, dann an einem Fels sogar Petroglyphen aus indianischer Vorzeit. Klarer Blick über die Strait Juan de Fuca zu den Olympic Mountains hinüber. Und wir kommen immer besser ins Gespräch - über W.B. selbstredend. Angelika berichtet, dass ihr Buch über W.B.’s Lyrik nun endlich einen Verleger gefunden habe und im nächsten Jahr erscheinen werde. Und meine und Angelikas Meinung über W.B.’s Lyrik scheint so ziemlich überein zu stimmen: ganz am Anfang und ganz am Ende war er in seiner Schlichtheit oft schlichtweg grandios. Jeanny und ich fahren zurück nach Victoria, essen da wieder Fisch und King Prawns, wo wir vor drei Jahren schon einmal saßen. (Wobei uns heute alles ein bisschen geschäftiger erscheint als damals. Oder liegt’s einfach daran, dass heute Sonntag und morgen Labour Day, Feiertag also, ist?) Im Dunkeln wieder zum Inner Harbour: hier tönt ein Blues-Musik-Festival, dort irische Fiedler und allenthalben Straßenmusikanten, ein Laientheater hat seine Bühne direkt am Pier aufgebaut, überall sitzen Maler und indianische Schnitzer. Und was für Menschenmassen flanieren hier, mitten in der Nacht! Hier pulsiert tatsächlich Leben. Dazu diese fast ins Kitschige spielende Illumination des Gouverneurspalastes, diese Lichterketten-Silhouette. Doch ich bleibe heute bei Superlativen: grandios! Und in meiner Hosentasche spreizen sich Finger zum V-Zeichen. Victoria!

2010: Absurd nach der Gluthitze der vergangenen Tage: in Batumi, dem weltberühmten Badeort am Schwarzen Meer, regnet’s am Morgen. Mit akademischer Verspätung werde ich abgeholt – und schon geht’s wieder los mit den Missverständnissen. Sohnemann fragt mich, ob ich nach Chatschapuri möchte? Was soll ich dazu sagen? Klar! So sitze ich denn morgens halb zehn plötzlich vor einem riesigen Fladen voller Weißkäse und Ei, da Chatschapuri kein Ort, sondern ein (National)Gericht ist. Gut, wir sitzen am Hafen, wunderbare Aussicht auf die Stadt, die Schiffe, die nahen Berge. Und auch weiter sind Lali und Familie rührend um mich bemüht, chartern sogar ein Boot für eine Küstenfahrt, besuchen mit mir den botanischen Garten, gehen mit mir schwimmen am Strand (denn der Himmel bleibt zwar schwer bewölkt, doch wird’s drückend schwül). Und zum Dinner erscheinen wie aus dem Nichts auf einmal zwei Kolleginnen Lalis von der Uni – und die eine spricht Deutsch! Heureka, der gordische Knoten ist durchschlagen, wir können miteinander reden! Ein Wunder… Sofort großes Interesse an dem, was ich mache, was ich vorhabe, großes Interesse an Deutschland und an meiner Meinung über Georgien. Doch was sollte man, wenn man fürstlich bewirtet wird, anderes als loben… Aber natürlich sehe ich auch hier, was ich schon im ganzen Land sah. Vom Strand zu den Hügeln des Botanischen Gartens fuhr einst ein Sessellift – alles Schrott, von subtropischer Vegetation überwuchert – das ehedem sicher traumhafte Strandrestaurant, die Landungsbrücke davor – Ruinen, Dreck, Müll… Nach dem Dinner Gang durch die Stadt – und kaum ist man von der Hauptstraße weg, werden die Straßen zu Schlagloch- und Buckelpisten, dann zu Feldwegen… Ähnliches hatte ich letztmals in Orten der Sahelzone gesehen… Allerdings stehen zwischen all dem Heruntergekommenen auch immer mal Prunkbauten… Am Abend werde ich zu guter Letzt in einem Park kitschig bunt beleuchtete Wasserspiele sehen. Präsident Saakaschwili will durch derartige Edelprojekte Touristen anlocken (höre ich). Immerhin sei heute Condoleeza Rice mit einem Luxusliner angekommen… Ich verkneife mir zu sagen, dass es vielleicht klüger wäre, erst einmal die Infrastruktur zu flicken, bevor man Dächer vergoldet. Sehr imposant am Abend jedoch die historische Festung Gonio Apsarus, wo Medea den Argonauten Absyrtus erschlagen haben soll. Da weht zweifellos ein Hauch großer Geschichte heran! Weiter auf der malerischen Küstenstraße bis zur nahen türkischen Grenze. Hört hier Europa auf – oder fängt es hier an?

 

2023: Heute mal wieder nach Swinemünde. Und wie erhofft: schönstes Spätsommerwetter. Gute Fahrt. Erster Rundgang: Strand, Promenade (mittlerweile fertig aiusgebaut), ein Eis in der Eisdiele, wo wir schon mal Eis leckten. Abendessen in dem Restaurant, wo wir schon mehrmals Fisch genossen. Und dann entdecken wir eine neue Bar, wo es ausschließlich hasugemachten Kirschlikör bei Blues-Musik gibt. Das scheinen schöne Urlaubstage zu werden.

 

Amen

für

Arnald von Villanova / Axel von Ambesser / Alfred Michael Otto Antkowiak / Jean-Paul Belmondo / David Mark Berger / Taylor Caldwell / Ólafur Davíðsson / Hanns Eisler / Thomas „Tom” Fogerty / Zeev Friedmann / Tatjana Alexejewna Gagarina / Eliezer Halfin / Nicholas Christian „Nicky“ Hopkins / Matthias Klostermayr / Kurosawa Akira / Madeleine L’Engle / Gertrude Lawrence / Kate Millett / Luciano Pavarotti / H. W. L. Poonja / Burt Reynolds / Margaret Sanger /Kehat Shorr / Mark Slavin / André Spitzer / Yakuv Springer / Olaf Stapleton / Paul-Jean Toulet / Michael George Francis Ventris / Michael Kenneth Williams / Elizabeth Yates / Karl Zink

 

Da war uns nach Abschiedsworten zumute:

Guadeloupe, 1776:Tokio, Hurrikan, 6.000 Todesopfer / 1870: beim Untergang des britischen Panzerschiffes „Captain“ vor Kap Finisterre sterben fast 500 Menschen / 1905: Unruhen, bis zu 800 Toten / 1944: Beginn des Beschusses englischer und belgischer Städte mit der V2-Rakete / 1944: Emden wird durch einen alliierten Luftangriff zu 80% zerstört / Camden, New Jersey, 1949: ein Heckenschütze tötet 13 Menschen / 1965: Beginn des Zweiten Indisch-Pakistanischen Krieges / Fehmarn, 1970: letztes Konzert von Jimi Henrix / Lice, Türkei, Erdbeben: bis zu 2.400 Menschen kommen ums Leben / Suai, Osttimor, 1999: Massaker in einer Kirche, bis zu 200 Todesopfer.

 

 

7. SEPTEMBER

 

Inspiration

mit

Jacobus Acontius / Jenny Aloni / Sargis Barchudarjan / Albert Bassermann / Mary Bauermeister / Neerja Bhanot / Taylor Caldwell / Max Daetwyler / Henri de France / Jason Dupasquier / Gala / Francisco Javier Varela García / Grandma Moses / Catharina Regina von Greiffenberg / Buddy Holly / Elia Kazan / August Kekulé / Claus Küchenmeister / Alexander Iwanowitsch Kuprin / Georges-Louis Leclerc de Buffon / Little Milton / Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow / John Polidori / Ahmad Adnan Saygun / Manuel Scorza / Paul Adolf Seehaus / Edith Sitwell / John McDouall Stuart / James Van Allen

 

Davon ließen wir uns inspirieren:

Baden im Aargau 1714: Ende des Spanischen Erbfolgekrieges / 1822 erklärt Brasilien seine Unabhängigkeit von Portugal / China, 1901: Ende des Boxeraufstands / Berlin, 1905: Gründung der Wochenzeitung „Die Weltbühne“ / Hamburg, 1911: Inbetriebnahme des Elbtunnels / Stuttgart, 1919: Eröffnung der ersten Waldorfschule / Atlantic City, New Jersey, 1921: Beginn des ersten Schönheitswettbewerbs / Berlin, 1945. Eröffnung des Deutschen Theaters.

 

Ich notierte:

1988: In meiner Post heute mal wieder eine Erzählung, die ich Anfang des Jahres für eine Anthologie schrieb, mit dem üblichen Bla Bla zurück. Ich versuche mit konzentrierter Arbeit dagegen anzugehen.

1998: Victoria, B. C. Halb sieben los gen Norden, zum Pacific Rim National Park. Abfahrt bei herrlichster rotgoldener Morgensonne, in Nanaimo aber bewölkt sich der Himmel zusehends. Route quer durchs Inselgebirge, Halt an Cathedral Grove (von Angelika empfohlen), Wald der Superlative: Bis zu 800 Jahre alte Baumriesen. Zedern, was für ein Duft, was für Dimensionen! Auf einer Tafel steht, dass der älteste Baum hier schon 300 Jahre alt war, als Kolumbus Amerika entdeckte. Ja, natürlich. In Port Alberni Verkehrsbehinderungen da unzählige Boote von Autoanhängern in den hier durchfließenden Fluss geschoben werden. Irgendein traditionelles Lachsfischen offenbar. Dann eine sich endlos durch malerische Gebirgslandschaften windende Straße. Und schließlich der offene Pazifik, nichts mehr von dieser Küste außer Wasser bis Hawaii oder Japan oder was weiß ich. Leider (oder Gott sei Dank) ist’s neblig hier. Auf dem Parkplatz von Wickaninnish spricht mich ein Mann an. Unglaublich - mein Sitznachbar aus dem Flugzeug! Und an diesem, so sehr aus der Welt, zumindest am Ende der Welt zu sein scheinenden Ort erhält der berühmte Satz, wie klein die Welt doch sei, plötzlich eine noch andere Bedeutung... Im Flugzeug hatten wir in seinem Reiseführer gelesen, dass in Wickaninnish das Küstenrestaurant empfehlenswert sei. Nun sitzen wir hier, blicken auf die gewaltig herangischtende Flut, in die Weite des Ozeans, die langsam deutlicher wird. Der Nebel lichtet sich, es bleibt jedoch dunstig. Passend zum Ort esse ich Seafood-Jumbalaya. Köstlich frisch. Und dann (wieder mit Jeanny allein) die zweite Station im Pacific Rim: The Rain Forest, ein Wanderweg durch einen pazifischen Regenwald. Hier sind augenblicklich alle fünf Sinne gefordert! Du siehst bizarr-schöne Urwaldformationen, Bäume in allen Wachstums- und Zerfallsphasen (yeah, hier siehst du den Sinn des Lebens: Kreisläufe schaffen!), gewaltige Koniferen, Douglas- und Hamlocktannen, Sykamoren, undurchdringliches Dickicht, Grün in allen Schattierungen, Farne, Flechten, Moose, letztere auch wie skurriler Schmuck an den Ästen hängend... Du hörst im Unterholz Tiere rascheln und von den Wipfeln Raben krächzen, du riecht Wald unterschiedlichster Hölzer und unter deinen Füßen fühlst du unterschiedlichsten Boden - hier brauchst du fünf Sinne, um dich einigermaßen zu orientieren, hier verkümmerst du nicht zum zweisinnigen Fernsehmenschen, hier kannst (musst) du Mensch in seinen ursprünglichen Möglichkeiten sein. Und diese, dich wie eine zweite Haut umgebende Regenwaldluft, schwül, klamm - ein prägendes Erlebnis. Dann einen Abstecher bis zum Ende der Straße. Tofino heißt der Ort, in den Reiseführern als Hippiedorf beschrieben, tatsächlich jedoch wohl mehr ein Fischerdorf am Rande der Welt, mit einziehendem Jetset, längst vorbei offenkundig die Hippiezeit. Also wieder zurück in den Pazific Rim Park. Halt am Radar Hill, auf wir neben einem weiten Blick über die Küste auch einen für uns seltsamen, hier jedoch keineswegs seltenen (wie ich später nachlese) blauschwarzen Vogel sehen, einen Stellar’s Jay. Dann Stop an Schooner’s Bay, nochmals Wanderung durch einen Urwald, Zielpunkt: eine völlig naturbelassene Bucht, sich auftürmendes Schwemmholz, Kelb, Krabben, zwei vorgelagerte Inselchen in allen Herbstfarben, umgischtet von den Wellen des Pazifik. Nächster Halt am wohl bekanntesten Strandstück hier, an Long Beach. Viel zu kalt, die Strömung hier, um zu baden, selbst an sonnigen Tagen (sagte man mir). Weit und breit nur Surfer in Neopren-Anzügen. Weiter nach Ucluelet, „The capitol of whale watching“. Jedoch kein Wal zu sehen (natürlich nicht). Dazu müsste man hinausfahren aufs Meer (vielleicht). Dazu reicht unsere Zeit nicht. Wohl aber zu einem Nachmittagsmahl auf einer Hausterrasse, Essen wie bei Muttern (tatsächlich). Die Prawns, die wir hier serviert bekommen, sind wohl das frischeste und köstlichste, was wir bislang serviert bekamen. Und meine hausgemachte Seafood Soup erst! Doch wir müssen zurück, mindestens vier, viereinhalb Stunden Heimfahrt liegen noch vor uns. Wieder in Höhe Nanaimo geraten wir in schweren Regen. Um uns herum alles schwarz, im Rückspiegel jedoch ein phantastischer Abendhimmel, glühendes Rot in Kobaltblau über gelb, oliv, rosa Streifungen, und vor uns wie ein traumhaftes Tor, ein gewaltiger, doppelter, lichtstarker Regenbogen. So fahren wir wieder in Victoria ein. Keine Frage, meine Finger spreizen sich am Steuer automatisch zum V-Zeichen!

2010: Batumi. 4.45 Uhr werde ich abgeholt. Privataxi zum Marschroutki, das von Kobuleti nach Jerewan fährt. Bis das aber kommt, stehe ich mal wieder blöd anderthalb Stunden herum, vertreibe mir die Zeit in der leise aufkeimenden Morgendämmerung mit der Beobachtung von mürrisch Dreck verteilenden Straßenkehrerinnen und kopulierenden Hunden… Doch dann geht’s tatsächlich los, und natürlich sofort in atemberaubendem Tempo – bei selbstredend fast nur haarsträubenden Straßen und immer wieder Notbremsungen erzwingenden, die Straßen bevölkernden kompletten Haustierbeständen in den Dörfern Inguretiens. Vor allem die Kühe scheinen hier heiliger als in Indien… Grenzübertritt ohne Probleme. Der andere armenisch-georgische Grenzübergang ist unglaublich provinziell. Und schon setzen wieder Handy-Verhandlungen ein. Nach heftigem Hin und Her zwischen dem Driver und Hermine werde ich schließlich beruhigt, dass man mich in Jerewan abholt. Und dem ist dann auch so. Levon erwartet mich freudestrahlend, und im dicken Verbands-Mercedes geht’s nach Tsaghkadzor, ins Schriftstellerheim, etwa 50 Kilometer außerhalb Jerewans, sehr schön gelegen in den Bergen. Und hier wird für mich nun nochmals prä-sowjetische Herrlichkeit entfaltet: Lunch zu dritt (Levons Fahrer darf mittafeln) in einem prächtigen Spiegelsaal. Und natürlich gibt’s neben köstlichem Essen auch reichlich zu trinken – selbstredend immer mit Trinkspruch. Also lebe die deutsch-armenische Freundschaft! Tatsächlich entwickeln Levon und ich aber nach und nach eine Idee für ein gemeinsames Kinderbuch, ähnlich, wie ich es mit meinem tunesischen Schriftstellerfreund Salah schon zuwege brachte.

2020: Am Nachmittag besucht mich Axel, mein alter Freund und ehemaliger Landesgeschäftsführer der Landesvereinigung kulturelle Jugendarbeit (die ich 1994 mit gegründet hatte und deren langjähriger stellvertretender Vorsitzender ich auch war). Auch Axel ist also nun Rentner, kann aber auch nicht ruhig sitzen, hat beispielsweise gerade ein Kulturkonzept für die Landeshauptstadt Magdeburg entwickelt. So oft wir beide in den Welt gemeinsam unterwegs waren, von Vietnam bis Mosambik, Transnistrien und dem Senegal, haben wir uns auch seit dem Lockdown nicht mehr gesehen. Es gibt also viel zu erzählen. Am Abend lobt mich Gerda Herrmann eine treue Leserin aus Stuttgart, per Mail für mein soeben erschienenes Buch „Unerreicht. Abgehakt!“ und sie hat eine Idee, wie man vielleicht Medien noch besser auf mein „Anna-Hood-Projekt“ aufmerksam machen könne. Ich solle Ihr mal eine Genese der Anna Hood formulieren und schicken. Was ich natürlich partout erledige.

 

2023: Im Gegensatz zu früheren Swinemünde-Besuchen wird nun auch hier Abzocke unübersehbar. Ein Strandkorb kostet 25 € pro Tag! Als ich Geld tausche, bescheisst mich der Typ in der offiziellen (!) Wechselstube, um gut 70 Złoty und zeigt, als ich mich beschwere, grinsend auf ein Schild: „Geldrückgabe nach Empfang nicht möglich“. Und um in der Sky-Bar des Hotels einen Drink zu bekommen, müsste man an der Rezeption erst einen Kredit beantragen. Hä? Ja, und als wir, um Frust abzubauen, in die gestern entdeckte Kirschlikör-Bar gehen, ist dort komplett neues Personal, Scheiß-Musik und die Preise haben über Nacht beträchlich angezogen… Zum Glück sitzen wir zu guter Letzt auf dem Balkon unseres Hotelzimmers, tirnken Prosecco und sehen eine Sternschmuppe ins Meer zischen. Wünschen wir uns also was!

 

Insolvenz

für

Werner Berg / Karen Blixen / Max Burchardt / Hector-Neri Castañeda / / Andrea Dandolo / Robert Dietrich / Lucio Fontana / Eberhard Gwinner / Heidi Hazell / Marsha Hunt / Karlrobert Kreiten / Richard Lachmann / Sidney Clopton Lanier / Hans Lorbeer / María Montez / Keith John Moon / Liam O’Flaherty / Wilhelm Pieck / Rodney R. Porter / Sully Prudhomme / Edmund Rumpler / Caroline Schelling / Clärenore Stinnes / Süleyman I. / Esmée van Eeghen / Yoshikawa Eiji / Paul Zech / Warren William Zevon

 

Das kam uns wie eine Insolvenz vor:

Borodino, 1807: Schlacht zwischen napoleonischen und russischen Truppen, bis zu 80.000 Tote / 1929 kentert der finnische Passagierdampfer „Kuru“ auf dem Näsijarvi, 136 Menschen sterben / Hobart, Tasmanien, 1936: der letzte Beutelwolf stirbt / 1955 werden in Indien mehr als 45 Millionen Menschen obdachlos, die Zahl der Toten ist unbekannt / Tahiti, 1995: schwere Unruhen infolge einen vortägigen Kernwaffentest auf dem Mururoa-Atoll / Griechenland, 1999: Erdbeben, 143 Todesopfer / Grenada, 2004: Hurrikan, 39 Tote / Turoschna, 2011: Absturz einer Jak-42D beim Start, 44 Menschen kommen ums Leben / Mittelgriechenland, 2023: Überschwemmungen, mindestens 15 Tote.

 

 

8. SEPTEMBER

 

Inspiration

mit

Ariost / Avicii / Wibke Bruhns / Stefano Casiraghi / Antonín Dvořák / Ruth Elder / Helga Hahnemann / Alfred Jarry / James Bowman Lindsay / Virna Lisi / Richard Löwenherz / Ron McKernan / Maria Lassnig / Johannes Richard zur Megede / Frédéric Mistral / Eduard Mörike / Hermann Mostar / Alexander Neckam / Julián Padrón / Alexander Parvus / Wilhelm Raabe / Jimmie Rodgers / Cristoforo Roncalli / Lutz Schreyer / Peter Sellers / Tanikaze Kajinosuke / Frank Tovey / Jakob Johann von Uexküll / Lars Vogt / Wilbur Bernard Ware / Carl Weyprecht / Alexander Konstantinowitsch Woronski

 

Das inspirierte uns:

Dresden, 1020: Weihe der ersten Frauenkirche / Lleida, 1278: Schaffung von Andorra / Florenz, 1504: Michelangelo präsentiert seine David-Statue / 1529: Gründung von Maracaibo / 1883: Vollendung der Northern Pacific Railway zwischen Chicago und Seattle / San Francisco, 1951: Unterzeichnung des Friedensvertrages zischen Japan und den Alliierten / 1991 wird Mazedonien unabhängig von Jugoslawien / Semai, 2006: Unterzechung des Vertrages für eine kernwaffenfreie Zone in Zentralasien / 2006: Ende des Libanonkrieges.

 

Ich notierte:

1980: Da nach dem Urlaub und aufgrund der miesen Muggenlage eine ziemliche finanzielle Flaute eingetreten ist, ging ich heute zum ersten Mal, seitdem ich Berufsmusiker bin, zum Arzt, versuchte mich krankschreiben zu lassen, um wenigstens Krankengeld zu kassieren. „Lohnt sich das denn überhaupt?“, fragte Werner, der Arzt. Ich zählte alle möglichen Krankheiten auf, die ich alle nicht hatte. „Gut“, sagte Werner, „eine Woche reicht, ja?“

1982: Nach getaner Schreibarbeit nehme ich meine Gitarre in die Hand und grabe mir Oldies aus, improvisiere aus dem Gedächtnis, manche Titel sogar, die ich nie zuvor gespielt hatte, singe und begleite mich und spüre dabei eine alte Vertrautheit, Geborgenheit hochkommen, ja sogar etwas wie Stolz auf diese alten Songs, die man auf Bühnen zelebrierte – und auf die eigene Fähigkeit, dies gelebt zu haben. Nostalgie, doppelt?

1998: Victoria, B.C Am Morgen wieder sonniges, aber nicht mehr so heißes Wetter. Am Frühstückstisch neben Redge ein Ehepaar aus New Jersey, die gestern mal schnell mit der Fähre von Seattle herdüsten. Und glaubte ich schon, die obligate Morgenkonversation ganz gut bestreiten zu können, verstehe ich das, was die Amis so von sich geben, so gut wie gar nicht. Dann präsentiert Reneé, unsere Wirtin, stolz die Morgenzeitung, in der meine Abendlesung in der Uni angekündigt wird. Na, da bin ich doch auch stolz! Fauler Vormittag: An der Küste entlang fahren wir zum Mount Douglas, dann auf der Küstenstraße zurück bis Cattle Point, andere Perspektiven. Mittags schließlich zur Uni, Treff mit Walter Riedel und Johannes Maczewski, die „Chef“-Germanisten hier. Lunch im Faculty Club, sehr nobel, britisch fast. Gutes, intensives Gespräch, natürlich über die bevorstehenden Wahlen in Deutschland, natürlich über W.B. (Walter R. berichtet beispielsweise, dass er einen neuen Text über W.B. fertig habe, über dessen Dichter- und Künstler-Porträts), und natürlich über meine Pläne hier und überhaupt und hinsichtlich W.B. Da heute erster Studientag ist, müssen die beiden aber alsbald zu einer Versammlung.

Wir fahren zum Inner Harbour, ein bisschen shoppen, ein bisschen relaxen mit Blick aufs Hafentreiben, Whale Watcher und Wasserflugzeuge und ein- und auslaufende Fähren. Und da wir Wale also einmal mehr nicht in natura sahen, sehen wir uns im IMAX im B.C. Museum einen Film über Wale an. Dann ins Quartier und Konzentration auf den Abend, auf meine lecture in der Universität. Erstaunlich viele Leute kommen, es müssen sogar noch Stühle herangeschafft werden. Selbst Angelika als Moderatorin des Abends scheint überrascht. Meine Lesung scheint im wahrsten Wortsinne anzukommen, aufmerksame und an den richtigen Stellen lächelnde Gesichter. Lebhafte Diskussion dann, ging’s doch um Ostdeutschland nach der Wende (so mein Thema), was sonst, da ich keinen abgehobenen Vortrag halten, sondern aus der aktuellen Produktion lesen wollte. Eindruck: die durch Medien in deutsche Kolonien vermittelte Sicht auf ostdeutsche Probleme ist eindeutig die westdeutsche. Meinen Erklärungen wird aber zumindest nicht widersprochen. Da sie logisch, da sie ehrlich klingen? Beispiel: Die übliche Frage, warum Ostdeutsche denn weniger leistungsfähig als Westdeutsche seien, kontere ich ironisch mit dem Hinweis auf die eigene Selfmade-Entwicklung. Allerdings weise ich dezent auch darauf hin, dass (meines Erachtens) individuelles Handeln durch gesellschaftliche Umstände mitbestimmt ist... Nach der Diskussion kommen nicht wenige der Zuhörer zum persönlichen Smalltalk. Immerhin erfahre ich so wieder einiges über andere Exilanten-Schicksale: Der 1956 aus Schwerin abgehauene Handwerksmeister, der die nun in Scharen einfallenden deutschen Touristen verflucht, aber nicht schlecht von ihren kaputtgehenden Mietwagen lebt. Die 1952 aus Hof gekommene Dame, die für meine Lesung eigens aus Port Alberni kam und meint, dass die Landschaft hier ihr geholfen habe, sich heimisch zu fühlen, Berge und Seen. Die Lady aus Nordhausen, die mit mir nett plaudert über „in Schutt und Asche“ liegende ostdeutsche Städte und dergleichen, zu Jeanny aber geht und sagt, daß „die mit den krummen Nasen“ (die Juden) schon wieder überall das Sagen hätten... Der Bodenseeler, der schon 1946 kam und sich von Toronto nach Victoria vorarbeitete und nun im Edelweißclub Mitglied ist und im deutschen Chor sogar in Tracht auftritt. (Angelika bekennt später, sie sänge dort auch und im Dirndl - wonderful!) Walter R. bedankt sich am Ende im Namen der Universität sowie auch im eigenen Namen (und das klingt im Gegensatz zum Besuch vor drei Jahren sogar recht locker und überzeugend). Angelika, Horst, Otto (der Bodenseeler) und ein junger Assistent, der frisch aus Berlin einflog, um hier ein Semester DFA zu geben (Was bitte? - frage ich. Alle gucken mich verständnislos an. Na, DFA - Deutsch für Ausländer! Aha.), wir fahren also zu Smugglers Cove, die Kneipe gleich um die Ecke, unsere Stammkneipe nachgerade schon. Und es wird noch ein lockerer und interessanter Abend bei Pale Ale. Da ich bei der Lesung die deutsche „Kolonie“ in Victoria angesprochen hatte (die immerhin 18 000 people stark ist - in B.C. stellen Deutschstämmige 10% der Bevölkerung! erfahre ich) kommen wir auf Deutsche im Ausland schlechthin zu sprechen. Ich erzähle irgendwann von Deutschstämmigen in Kasachstan, die offenbar ihre Sprache und Kultur der Auswanderungszeit unter Katharina der Großen bewahrt und kultiviert hatten und insofern reaktionär oder lächerlich (je nachdem) wirkten. Für Deutsche in Kanada scheint diese Art der „Koloniebildung“ jedoch nicht zuzutreffen (erfahre ich). Anfangs (d.h. in der „Bauerschen Auswanderungswelle) wohnte man vielleicht noch zusammen, kam dann aber bald zu Geld und „wohnte sich auseinander“. Die Deutschen assimilierten sich, anders als Italiener oder Chinesen beispielsweise, und in einer Mischung von „Abstand zum Deutschsein gewinnen“ und „vom Pioniergeist Kanadas profitieren wollen“ ungemein. Frage: Warum setzte nicht 1969 (nach der 68er Ernüchterung) keine zweite westdeutsche Auswanderungswelle nach Kanada ein?

2000: Am Morgen mit schreibenden Schülern nach Bitterfeld zum Sachsen-Anhalt-Tag. Vor unserer Offenen Schreibwerkstatt habe ich noch eine Lesung in der Grundschule Holzweißig. Läuft mal wieder sehr gut. Und auch die Werkstatt ist erfolgreich, obwohl ein Ratssitzungssaal selbstredend keine ideale Atmosphäre für Literatur bietet und vom Markt die Lautsprecherboxen der Bühnen hereindröhnen. Aber es werden gute Texte gelesen, fair und interessant diskutiert, und das Fernsehen nimmt tatsächlich alles auf, interviewt am Ende Schüler wie auch mich, wird so also unser Anliegen in eine breitere als die sonst erreichbare Öffentlichkeit tragen. Am Abend mit Jeanny nach Halle. Konrad wird 50.

2010: Nach dem Frühstück Besichtigung der alten, doch gut restaurierten Klosteranlage Ketscharis. Während in Jerewan schon wieder 40°C sein sollen (wie ich höre), ist es hier im beliebten armenischen Wintersportort Tsaghkadzor (übersetzt: Tal der Blumen), fast 2.000m über dem Meeresspiegel angenehm frisch. Keine Frage, der Schriftstellerverband hat mit der Ortswahl für sein Heim eine gute Wahl getroffen. 18 Tage pro Jahr kann hier wohl jedes Verbandsmitglied unentgeltlich wohnen und schreiben. Gegen Mittag dann ein Treffen mit den jetzt hier urlaubenden und einigen Kollegen aus der Region. Da kommt ein munteres Trüppchen von etwa 50 Leuten zusammen. Konferenzraum, Sprechanlage, einmal mehr: großes Interesse (was nicht besagt, dass immer mal wieder mobiltelefoniert, Zeitung gelesen oder kurz mal rausgegangen wird). Ich lese wieder meine Miniaturen, die dank Hermine ins Armenische übertragen sind. Danach lebhafte, sehr positive Diskussion (wobei erst einmal die großen deutschen Dichter aufgezählt werden, die man sehr schätzt: Goethe, Heine, Kafka, Brecht, jedoch auch Neugierde auf neue Formen und Themen betont wird).

Danach Fahrt mit Levon und Edward Militonjan und den anderen Präsidiumsmitgliedern zum Sewan-See, dem vierthöchst gelegenen See der Erde. Prasdnik, Festessen in einem Restaurant am Seeufer, noch einmal wird groß aufgetafelt. Hendrik wird zum Tamadan ernannt, er hat also nunmehr Trinksprüche auszubringen und anzuzeigen, wer als nächster einen Trinkspruch auszubringen hat. Und natürlich folgt jedem Trinkspruch dann auch das Trinken, Wodka heute, na, denn Prost! Mein Wunsch, die uralten Kirchen auf der einstigen Sewan-Insel, die aufgrund des in den letzten Jahrzehnten durch massive Wasserentnahme rapide gesunkenen Seespiegels nur noch eine Halbinsel ist, diese uralten Kirchen also zu besichtigen, wird mir selbstverständlich erfüllt. Und ich spüre natürlich auch, wie wichtig es meinen Kollegen ist, dass ich Interesse für die Wurzeln ihrer Kultur habe. Und ich denke auch, dass sie spüren, dass dies kein gekünsteltes, sondern ein echtes Interesse ist, nicht zuletzt, da ich Ossip Mandelstams „Reise nach Armenien“ parat habe: Was ist über das Klima auf Sewan zu sagen? – Goldwährung von Cognac im kleinen Geheimschrank der Bergsonne…

2013: Nachtzug Bukarest-Chisinau. 13 Stunden im Schlafwagen. Mit mir im Abteil: Axel. Wie oft schon waren wir gemeinsam in der Welt unterwegs: Senegal, Vietnam, Mosambik… Dienstreisen.

Nun, da ich 60 wurde und Axel demnächst 60 wird, leisten wir uns privatim eine Reise in ganz andere Gefilde, einen Trip, den wir uns selbst als Alte-Männer-Reise in Rudimente eines alten Weltsystems benamsten. Ursprünglich hatten wir Nord-Korea avisiert. Das aber erschien uns irgendwann als zu heiß und: als zu teuer! So zuckeln wir denn also des Nachts durch die Walachei nach Bessarabien. Zwei Tage Bukarest liegen hinter uns. Als Umschalt-, als Einstimmungsstation gedacht, bot die Hauptstadt Rumäniens uns einiges mehr. Als umkompliziert für Touristen empfanden wir diese Metropole, als freundlich und durchaus sehenswert. Auch das Parlamentsmonstrum besichtigten wir selbstredend: zweitgrößtes Gebäude der Welt (nach dem Pentagon), größtes Europas ergo. Von Ceausescu Anfang der 1980er Jahre in Auftrag gegeben, erdacht von 700 Architekten, erbaut von 20.000 Arbeitern: riesige Vestibüls, Flure, Säle, 3.000 Räume. Prunk allenthalben (doch alles, vom Marmor über Täfelungs- und Parkettholz bis zu den gigantischen Teppichen und Vorhängen stolz aus rumänischer Produktion). Der Bauherr konnte der Einweihung im Jahre 1994 aber nicht mehr beiwohnen, da er ja bekanntlich fünf Jahre zuvor erschossen wurde… Protestiert wird heuer in Bukarest allerorts und unüberhörbar, vorm Parlament, auf dem Universitätsplatz, auf Boulevards… und für und wieder den derzeitigen Staatspräsidenten offenbar. Wir entdecken jedoch auch bestens restaurierte Kirchen, Klöster, Art-deco-Stadtviertel, quirlige Parks, zuverlässige und preiswerte U-Bahnen und Busse, empfehlenswerte Restaurants. Kurzum: die Hauptstadt des EU-Landes Rumänien erschien uns (entgegen häufiger Medienstimmungsmache) angenehm europäisch.

2020: Jeannny und ich starten nun endlich zu der Reise, die wir schon anlässlich meines Geburtstages im Juni starten wollten, was da­mals jedoch durch Corona noch nicht möglich war. Auf nach Südtirol, auf in Laurins Reich, in den Rosengarten! Erster Zwischenaufenthalt: die Zugspitze. Massen über Massen (wahrscheinlich all die Leute, die sonst auf Malle oder Kreuzfahrtschiffen säßen). Übernachtung in Grainau.

2021: Auf nach Ahlbeck! Mit einem Ostsee-Trip in der Nachsaison hatten wir schon seit längerem geliebäugelt, doch wollten wir eigentlich nach Polen, nach Swinemünde. Die ansteigenden Corona-Zahlen hatten uns jedoch umbuchen lassen. Hin käme man ja vielleicht noch zurück… Also nach Jahren mal wieder Ahlbeck.

2022: Just an dem Tag, für den wir seit langem mal wieder einen Ausflug zum Fichtelberg geplant haben, beginnt es nach einem Vierteljahr Hochsommer zu regnen. Wir lassen’s uns jedoch – selbst wenn auf es unentwegs wolkenruchartig schüttet - nicht verdrießen. Kurzer Abstecher nach Tschechien, da ich entdeckte, dass wir von unserer letzten Reise nach Prag (meingott wie lange ist das her – zehn/elf Jahre?) noch einen 1000-Kronen-Schein übrig hatten. Der ist zum Glück noch gültig und so münzen wir den in Karlsbader Obladen, Fernet-Citron und Tuzemsky-Rum um. Und im Fichtelberghotel dann lassen wir’s uns gut gehen: Knoblauchsuppe, Knödel, Apfelstrudel und Vogelbeerlikör. Und am späten Nachmittag klart es soweit auf, dass wir sogar eine kleine Gipfel-Wanderung hinkriegen, trockenen Fußes.

 

2023: Nach Ahlbeck mit dem Bäderbähnchen, hier waren wir zuetzt zu Corona-Zeiten und reisten früher an, da das Wetter schrecklich war und uns auch manch anderes trostlos erschien. Heute gibt’s auf jeden Fall Sonne satt. Ahlbecker Boden zu betreten, erweist sich allerdings mittlerweile als schwierig: An der Haltestelle verlangt ein Politessnik rüde Wegezoll, sprich: Kurtaxe. Die sei sofort bei ihm zu entrichten, sonst sei kein Aufenzhalt in Ahlbeck möglich. Nun gut, berappen wir also pro Nase 3,10 €. Das dürfte dann aber wohl unser letzter Besuch hier gewesen sein.

 

Insolvenz

für

Dieter Aschenborn / Aage Niels Bohr / Daniel Czepko von Reigersfeld / Dorothy Jean Dandridge / Francisco de Quevedo / André Derain / Elisabeth II. / Julius Fučik / Ullrich von Hassell / Hermann von Helmholtz / Victor Horta / Olga Wsewolodowna Iwinskaja / Rolf Werner Juhle / Friedrich Gottlob Keller / Hans Leybold / Ana Maria Mendieta / Thomas Mofolo / Hermann Mostar / Pjotr Nikolajewitsch Nesterow / Bjarni Pálsson / Oscar Pettiford / Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld / Marco Siffredi / Wassili Iwanowitsch Sternberg / Richard Strauss / Jurij Šubic / Elisabeth von Thadden / Tiyanoga / Siegfried Uhlenbrock / Johan Coenraad van Hasselt / Don Williams / Gerald Stanley Wilson / Josef Wirmer / Zhang Ailing / Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausen / Johannes Jacobus „Joost“ Zwagermann

 

Da fühlten wir uns insolvent:

Warschau, 1831: Niederschlagung des „Novemberaufstandes“ durch russische Truppen / Michigansee, 1860: der Raddampfer „Lady Elgin“ sinkt nach der Kollision mit einem Schoner, mehr als 400 Tote / Galveston, Texas, 1900: ein Hurrikan zerstört die Stadt, bis zu 8.000 Tote / Kalabrien, 1905: Erdbeben, 557 Todesopfer / 1934 brennt der Luxusdampfer „Morro Castle“ vor New Jersey aus, 137 Menschen sterben / Teheran, 1978: bei Demonstrationen gegen den Schah kommen 64 Menschen ums Leben / 1988 bildet sich über den Leeward Islands der Hurrikan „Gildert“, durch den in elf Tagen bis Texas 318 Menschen getötet werden / 1994 stürzt eine Boeing 737 bei Pittsburgh ab, alle 132 Insassen sterben / Moskau, 1999: Bombenexplosion in einem Hochhaus, 94 Tote.

 

 

9. SEPTEMBER

 

Assimilierung

mit

Hana Androníková / Aurelian / Mary Hunter Austin / Francesco Barozzi / John Blackwell jr. / Brassaï / Clemens Brentano / Johann Friedrich Cassebohm / Serafina Dávalos Alfonze / Poul Egede / Girolamo Frescobaldi / Luigi Galvani / Paul Goodman / Manuel Göttsching / Paul Henckels / Uwe Herms / James Hilton / Elvin Jones / Danny Kalb / Kalki / Yurii Leonidowych Kerpatenko / Li Yangjie / Milton Manaki / George Mraz / Mirosław Nahacz / Zbigniew Namysłowski / Ernst Oppler / Cesare Pavese / Otis Redding / Max Reinhardt / Fritz Reuter / Dennis Ritchie / Saichō / Joachim Andreas von Schlick / Lew Nikolajewitsch Tolstoi

 

An diesem Tage hofften wir auf Assimilierung:

1409: Gründung der Universität Leipzig / Bern, 1886: Unterzeichnung der „Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und der Kunst“ / 1945: Ende des Japanisch-Chinesischen Krieges / 1948: Proklamation Nordkoreas / 1991 wird Tadschikistan unabhängig von der Sowjetunion.

 

Ich notierte:

1985: Heute in der Post: eine Einladung des Verbandes zu einer Sitzung der Kandidatengruppe nach Berlin. Das heißt offenbar: ich bin nun Mitglied der Kandidatengruppe des Schriftstellerverbandes! Schau an, schau an.

1998: Victoria, B. C. Beim Frühstück gibt mir die Wirtin einen Zettel mit einer Telefonnummer. Mister Otto bittet um Rückruf. Otto, der Bodenseeler. Ja, er möchte uns gern einladen und würde auch gern mehr von mir lesen. Schade, dass wir feste Reisepläne, Termine haben, los müssen. Aber einige Bücher lasse ich ihm natürlich da. Und dann müssen wir Victoria also verlassen. Bye bye. And maybe see you later? Am Ende des Malahat Drive finden wir eine traumhafte Badebucht, Bamberton Beach, und kommen nun sogar noch zum Bad im Pazifik. Ganz allein, keine Menschenseele weit und breit. Nur eine Robbe taucht plötzlich neben uns auf... Während der Weiterfahrt ein Sender, der ausschließlich Hits der später sechziger Jahr spielt, jener Zeit, als man vor Sehnsucht nach der großen Freiheit Westküste fast verging. Und irgendwie scheint auf einmal ein Hauch jener Zeit hereinzuwehen.

Nächster Zwischenstopp in Chemainus, kurz vor Nanaimo. Ein Dorf, das für seine Wandmalereien berühmt wurde. Tatsächlich lockt diese Besonderheit unzählige Touristen an. Ein Restaurant preist sogar Smoked Bratwurst with Sauerkraut an! In Nanaimo dann auf die Fähre nach Horseshoe Bay. Sehr schöne Überfahrt bei ruhiger See und klarer Sicht. Gigantische Rocky-Silhouette und rechts voraus die Skyline von Vancouver. Dann auf den Highway 99 und weiter nach Norden, in die Rockies hinein. Bis Whistler wollten wir heute kommen, doch erscheint uns diese Retortenstadt als zu hektisch und zu steril trotz malerischer Umgebung. Wir fahren weiter und weiter, hoffen auf ein natürliches Städtchen. Doch nichts da. Und in D’arcy ist dann tatsächlich die Welt, will sagen: die Straße zu Ende. Eine Piste in die Berge hinein ist nur für Four Wheel Drive zugelassen, dieses Risiko wage ich nicht einzugehen, und alle andere Wege hier in diesem Reservatort sind Sackgassen, auf denen Pferde und Rinder laufen, stehen, liegen: Hie und da eine mehr oder weniger vernachlässigte Farm, Indianer gelegentlich, keine Hinweisschilder, kein Laden, geschweige denn ein Hotel. Und auch kein Tankstelle. Das allerdings macht mir wirklich Sorgen, denn der Sprit geht zur Neige und es wird zusehends dunkel. Mit recht gemischten Gefühle also zurück, Wald, Wald, Wald, endlich nach etwa 60 Kilometer Ängste Pemberton, eine Tankstelle, dann auch ein Hotel, zwar an einer Railway Station, aber immerhin. Ringsum einige verstreute Häuser, das ist Pemberton. Doch essen wir gut zu Abend, ribs, marvellous! Dann noch ein Fläschchen kanadischen Wein im Hotel und gute Nacht. Stündlich wohl fahren schier endlose Güterzüge mit Heidenlärm vorbei. Oder fahren die durch unser Zimmer? Anyway. Pemberton eben.

1999: Will sagen: 9.9.99 - und auf dem Weg nach Norden begegne ich etlichen Hochzeitskonvois. Es scheint eine wahre Hochzeitshysterie ausgebrochen in Deutschland. Ich habe zuerst in der Bödecker-Geschäftsstelle in Niegripp zu tun, dann in unserer Außenstelle in Möser und fahre schließlich zur Bundesgartenschau nach Magdeburg, wo ich der Jury des Vorlesewettbewerbs Magdeburger Grundschulen angehöre, Veranstaltungsort: der so genannte Jahrtausendturm, stimmungsvoller, imposanter Bau. Und der Wettbewerb bietet interessante Einblicke in kindliche Fertigkeiten und Verhaltensweisen.

2013: Chisinau, die Hauptstadt der Republik Moldau, des ärmsten Staates Europas, scheint die höchste Dichte an Wechselstuben weltweit zu haben. Wohl an jedem zweiten Haus prangt ein Exchange-Schild, dazu allenthalben Banken und Reisebüros. Im gepflegten Park nahe des hiesigen Triumphbogens wird mit halbmannshohen Figuren leidenschaftlich Schach gespielt. Kiebitze diskutieren die Züge mit Händen und Füßen. Der moldawische Arc de Triumphe soll an die Eingliederung dieses bis 1812 osmanisch beherrschten Landstrichs, Bessarabiens also, ins Zarenreich erinnern. Aus den erbeuteten türkischen Kanonen goss man eine Glocke, die allerdings für den Turm der Kathedrale zu groß wurde und so letztlich in den Triumphbogen kam. Bevor das Gebiet zwischen Dnestr und Pruth unter osmanischen Einfluss kam, gab es hier ein Fürstentum Moldau. Im Zuge des Ersten Weltkriegs kam das russische Bessarabien an Rumänien, im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts 1940 an die Sowjetunion (wobei etwa 1 Million Bessarabien-Deutsche ins Reich umsiedelten/umgesiedelt wurden), nachdem Hitler die Sowjetunion überfallen hatte, gehörte das Gebiet wieder für drei Jahre zu Rumänien (als Verbündeter Großdeutschlands), war danach bis zur Wende Sowjetrepublik und firmiert nun seit 1991 als selbständiger Staat. Im Zuge dieser Staatsgründung wiederum spaltete sich in (bürger)kriegsähnlichen Auseinandersetzungen der mehrheitlich von Russen bewohnte, jenseits des Dnestr liegende Landstrich (sic!) Transnistrien ab (in Abgrenzung zu dem von rumänischstämmigen Moldawern besiedelte Gebiet zwischen Pruth und Dnestr). Stalin hatte (in etwa) dieses Gebiet einst als Moldawische Sowjetrepublik gegründet, um seine Ansprüche auf das an Rumänien verlorengegangene Bessarabien zu verdeutlichen. Transnistrien existiert seitdem als de facto Staat – von keinem anderen Staat der Welt anerkannt, ähnlich Berg-Karabach, Abchasien oder Süd-Ossetien. Neben unserem Hotel locken zwei supermoderne Kaufhäuser. Drin sind dann aber wesentlich mehr Verkäuferinnen (schläfrige, gelangweilte, mit sich selbst beschäftigte) als Kunden zu entdecken. Heilloses Gedränge hingegen auf den Straßenmärkten der Stadt, abenteuerlicher Mix aus Fleisch-, Floh-, Gemüse-, Fisch- und Klamottenmarkt, dabei auch immer mal wieder Bistros. Und da drin sieht man Moldawier immer mal wieder schnell Sto Gramm kippen. Kein Wunder: Wodka ist hier preiswerter als Saft oder Cola. Und Axel meint, so billig wie hier habe er noch nirgendwo Zigaretten kaufen können. Ein Paradies für Alkoholiker und Nikotinsüchtige offenbar. Besoffene sind im Straßenbild jedoch ebenso selten zu entdecken wie Bettler, Raucher allerdings reichlich. Am Abend genießen Axel und ich die Aussicht vom Balkon unseres Hotelzimmers, 10. Stock, über die geschäftigen Alleen Chisinaus. Vorm Hotel klotzt als Denkmal Kotschubej, roter Reitergeneral und Filmheld meiner Kindheit. Der ist hier also auf dem Sockel geblieben. Prost! (Das sollte man aber besser nicht in der Öffentlichkeit sagen, da Prost auf Rumänisch dumm heißt…). Bemerkenswert auch: das Badezimmer unseres aus Kotschubej-Zeiten stammenden Hotels erweist sich als unglaublicher Pfusch. Was aber ist wichtiger: ein funktionstüchtiges Klo installieren oder ins All fliegen zu können?

2017: Schloss Köthen. Nach mir tritt ein Knabe ans Urinal. Und während ich mich noch ums Starten mühe, zischt sein Strahl schon in die Rinne. Später wird er auf die Bühne gerufen und für sein Gedichtchen über den großen Bach, Johann Sebastian, prämiert. Ja, und ich habe zu gratulieren.

2020: Von der Zugspitze weiter über den Fern- und den Reschenpass. Abstecher in die Schweiz, zum altehrwürdigen Kloster Mustair – mit wunderbaren karolingischen Wandmalereien, größtenteils großartig frisch restauriert. Dann rätoromanisches Mittagessen, kurzer Halt in Glurns. Und zweiter Zwischenaufnethalt in Kastelbell im Vinschgau. Hier waren wir vor etwa 25 Jahren, bei ersten Erkundungen dieser Region schon mal hängengeblieben. Reminiszenzen also. Mit dem Kastellan des hiesigen Schlosses waren wir damals, nachdem er uns stolz durch sein renoviertes Reich geführt hatte, in einer Weintorkel schwer versackt. Doch anstelle des urigen Weinkellers macht sich nun eine Hotelanlage breit, weit und breit keine Südtiroler in blauer Schürze beim Abendtrunk mehr zu entdecken. Immerhin erfahren wir von der schwerfälligen Kellnerin, dass der Kastellan schon vor etwa 15 Jahren verstarb. Nun denn, trinken wir also einen Schoppen zu seinem Gedächtnis.

 

Aufbahrung

für

Dschalāl Āl-e Ahmad / American Horse I / George Bizos / Jussi Björling / Gérard Brach / Pieter Bruegel (der Ältere) / Sahar Chodayari / Bertrand François Mahé de La Bourdonnais / Belén de Sárraga / Robert Frank / Salomo Friedlaender / Horst Fuhrmann / Reinhard Alfred Furrer / Humphrey Gilbert / Alfred Grünewald / Yılmaz Güney / Lily Hildebrandt / Shere Hite/ Abe Kaoru / Walter Kaufmann / Daniel Küblböck / Adele Kurzweil / Jacques Lacan / Hugo Lindo / Rita Maiburg / Stéphane Mallarmé / Mao Tse-tung / Ahmad Schah Massoud / Dorothea Milde / Mzilikazi / Olav I. Tryggvason / Anton Emanuel Peschka / Virginia Rappe / Johannes Riemer / Ihara Sakaku / Jakob Thomasius / Henri de Toulouse-Lautrec / Ali-Naghi Vaziri / Wilbur Bernard Ware / Jack L. Warner / James Weddell

 

Da meinten wir, aufgebahrt zu sein:

Neufundland, 1775: Hurrikan, mehr als 4.000 Todesopfer / Dominica, 1806: Hurrikan, 457 Tote / 1919: gerät der spanische Passagierdampfer „Valbanera“ vor Havanna in einer Hurrikan und verschwindet spurlos mit 488 Menschen an Bord / 1922: erobern die Türken im Griechisch-Türkischen Krieg Smyrna und töten oder vertreiben die griechische Einwohnerschaft / Ech Cheliff, Algerien, 1954: Erdbeben, 1.250 Todesopfer / Jakarta, 2004: eine Autobombe explodiert vor der australischen Botschaft, 11 Tote / Brasilien, 2023: Unwetter, mindestens 42 Tote / Marokko, 2023: bei einem Erdbeben südwestlich von Marrakesch kommen mehr als 2.900 Menschen ums Leben. 

 

 

10. SEPTEMBER

 

Reisen

mit

Jeppe Aakjær / Waldimir Klawdijewitsch Arsenjew / Uri Avnery / Georges Bataille / Georg Benjamin / Roy Brown / Boris Djacenko / Edmund Edel / Itzik Feffer / Stephen Jay Gould / Manfred Hausmann / Niccolò Jommelli / Jim Hines / Robert Koldewey / Karl Lagerfeld / Jan Sladký Kozina / Herbert Lange / Reinhard Lettau / Mona Mahmudnizhad / Franco Manzecchi / Henry Purcell / Lee Rauch / Otto Reuter / Jón Steingrímsson / Joseph Anton Stranitzky / Yma Sumac / Franz Viktor Werfel / Robert Wise / Thomas Wyatt d. J.

 

So gingen wir zielbewusst auf Reisen:

Nystadt, 1721: Friedensschluss im Großen Nordischen Krieg zwischen Schweden und Russland / 1846: erhält Elias Howe das US-Patent für seine Nähmaschine / 1944: Befreiung Luxemburgs durch amerikanische Truppen / Straßburg, 1952: erste Versammlung der Montanunion / Yamoussoukro, 1990: Weihung der Basilika Notre-Dame de la Paix.

 

Ich notierte:

1979: In Deuben angekommen empfängt mich die Sekretärin des Klubhausleiter Riedels mit einem: „Sie werden schon erwartet!“ Ich mache ein erstauntes Gesicht, obwohl ich instinktiv weiß, wer da auf mich wartet. Ja, der Parteisekretär. Endlich das Gespräch, auf das ich seit Juni wartete. Ungezwungen, sachlich herzlich, sofort im Du (seitens des Parteisekretärs) und konstruktiv. Viele, den Entwurf für mein Gedenkstück für das Pirkauer Mahnmal gelesen hätten, seien spontan dagegen gewesen. Auch er. Ja, er habe zuerst nicht verstanden, was genau ich bezwecke, was ich erreichen will, dann aber habe er sich gesagt, der Mann muss sich doch was dabei gedacht haben – und so habe er genauer hingesehen… Zum Abschied drückt er mir kräftig die Hand und meinte, er freue sich, einen interessanten Mitstreiter gefunden zu haben: „Glück auf!“ Nun ja, Bestätigung kann ich derzeit durchaus gebrauchen.

1980: Heute war ich mit Wim verabredet. Wir wollten bei der Kartoffeleinkellerung helfen, um etwas hinzuzuverdienen. So rechte Lust hatte ich nicht, gestern hatte ich ein erstes Krankengeld abholen können. Und dann springt das Auto nicht an. Unser Autofritze kommt vorbei und tauscht den Anlasser. Die Kosten sind so höher als meine gestrigen Einnahmen. Aber das Auto ist wieder ok. Ich fahre Kartoffelneinkellern.

1981: Am Abend ein Film über Issac Bashevis Singer. Er sagt: Drei Bedingungen müssten erfüllt sein, damit man eine Geschichte wirklich schreibt: Erstens – man muss eine Handlung mit Anfang, Mitte und Ende haben. Zweitens – Das Bedürfnis, diese Geschichte schreiben zu wollen, muss drängend sein. Drittens – Die Überzeugung, dass nur man selbst diese Geschichte schreiben kann. Denn hätte man die nicht, wäre es nicht meine Geschichte!

1985: Mir schwant, was Schriftstellerei mit Schauspielerei gemein hat: jede Figur ist man irgendwie selbst.

1997: Vom Elend Sachsen-Anhalts berichte ich Gabriela und Meynardo aus Monterrey, Mexico, während wir durch blühende Landschaften rasen: Arbeitslosigkeit, Schulden und Frust. Da blitzt es uns heftig ins Auto und ich habe in die Kasse meines Heimatlandes zu zahlen, reichlich. Am Abend spendiere ich den beiden, die mich zu trösten versuchten, Tequila.

1998: Frühstück in Pemberton, das heißt, in einem saloonähnlichen Raum voller Arbeiter (Holzfäller?), alle paffend, Corned Beef mit Eiern zu essen. Es gibt eben für alles ein erstes Mal! Weiter gen Norden: Von Pemberton über den Highway 99 bis Lilloet, wo einst (vor 100 Jahren erst!) die Goldgräber weiter in die Wildnis vordrangen. An einem unglaublich ruhigen, friedlichen Wasserlauf sehen wir Unmengen Lachse springen (auch zum ersten Mal), Reiher kreisen darüber. Und wir queren ein Indianer Reservat. Deren Anwesen erinnern mich entfernt an die Behausungen der Beduinen in der Judäischen Wüste, alles vermüllt. Seltsam, daß diese alten nomadischen Völker heute Ordnungen zeigen, die denen der sie umgebenden Zivilisation so entgegengesetzt wirken. Doch was für eine Ordnung hat die Zivilisation, die sogenannte, in die Welt gebracht! Welch unnatürliches Chaos! Vorsicht also, mit oberflächlichen Wertungen von Lebensformen. (Wozu noch kommt, daß dieses ganze riesige Land hier noch vor 100 Jahren den Indianern gehörte!) Die Fahrt durchs Gebirge eröffnet ständig neue Landschaften, von Gletschern, über türkisfarbene Bergseen, zu Steppen und Hochwüsten mit sagenhaften Schattierungen von Braun- und Grautönen und Salzseen, zu canyonartigen Tälern, zu Flussläufen mit breiten Sandstränden und olivfarbenem Wasser. Dazu ständig wechselnde Temperaturen und sonstige Wetterverhältnisse, windig und kalt bis schwülwarm. Die Route: Pemberton - Lilloet, Cache Creek, Kamloops, Little Fort, Bridge Lake, 100 Mile House, 108 Mile Ranch. Hier erwartet und Frau H. Und diese Verabredung hat ihre Geschichte: Durch den SPIEGEL hatte Frau H. von meiner Graureiherzeit erfahren, und da sie aus Bad Dürrenberg stammt und da noch eine Schulfreundin hat, ließ sie sich das Buch schicken. Und offenbar beeindruckt von der Lektüre, rief sie vor einem halben Jahr etwa plötzlich bei uns zu Hause in Leuna aus Kanada an. Wir wollten’s zuerst gar nicht glauben. Doch dann kam diese Verabredung zustande. Von 1946 bis 1959 studierte Frau H. in Halle an der Burg Giebichenstein, arbeitete dann in Berlin als Formgestalterin und Mitarbeiterin in Architekturbüros, geriet offensichtlich in den Strudel politischer Ereignisse, ging 1956 mit ihrem Mann nach Westberlin, von da nach Stuttgart, wo ihr Mann bei Mercedes als Karosseriedesigner in Sindelfingen Anstellung fand. Mit 42 Jahren starb er Ende der sechziger Jahre jedoch an Herzversagen und seine Frau, die gelegentlich auch schon in der Firma tätig gewesen war, nahm seine Stellung ein. 1988 aber wanderte sie, da die Stasi sie mit fin­gierten Haftbefehlen (?) zu fangen (?) suchte, nach Kanada aus. Nach 108 Mile Ranch geriet sie, da sie bereits zwanzig Jahre zuvor (Ende der sechziger Jahre?) mit Gerald, einem damaligen sindelfinger Mitarbeiter (ihres Mannes?) auf Urlaubstrip durch Kanada war und genau hier für einige Zeit Station gemacht hatte, da es ihnen hier so ausnehmend gut gefiel. Und 1988 schließlich kehrte sie mit Gerald (der gut zwanzig Jahre jünger als sie ist) hierher zurück, und sie bauten sich ein Haus und ein neues Leben auf. Hier am Highway 97, an der alten Goldgräberstraße, die den Orten den Namen gab: 100 Mile House, da 100 Meilen von Lillioet entfernt eine Station stand, 108 Mile House, da dann die nächste zu finden war. Hier, etwa tausend Meter über dem Meeresspiegel, auf einem schön gelegenem, weiten Hochplateau mit vielen kleinen Seen, haben sich sehr viele Deutsche und Schweizer angesiedelt, da sie sich irgendwie an die Heimat erinnert fühlten (wie Gerald erklärt). Drei Sorten von deutschen gäbe es hier: Die sogenannten Rucksack-Deutschen, die in den fünfziger Jahren ins Land kamen und es mit aufbauten, es mit zu dem machten, was es heute ist, die W.B.-Generation also. Dann die „Container-Deutschen“, die in den achtziger Jahren als Wohlhabende hierher kamen, um geruhsam ihren Lebensabend zu verbringen (Frau H. beispielsweise), und die von den Rucksack-Deutschen scheel angesehen werden. Sowie die deutschen Immobilien-Makler, mit denen sich am besten keiner einlässt. Aber so kategorisch scheint’s denn doch nicht abzugehen. Gerald findet hier kaum Arbeit, Gelegenheitsjobs nur, da er als absolut überqualifiziert gilt. Und Frau H. macht sich Sorgen wie sie seinen Lebensabend absichert, die Zeit also, wenn sie „mal nicht mehr ist“, erwägt derzeit sogar ihr abenteuerliches Leben, in dem große Namen immer wieder eine Rolle spielten, Max Stamm, Hofer, Crodel, Karl-Erich Müller, Heisig... aufzuschreiben, um damit einen Bestseller zu landen. Why not.

Nicht uninteressant auch, was Gerald so über Land und Leute erzählt: British Columbia ist zwar viermal so groß wie Deutschland, es leben aber nur 3 Millionen Menschen hier, und davon wiederum gut die Hälfte im Großraum Vancouver. Umso weiter man in den Norden kommt, wird es also immer einsamer. Immerhin sind in B.C. jedoch mehr als 3 Millionen Autos zugelassen. In Prince George (wo wir morgen Abend zu sein hoffen), endete noch in den vierziger Jahren das hiesige Straßensystem. Erst als die Amerikaner nach dem Angriff auf Pearl Harbour Angst hatten, die Japaner könnten Alaska besetzen, wurde in Windeseile der Transalaska-Highway gebaut (als Schotterpiste - 2000 km Schotterpiste!), und kürzlich erst, zu dessen 50. Jubiläum asphaltiert. Seitdem sieht man in 108 Mile Hause auf der Route 97 im Frühjahr Scharen von Ame­rikanern mit ihren Wohnmobilen in den Norden und im Herbst zu­rück in den Süden ziehen. Im Winter sei es in 108 Mile House nicht selten bis zu 60° Minus kalt, die, Luft bleibe aber so trocken, und kein Lüftchen wehe, dass man bei normaler Wintertemperatur von -30°C durchaus im Hemd im Freien sitzen könne! Während wir plaudern, steht plötzlich ein gewaltiger Hirsch vorm Haus. Das sei allerdings noch gar nichts, meint Gerald, neulich sei er vor der Garage einem Bär gegenübergestanden. Ich sehe Jeanny blass werden... Nervös werde ich, als ich höre, dass Air Canada streikt, und wir nach einigen Anrufen herausbekommen, dass alle Flüge bis zum 13.9. ersatzlos gestrichen sind. Über den 14.9. (wenn wir von Edmonton nach Toronto fliegen wollen, nein, müssen!) könne man noch nichts sagen, sorry. Wir sollten uns am Flugtag am Flugschalter melden, notfalls bekämen wir unser Geld zurück. Ja, aber wenn tatsächlich nichts flöge, hätten wir 4000 Kilometer Land vor uns und keinen Mietwagen mehr und Verabredungen, nein, Verpflichtungen in London, Ontario. Na, denn Gute Nacht.

1999: Mein Zahnarzt eröffnet mir, dass mir spätestens Anfang nächsten Jahres alle unteren Schneidezähne gezogen werden müssen. Auch eine Perspektive für’s neue Jahrtausend...

2002: In der Nacht vorm ersten Jubiläums des „Alptraumes schlechthin“ träume ich, ich sei in New York, irgendein bescheidenes Hotel am Hafen vor der berühmten Skyline, irgendein Künstler- und Literatenkongress, an dem ich teilnehme, und ständig kommen Kollegen mit schwerem Gepäck an. Man beäugt und begrüßt sich, verabredet sich – und alles ist so natürlich, so normal…

2013: Im Marschroutki, im Kleinbus also, nach Tiraspol, der Hauptstadt Transnistriens, präziser: der Pridnjestrowskaja Moldawskaja Respublika (PMR). Die Einreise gestaltet sich als erfreulich unkompliziert. Auf moldawischer Seite gibt es nur eine Polizeistation, da rumpelt das Marschroutki einfach durch (logisch, denn diese Grenze gibt es ja aus moldawischer Sicht überhaupt nicht), dann folgt aber eine Straßensperre – bewacht von voll aufmunitionierten russischen (!) Soldaten, eingegrabene Panzer sogar, schließlich die eigentliche Grenzstation: transnistrischer Zoll, transnistrische Passkontrolle - und dann nochmals Anstellen zur Registrierung. Glücklicherweise haben wir ein Hotel nachweislich vorgebucht, erhalten so je ein 24-Stunden-Visum, was heißt: ich muss laut Stempel bis morgen 10.41 Uhr Transnistrien verlassen haben, Axel (der hinter mir in der Schlange steht) 10.45 Uhr… Nicht so recht glauben kann ich jedoch anfangs, dass der Registrierungsbeamte mich nur einreisen lassen will, wenn ich neben Vor- und Nachnamen auch den Vatersnamen eintrage. „Potschemu?“ Also gut: Jürgen Karlheinzowitsch Jankofsky. „Charascho!“ Als wir den Dnestr überqueren, öffnet sich der Blick auf die alte Festung Bender. Von hier aus soll der Baron von Münchhausen angeblich zu seinem Kanonenflug gestartet sein – zumindest steht im Innenhof der morcheltürmigen Festung ein Münchhausen-Denkmal (weiß mein Reiseführer). Der Lügenbaron also im Separatisten-Staat, schau an.

Tiraspol selbst hat den Charme einer Kaserne der Roten Armee. Unser hiesiges Hotel allerdings kann sich durchaus sehen lassen, ist jedoch auch das teuerste, das wir (mangels Auswahl) für diese Reise vorgebucht hatten. Klar, knappe Kapazitäten diktieren Preise… Die Hauptstraße Tiraspols, die Straße des 26. Oktober (benannt nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution) wirkt im Gegensatz zur prosperierenden Hauptstraße Chisinaus wie aus einer anderen Welt. Axel (der aus Kassel stammt) grinst und sagt, nun bekäme ich Ossi endlich mal eine Ahnung davon, wie Wessis einst DDR-Städte sahen… Die Straße des 26. Oktober weitet sich nach vom öden Boulevard zum Suvarow-Platz, der als Paradeplatz konzipiert wurde und offenbar auch noch als solcher dient. Hier steht vorm Parlamentsgebäude noch ein Lenin-Denkmal in alter Pracht und am Portal prangt signifikant das transnistrische Wappen mit rotem Stern, Hammer und Sichel. Auf der gegenüberliegenden Platzseite brennt auf einem Heldenfriedhof eine Ewige Flamme für die Gefallenen der Separierungskämpfe gegen die Moldawier – doch auch für die im Afghanistan-Krieg gefallenen Transnistrier (und Kosaken!). Und am Eingang zur Heldengedenkstätte protzt neben einer nagelneuen Georgskapelle (Georg, der Drachentöter!), ein alter Panzer… Offenkundig sieht sich dieses Staatsgebilde trotzig als letzte, noch immer existierende Sowjetrepublik. Jüngste Bevölkerungsumfragen ergaben wohl, dass die Transnistrier mit hohem Prozentsatz gegen eine Wiedervereinigung mit Moldawien votierten, sondern für einen Anschluss an Russland. Aha, deshalb steht die russische Armee also letztlich im Land, meldet schon mal demonstrativ Ansprüche an, falls diese ganze Region bis hin zur Ukraine noch weiter gen Europa driften sollte.

2020: Zwischenstopp in Bozen, Besichtigung des Ötzi-Museums (die Ausstellung ist eine einzige Enttäuschung – Charme und Didaktik der 1950er Jahre…), und dann hinauf zum Zielort, nach Karersee, auf fast 1.700 m.

2021: Ahlbeck. Das Wetter nicht mehr so schön, dennoch gehen wir wieder an den Strand. Ich lese Werner Herzogs „Das Dämmern der Welt“ über den japanischen Leutnant Onada, der erst 1974 erfuhr, dass der Zweite Weltkrieg zu Ende ist, bis dahin auf einer kleinen philippinischen Insel weiterkämpfte. Gutes Buch, nachdenklich machend. Erstaunlich, dass Herzog diesen Stoff (noch) nicht verfilmt hat.

2022: Zur Premiere des neuen Heimatbuches des Elsteraue-Vereins nach Lochau. Ich habe einige Babeleien beigesteuert, die Dieter Gilfert illustrierte. Kann sich sehen lassen.

 

Rochade

für

al-Hariri / Annie Montague Alexander / Pier Angeli / Wolfgang Graf Berghe von Trips / Felix Bloch / Clarence Gatemouth Brown / Eugen Diederichs / Émilie du Châtelet / Elisabeth von Österreich-Ungarn, „Sissi”/ Ugo Foscolo / Hermann Mayer Salomon Goldschmidt / Alexa Jordan Kenin / Erich Kuby / Johann Anton Leisewitz / António Agostinho Neto / Johann Ohnefurcht / Qin Shihuangdi / Alice Ramsey / Diana Rigg / Jock Stein / Taufa’ahau Tupou IV. / Sergei Michailowitsch Tretjakow / Frederick Judd Waugh / Ian Wilmut / Mary Wollstonecraft / Jane Wyman

 

An diesem Tage fürchteten wir den Wechsel von Positionen:

981 hebt Papst Benedikt VII. das erst 13 Jahre zuvor gegründete Bistum Merseburg auf (das erst im Jahre 1004 wieder aufgerichtet werden kann) /  Tottori, Japan, 1943: Erdebeben, 1.190 Tote / 1976 stoßen über Zagreb eine DC-9 und eine HS-121 Trident zusammen, 176 Menschen kommen ums Leben / Galaţi, 1989: ein Schlepper kollidiert auf der Donau mit dem Fahrgastschiff „Mogoşoaia“, 207 Todesopfer / 2011 sinkt die Fähre „Space Islander I“ zwischen den sansibarischen Inseln Unguja und Pemba, bis zu 3.000 Menschen sterben.

 

 

11. SEPTEMBER

 

Spaß

mit

Theodor W. Adorno / Juhani Aho / Kalju Ahven / Rita Arnould / Adam Prot Asnyk / Barbecue Bob / Johann Bernhard Basedow / Franz Beckenbauer / Josef Chaim Brenner / Hiram Bullock / Franz Joseph von Bülow / Hermenegildo Anglada Camarasa / Pinto Colvig / Johann Jakob Engel / Rainer Fuhrmann / Charles Geschke / Clara Gonzáles / Erich Grisar / Siegmund Haber / O. Henry / Peter Hille / Rudolf Kassner / David Herbert D.H.” Lawrence / Johann Gotthelf Lindner / John Martyn / Steffen Meyn / Franz Ernst Neumann / Asta Nielsen / Gerome Bernard Ragni / Johann Pachelbel / Mungo Park / Justus Perthes / Julius Petri / Eduard Profittlich / Rainis / Friedrich Schröder Sonnenstern / Rosika Schwimmer / Ota Šik / Franziska Stoecklin / James Thomson / Rudolf Vrba / Gert Heinrich Wollheim / Carl Zeiss

 

Da hatten wir schlichtweg Spaß:

910: Gründung des Klosters Cluny / 1609 entdeckt Henry Hudson Manhattan / 1841 erhält John Rand das US-Patent auf die von ihm erfundene Tube / USA, 1940: erste Fernsteuerung eines Computers / 1961: Gründung des World Wildlife Fund (WWF) / 1962 nehmen die Beatles ihre ersten Single auf / 1989: Ungarn öffnet seine Grenze zu Österreich.

 

Ich notierte:

1980: Jeanny ist wieder auf Nachtschicht. Nachdem sie weg war, habe ich Noten gepinselt, das lenkt schön ab. Doch muss ich aufpassen, dass ich aus Finanznöten heraus mich am Ende nicht zu einem Zu-viel-Schreiben hinreißen lasse. Ich muss einfach mein Maß finden.

1983: Nach zehn Tagen, in denen Fakten über Fakten über den Abschuss eines koreanischen Jumbo-Jets durch sowjetische Düsenjäger auf Tische gelegt wurden, glaubwürdiger als jede Polemik, ist mir wohl alles, was da noch Glauben heißen könnte, zerstört. Völlige Desillusionierung über die derzeitigen Weltverhältnisse! Sein oder Nichtsein – gibt es noch eine andere Frage?

1998: British Columbia. Beim Frühstück lässt Frau H. ein bisschen tiefer blicken: wir hören erstaunt von jüdischem Geld, das heimlich die Welt regiere und von Verschwörungen, in die sogar außerirdische Kräfte einbezogen seien. Sie selbst habe nun schon zweimal und zweifelsfrei Ufos über 108 Mile Ranch gesehen, und außerdem vertraue sie nur noch der buddhistischen Heilslehre, der reinen, versteht sich. Wir sehen zu, dass wir ins Auto und davonkommen. Verrückt, einfach verrückt, aber diese langen Wintertage und die sonstige Einsamkeit so fern aller Wurzeln und Korrelative scheint Paranoia zu zeugen. Wie sagte doch Gerald (dessen oft exzessives Stottern ich nun auch besser verstehe): Kanadier richten ihr Leben vor allem nach Freizeitmöglichkeiten aus, wollen fischen, campen, schwimmen, no interest für communication oder Kunst oder Literatur... In solcher Klausur sieht man wohl folgerichtig irgendwann Ufos.

Wir fahren weiter nach Norden, Williams Lake, Quesnel. (Erstaunlich viele französische Orts- und Geländebezeichnungen hier. Klar, dieses Land war zuerst französisch kolonisiert, dann wichen die Engländer in Folge der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung nach Norden und Westen aus, vertrieben die Franzosen nicht so ganz friedlich aus großen Teilen des Landes.) Schließlich biegen wir auf den Gold Rush Trail gen Barkerville ein. Und auf diesem einsamen Highway machen wir die erste Bekanntschaft mit der Royal Canadian Mountain Police: Plötzlich blitzt es hinter uns blau, rot auf. Stoppen also und Scheibe runter und Hände gut sichtbar aufs Lenkrad. Der Officer ist aber freundlich zu Ausländern, fragt am Ende sogar, ob ich genügend Sprit für diesen Trip in die Wildnis habe, statt mir Geld für reichlich zu schnelles Fahren abzuknöpfen. Barkerville ist dann durchaus den 180-Kilometer-Umweg wert. Solch eine historische Goldgräberstadt (die noch bis in die fünfziger Jahre hinein lebendig war) muss man in der Landschaft und in der Relation von Claims, Straßen und Gebäuden gesehen haben. Im ehemaligen Court erleben wir die Ein-Mann-Show „Judge of B.C.“, beeindruckend rote Robe, Allonge-Perücke, aber unser Englisch reicht denn bei weitem nicht fürs wahre Verständnis. Dann durch eine nicht enden wollende Landschaft weiter nach Norden. Schließlich doch Prince George am Frazier River. Mit Sicherheit der nördlichste Punkt unserer Reise. Doch was für eine Sommerhitze hier! Schönes Quartier mitten in der Stadt, die ihre Baracken-Vergangenheit allerdings schlecht verleugnen kann. Spaziergang in gleißender Abendsonne zum Zusammenfluss von Frazier und Nechako River. Und zu guter Letzt ein Lokal, The Kegs, zum ersten Mal tafeln wir Hummer und ich probiere sogar Minz-Sauce (zu Lammkoteletts). Man macht eben so seine Erfahrungen - Minz-Sauce hoffe ich nie wieder genießen zu müssen, Hummer durchaus. Und Prince George, nun ja, die reichlich abseitige Lage könnte Geschmack auf mehr machen.

1999: Den ganzen Nachmittag sitze ich bei hochsommerlichen Temperaturen in einem Zelt der Merseburger Regionalmesse und signiere meine Bücher. Gute Nachfrage.

2001: Nach diesem Tag wird in der Welt nichts mehr so sein, wie es war. Seitdem mir Jens am Nachmittag gegen vier sagte, ich solle mal schnell den Fernseher anmachen, New York werde angegriffen, und ich anfangs nicht im Leisesten verstand, was er meinte, starrte ich dann stundenlang auf die, sich zum teilweise ewig wiederholenden, unglaublichen Szenen des zusammenstürzenden World Trade Centers, höre Kommentare, denke ans Schlimmste, rede mit der Familie und rede, diskutiere um Druck abzubauen. Keine Frage, dieser Anschlag trifft die Struktur dieser Welt symbolträchtig am Nerv, die Mobilität, die Kultur, die letzten Bastionen von Vertrauenswertem. Die letzte Schwelle vor alltäglichem Terror scheint überschritten. Nach zwei heißen, gab es den kalten Weltkrieg, und dies heute könnte den Beginn eines vierten Weltkrieges markieren. --- Am Vormittag lasse ich mir neue Brillengläser anpassen, interessiere mich für ein besseres Gebiss, und besorge Tabletten gegen meine Apnoe. / Am Nachmittag lähmen mich die Bilder vom Angriff auf Washington und New York. / In der Nacht liege ich ewig wach.

2013: Tiraspol. Die Ausreiseformalität besteht schnöde darin, dass uns, bevor wir im Bahnhof auf den Bahnsteig dürfen, ein Polizeioffizier mit riesiger Tellermütze und ein Zolloffizier mit riesiger (etwas andersgrüner) Tellermütze die mühselig bei der Einreise ausgefüllten Registrierscheine (Jürgen Karlheinzowitsch Jankofsky!) abfordern. Bei aller Befürchtung – da war’s! (10.08 Uhr…) Und bei der Einreise in die Ukraine will ein Uniformierter nur wissen, wohin wir wollen, schnüffelt ein Drogensuchhund lustlos an unserem Gepäck und stempelt dabei ein anderer Grenzbeamter schon unsere Pässe. Gegen Mittag sind wir in Odessa. Mit dem Taxi zum Gogol-House, wo ich für heute ein Zimmer gebucht hatte. Das Gogol-House hat zwar eine Gedenktafel für Nikolai Gogol (der hier tatsächlich wohnte), erweist sich aber als Ruine. Und auch im Nebenhaus mit derselben Hausnummer keinerlei Hinweis auf ein Hotel oder eine Pension oder dergleichen, kein Schild, nichts, und keiner der Hausbewohner hat je etwas von einem Hotel oder einer Pension hier gehört, und unter der auf meiner Reservierungsbestätigung angegebenen Telefonnummer meldet sich niemand, auch nach dem x-ten Versuch nicht… In Wi-Fi-Zeiten erweist sich dies aber (bei allem Ärger) letztlich als kein Problem. Ruckzuck hat Axel nur wenige hundert Meter weiter ein Apartment geordert, zwar etwas teurer, das jedoch Frühstück und Flugplatztransfer inclusive bietet. Na bitte. Spaziergang zur Potemkinschen Treppe, weltberühmt durch Sergej Eisensteins Stummfilm. Abstieg zur Küste des Schwarzen Meeres, wo seinerzeit der Panzerkreuzer „Potemkin“ ankerte und sich nun der Morskoje Woksal, der Meeresbahnhof erstreckt. Laut Fahrplan stechen hier aber kaum noch Schiffe oder Fähren in See. Regelmäßig offenbar nach Sewastopol und Cherson, seltener nach Jalta, noch seltener nach Istanbul. Schluss aus. Dabei hatte der Hafen Odessas doch erst die Stadt gemacht! (Eine Gründung Katharinas der Großen übrigens.) Schlendern über den Promorskoje Boulevard, vorbei am Londonskaja Hotel, wo Isidora Duncan in Isaak Babels Zimmer tanzte, vorbei am Rathaus mit Puschkin-Denkmal und der imposanten Oper, durch Straßen mit Häusern aus der Gründerzeit (die meisten schmuck restauriert) bis zum neuen, erst 2011 eingeweihten Isaak.Babel-Denkmal, Ecke Zhukarskogo / Richelyevskaya uliza. Jahrzehntelang erinnerte nichts an den Autor der „Odessaer Geschichten“ und der „Reiterarmee“ in seiner Heimatstadt. Nun zumindest dieses Denkmal (das wir jedoch erst nach langer Internet-Recherche finden, und auf das hier nichts, absolut nichts, hinweist). Der Jude Babel, der in der Sowjetunion lebte und schrieb und unter Stalin umgebracht wurde, scheint offensichtlich nicht so recht zur ukrainischen Identitätsfindung beitragen zu können. Vielleicht sogar, da Sätze, die er schrieb, auch noch heute präzise passen: „Odessa kannte Zeiten der Blüte, und es kennt Zeiten des Welkens, eines poetischen Vergehens, in dem ein Hauch Sorglosigkeit und sehr viel Hilflosigkeit liegen.“ Wie könnte aber man allein seine genialen Beschreibungen, des einstigen Schmuggler- und Händlerviertels Odessas, touristisch aufarbeiten und nutzen! – Auf den Spuren Babels (und/oder Gilels und/der Oistrachs…) durch die Moldawanka… Isaak Babel, für mich einer der wichtigsten Erzähler des 20. Jahrhunderts – und überhaupt. Wann immer ich eindringlich nach Vorbildern befragt wurde, dürfte ich ihn neben Büchner und Dos Passos stets genannt haben. Einer seiner Nachdichter, Fritz Mierau, sagte mal: „Das Einfache als das Unerhörte zu Erzählen – den Satz als Weltereignis – war Babels erklärtes Ziel.“

2020: Mit dem Sessellift zur Paolina-Hütte auf gut 2.100 m. Wandern durch Laurins Reich im Rosengarten. Morgennebel steigen aus den Tälern auf. Könnte Laurins Tarnkappe eine Nebelbank gewesen sein? Sein weißer Hirsch eine Nebelschwade?

2021: Ausflug nach Polen (wo Corona offenbar keine Rolle mehr spielt), nach Swinemünde. Hier waren wir vor 2 Jahren einige Urlaubstage verbracht. Auffällig: während in Ahlbeck offenbar fast nur noch (alte) Wessis die Atmosphäre bestimmen (pensionierte besserwisserische Oberstudienräte nicht zuletzt), die Preise entsprechend anzogen, flanieren in Swinemünde vor allem junge Leute, und die Preise scheinen gleichgeblieben. Keine Frage, wenn nochmals Usedom, dass Swinemünde statt Ahlbeck.

 

Super-GAU

für

Nataniel Aguirre / Salvador Allende / Juan Almeida / Emilio Ballagas / Garnet Bailey / Augusto Olivares Becerra / Subramaniya Bharati / Erich Birkenhauer / Ulrich Bräker / Johannes Brenz / Jonathan Briley / Gésa Csáth / Antero Tarquinio de Quental / Antoine Duhamel / Joachim Fest / Joachim Fuchsberger / Orazio Gentileschi / Thomas Graham / Lorne Green / Wanda Anita Green / Hans Grundig / James Harrington / LeRoy Wilton Homer jr. / Mychal F. Judge / Wifredo Lam / Andreas Latzko / Daniel Mark Lewin / Ylva Anna Maria Lindh / Javier Marías / Georgi Iwanow Markow / Ernst May / Roger Melis / Mihai Moldovan / Joseph Müller / John Patrick O’Neill / Betty Ann Ong / Janet Parker / David Ricardo / John Ritter / Iris von Roten / Xanti Schawinsky / Friedrich Schmiedl / Enver Şimşek / Dorothea „Mopsa” Sternheim / John Christopher Stevens / Alain Tanner / Peter Tosh / Uwe Wesel / Andy Whitfield / Joe Zawinul

 

Da definierten wir Super-GAU:

1541 zerstört der Volcán de Agua die damalige guamaltekische Hauptstadt Antigua, mehrerer hundert Todesopfer / Drogheda, 1649: englische Soldaten massakrieren bis zu 150 aufständische Iren / Utah, 1857: Mormonen töten nahe Cedar City 120 durchreisende Siedler / 1877 kollidiert der Segler „Avalanche“ vor der Isle of Portland mit einem anderen Segler und sinkt, 106 Todesopfer /1881 sterben im Schweizer Kanton Glarus 114 Menschen durch einen Bergsturz / 1897: Ende des Königreiches Kaffa / Kanada, 1916: zweiter Einsturz der Quebec-Brücke, 13 Todesopfer / Bergkamen, 1944: Schlagwetterexplosion in der Zeche „Monopol Schacht Grimberg“, 107 Bergleute kommen ums Leben / Darmstadt, 1944: britischer Luftangriff, 11.500 Tote / 1961: Beginn siebenjähriger bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen im irakischen Kurdistan / Chile, 1973: Militärputsch / 1982 stürzt ein US-Militärhubschrauber auf die Autobahn Mannheim-Heidelberg, 46 Tote / Moimenta-Alcafache, Portugal, 1985: Eisenbahnunfall, mehr als 100 Todesopfer / 2001 kommen bei islamistischen Terroranschlägen in den USA fast 3.000 Menschen ums Leben / Mekka, 2015: bei einem Sturm kippt ein Baukran um, 107 Menschen sterben, 238 werden verletzt / Libyen, 2023: bei Unwettern mit Staudammbrüchen kommen mehr als 11.000 Menschen ums Leben.

 

 

12. SEPTEMBER

 

Versöhnung

mit

Gus Backus / Gertrud Bäumer / Jan Brandts-Buys / George Hendrik Breitner / Amílcar Lopes Cabral / Leslie Cheung / Maurice Chevalier / C. W. Damodaram Pillai / Álvares de Azevedo / Kurt Demmler / Anselm Feuerbach / David Garrick / Ian Holm / Irène Joliot-Curie / Johann Heinrich Jung-Stilling / Fernand Khnopff / Stanisław Lem / Frederick Louis MacNeice / Henry Louis Mencken / Jesse Owens / Neil Peart / Phaungkaza Maung Maung / Dietmar Rother / Avjit Roy / Margo St. James / Paul William Walker IV / Barry Eugene White / Alexander Adolfowitsch Witt

 

Da fühlten wir uns versöhnt:

Wien, 1572: Gründung der Spanischen Hofreitschule / 1683: Schlacht am Kahlenberg, Ende der zweiten osmanischen Belagerung Wiens / 1848 konstituiert sich die Schweiz als Bundesstaat / 1909 erhält Fritz Hoffmann das Patent für den Kunstkautschuk Buna / 1940 wird die Höhle von Lascaux entdeckt / 1958: erste Präsentation eines Integrierten Schaltkreises.

 

Ich notierte:

1980: Ich denke, umso älter man wird, dabei Naivitäten schwinden, desto weniger weiß man.

1987: Wenige Tage bevor nun am 16. und 17. September die sogenannten „Tage der sozialistischen Gegenwartsliteratur der DDR im Bezirk Halle“ deren Organisation man ja auch meinem Schreibtisch ablud, hoffentlich nach meinem mühsam erstellten und durchgesetzten Szenario ablaufen, setzt bei mir ein rastloses Warten ein, sitze ich in der eigenen Wohnung wie in einem Wartesaal irgendwo.

1990: Zu Besuch bei Verwandten im tiefsten Friesland. Cousin meines Vaters oder so. Natürlich wollte auch er am Stammtisch mal einen vorführen, der noch Trabi fährt. Doch jovial bot er dann eine Ausfahrt mit seinem neuen BMW an. Kombi-Modell, Breitwandreifen, Metallic-Lack und all dies. Und wir dürfen uns sogar wünschen, wohin dieses Wunder-Gefährt gelenkt werden solle. „Na ja, im westlichen Ausland waren wir noch nie...“ Hoffendes Lächeln, denn Holland ist nicht weit. Statt nach Amsterdam, kommen wir aber nur bis knapp hinter die Grenze. Und unsere entfernten Verwandten geben sich alle Mühe, die Vorzüge des Provinzstädtchens zu preisen, dessen Namen sich uns uns irgendwie nur schwer einprägen will. Immerhin gibt es inmitten des Ortes einen Aussichtsturm, von dem aus sich Windmühlen und Grachten und die Gezeiten des Ijssel-Meeres erahnen lassen.

1998: Heute von Prince George nach Jasper. Fahrt durch schier endlose, menschenleere Weiten. Gut 200 Kilometer schnurgerader Highway durch Wälder. Mir fällt wieder ein, was Gerald erwiderte, als ich meinte, mir kämen die Menschen hier freundlicher vor, als andernorts - hier habe man eben einfach mehr Platz einander aus dem Wege zu gehen. Vorbei am höchsten Berg der Region, am schneebedeckten Mount Robson, zur Grenze nach Alberta und hinein in den Jasper Nationalpark. Eine Stunde Zeitverschiebung. Im Ort langwierige Suche nach einer Unterkunft, überall Schilder: no vacancy. Schließlich klappt’s doch noch, fast wäre ich weitergefah­ren. Nettes Kellerquartier für 80 Dollar. Jasper ist eben und nicht von ungefähr beliebt, noch dazu am Wochenende. Dann zum Hausberg Jaspers, zum Whistler, Auffahrt mit der Seilbahn, Aufstieg zum Gipfel. Grandioses Panorama. Dann zum Medicin Lake. Hier bitten uns zwei junge Texaner, sie zu fotografieren, was wir selbstredend gern tun und so erfahren, dass er aus Polen stammt. Na wunderbar, da fotografiert also letztendlich ein aus Polen stammender Texaner zwei Sachsen-Anhaltiner an einem der wohl schönsten Seen Kanadas. Nächste Attraktion: der Medicin Canyon, schmal, doch schwindelerregend tief, türkisfarbener Bach über Wasserfälle. Und hatten wir unterwegs heute schon mehrmals Wapitis gesehen, glauben wir beim Wiedereintreffen im Stadtgebiet unseren Augen kaum: Überall grasen diesen Riesenhirsche in den Parks, ja vor unserer Haustür sozusagen.

2001: Alptraum: Ich setze Spergau in Brand, auf der Flucht, irgendwie auf der Flucht. Doch wovor? Im Laufe des Tages versuche ich mich mit Kollegen auszutauschen, was dieser gestrige Tag für die Welt, die Zivilisation (oder wie immer man den derzeitigen Kulturzustand nennen will) bedeutet. Doch obwohl ich anrufe und etliche Mails versenden – Schweigen. Der Wessi schreibt wohl gerade zum vierzigsten Male über seine traumatisierte Kindheit, der Ossi wälzt nochmals Stasi-Akten um… Dann entsinne ich mich, dass ich, als die Chinesen Vietnam angriffen, 1980 muss das wohl gewesen sein, mich am liebsten freiwillig in Hanoi zum Kämpfen gemeldet hätte, obwohl damals noch Rocker war und Literatur studierte (oder vielleicht gerade wegen dieser Mischung). Nun ist da nur noch Ohnmacht, die Fronten sind unklar, völlig unklar. Wohin sollte man gegen Terror gehen? In sich? Am Abend ruft mich der Landesvorsitzende des Schriftstellerverbandes an (dem ich auch eine Mail geschickt hatte). In Magdeburg sei heute Nachmittag die Leitung des Verbandes zusammengewesen, da habe er meine Anträge nach Schulterschluss gleich eingebracht. Man sei aber gegen Resolutionen, da man ja gar nicht wisse, was da genau usw. usf. – Ich unterbreche, darum sei es mir doch gar nicht gegangen, ich wollte doch nur meine Hilflosigkeit bekennen, den Austausch mit Kollegen suchen – Er unterbricht, das sei ganz anders verstanden worden… Tja, sage ich, wenn schon das unter Autoren falsch verstanden würde, könne ich mich entweder nicht ausdrücken oder kein Halt in einem Schriftstellergremium zu finden. Ich sein betroffen über diese Reaktion, sei traurig. Darauf kommt noch eins drauf: als Geschäftsführer eines Literaturvereins könne ich so was ja aussenden, in der Arbeitszeit, da ich’s ja bezahlt bekäme, sie hingegen seien schließlich freischaffend… Ungeheuerlich, oder anders: muffige Kleinkariertheit. Ich schweige. Keine Frage, dieser Tag wird meine Welt verändern. In der Nacht fragt im Fernsehen Friedmann Peter Scholl-Latour, ob wir in einer gefährlichen Situation leben. Antwort: Ja, doch die meisten Menschen sind sich dessen, selbst seit gestern, nur noch nicht bewusst.

2013: Odessa. Bislang hatten wir Glück mit dem Wetter (abgesehen von einem heftigen Schauer in Tiraspol). Nun hat es aber die ganze Nacht über geregnet, kühl ist’s am Vormittag und es bleibt regnerisch. Dennoch marschieren wir die langen Boulevards mit den stuckverzierten russischen Kolonialhäusern entlang bis in die Moldawanka, finden das Holocaust-Denkmal, denn in diesem einst jüdisch geprägten Stadtviertel überlebten nur wenige Juden die Nazizeit, finden dann Straßenzüge mit schlichten einstöckigen Häusern und schließlich verwinkelte Hinterhöfe wie Staffagen aus Babels Erzählungen. Am Nachmittag Flug von Odessa nach Kiew. Für die Hauptstadt der Ukraine und mögliche Trips in die Umgebung haben wir uns einen Mietwagen bestellt. Bis alle Formalitäten erledigt, ist es dunkel. Fahrt über vier- bis sechsspurige Straßen gen Zentrum. Beziehen des Quartiers, eine von Axel gebuchte Mietwohnung in einem Neubaublock aus Sowjetzeiten – doch alles ok. Dann ein Bierchen, einen Happen essen in der Kneipe um die Ecke. Und: Gute Nacht.

2020: Ausflug: über den Karer- und den Sella-Pass nach Wolkenstein, übers Grödner Joch nach Alto Badia und zurück über den Campolongo- und den Pordoi-Pass nach Karersee. Wieder und überall Massen über Massen. Auf keiner Passhöhe, an keinem Aussichtpunkt, keiner Seilbahnstation lässt sich ein Parkplatz ergattern.

2021: Mit dem Schiff nach Misdroj auf Wollin. Lebendiges Küstenstädtchen. Wir essen gut: Fischsuppe und Piroggen und Baizer, besichtigen das ansprechende Ozeanarium, bummeln durch gepflgte Parkanlagen. Irgendwie fühlen sich Jankofskys in Polen meistens wohl. Am Abend im Fernsehen das sogenannte „Triell“ der drei Bundeskanzler-Kandidaten. Entlarvend, dass das Wort „Kultur“ von nicht einem der Drei und auch von keinem der Moderatoren in den Mund genommen wird.

 

Verwüstung

für

Paul Julius Arter / Helmut Baierl / Stephen Bantu Biko / Norman Borlaug / Jeremy Brett / Peter Breuer / Dominik Brunner / Raymond Burr / Hans Carossa / Claude Chabrol / Lili Elbe / Emile-Eugéne-Alix Fournier / Curt Goetz / Christian Dietrich Grabbe / Anastasius Grün / O. E. Hasse / Reinhard Keiser / Jocelyne LaGarde / Ramsey Lewis / Erich Loest / Robert Lowell / Manolete / Mindaugas / Eugenio Montale / Anthony Perkins / Pheidippides / Rainis / Jean-Philippe Rameau / Willy Ronis / Johann Rosenmüller / Joe Sample / Otto Sander / Rachid Taha / Nikolaes Tulp / David Foster Wallace / Grizel Mary Wolfe-Murray

 

An diesem Tage spürten wir Verwüstung:

1857 sinkt das Passagierschiff „Central America“ auf der Fahrt von Havanna nach New York in einem Hurrikan, 429 Todesopfer / 1905 sinkt das japanische Schlachtschiff „Mikasa“nach einer Munitionsexplosion, 256 Seeleute kommen ums Leben / 1918 torpediert ein deutsche U-Boot das britische Passagierschiff „Galway Castle“ vor Cornwall, 143 Tote / Guadeloupe, 1928: Hurrikan, 1.200 Totesopfer / 1942: ein deutsches U-Boot versenkt den Truppentransporte „Laconia“, bei Ascension im Atlantik, 1.658 Menschen sterben / Hanoi, 2023: Wohnhausbrand, 56 Tote.

 

 

13. SEPTEMBER

 

Kreation

mit

Sherwood Anderson / Luis Eduardo Aute / Morteza Avini / Leon „Chu“ Berry / Amelie Hedwig „Melli“ Boutard-Beese / Charles Brown / Jan Brueghel d. J. / Eliana Burki / Kevin Carter / Emil Ciocoiu / Claudette Colbert / Roald Dahl / Marie von Ebner-Eschenbach / Hans Christian Gram / Grandville / Leslie „Les“ Cameron Harvey / Robert Indiana / Maurice Jarre / K’inich Ahkal Mo’ Nahb III. / Knut Kiesewetter / Matthias Klostermayr / Soja Anatoljewna Kosmodemjanskaja / Stephen Lawrence / Johann Friedrich Löwen / Camilo Marcelo Catrillanca Marin / Benedikte Naubert / Arno Philippsthal / John Boynton Priestley / Arnold Ruge / Rudolf Lazarewitsch Samoilowitsch / Lucía Sánchez Saornil / Arnold Schönberg / Clara Schumann / Heinrich Wilhelm Storck / Mel Tormé / / Sergei Stepanowitsch Tschachotin / Julian Tuwim / Frederick Judd Waugh / Anastasiia Yakanskaya

 

Das hielten wir für eine richtungweisende Kreation:

Jerusalem, 335: Einweihung der Grabeskirche / 1850: Erstbesteigung des Piz Bernina / 1970: erster New-York-Marathon / Washington, 1993: Unterzeichnung des Abkommens „Oslo I“ zwischen Israel und den Palästinensern / 1959: schlägt die erste Raumsonde auf dem Mond ein: „Luna 2“ /

 

Ich notierte:

 

1998: Jasper. Beide schlecht geschlafen. Die Zeitumstellung? Die Höhenluft? Die Verunsicherung ob und wie wir von Edmonton aus weiterkommen? (Da Air Canada noch immer streikt.) Was soll’s, wir brechen auf in die Gletscherregion. Über den Highway 93A erreichen wir die Athabasca Falls, dann nach etwas 100 Kilometer den Athabasca Gletscher. Zu Fuß kann man die Gletscherzunge erreichen, Eishauch und Gletscherblau: Eismassen gewaltig vor dir, Geröll, Endmoräne, Gletschersee hinter dir. Beeindruckend auch, dass auf dem Anmarschweg zum Gletscher auf Tafeln der jeweilige Eisgrenze vermerkt wurde, mit Jahreszahl. So kann man sehen, dass zwischen 1890 (der ersten Messung) und heute einige hundert Meter Eises verschwanden. Und wer noch an einer rasanten Erderwärmung zweifelt, sollte sich anschauen, dass allein die Zeit seit 1980 ein gutes Drittel dieses mortalen Weges ausmacht. Wechsel dann vom Jasper zum Banff Nationalpark, landschaftlich etwas anders, andere Gebirgsformationen vor allem. Enger werdendes Tal mit weiten grünblauen Flechten- und Moosregionen. Schließlich über den Highway 11 raus aus den Rockies und nach Osten. Rast in Nordegg. Ein deutscher Finanzier dieses Namens gründete Anfang des Jahrhunderts diesen Ort (auch das also ein deutsches Auswandererschicksal), brachte mit seiner Kohle den Kohleabbau für die Canadian Railway voran... Heute ein liebens­wert kitschiges Museum hier. Und die Frau des Einlasskartenverkäufers kocht uns eine köstliche Nudel-Tomaten-Suppe und streicht dick Butter aufs frischgebackene Sandwich. Dann einmal mehr endlose Weiten, Wald, Wald, Wald, hunderte Kilometer, schließlich langsam in Farmland übergehend. Die Prärie. Jeanny meint in der Ferne sogar eine Büffelherde gesehen zu haben. In Leduc, einem Vorort Edmontons, nehmen wir Quartier, fahren von hier aus zum nahen Airport und werden eine (nicht eben kleine) Sorge los: Am Air Canada Schalter bucht eine äußerst freundliche und vom eben verkündeten Streikende sichtlich erleichtert wirkende Angestellte (sie sei amazed, sagt sie, daß lang­sam alles wieder zum Fliegen kommt - na, wir erst!) bucht uns also unseren Flug von 12.00 Uhr (der ist noch gestrichen) auf 17.45 Uhr um. Tatsächlich (hoffe ich) werden wir morgen also die nächsten 4000 Kilometer fliegend (und nicht wie befürchtet mit Mietwagen oder im Zug) zurücklegen können - unvorstellbar, dass das in etwa noch einmal die Strecke wäre, die wir bisher hier schon zurückgelegt haben (fahrend, versteht sich), und bis Toronto würde sich die Landschaft nun obendrein kaum noch ändern (sagte man uns), 4000 Kilometer öde Prärie, nichts als Prärie. Und noch eine weitere Sorge löst sich wie von selbst auf: Ich kann den Mietwagen morgen noch bis zum Abflug nutzen und erhalte den neuen in Toronto schon um Mitternacht (der voraussichtlichen Landezeit). Bislang wäre ich erst einen Tag später zu einem neuen Wagen gekommen. Problematisch, da nicht nur mit dem Flug einiges verquer ging, sondern auch Joachim, unser Gastgeber in Toronto plötzlich krank wurde, uns weder empfangen noch unterbringen kann. Da hätten wir doppelt blöd dagestanden.

1999: Am Vormittag starte ich mit Klaus das Projekt in der Merseburger Goetheschule, erstmals kommen wir mit den Schülern zusammen, die mitarbeiten wollen, besprechen das Projekt. Auf dem Nachhauseweg kann ich es mir nicht verkneifen, eine neue Bassgitarre, die mir Lotte neulich mit reichlich Preisnachlass offerierte, zu kaufen, samt neuem Verstärker, versteht sich. Seitdem ich vorige Woche, diesen Bass erstmals in Händen hielt, hatte es mich doch sehr „gejuckt“. Ich hoffe, mir so den Spielspaß noch zu erhöhen, und vielleicht hilft mein Kauf auch, die durch Herberts Zickereien entstandene Flaute zu überwinden. Dann fahre ich mit Jeanny nach Usti nad Labem, will dort mit einer Druckerei Produktionsmöglichkeiten für Projektbroschüren und dergleichen besprechen. Wir legen gegen Abend, nachdem wir das Erzgebirge durchquert hatten und am Fichtelberg über die Grenze gefahren waren, einen Zwischenstopp ein, übernachten in Kadan, einem sehr schönen Städtchen an der malerischen Ohre, historischer Markt, Burg, Kloster, Kirchen, Stadtmauer und gemütliche Gasthäuser mit köstlichen Speisen (was für eine phantastische Knoblauchsuppe!) und kühlem, schmackhaftem Bier. Und wie ruhig, nein friedlich kommt uns der Ort an diesem so lauen Septemberabend vor...

2001: Gute „Schulterschluss-Gespräche“ in Magdeburg mit Axel Schneider und Micha Marquart, zwei anderen Kultur-Geschäftsführern. Ich formuliere Fragen wie: Sind nicht auch die Superreichen, die den menschlichen Gemeinschaften unendlich viel Geld entziehen, Terroristen? Reicht dieser Horror-Tag, um menschliches Denken in andere Bahnen zu bringen? Nicht (allein) weiter Wertenanhäufung, Geld, Macht in den Mittelpunkt menschlichen Strebens zu stellen? Ist die Antwort auf diese Provokation der Zivilisation Barbarei?

2013: Fahrt nach Babyn Jar, zu der Schlucht, wo deutsche Besatzer Ende September 1941, kaum, dass sie die Stadt erobert hatten, in 36 Stunden mehr als 33.000 Juden erschossen, Frauen, Greise, Kinder…, das größte Einzelverbrechen des Zweiten Weltkriegs. Nach allem, was ich bislang darüber las oder sah, hatte ich Babyn Jar weit außerhalb Kiews verortet. Umso erstaunter bin ich, dass dieser Ort des Grauens im Stadtgebiet liegt, inmitten Neubausiedlungen allerdings, Metro anbei. Zufällig erleben wir eine Kranzniederlegung am beeindruckenden Babyn-Jar-Monument, Kriegsveteranen offenbar, Armeekapelle, Ehrengarde und sonstiges Drum und Dran. Doch irgendwie geht mir das Ganze ziemlich nahe. Ja, zuweilen schäme ich mich schlichtweg, ein Deutscher zu sein. Punktum.

Jewgenij Jewtuschenko schrieb in seinem berühmten Gedicht über Babyn Jar (übertragen von Paul Celan):

Mir ist angst.

Ich bin alt heute,

so alt wie das jüdische Volk.

Ich glaube, ich bin jetzt

ein Jude…

Weiter zum Tschernobyl-Museum. Erwogen hatten wir, direkt zum Ort dieses ersten Super-GAUs zu fahren, zumal heute, am Freitag dem 13. Zum einen scheint uns das jedoch mittlerweile diesem Katastrophenort nicht angemessen, ihn zu ironisieren. Zum anderen erfuhren wir, dass es (noch immer) eine 30-Kilometer-Sperrzone um Tschernobyl gibt, in die kein Privatfahrzeug darf. Gruppenbesichtigungen per Bus werden zwar angeboten, aber zu horrenden Preisen. Und: als Gruppen-Touri nach Tschernobyl… ? Und nicht zuletzt scheint es einfach nach wie vor gefährlich, gibt’s dort beispielsweise reichlich Hotspots, deren Strahlungsintensität tödlich sein kann. Das Tschernobyl-Museum also: eingerichtet in einer alten Kiewer Feuerwache. Und keinesfalls zufällig, waren doch Kiewer Feuerwehrleute unter den ersten Opfern. Und ohne recht zu wissen, was in jener Aprilnacht des Jahres 1986 eigentlich geschehen war, ohne entsprechende Schutzausrüstung und  –kleidung. (Irgendwie kommen mir die New Yorker Feuerwehrleute in den Sinn, die am 11. September 2001 in den Twin Towers ums Leben kamen…) Das Museum bietet sachliche und künstlerische Aufarbeitungen der Vorgänge an. Und im Ausgangsbereich finden wir sogar eine Ausstellung über Fukushima. Mit der Metro weiter zum Maidan, dem zentralen Platz Kiews, durchaus besuchenswert. Wir schlendern die Flaniermeile Kreschtschatyk bis zum Bessarabischen Markt entlang, fahren dann wieder Metro bis zur tiefstgelegenen U-Bahn-Station der Welt: Arsenalja, gut 100 Meter unter der Erdoberfläche. Und obwohl es heftig zu regnen anfängt, laufen wir tapfer weiter zum ebenso imposanten wie riesigen Kirchenkomplex Petscherska Lawra – diverse goldkupplige Kathedralen, Mönchszellen, Museen, Höfe, Parks und: Gläubige über Gläubige, reichlich Weihrauch, Ikonen und Gesang… Und wir tappen sogar weiter noch bis zum gewaltigen Denkmal Rodina Mat, gut 100 Meter hoch, errichtet zum Gedenken an den Sieg der Sowjetunion über Hitlerdeutschland. Klatschnass zurück.

2018: Halle. Gleich um die Ecke beim Verlag steht ein Blitzer, weiß ich, da ich hier schon zweimal geblitzt wurde (nach entsprechenden Verlagsgesprächen). Keine Frage also, dass ich hier nunmehr stets starr auf den Tacho blicke. Ja, knapp 50 fahre ich (übervorsichtig), und – werde dennoch geblitzt! Schau an, soweit isses mittlerweile also schon.

2020: Herrliches Spätsommerwetter. Wandern am Fuße des Latemar. Erschreckend die Windbruchflächen, die ein Orkan hier Ende Oktober 2018 hinterließ.

 

Kulturschock

für

Samuel Alexander / Mahsa Amini / Alexis-Emmanuel Chabrier / Michel Eyquem de Montaigne / Olav Duun / Ludwig Feuerbach / Arno Fischer / Joseph Furphy / František Gellner / Jean-Luc Godard / Emanuel Goldberg / Gabriel Grüner / Joachim Hansen / Grant Hart / Curt Herrmann / Antony Hewish / Rolf Kauka / György Konrád / Volker Krämer / Andrea Mantegna / Eddie Money / Fritz Mühlenweg / Lin Biao / Franz Raveaux / Charles Regnier / Julius Röntgen / Tupac Amaru Shakur / Italo Svevo / Titus / Pietro Tradonico / Paul Wegener / Leó Weiner / Roger Whittaker

 

Da fühlten wir uns geschockt:

In der Nacht vom 13. zum 14. September 1444 bricht in Merseburg wohl der schwerste Stadtbrand aus, „da nemlich abgebrandt die Gotthardts Gasse, das helffte gegen das waßer die Geisel, die Häuser umb deb Markt, ausgenommen die Häuser an dem Markt so gegen Morgen gelegen, item die Preiser Gasse, die oelgruben u. die breite Gaße.“ Am schwersten traf Merseburg aber die Zerstörung des Rathauses, wobei alle alten Akten und Privilegien der Stadt mit verbrannten. „Solches feuer hat einer mit nahmen Thieme angeleget. In einer Scheune bey der Dammühle, u. der Dammüller hat gemelten Simon Thieme bey Nacht zum Mühlpförtlein in die Stadt eingelassen, weil er sein Freund gewesen, u. hat ihm darzu gerathen. Es ist aber dieser Simon Thieme ergriffen, u. vor dem Sixttitore mit feuer verbrannt, der Müller aber als ein Verräter ist auff ein Rath gestoßen worden“ / München, 1813: Einsturz der Isarbrücke bei Hochwasser, mehr als 100 Tote / 1845 wird in Irland erstmals die Kartoffelfäule beobachtet, die in folgenden Jahren verheerende Hungersnöte verursacht / 1858 sinkt der deutsche Passagierdampfer „Austria“ vor Neufundland, 471 Todesopfer / 1928 wütet ein Hurrikan auf Inseln der Karibik bis zur Ostküste der USA, 4.075 Menschen sterben / Casablanca, 1939: der französische Kreuzers „La Tour D’Auvergne“ sinkt nach Explosionen an Bord, 215 Todesopfer / 1941 versenkt ein britischer Bomber das norwegischer Passagierschiff „Barøy“ im Vestfjord, 112 Menschen kommen ums Leben / 1941: ein britisches U-Boot versenkt den Hurtigrouten-Dampfer „Richard With“ vor der Finmark, 99 Todesopfer / 1948 beginnen indische Truppen mit der Invasion in Hyderabad / Attica, New York, 1971: Gefängnisrevolte, 43 Todesopfer / Moskau, 1999: Sprengstoffanschläge in Hochhäusern, 130 Menschen kommen ums Leben.

 

 

14. SEPTEMBER

 

Himmlisches

mit

Jacobo Árbenz Guzmán / Solomon Asch / Mario Benedetti / Michel Butor / Zoe Caldwell / Luigi Cherubini / Hans Clarin / Larry Collins / Luis Corvalán / Francisco de Quevedo / Erich Ebermayer / Steven Earl „Steve“ Gaines / Richard Gerstl / John Gould / Jack Hawkins / Erich Kurt Richard Hoepner / Ludwig Ferdinand Huber / Alexander von Humboldt / Nikolai Iljitsch Kamow / Ed King / Sarah Kofman / Alberto Korda /  Paul Francis Kossoff / Kunihiko Hashimoto / Hermann Lattemann / Václav Levý / Hermann Marggraff / Joe McDonnell / Kate Millett / Gustav Neuring / Agrippa von Nettesheim / Jerzy Popiełuszko / Douglass „Doug“ Haywood Rauch / Margaret Sanger / Shamima Sheikh / Martin Sperr / Josua Stegmann / Theodor Storm / Rudi Strahl / Tiziano Terzani / Pier Vittorio Tondelli / Mercy Otis Warren / Karl Friedrich Gottlob Wetzel / Walter Kurt Wiemken / Amy Jade Winehouse

 

Da fühlten wir uns wie im Himmel:

1405. Gründung des Marbacher Bundes / Adrianopel, 1829: Friedensschluss im 7. Russisch-Türkischen Krieg und im Griechischen Unabhängigkeitskrieg / 1889. Eröffnung des Wiener Volkstheaters / 1929: Erste Präsentation einer „Eisernen Lunge“ / Bagdad, 1960: Gründung der OPEC / 1990: Start des Human Genome Projects.

 

Ich notierte:

1980: Am Nachmittag hatte uns mein Vater abgeholt, Achim, sein Cousin aus dem Westen, dem ich wunschgemäß Gedichtbände besorgt hatte und der mir dafür Platten mitbringen wollte, war gekommen. Fast ein Jahr lang hatte ich mich auf diese neuen Platten gefreut – aber er hatte keine mit, erwähnte das Thema nicht mal…

1982: Güstrow. Nach kurzem „Heimaturlaub“ (selbst Otto, unsere Katze, schien überrascht) steige ich schwitzend mit Schreibmaschine und Gitarre wieder die Wendeltreppe hinauf. Ich hoffe, genug Kraft, fürs Weitermachen getankt zu haben.

1998: Von Leduc nach Edmonton downtown, schöner Blick vom Saskatchewan River auf die Skyline. Dann umrunden wir die Stadt in weitem Bogen, landen schließlich in der West Edmonton Mall, dem größten Einkaufszentrum Kanadas. Eine Unzahl von Geschäften und Restaurants erwartet man ja wohl in solche einer Mall, doch eine Eisbahn, einen Freizeitpark mit Riesenrad und Achterbahn, ein Delphinarium, eine mittelalterliche Fregatte? Und sogar U-Boote stehen hier zum Kauf. Why not. Wir essen in einem New Orleans Restaurant. Mal wieder ganz neue Geschmackserfahrungen: Shrimps in Cajunsauce. Ohne Probleme gelangen wir zum International Airport. Das Straßensystem mit den riesigen sechs- bis achtspurigen Highways ist hier so gut organisiert, dass man sich anhand der Beschilderung bestens zurechtfindet. Die Nummern der Highways auf und zu dem man fahren will, sollte man allerdings wissen, da an Kreuzungen oder Abfahrten stets nur die Namen der kreuzenden Straßen, nicht die Richtungen angegeben sind. Wohltuend auch, dass die Höchstgeschwindigkeit strikt begrenzt ist, 80, 90 oder 100, selten 110 Stundenkilometer sind erlaubt. Und Geschwindigkeitsreduzierungen oder -steigerungen sind hier immer stufenweise und sinnvoll und nicht wie daheim undurchsichtig und restriktiv. Und niemand rast, jeder schwimmt im Verkehrsstrom mit. So fließt alles und trotz der riesigen Entfernungen kommt jeder in time ans Ziel. Ohne Probleme geben wir den Mietwagen zurück und checken ein. Na denn, bye, bye Westen. Let’s go East! Der Flug ist der unruhigste, den wir je hatten, ständig Turbulenzen und über Toronto geraten wir sogar in ein schweres Gewitter - unglaublich wie das blendet und beunruhigt, wenn sich quasi direkt neben einem Blitze entladen. Wir müssen schier ewig kreisen, und sogar die wunderbare Aussicht auf das nächtliche Lichtermeer Torontos kann nicht so recht den Blutdruck senken. Aber irgendwann sind wir unten. Drei Kreuze. Am Mietwagenstand ist der gebuchte Wagen allerdings nicht mehr vorrätig. Kein Problem, kriegen wir eben eine mehrere Klassen besseren, einen Van. Und wie im Fernsehsessel geht’s auf den Highway 401, um Mitternacht gen London, Ontario. Irgendwo wird sich schon ein Motel finden, und dann Good Night. Doch das ist leichter gedacht als getan. Wir fragen in unzähligen Motels und Inns auf der Route nach, in Milton, in Guelph, doch überall: no vacancy, sorry. Erst in Kitchener, halb drei Uhr morgens Ortszeit finden wir ein Zimmer.

1999: Am Morgen dann weiter nach Usti, wo wir pünktlich zum verabredeten Termin eintreffen. Die Geschäftsführer der Firma sind sympathische, junge Leute, die ihr Produktionsprogramm und ihre Druckmöglichkeiten überzeugend zu präsentieren wissen. Und da auch das Preis-Leistungsverhältnis interessant ist, könnten wir durchaus ins Geschäft kommen. Zurück über Petrovice/Bahratal. Unglaublich, all diese Gartenzwerg- und Nippesstände kurz vor der Grenze! Doch wenn da niemand kaufte, würden die auch nicht die Straßen säumen. Und Gleiches trifft wohl auch auf die Kinderhuren an den Straßenrändern zu...

2000: Büroarbeiten, auch einige neue Internetinstallationen, so bringe ich den Bödecker-Kreis auch auf den Kulturserver. Dann ins Klubhaus zur Claus Kämmerer, um einiges zu den geplanten Deutsch-Französischen Literaturtagen abzusprechen, denkbare Sponsoren vor allem. Denen schreibe ich dann gleich „Bettelbriefe“. Am Nachmittag weiter im Büro und am Abend zu Thomas Potthoff nach Halle, der die Homepage für die Schreibenden Schüler völlig neu eingerichtet und gestaltet hat. En passant kaufe ich einen CD-Recorder, hoffend, dass da nun auch bald mal wieder einige Honorare eingehen müssten. Leisten wollte ich mir so ein Gerät eigentlich schon seit Ende letzten Jahres. Blöd nur, dass ich es nicht so recht zum Laufen kriege, da die Beschreibung fehlt...

2013: Axel und ich fahren mit unserem Mietwagen nach Perejaslaw-Chmelnyzkyj, uralte Stadt aus Zeiten der Kiewer Rus (ersterwähnt 907). Bogdan Chmelnyzkyj, ebenso legendärer wie berüchtigter Kosakenhetmann, rief hier 1654 im Zuge des nach ihm benannten Aufstands gegen die damaligen polnisch-litauischen Herrscher, eine Kosakenrada ein, auf der der Anschluss seines Hetmanats (in etwa des ukrainischen Kernlands entsprechend) an Russland beschlossen wurde. Und Scholem Alejchim, der weltberühmte jüdische Autor stammte von hier! Mein Reiseführer schwärmt von einem fantastischen Museumspark zur Geschichte der Stadt und der Region samt Scholem-Alejchem-Gedenkstätte. Unser Navi führt uns unter der an- und eingegebenen Adresse jedoch auf einen tristen Lenin-Platz. Zwei Männer, die vor einer Wellblechbude Räder von einem Auto abmontieren (besser nicht zu nahe kommen…), scheinen allein schon das Wort „Museij“ noch nie gehört zu haben. Dann entdecken wir jedoch zwei Touristen, Russen womöglich, die ebenso irritiert wie wir scheinen, ja, die uns nach „Museij“ fragen. Schulterzucken… Doch fragen die weiter und weiter und laufen schließlich, zielsicher wie’s scheint, eine Dorfstraße hinunter. Wir also hinterdrein. Aus der Dorfstraße wird ein matschiger Weg: über wacklige Bretterbrückchen, durch verfilzte Wäldchen, schmieriger und schmieriger (zum Glück regnet’s wenigstens nicht mehr). Den Russen hat sich inzwischen eine junge Frau mit Baby zugesellt (woher die auch immer kam) und dieses Grüppchen marschiert und marschiert zielsicher weiter, und wir ergo unverdrossen hinterdrein (so seltsam es mir auch mit jedem Schritt mehr vorkommt, dass auf solch ein touristisches Highlight der Ukraine (zwei von drei möglichen Sternchen in meinem Reiseführer!) nicht mit einem einzigen Schild hingewiesen wird. Und dieser Weg… Wie durch ein Wunder stehen wir mitten in der Taiga jedoch plötzlich vor einem Tor – das aber verschlossen scheint. Ein Russe tippt dagegen – das Tor quietscht auf… Und schon betreten wir das Freilichtmuseum von Perejaslaw-Chmelnytzkyj! Und siehe da: tatsächlich alte Bauernhäuser in einem weitläufig-lichten Waldgebiet, eine alte Schule, alte Grabsteine, sogar angeblich skythischen Figuren, doch ebenso alte Mähdrescher, Lastwagen und Traktoren aus Budjonnys Zeiten. Und endlich, nach endlosem Nachfragen (mangels Beschilderung…) das Scholem-Alejchim-Haus samt Scholem-Alejchim-Gedenkbüste. Überrascht werden wir jedoch nochmals – und zwar in der blaukuppligen Kirche, die statt Ikonen ein Kosmos-Museum birgt. Ja, eine Sojus-Kapsel, ein Sputnik, ein Lunochod-Mondmobil im Altarraum. Da staunt man (und vor allem der Wessi) nicht schlecht… das kann man nicht googeln… das muss man gesehen haben! Irgendwie erfahren wir bei Soljanka, Pelmeni und Blini schließlich noch, dass an der hiesigen Sporthochschule die Klitschko-Brüder studiert und promoviert haben. Darauf ein Kwas vom Fass – was’n Spaß!

2020: Rosengarten. Ausflug. Heute nur drei Pässe: Der Karer- natürlich wieder (unser Hauspass sozusagen, da unser Hotel knapp unterhalb der Passhöhe auf 1.700 m steht), dann der San Pellegrino- und der Fedaja-Pass. Mittag an der Marmolada: Stausee, Museum Grande Guerre 1914-18. Absurd, dass und wie man sich hier (mitten in einem Paradies eigentlich) aufs unmenschlichste bekämpfte. Für nichts und wieder nichts letztendlich… Nachmittag am Hotelpool: Paare kommen aus dem Haus, setzen sich auf Liegen, ziehen Handys aus den Bademänteln, beginnen sturen Blicks darauf herumzutasten. Zuweilen sieht das aus, als lausten sich Affen. Aber das soll wohl kommunikativer sein.

2021: Ahlbeck. Keine Wetterbesserung in Aussicht, im Gegenteil. Wir reisen ab. Zuhause der schönste Sonnenschein, 28°C. Nun gut.

2022: Heute wollte ich in Halle meine langjährige armenische Projektpartnerin Hermine Navasardyan treffen, die für Lesungen nach Deutschland kommen wollte. Doch sie hat kein Visum bekommen. Tja, Schutzmacht Armeniens ist eben Russland, und Russland… Und in der Nacht flammte an der Aserbaidschanisch-armenischen Grenze auch wieder der Dauerkonflikt zwischen diesen beiden Staaten auf.

 

2023: Vernissage der großen Personalausstellung meines Freundes Klaus-Dieter Urban in der Leuna-Galerie. Ich habe die Ehre zu laudatieren.

 

Hölle

für

Hugo Ball / Ella Nik Bayan / William Seward Borroughs I. / Fritz  Busch / Rudolf Carnap / Giovanni Domenico Cassini / Johannes Chrysostomos / James Fenimore Cooper / Cyprian von Karthago / Dante Alighieri / Paul Savorgnan de Brazza / Angela Isidora Duncan / Eiji Okada / Weniamin Iossifowitsch Fleischmann /John Champlin Gardner jr. / Janet Gaynor / Wassili Semjonowitsch Grossmann / Alexander Xaver Gwerder / Johann Michael Hoppenhaupt / Grace Patrica Kelly / Andrei Andrejwitsch Koslow / Heinrich Kuhl / Furry Lewis / Llyod Allayre Loar / Heinz Lohmar / Maharil / Tomáš Garrigue Masaryk / William McKinley / Rudolf Mößbauer / Irene Papas / Pérez Prado / Johann Philipp Sack/ Ove Sprogøe / Patrick Wayne Swayze / Lily Tembo / Irving Thalberg / Hilmar Thate / Nikolai Konstantinowitsch Tscherkassow / Birol Ünel / Friedrich Theodor Vischer / Franz Carl „F. C.“ Weiskopf / Robert Wise

 

An diesem Tage wähnten wir uns der Hölle nahe:

Konstantinopel, 1509: Erdbeben, 13.000 Todesopfer, die Stadt wird fast vollständig zerstört / Moskau, 1812: die sich vor Napoleon zurückziehenden Russen brennen die Stadt fast vollständig nieder / Mexiko, 1988: Hurrikan, mehr als 200 Menschen sterben.

 

 

15. SEPTEMBER

 

Yoga

mit

Julian Eswin „Cannonball“ Adderley / Rudolf Bartsch / Jean-Sylvain Bailly / Moscheh Ya’akov Ben-Gavriêl / Adolfo Bioy Casares / Silpa Bhirasri / Gerold von Braunmühl / Ettore Bugatti / Al Casey / Agatha Christie / James Fenimore Cooper / Fausto Coppi / François de La Rochefoucauld / Alfred Friedrich Delp / Carl Diercke / Hrant Dink / Gunnar Ekelöf / Karl Friedrich Wilhelm Fitzenhagen / Rahel Hirsch / Friedrich Konrad Hornemann / Orhan Kemal / Jan Ernst Matzeliger / Claude McKay / Karl Philipp Moritz / Jessye Norman / Fritz Overbeck / Marco Polo / Will Quadflieg / Vincent Reffet / Tamara Ramsay / Jean Renoir / Ina Seidel / Petra Schürmann / Jan Jacob Slauerhoff / Walter Spies / M. Visvesvaraya / Bruno Walter / Lothar Warneke / Otto Wels / Liselotte Welskopf-Henrich

 

So glaubten wir zur Ruhe finden zu können:

Karthago, 533: Ende des Vandalenreichs / 1821 werden Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras und Nicaragua unabhängig von Spanien / 1830: Inbetriebnahme der Eisenbahnstrecke Liverpool-Manchester / Mailand, 1867: Eröffnung der Galleria Vittorio Emanuele II / Hamburg, 1900. Eröffnung des Deutschen Schauspielhauses / 1968: Inbetriebnahme der Hochalpenstraße über das Timmelsjoch / 1994 entdeckt Didier Queloz entdeckt den ersten Planten außerhalb unseres Sonnensystems / 1997 geht die Internetsuchmaschine Google online.

 

Ich notierte:

1998: Diesiges, schwüles Wetter. Wir verirren und im Straßensystem des Großraums Toronto verirren und gelangen nach Hamilton, von da auf den Queens Way und so nach Niagara Falls. Bei unserem nunmehr zweiten Besuch wirken die Fälle irgendwie imposanter, als beim ersten. Hatte man damals vielleicht mehr erwartet? Weiter nach Fort Erie, Besichtigung der alten Festung, Blick über den Erie See nach Buffalo hinüber. Und weiter nach Crystal Beach, wo wir sogar baden gehen. Seltsames Gefühl, in einem See, der eigentlich ein Meer ist, keinerlei Ufer weit und breit voraus, mit hohem Wellengang zu schwimmen und kein Salzwasser zu schmecken. Zweifelsfrei aus Süßwasser, dieses Binnenmeer. Die Weiterfahrt nach London streckt sich dann ewig. Farmland und Tabakpflanzungen. Wir überholen sogar ein Pferdegespann mit mittelalterlich gekleideten Leuten drauf. Ja, bestätigt uns später Günter, hier leben Mennoniten (die ja vor Jahrhunderten aus Deutschland auswanderten) in der Region. Am frühen Abend erreichen wir endlich London. Günter empfängt uns herzlich, und sofort fallen wir ins Gespräch über Walter Bauer. Seit meinem ersten Besuch hier sind drei Jahre vergangen, doch Günter hat seine W.B.-Biografie (an der er seit etwa 15 Jahren sitzt) noch immer nicht fertig. Aber meine Stiche scheinen zu piesacken. Henry hatte ihn am Jahresanfang (auf mein Insistieren hin) offenbar ziemlich unter Druck gesetzt. So scheint er nun doch voranzukommen, hinterfragt beispielsweise meine Erwartungshaltungen. Ich bestätige ihn in der Sicht, dass ein umfassender Überblick über W.B.s Leben und Werk notwendig ist, keine künstlerische Sicht, keine interpretierende. W.B.s Leben in zwei Welten, in Deutschland wie in Kanada hat schließlich beachtliche Wissenswüsten über seinen Werdegang hinterlassen. In Deutschland weiß man zu wenig über W.B.s Leben und Wirken in Kanada und umgekehrt ebenso. Das begünstigt offensichtlich sein Vergessen. Selbstredend versuche auch ich Fragen an den Mann zu bringen. Warum W.B. kaum reiste in Kanada z.B. - Ist das nicht ein Widerspruch zu seiner großen Reiselust über den Atlantik ins neue Zuhause Kanada? Günter erzählt, W.B. habe seine Abenteuer vor allem im Kopf erlebt, deshalb auch habe er so gern über Abenteurer wie Nansen oder Grey Owl geschrieben. Er hat sich in den Weiten Kanadas durchaus bewegt - denkend, schreibend. Ansonsten sei er absolut sesshaft gewesen, nur die Zeitläufte und nicht zuletzt seine Frauen hätten ihn zu den Ortswechseln seines Lebens gebracht. Dazu Mechanismen wie diese wohl: Nachdem W.B. damals seine Ausreisepläne unter deutschen Schriftstellerkollegen erwähnt hatte (um damit möglicherweise sogar sein Unbehagen gegen die westdeutschen Verhältnisse Anfang der fünfziger Jahre zum Ausdruck zu bringen) und dafür sicherlich auch belächelt wurde, über so viel Naivität, konnte er schlecht zurück ohne Gesichtsverluste, zumal seine Frau Jutta unbedingt in die Ferne wollte. Hier angekommen war er dann wieder in seinen Tagesabläufen angekommen, wohlgeordnet, anheimelnd. Um in Toronto nicht fremd zu sein, schuf er sich (aus Zerrissenheit?) Alltagswelten von Stereotypien, von möglichst ewig gleichen Abläufen. Gang zur Uni, unterrichten, die Wohnung, das Schreiben. Das war’s dann.

1999: Am Vormittag trage ich in Merseburg den Ortschronisten des Landkreises vor. Interessierte Zuhörer. Gute Veranstaltung. Zuhause Vorbereitung auf das Goethe-Projekt, diverser Bürokram, Post etc. Dann zur Probe zu Seni. Herbert ist zwar da, hat sich aber so gut wie nicht vorbereitet. Seni wirkt auch einigermaßen konfus, muss sogar bald wegen organisatorischer Vorbereitungen weg. Also gehe ich mit Herbert wenigstens die Grundmuster der Songs, die wir nächste Woche spielen wollen, durch. Schwer zu sagen, ob das schon der Anfang vom Ende meines musikalischen Comebacks ist, da der Ärger langsam zu überwiegen beginnt. Aber noch fühle ich mich einigermaßen motiviert.

2000: Auf in den Harz. In Güntersberge Abstimmung mit Christiane der Chefin des Erholungslagers, zur Durchführung unserer diesjährigen Herbstwerkstatt. Dann lädt uns Christiane noch zum Mittagessen ein. Weiter nach Molmerswende ins Gottfried-August-Bürger-Museum, Literaturnachmittag im Rahmen „Unser Dorf liest“. Ingrid Hinze kommt mit schreibenden Schülern aus Harzgerode, Heike Wolf, eine Malerin aus dem Ort, malt mit Kindern, ich zeige meinen Münchhausen-Film, die Pelikane bauen ihren Bücherstand auf. Dazu schönes Wetter. Es läuft also alles bestens. Zu Hause „verhake“ ich mich mit Jeanny mal wieder wegen meiner Eltern, da wir schlichtweg Vaters morgigen 70. Geburtstag nicht richtig besprochen hatten. Mein Gott, über was würden wir uns streiten, wenn es diesen ewigen Streitpunkt nicht gäbe...

2013: Als Axel und ich gestern Abend zurück in Kiew waren, regnete es in Strömen. Dennoch fuhren wir mit der Metro nochmals zum Maidan, hofften, dass das Wetter besser wird, zumal für diesen Abend riesige Bühnen aufgebaut, Freiluftkonzerte angesagt waren. Doch leider. Mir verging sogar der Wille, noch das Haus Michail Bulgakows, des Meisters von „Der Meister und Margarita“ anzusteuern, da wir dahin wieder endlos durch den Regen hätten tappen müssen, nee… Blieb also ein Herrenabend im Quartier… Und heute nun der Rückflug (mit Zwischenlandung in Riga). Am Ende scheinen wir beide halbwegs erstaunt, wie glatt diese gut einwöchige Alte-Männer-Reise verlief, wie unaufwendig wir Eindrücke von nicht-touristischen Gebieten gewinnen konnten. Vielleicht verlief alles so gut, da wir uns (der Ossi und der Wessi) gerade hier, auf dieser Route, im Fehlermachen und Fehlervermeiden ergänzten… Wer weiß.

2019: Ein jüngst gewählter Abgeordneter jener Partei, die vorgeblich Alternativen bieten könne, forderte, Ausländer sollten zum Arbeitsdienst verpflichtet werden. Zur Rede gestellt, dass Arbeitsdienst der Sprache des Dritten Reiches entstamme, verteidigte er sich, wohin wir denn schon gekommen seien, wenn es nicht mehr möglich wäre, zwei schöne deutsche Worte, wie Arbeit und Dienst für eine gute Sachen zusammenzufügen. Er habe das im Sinne der freiwilligen Arbeitseinsätze zur Verschönerung der Stadt, wie sie zu DDR-Zeiten üblich waren, im Sinne von Subbotniks, gebraucht… Klar, wenn er gefordert hätte, Ausländer ins Konzentrationslager!, hätte er dann sicher räsoniert, dass man sich auf Campingplätzen doch wunderbar konzentrieren könne.

2020: Zum Abschied von den Dolomiten nochmals zur Paolina-Hütte: Käseknödel und Kaiserschmarrn und Zirbenschnäpsle. Na denn (so die Zeitläufte uns gewogen bleiben) – wir kommen wieder!

2022: Bei meinen Recherchen über Zufrühverstorbene war ich auf einen Gitarristen gestoßen, der mit mit Vierzig starb und von dem ich bis dahin nichts gehört hatte: Shawn Lane. Nach und nach besorgte ich mir aus den Weiten des Internets rares Material, bekam heute mal wieder eine CD geliefert. Beeindruckend, was der Mann, vor allem zusammen mit Jonas Hellborg, spielt. Großartig!

 

Tortur

für

Wolfgang Abendroth / Neagoe Basarab / Antonio Mediz Bolio / Fernando Botero / Timofiy Bohdanowytsch Chmelnyzkyj / Agatha Christie / Haroutune Krikor jr. „Harry“ Daghlian / August Dickmann / Lee Dorman / Rudolf Eucken / William John „Bill“ Evans / Oriana Fallaci / Francesco Gessi / Ludger Hölker / Max Hoelz / Johannes „Hans“ Humpert / William Huskisson / Rolf Losansky / John Matshikiza / Erich Mendelsohn / Willy Messerschmidt / Joseph Antoine Ferdinand Plateau / Roland von Salsomaggiore / Johnny Ramone / Leonhard Rauwolf / Nahau Rooney / Larisa Sawizka / Balbir Singh Sodi / Harry Dean Stanton / Felix Stiemer / Pawel Ossipowitsch Suchoi / Robert Penn Warren / Anton Webern / Cootie Williams / Jan van Woerden / Robert Penn Warren / Thomas Clayton Wolfe / Richard Wright / Johann Gotthilf Ziegler / Malka „Mala” Zimetbaum / Max Zimmering

 

Das quälte uns wie eine Tortur:

Indianola, Texas, 1875: Hurrikan, bis zu 300 Todesopfer / 1916 setzt di britische Armee in der Schlacht an der Somme erstmals Panzerfahrzeuge ein / 1935: Verkündung der „Nürnberger Rassengesetze“ / Przemyśl, 1939:  deutsche SD-Truppen beginnen ein fünftägiges Massaker an der jüdischen Einwohnerschaft, 600 Todesopfer / Incheon, 1950: erste amerikanische Truppen greifen in den Koreakrieg ein / Birmingham, Alabama, 1963: Bombenanschlag auf eine Kirche, vier afroamerikanische Kinder sterben.

 

 

16. SEPTEMBER

 

Lachen

mit

Hans Arp / Lauren Bacall / Emilia Pardo Bazán / Werner Bergengruen / Charlie Byrd / Timofiy Bohdanowytsch Chmelnyzkyj / Charles Crodel / Louis de Jaucourt / Ernst Deutsch / Ronnie Drew / Peter Falk / Paul François Xavier Flatters / Ricardo Flores Magón / Fritz Geißler / Johannes Grob / Mildred Harnack-Fish / Jon Henricks / Vladimír Holan / Thomas Ernest Hulme / Karl-Heinz Jankofsky / Mercédés Adrienne Ramona Manuela Jellinek / B. B. King / Little Willie Littlefield / Franz Matsch / Daniel Gottlieb Messerschmidt / Pietro Pompanazzi / Jakob Prandtauer / Hilde Purwin / Hannie Schaft / Alexander Schmorell / Frans Eemil Sillenpää / Albert Szent-Györgyi / Mohamed Talbi / Johann Nikolaus Tetens / Mary Travers / Zilla Huma Usman / Joe Venuti / Herwarth Walden

 

Da war uns nach Lachen zumute:

1975 wird Papua-Neuguinea unabhängig / Montreal, 1987: Unterzeichnung des Abkommens zum Schutz der Ozonschicht.

 

Ich notierte:

1982: Am Abend zähle ich aus irgendeinem Grund nach, die wievielte Fassung von „Sprachlos“ das eigentlich ist, an der ich derzeit schreibe, und komme auf sechs. Und ich spüre, dass ich noch nie soweit war, wie ich jetzt bin.

1989: Sonnabend. Stromsperre in Leuna, ganztätig. Totale Ruhe vor Stürmen?

1998: London, Ontario. In der Nacht hatte Günter eine Idee: Ob ich vor meiner Arbeit im Archiv nicht mit seinen Studenten sprechen könne? Klar mache ich das. Und es wird ein sehr intensives Gespräch über ost-westdeutsche und gesamtdeutsche Verhältnisse und daraus erwachsene Haltungen und Literatur. Gut, hier seine Haltungen verständlich machen zu können, diskutierend, polemisierend, lesend, denn die deutsch-deutschen Vorurteile scheinen auch bei kanadischen Germanistik-Studenten bereits angekommen, dass die Ostdeutschen nur von der Einheit profitiert hätten, beispielsweise, aber dafür nichts rechtes geben wollten und so... Obwohl mir hier im Seminar alles etwas differenzierter erscheint als in der „deutschen Kolonie“ in Victoria. Günter erklärt mir hinterher, dass einige seiner neuen Studenten aus dem ehemaligen Ostblock stammten, Rumänien, Polen, Ukraine, die nicht selten über die Zwischenstation Deutschland nach Kanada kamen. Eine deutsche Emigration also irgendwie auch. Wie gesagt, ein gutes Seminar, sehr kommunikativ. Am Ende wollen etliche Studenten wissen, wie meine Bücher zu erhalten seien. Voller Selbstbewusstsein also schließlich ins Universitätsarchiv, wo der Nachlass W.B.s lagert. In etwa 20 großen Archivboxen liegt hier alles verwahrt, was Henry nach W.B.s Tod aus seinen Schubladen und Regalen einsammelte und ordnete und Günter zur biografischen Aufarbeitung übergab. Halbwegs systematisch und mit Hilfe eines von Henry 1977 angelegten (groben) Inhaltsverzeichnisses versuche ich mich durch die tausenden und abertausenden von Werkstattnotizen, Zeitungsausschnitten, Kommentaren, Briefen, Tagebüchern, Postkartengedichten, Studienvorbereitungen etc. pp. durchzuarbeiten. Wie von einer unsichtbaren Hand berührt fühle ich mich, als ich einen Zettel finde, auf dem W.B. Notizen zu einer geplanten Story machte, der Titel dafür entwickelte sich ihm von „die Reiher“ über „das Jahr der Reiher“ zu „die Zeit der grauen Reiher“! Und dabei lag ein Artikel über die Kollenbeyer Graureiherkolonie, die auch mich animierte! Unglaublich! Vielleicht wird irgendwann, irgendjemand behaupten, ich hätte den Titel meines vor drei Jahren erschienenen Romans „Graureiherzeit“ von W.B. geklaut... Keine Frage aber, das ist wirklich verrückt. Wie sehr ich mich ihm jedoch seelenverwandt (und durch eine großväterliche Linie sogar tatsächlich verwandt) fühle, hatte ich schon mehrmals geschrieben und gesagt... Ich arbeite bis man mich bittet, das Archiv zu verlassen, da es schließt. Günter holt mich ab, intensiv diskutierend laufen wir zu seinem Haus zurück. Es ist mir wichtig mit Günter und dann ab übermorgen auch mit Henry zusammen sein, sie befragen zu können. Die beiden sind mir wie eine Brücke zu dem Mann, den ich so gern auch persönlich kennengelernt hätte. Nach einem kleinen Einkaufsbummel Diskussion bis spät in die Nacht, dabei wächst die Idee, im Jahre 1004, anlässlich W.B.s 100. Geburtstag, in Merseburg eine Konferenz abzuhalten und darauf zugehend wollen wir versuchen gut aufeinander abgestimmt kleinere gemeinsame Publikationen über oder von W.B. zu verwirklichen. Während des Gesprächs gewinne ich den Eindruck, dass Günter nun wirklich zielgerichtet an der W.B.-Biografie arbeitet, stellt er doch auch seinerseits detaillierte Fragen zu Quellen, Orten, Meinungen etc. Regen wir uns gegenseitig an also.

1999: Nach einem merkwürdigen Alptraum, in dem ich Mine irgendwie aus einer Prügelei in einem riesigen Dom (Petersdom? War das nicht auch der Papst verwickelt?) heraushauen (im wahrsten Wortsinne) muss, liege ich in aller Herrgottsfrühe wach und mir geistern alle denkbaren Fragen durch den Kopf: Wie wird es mit Jeannys Arbeitslosigkeit weitergehen? Wie mit dem Merseburger Pelikan-Büro (für das ich seit Jahren als Stellvertretender Bödecker-Vorsitzender ja verantwortlich bin?) Wenn da nichts mehr wird, was wird aus den Büroräumen in meinem Elternhaus, muss ich, kann ich die anderweitig vermieten? Was wird aus den ABM-Stellen im halleschen Kreativ-Büro? Wenn da alles wegbricht, wie soll die Projektarbeit weitergeführt werden, wie die ganze Verwaltung? Was wird aus unserem kleinen Projekte-Verlag? Wer macht da künftig die Arbeit? Weshalb soll ich in der derzeitigen Band-Konstellation de facto Herberts wohl fast asozial zu nennenden Lebensstil mitfinanzieren? Aus Spaß an der Freude, während mir zumindest in der Perspektive langsam die Geldquellen versiegen wobei der alltägliche Arbeitsstress sich ins Chaos steigern könnte? Und dazwischen blitzen wie Nadelstiche ungeklärte Detailfragen auf, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Bosch-Ausstellung, wo derzeit auch eine Menge an mir vorbeizulaufen scheint, ich aber nicht zu unterschätzende Verantwortlichkeiten habe... Im Künstlerhaus habe ich heute allerlei Absprachen zu treffen, Bürokram zu erledigen, erfahre sogar, dass da seit vorgestern eine neue Geschäftsführerin inthronisiert wurde (die natürlich nicht da ist, dafür sitzen im Zimmer des Kreativ-Büros drei junge Leute bei lauter Rap-Musik und starren mich an, was ich hier in „meinem“ Büro will. Nun gut, hier brechen neue Zeiten an. Hier muss ich in jeder Hinsicht definitiv raus. In Merseburg dann eine erste Stunde mit „meinen“ Goethe-Schülern. Noch etwas „hummlig“, aber wird schon werden. Schließlich zum 69. Geburtstag meines Vaters. Onkelgespräche. In dieser Woche habe ich es bislang noch nicht mal geschafft den SPIEGEL, geschweige denn Literatur zu lesen. Verunsichert mich auch fehlende Lektüre?

2001: Ein seltsamer Zustand nach den Anschlägen und in Erwartung von Vergeltungsschlägen der USA: Am Morgen als erstes den Fernsehen an, in der Nacht noch als letztes die Nachrichten… Was wird kommen? Wie und wann? Dass Reaktionen kommen, kommen müssen, scheint unausweichlich. Langsam kommen auch Töne hoch wie vom „Krieg der Kulturen“, und die einen wollen genau dies vermeiden, da genau das versucht wurde mit den Anschlägen zu provozieren, die anderen wollen endlich die prinzipielle Auseinandersetzung. Also doch Weltkrieg?

2023: Gegen Mittag lese ich für eine Seniorengruppe in der Leunaer Karl-Barth-Villa, selbsredend mein Barth-Porträt, und da sie auch etwas über die Zaubersprüche hören wollen, zudem mein Grimm-Porträt. Kommt alles gut an.

 

 

Leid

für

Felicitas Abt / Grace Aguilar / Edward Albee / Daniel „Dan” Andersson / Marc Bolan / Horst Bosetzky / Anne Bradstreet / Richard Brautigan / Karl Eduard von Bülow / Felippo Buonarotti / Maria Callas / Luigi Coloni / Thomas Davis / Fouad El Mouhandes / Peg Entwistle / Leo Fall / Daniel Gabriel Fahrenheit / Hermann Finsterlin / Maksymilian Gierymski / Heorhij Gongadse / Gordon Gould / Itō Noe / Victor Jara / Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff / Stefan Krachten / Louis Le Prince / Heinrich Menu von Minutoli / George Mraz / Omar Muhktar / Qi Baishi / Louis Rénard / Ronald Ross / Daniel Díaz Torres / F. K. Waechter / Albert Hans-Gustav von Wedell / Karl Lupold Magnus Magnus Wilhelm von Wedell / Otto Wels / Norman Whitfield / Edward Whymper / Schabbtai Zvi

 

An diesem Tage litten wir:

1795 nehmen die Briten die Kapkolonie in Besitz / 1915 wird Haiti Protektorat der USA / New York, 1920: Bombenattentat in der Wallstreet, mindestens 38 Tote und 400 Verletzte / Florida, 1928: Überflutung des Okeechobeesee-Deiches durch einen Hurrikan, mehr als 2.500 Todesopfer / 1970: Eskalation des Konflikts zwischen Jordanien und den Palästinensern, bis Juli 1971 kommen mehr als 40.000 Menschen ums Leben / Tabas, Iran 1978: Erdbeben, 20.000 Tote / Beirut, 1982: christliche Milizen massakrieren in den Flüchtlingscamps Sabra und Schatila mehrere hundert Palästinenser / Wolgodonsk, 1999: Autobombenexplosion, 17 Todesopfer.

 

 

17. SEPTEMBER

 

Humanisierung

mit

Johann August Apel / Anne Bancroft / August Theodor Blanche / David Dunbar Buick / Marie Jean Antoine Nicolas Caritat / Marianne Cohn / Charles Tomlinson Griffes / Üzeyir Hacıbǝyov / Gunnar Kalén / Karl Heinz Wilhelm Kapelle / Ken Kesey / Horst Krüger / Käthe Kruse / Heinrich Kuhl / Wladimir Walentinowitsch Menschow / Minemato no Sanemoto / António Agostinho Neto / Frank O’Connor / Johannes Olearius / Gustav Pretzien / Georg Friedrich Bernhard Riemann / John Ritter / Albertine Sarrazin / Friedrich Wilhelm von Steuben / Maksim Tank / Heidelinde Weis / Hiram „Hank“ King Williams / William Carlos Willims / Karl Wolfskehl / Sophie Xeon / Isang Yun / Mandawuy Djarrtjuntjun Yunupingu / Konstantin Eduardowitsch Ziolkowski

 

An diesem Tage glaubten wir an Humanisierung:

1630: Gründung von Boston / Frederikshamn, 1809: Friedensschluss im Russisch-Schwedischen Krieg / New York, Berlin, 1922: Premiere des ersten Tonfilms „Der Brandstifter“ / 1931: Präsentation der ersten Langspielplatte / Washington, D.C.: 1978: Unterzeichnung des Camp-David-Vertrages zwischcn Ägypten und Israel / Polen, 1980: Gründung von Solidarność.

 

Ich notierte:

1981: Da ich weiß, wie ich von Statistiken zu beeinflussen bin, versuche ich mich nun selbst zu überlisten, in dem ich mir in Tabellenform vorgebe, was ich täglich schaffen will, zeitlich genaue Vorgaben für verschiedenste Tätigkeiten. Ich muss einfach effektiver werden!

1982: Man muss seine Figuren lieben, ja. Aber dazu muss man sich selbst und die Menschen seiner Umgebung achten. Und ich begreife immer mehr, dass das nur in kontinuierlicher Selbstverwirklichung möglich ist. So wie jetzt, da ich schreibe, schreibe, und so die Welt, die nur ich kenne, nach und nach aus meinem Kopf hervorhole und aufs Papier bringe. Und ich habe dabei nun offenbar einen Sensor dafür entwickelt, wann das, was da steht, auch genau das ist, was da stehen sollte. Nach der Riga-Reise und allen anderen Ablenkungen fühle ich nun wieder im „Normalzustand“, fühle mich als der, der ich wirklich bin. Alles andere sind peinliche oder lästige oder idiotische Masken. Ja, es schein, ich kann wohl nichts anderes als schreiben –um mich erkennen, mich selbst ansehen zu können.

1998: London, Ontario. Am Vormittag nochmals ins Archiv. Ich blättere die Briefe an W.B. durch, öffne diverse Kisten, ziehe etliche Kopien, von ergreifenden Briefen seiner Brüder beispielsweise, oder von seinen Kontaktaufnahmen nach Kanada Anfang 1952, nach Vancouver, Winnepeg und Toronto richtete er Anfragen, die alle mahnend bis abweisend beantwortet wurden. Niemand ermutigte ihn, Deutschland gen Kanada zu verlassen, niemand, bis auf Jutta offenbar... Gegen Mittag erscheint Günter mit einem Fotografen, und ich habe für die Uni-Zeitung zu posieren. German writer works in the University Library oder so. Nun gut. Zurück nach Hause und mit Jeanny auf einen Trip in die Umgebung. Erstes Ziel: Stratford (wo W.B. auch einige Male war), Kleinstadt englischen Stils mit vier großen Theatern, die in der Sommersaison von Gastensembles bespielt werden und Scharen von Touristen anlocken. Wir lernen Herrn M. kennen, der 1976 aus Deutschland auswanderte, Buchhändler war und ist, hier eine Bücherstube betreibt. Immerhin ist Herr M. der einzige kanadische Buchhändler, der „Sonnentanz“, das von Günter und mir bei meinem ersten Kanada-Besuch geplante und mittlerweile gemeinsam herausgegebene Walter-Bauer-Lesebuch, bestellte und auch ganz gut verkaufte. Insgesamt wirkt Herr M. jedoch über sein Schicksal auch nicht so recht glücklich, sagt Sätze wie: wer interessiert sich in Kanada schon für deutsche Bücher... Weiterfahrt zum Huron See, Bayfield, romantisch mondänes Städtchen in parkähnlicher Strandlage. Eisessen, schlendern, scherzen. Dann weiter südlich der Pinery Provincial Park. Urwüchsige kanadische Landschaft, wie man sie aus Trapperbücher zu kennen meint, Flusslandschaft an dichtem Mischwald, biberträchtig, aber auch Dünen wie an der Ostsee, herrlich breiter, weißer Strand, schaumige Wellenkämme, Süßwasser natürlich wieder, denn dieses horizontlose Gebilde ist ja ein See und kein Meer, und über uns kreisen dann sogar Weißkopfadler! Was liegt also näher, als weiter in den Süden bis Sarnia zu fahren und den Grenzübertritt in die USA zu wagen. Nach Port Huron scheinen wir uns direkt in die untergehende, riesig blutrote Sonne hineinzubewegen, gewaltige Brücke zwischen Kanada und den USA, über eine Ausbuchtung des Huron Sees gespannt, auf dem Ozeanriesen dem Hafen zustreben. Dann die amerikanische Grenze. Geblendet von der tief stehenden Sonne überfahre ich die gelbe Grenzlinie, der amerikanische Grenzbeamte greift schon ans Pistolenhalfter, beruhigendes Hin und Her, unsere deutschen Pässe und Günters (mit einem offensichtlichen Jugendbildnis versehenen) kanadischen Pass vermögen ihn jedoch nicht so recht vom Grund unserer Immigration zu überzeugen. Und dass das ein Joke sein sollte, nein, also... Wir werden ins Immigrations-Büro geschickt, schwarz gekleidete Polizisten des Staates Michigan verlangen derweil, dass ich mein Car unlocked lasse, beginnen mit geigerzählerähnlichen Geräten darin herumzuschnüffeln, während wir einem freundlichen Beamten schließlich überzeugen können, dass wir beiden Ostdeutschen einfach die Gelegenheit nutzen wollten, mal kurz auf dem Boden der USA stehen wollten. Vielleicht ahnt er warum? Auf jeden Fall stellt er uns Formulare aus, damit wir ohne neuerlichen Brückenzoll zurück nach Kanada kommen. Natürlich hätten wir nun auch 90 Tage bleiben können hier, wenn wir umfängliche Einreiseformulare ausgefüllt und pro Kopf 6 U.S.$ berappt hätten.

1999: Wieder schon lange vor der Zeit wach. Ich setze mich an den Computer und schreibe Projekte fürs neue Jahrtausend. Möge es nützen. Mittag kommt Jeanny vom Arbeitsamt zurück und berichtet empört, dass man sie zu einer so genannten Trainingsmaßnahme verdonnert habe: Entweder sie nimmt ab Montag (!) und bis Dezember (!) an dieser Schulung für Verkäuferinnen (!) teil oder es wird ihr das Arbeitslosengeld gestrichen! Unglaublich wie man hier mit Menschen umgeht (und dabei scheint es andere Frauen durch diese „Maßnahme“ noch härter zu treffen, eine junge Mutter beispielsweise, die nicht weiß, wie sie bis Montag ihre zwei Kinder unterbringen kann - interessiert nicht!). Hauptsache die Statistik kann geschönt werden und offiziell kann mal wieder von ein paar Prozent weniger Arbeitslosen gesprochen und die Chaos-Politik fortgesetzt werden...

2017: Schriftsteller aus aller Herren Länder kommen in der Ukraine zusammen in diesem Herbst, in Lviv: Internationaler PEN-Kongress. Und ich bin dabei, zugeben, nicht ohne Stolz. Keine Frage, die Wahl dieses Tagungsortes war politisch motiviert. Die Ukraine, zumal deren westlicher Teil mit dem polnisch/habsburgisch geprägten Zentrum Lemberg, strebt dem Westen zu; der Osten fühlt sich Russland verbunden, das sich die Krim schon wieder einverleibt hat und offenkundig hinter dem Krieg im Donbass steckt. Ein zerrissenes Land also. Anderthalbstündiger Flug von Berlin-Schönefeld. Ebenso lange hatte es in diesem peinlichen Behelfsflughafen gedauert, einzuchecken und mit Menschenmassen durch Kontrollen zu drängen. Dafür hat Lviv (Polnisch/Russsich: Lwow) einen nachgerade riesigen, auf jeden Fall funktionalen Flughafen – wo allerdings außer unserem Flieger kein anderer weit und breit zu starten oder zu landen scheint. Per Taxi zum Tagungshotel „Dnistr“, halbmoderner Klotz nahe der Altstadt. Ich komme ewig nicht in mein Zimmer, da ich nicht schnalle, dass man die Zimmerkarte nicht nur braucht, um den Fahrstuhl zu bewegen, sondern auch, um vor der eigenen Zimmertür, die fest verschlossene Etagentür zu öffnen. Klar hier thronte zu Sowjetzeiten die Deschurnaja und wachte argwöhnisch über der Einhaltung der Sitten… Gegen Abend Stadtrundgang. Die Führung hangelt sich entlang großer, mit dieser Stadt verbundenen Autoren: Ivan Franko, Adam Miekiewicz, Scholem Alechjem, Stanislaw Lem, Leopold von Sacher-Masoch, Deborah Vogel (die mit Bruno Schulz befreundet war, der unweit zuhause war)… Und so sehr ich mich eingelesen hatte auf Lemberg, überrascht mich das Erscheinungsbild dann doch: sehr habsburgisch, manchmal meint man durch Wien oder Prag zu laufen, wären da nun nicht die kyrillischen Aufschriften. Endpunkt: das Biermuseum, wo es nicht nur was zu sehen, sondern tatsächlich auch was zu trinken gibt: gutes Lemberger Bier.

 

Hosianna

für

Moscheh Ya’akov Ben-Gavriêl / Ruth Benedict / Nicolaas Bondt / Georg Matthias Bose / Karoline Marie Luise Brachmann / Heinrich Bullinger / Al Casey / Francesco Geminiani / René Graetz / Georg Philipp Harsdörffer / Wolfgang Held / Hildegard von Bingen / Raden Adjeng Kartini / Walter Savage Landor / Manos Loïzos / Judah Löw / Gino Lucetti / Emil Ludwig / Murakami Kijō / Ronald Paris / Giovanni Ponrano / Karl Popper / Manfred Praeker / Christian Rätsch / Olof Rudbeck d. Ä. / Thomas Etholen Selfriedge / Tobias George Smollet / Eduard Spranger / Gotthold Friedrich Stäudlin / Franz Xaver Süßmayr / William Henry Fox Talbot / Akim Tamiroff / Folke Bernadotte Graf von Wisborg / Yu Dafu

 

Da flehten wir:

1939 marschieren sowjetische Truppen in Ostpolen ein / 1939: ein deutsches U-Boot versenkt den britischen Flugzeugträger „Courageous“, 518 Tote / Toronto, 1949: Brand des Passagierdampfers „Noronic“, 122 Menschen kommen ums Leben.

 

 

18. SEPTEMBER

 

Demokratisierung

mit

Archibald Stansfield Belaney / Robert Blake / Peter Brasch / Caspar Brülow / Francesca Caccini / Gunther Emmerlich / Jean Bernard Léon Foucault / Ignaz Holzbauer / James Joseph Gandolfini / Greta Garbo / Wiktor Hambardsumjan / Samuel Johnson / Ida Kamińska / Kan Bahlam I. / Justinus Kerner / Heinrich Laube  / Samuel Paty / Dee Dee Ramone / Emily Remler / Arthur Ernst Rutra / Fritz Ernst August Stavenhagen / Rachid Taha / Josef Tal / Trajan / Dolores Viesèr / Richard With

 

Da hofften wir auf Demokratisierung:

Belgrad, 1739: Ende des 7. Österreichischen Türkenkrieges / Washington, 1793: Grundsteinlegung für das Kapitol / Paris, 1794: der französische Nationalkonvent entscheidet sich für die Trennung von Kirche und Staat / 1814: Beginn des Wiener Kongresses / 1851: Erstausgabe der „New York Times“ / Berlin, 1957: Eröffnung der Kongresshalle.

 

Ich notierte:

1985: Heute kamen drei Pakete mit Presse- und Belegexemplaren von „Ein Montag im Oktober“ an. Ich signiere und verschicke fleißig.

1995: Hoch über dem Atlantik, laut Orientierungsbildschirm irgendwo südlich Grönlands, südlich Ammassaliks. Hochgefühl wie bei meiner allerersten Reise in den Westen: Dezember 1989, im Trabi gen Eschwege, einer Einladung zu einem ost-westdeutschen Autorentreffen folgend. Verfahren hatte ich mich damals in Grenznähe und brauchte nach der Grenzkontrolle gehörig Zeit um zu begreifen, dass ich wirklich im Westen bin, dass die nach dem Wendeherbst durchlässig gewordene Mauer erstmals zweifelsfrei passiert hatte. Start mitten aus Alltagshektik heraus (damals wie heute). Umso größer so das Wunder der anderen, einer neuen Welt? Damals Hessen, nun Kanada. Thirtyseventhousend feet high - das Meer da unter ähnelt den Sohlen meiner eigens für diesen Schritt gekauften Schuhe, luftgepolstert, american style... Dann tief unter uns unverkennbar der St. Lorenz-Strom. Und eingedenk einiger Whiskeys bleibt aller Ärger & Stress langsam in der alten Welt zurück. Ja, da keimt ein Gefühl woanders, ganz woanders zu sein. Wie mag es W.B. damals, als er via Genua und Halifax per Schiff hier ankam und am St. Lorenz entlang (per Bahn oder Schiff?) zu seiner letztlich letzten Lebensstation Toronto zog, zumute gewesen sein?

1996: El Muhraka, wo Elias einst die Baals-Priester schlachtete und somit begründete monotheistische Kultur, hier, hochoben auf dem Karmel mit weitem Blick übers Heilige Land singen UN-Soldiers aus Fidschi, stationiert im Libanon, andächtig Choräle. Be quiet, please!

1998: London, Ontario. Abschied von Günter. Und weiter zu Henry. Für die Fahrt zu ihm bräuchten wir auf direktem Wege wohl 7 bis 8 Stunden. Doch wir entschließen uns sogar für einen Umweg, fahren im großen Bogen um Toronto herum, um auch die Umgebung kennenzulernen, das Hinterland W.B.s neuer Heimat. Bei Goderich erreichen wir wieder den Huron See, gehen ein Stückchen weiter nördlich sogar baden. Traumhafter Sandstrand, türkisfarbenes Wasser soweit das Auge reicht, und kein Mensch weit und breit... Ein Paradies. Sogar ein exotisch großer, orangefarbener Schmetterling, ein Monarch umflattert uns, einer von denen wohl, die jedes Jahr aus dem Norden bis Mexico fliegen. Noch weiter nördlich an der Georgian Bay entdecken wir den Meafort. Die Blue Mountains reichen hier fast bis an den Strand, ringsum weitläufige Apfelplantagen, ein malerischer kleiner Hafen mit weit in den See reichenden Steinmolen, gepflegte Parks, Häuser englischen Stils, ein Theater... War Meafort vielleicht der Ort, über den W.B. in einem Tagebuch begeistert von einem Badeausflug an den Lake Huron berichtete? Doch wir müssen weiter, wollen wir morgen gegen Mittag wie verabredet bei Henry sein. Es liegen noch hunderte Kilometer vor uns. Barrie, Orilla, dann auf dem Transcanada Highway 7 strikt nach Osten. Immer kleiner und kleiner werden hier die Orte, ärmlicher in großartiger Landschaft, Moore und verträumte Seen. Dann geht aber die Sonne unter und wir haben noch immer kein Quartier. Mal wieder (außer Spelunken) einfach nichts zu finden. Zu guter Letzt, so gegen halb neun (und schon leicht nervös), finden wir aber doch noch ein ordentliche Motel und sogar mit Restaurant, tafeln nicht schlecht. Und verrückt: der Ort heißt Arden, wie W.B.s kanadische Lebensgefährtin hieß!

1999: Nachdenklich macht mich ein Artikel im „Spiegel“ über neue Möglichkeiten und Perspektiven von Kriegführung. Bereits im Kosovo-Krieg narrten wohl amerikanische Computerspezialisten die jugoslawische Luftabwehr, „zauberten“ Phantombilder auf Radarschirme. Künftig wird es dem, der über die besten Informationssysteme und die besten Informationen verfügt, möglich sein, Gegner zu paralysieren. Kann solche Vision einer völlig unblutigen Kriegführung ermutigen? Wohl kaum. Aber sicherlich ernüchtern über reale Machtverhältnisse in der heutigen Welt.

2000: Am Nachmittag ins Kulturhaus Leuna zum Auftakt der Expo-Korrespondenzwoche. Ziemlich „großer Bahnhof“, Expo-Beauftragter, Landrat, diverse Industriebosse, nun ja. Ich habe den neuen Leunaer Bildband vorzustellen, für den ich das Vorwort schrieb, nun ja.

2010: Trebnitz. Schizoid, zu beobachten wie dein Vater mit deinen Enkeln Kastanien sammelt: als schlüge man abrupt mit ’ner Zeitmaschine auf, ja, als zögen Leben in Sekundenschnelle vorbei…

2017: Lviv. Beginn des PEN-Kongresses. Ich trage mich für das „Translation Committee“ ein, wechsele dann aber auch mal zum „Writers-in-Prison Committee“, als es dort um zwei Resolutionen geht, die den ukrainisch-russischen Konflikt thematisieren. Hier will ich wissen, warum der russische PEN offenbar nicht eingeladen sei. Worauf hin ich (vom Generalsekretär höchst persönlich!) höre, dass der russische PEN sogar mehrmals eingeladen wurde, aber nicht zugesagt habe. Dafür sei aber eine Vertreterin des neugegründeten PEN St. Petersburg und ein Vertreter der Freien Russischen Autoren-Assoziation (eine Gruppe von etwa 80 Schriftstellern, die jüngst aus dem russischen PEN austraten) anwesend. Aha. (Später erfahre ich, dass der ukrainische PEN den russischen ausgeladen habe und – dass dennoch ein Mitglied des russischen PEN anwesend ist, nicht als Delegierter, als Gast…) Da beide vorbereiteten Resolutionen am Ende aber klare Fakten benennen und sich eine sogar an alle Konfliktparteien mit dem dringenden Ersuchen wenden, zur Lösung der Konflikte beizutragen, ist dagegen selbstredend nichts mehr einzuwenden. Leise Bauchschmerzen bleiben mir jedoch hier in Lemberg, wo ringsum Grenzen mehrmals und radikal im Zuge der Weltkriege verschoben wurden und durch deutsches Handeln Millionen Menschen zu Tode kamen, Russen, Ukrainer, Juden, Polen, wenn einseitig antirussische Töne zu hören sind. Am Abend Eröffnungs-Zeremonie in der Universität und danach Büffet im alten Straßenbahnhof.

2020: Mehr als 30 Millionen Corona-Infizierte weltweit, fast 1 Million Tote. Sogar Wien und Amsterdam und Budapest, die Kanaren, Südfrankreich und und und sind Krisengebiete. Und auch in Deutschland steigt die Zahl der Neuinfektion wieder stetig an.

2023: Nochmal ein schöner Spätsommertag. Wir fahren auf den Fichtelberg. Als wir das letzte Mal hier waren goss es in Strömen, war saukalt und wegen Sturms fuhren weder der Sessellift noch die Seilbahn. Heute ist alles in Betrieb und so gelangen wir auch bequem nach Oberwiesenthal hinab und zum Abendschmaus wieder hinauf.

 

 

Depression

für

Eddie Adams / Amalie von Sachsen / Ruth Bader Ginsburg / Bernhard Bästlein / Alfred Brust / John Colet / Leonhard Euler / Emil Fackenheim / Ernest Bristow Farrar / Olaf Gulbransson / Dag Hjalmar Agne Carl Hammarskjöld / William Hazlitt / Jimi Hendrix / Alexandro Herculano / Gerald Holtom / Franz Jacob / Mauricio Kagel / Felix von Lichnowsky / George MacDonald / Johann Friedrich Meckel d.Ä. / Russ Meyer / Rudolf Nebel / Rudolf Olden / Katherine Anne Porter / Marcel Reich-Ranicki / Erik Andreas Rotheim / Anton Emil Hermann Saefkow / Kurt Sanderling / Marianne Schmidt / Tatjana Turanskyj / Robert Venturi / Rudolf Wagner-Régeny / Kenny Wheeler / Jimmy Witherspoon / Stanisław Ignacy Witkiewicz / Walter Womacka

 

Das machte uns depressiv:

Frankfurt am Main, 1848, Barrikadenkämpfe, 42 Tote / Hongkong, 1906: ein Taifun löst eine Flutwelle aus, bis zu 10.000 Todesopfer / Desná, Riesengebirge, 1916: Talsperrenbruch, 62 Tote / 1940 versenkt ein deutsches U-Boot den britischen Dampfer „City of Benares“ im Nordostatlantik, 248 Menschen sterben / 1944 versenkt ein britisches U-Boot vor der Küste von Sumatra den japanischen Gefangenentransporter „Junyō Maru“, 5.620 Menschen kommen ums Leben / 1947: Gründung der CIA / Honduras, 1974: in einem Wirbelsturm sterben bis zu 10.000 Menschen / Kairo, 1997: Terroranschlag vor dem Ägyptischen Museum, 10 Todesopfer / 1998 kentert die philippinische Fähre „Princess of the Orient“, 150 Menschen kommen ums Leben.

 

 

19. SEPTEMBER

 

Fliegen

mit

Eddie Adams / Judith Auer / Lovie Austin / Brook Benton / Hjalmar Fredrik Bergmann / Holger Biege / Willy Birgel / Heiner Carow / Jean-Claude Carrière / Martin Crusius / Václav Dobiáš / Marek Edelman / Cass Elliot / Brian Samuel Epstein / Rachel Field / Paweł Finder / Paulo Freire / Bedřich Fritta / William Golding / Lorenz Heister / Peter Horton / Jóhann Gunnar Jóhannsson / Nick Massi / Bronisław Ludwik Michalski / Theodor Mundt / Allan Pettersson / Erik Andreas Rotheim / Josef Boleslav Pecka / Nini Rosso / Kurt Sanderling / Fritz Richard Schaudinn / Ambrogio Traversari / Ben Turpin / Mika Waltari / Adam West / Emil Zátopek / Stefanie Zweig

 

An diesem Tage hoben wir ab:

1876 wird ein US-Patent für den ersten funktionstüchtigen Staubsauger erteilt / Spa, 1888: erste Wahl einer Schönheitskönigin / Neuseeland, 1893: Frauen erhalten das aktive Wahlrecht / Berlin, 1921: Inbetriebnahme der AVUS / 1955 verlässt der letzte sowjetische Besatzungssoldat Österreich / 1983 St. Kitts und Nevis wird unabhängig von Großbritannien / 1991 wird Ötzi gefunden.

 

Ich notierte:

1987: Die mir übertragene, große Aufgabe, die Tage der Sozialistischen Gegenwartsliteratur im Bezirk Halle zu organisieren, ist nun also und erfolgreich, mit viel anerkennendem Schulterklopfen, durchgestanden, durchgeschwitzt. Mal sehen, ob und wie ich daraus für mein Schreiben Kapital schlagen kann. Diese Phase der sich in mir lösenden Spannung fällt in ein weltpolitisch (hoffentlich!) wichtiges Ereignis: Schewardnadse und Shultz einigen sich über den Abbau der Mittelstreckenraketen, noch im Herbst soll ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet werden! Das löst Ängste. Erstmals seit dem letzten Krieg keine weitere Anhäufung von Massenvernichtungs-Potential – erstmals ein Schritt in die andere Richtung? Ein Reporter sprach gestern von dem Problem der Entsorgung solch ungeheurer Mengen von Atomsprengköpfen. Was für ein mit aller Phantasie bedenkenswertes, doch ebenso lösbares Problem! Was für eine Chance für Literatur – für Gegenwartsliteratur zumal!

1995: Toronto. Joachim Bielert, einer von W.B.s Nachfolgern an der Universtity of Toronto, den ich im Deutschen Literaturarchiv Marbach kennengelernt hatte, als wir feststellten, dass wir beide Unterlagen aus W.B.s Nachlaß einsahen, holte Jeanny und mich gestern Abend vom Flughafen ab. Seine Frau Pat servierte uns ein köstliches Dinner: Atlantic Salmon, dazu chilenischen Wein. Trotzdem spürten wir den Jetleg mehr und mehr. Doch um uns der Ortszeit schnellstmöglich anzupassen, um Himmelswillen nicht zu zeitig schlafen zu gehen, verordnete uns Joachim noch einen Spaziergang am Ontario-See entlang. Gegen neun Uhr aber wurde uns jedwedes Gespräch durch ständiges Gähnen unmöglich. Heute Morgen nun wachen wir relaxt und dem hiesigen Tagesrhythmus offenbar schon verinnerlicht auf. Strahlender Sonnenschein, über die Wiesen huschen schwarze Eichhörnchen, Squirrel (wie Joachim sagt), und Scharen uns unbekannter Vögel (Robins), schwirren durch die Bäume. Keine Frage (nach verstohlenem Kneifen in den eigenem Unterarm): Terra incognita. Joachim fährt uns in die Innenstadt, Toronto downtown. Und erstmals erleben wir Wolkenkratzer, sehen den höchsten Fernsehturm der Welt, den CNN-Tower, daneben den riesigen Skydome. Und war der Begriff downtown für mich bislang pejorativ besetzt, registriere ich nunmehr, dass diese Stahl-und-Glas-Architektur auch ihre Ästhetik hat. Und was für eine!

Doch wir müssen zum Bahnhof, zur Union Station. Henry B., Übersetzer und Freund W.B.s, mit dem ich im vergangenen Jahr erstmals zusammentraf, als er in Merseburg mit dem Walter-Bauer-Preis geehrt wurde, erwartet uns in seinem Heim. Der Bahnhof dann reichlich schweißtreibend - wie findet man den richtigen Bahnsteig? Richtig, durch Intuition! Im Zug schließlich alles recht freundlich, sogar Platzservice, und phantastische Aussichten auf den gewaltigen Ontario-See. Nach vier Stunden Fahrt Ankunft in Cornwell. Arlette, Henrys Frau, holt uns ab. Über Maxville, wo sich sommers Schotten aus aller Welt zu Highland-Games treffen (wie Arlette erklärt), zu ihrem „Reich“ Ayorama, ein 40-Hektar-Waldgründstück mitten in the Canadian Bush, kleiner See, massives Holzhaus, Nebengelass zum Malen für Arlette, Schreibhütte für Henry. Künstlerherz, was willst du mehr. Doch Arlette spricht auch von Einsamkeit und Isolation. Da Henry erst gegen 10 p.m. aus Montreal, aus der Uni, kommen wird, bin ich gezwungen ausschließlich Englisch zu sprechen, da Arlettes Deutsch für Konversation nicht reicht. Und siehe da, es geht zunehmend besser (unter gelegentlicher Zuhilfenahme von Gestik und Mimik, versteht sich). Zum Dinner wieder Salmon, diesmal mit Kräutern statt Meerrettich und Kalifornischen statt Chilenischen Wein. Dann haben Jeanny und ich jedoch plötzlich wieder gegen die Zeitverschiebung anzukämpfen, schaffen es aber, Henry noch zu begrüßen und ein wenig zu plaudern.

1998: Am Morgen liegt über der Sumpf- und Seenlandschaft des Canadian Shield dichter Nebel, der sich jedoch und glücklicherweise erstaunlich schnell lichtet. Weiterfahrt zu Henry in schönstem Sonnenschein. Halt am Rideau Kanal, der Ottawa mit Kingston am Ontario See verbindet, herrliche Flusslandschaft. Dann wieder Ärger über die winzigen oder völlig fehlenden Hinweisschilder an Highwaykreuzungen. Ich verfahre mich. Schließlich sind wir aber doch pünktlich zum Lunch in Henrys Ayorama. Henry meint, wir kämen superpünktlich, da er soeben das letzte Wort eines Huchel-Essays geschrieben habe, den ich bitte gleich lektorieren und dann mit nach Deutschland nehmen solle. Henry hat Huchel gut gekannt, hat ihn schon zu DDR-Zeiten, die um Huchel gelegte Isolation durchbrechend, mutig in Wilhelmhorst besucht, seine Gedichte ins Englische übertragen und Huchel so in Amerika bekannt gemacht. Natürlich beginnt dann sofort eine Fachsimpelei über W.B. Nach dem Lunch fahren wir mit Henry zu einem Freund an den St. Lorenz Strom. Arlette, Henrys Frau, ist es zu heiß, sie bleibt in Ayorama. Wir erleben ein phantastisches Grundstück direkt am Strom. Das jenseitige Ufer ist kaum erkennbar. Gravitätisch zieht ein Ozeandampfer vorbei gen Great Lakes. Unglaublich zu hören, dass dieses gewaltige Wasser winters zufriert und Tom (Henrys Freund) hier kilometerweit Schlittschuh läuft. Wir aber gehen baden. Schwimmen im St. Lorenz Strom, mein Gott, was für ein Gefühl!

Im Gespräch kommen wir wieder auf Auswanderer zu sprechen. Henry meint (was Tom bestätigt), dass Mitteleuropäer, Intellektuelle vor allem, die für einige Zeit in Kanada lebten, sich zwar über die Anämie des Geisteslebens beklagten, dann aber nach einiger Zeit daheim für immer oder zumindest für länger nach Kanada zurückkehrten. Die Möglichkeiten dieses Riesenlandes seien einfach zu grandios, da man hier tatsächlich und konsequent auf sich gestellt sei. Entweder du hast selbst ein Geistesleben und findest hier weiter zu dir oder hängst irgendwelchen modischen Strömungen an und willst dich mit Smalltalks begnügen, an der Oberfläche bleiben. Da hast du hier keine Chance (meinen Henry und Tom). Anderes Phänomen (im übrigen auch direkt W.B. betreffend): Die meisten Kanadier reisen kaum, kennen meist nur ihre eigene Umgebung, auch wenn sie vielleicht einst den riesigen Schritt über den Atlantik wagten. Henrys Erklärung: Die Ursache der (europäischen) Unruhe käme aus der Enge. Hier sei Weite. Gelassenheit somit hinsichtlich dieser von dir mit nur wenigen geteilten Welt, die zwar höchst unterschiedlich, jedoch überall einzigartig und natürlich schön sei. (Henry selbst allerdings bereiste, als er 1951 hier ankam, erst mal das ganze weite Land vom Yukon bis Vancouver Island, von der Prärie bis New Brunswick, bevor er sich sagte, ja, hier bin ich angekommen, hier will ich bleiben und den kanadischen Pass beantragte.) Zurück in Ayorama hat Arlette schon das Dinner gerichtet. Köstlicher Atlantic Salmon (der uns von der Westküste Gekommenen symbolisch sozusagen noch die restlichen 2000 Kilometer bis zur Ostküste reisen lässt). Unseren Plan, Henrys im Eissturm dieses Januars schwer getroffenen Wald zu begehen, geben wir auf, da wir nun zum ersten Male überdeutlich ein kanadisches Übel spüren: Scharen von Moskitos! Plaudern also beim Glas guten Weins über Gott und die Welt. Henry muss mich natürlich nicht überzeugen, dass diese Welt auf eine Katastrophe zugeht, allzu deutlich seien die Menetekel sichtbar (und er zeigt dabei auf seine unter der unglaublichen Eislast geborstenen Dachbalken), und dennoch schreiben wir und versuchen den Alltag zu meistern und dem Leben Sinn zu geben und Lust und Freuden abzugewinnen. Keine Frage, eine Meinung. Henry sagt, dass er sich in ein dieses Jahrhundert und Europa und Amerika umfassendes Epos hineinzuschreiben versucht. Vorm Schlafen gehen wir nochmals ins Freie. Was für ein Sternenhimmel, von keiner Stadthelligkeit getrübt! Der Jupiter strahlt uns regelrecht an. Doch müssen wir flüchten: Die Moskitos!

1999: Sonntag. Aber ich schreibe nochmals Projekte fürs Jahr 2000. Muss ich wohl oder übel, wenn ich im neuen Jahrtausend auch noch Projektarbeit leisten will, denn alle Anträge hierfür müssen bis Ende September beim zuständigen Regierungspräsidium sein. Kaum habe ich mir im Garten an diesem herrlichen Spätsommernachmittag mal wieder ein Buch zur Hand genommen und will (wie schon lange vorgenommen) in Norman Mailers „Picasso“ lesen, ruft Rüdiger aus Berlin an und mir wird in einem halbstündigen Telefonat allmählich klar, was in Vorbereitung der Bosch-Ausstellung so alles nicht läuft, doch nach dem System „den letzten beißen die Hunde“ auf mich zurückfallen könnte. Da läuft in Sachen Multimedia so gut wie keine Koordination, da wird nur ewig nicht mein Internet-Computer nicht angeliefert. Und die Verantwortliche, die mir glauben machte, es liefe alles bestens, verabschiedete sich Ende August in den Urlaub... Die nächsten fünf, sechs Stunden verbringe ich am Telefon und Fax, um erstmal eine Grundstruktur aufzubauen. Und das war’s dann mit diesem Sonntag.

2019: Heute ist „International Talk Like a Pirate Day“ – ein hoher Feiertag des Pastafarianismus – des Glaubens an das Fliegende Spagetthimonster also! Und heute vor 77 Jahren mussten sich Juden in Deutschland erstmals mit einem gut sichtbaren gelben Stern auf der Kleidung stigmatisieren. Ich weiß nicht so recht, was der Nachbar feiert, der mein Haus nach Sonnenuntergang grell mit einem Scheinwerfer markiert, nachdem ich im Boulevard kriminalisiert wurde.

2020: Nach langer Zeit mal wieder eine Mugge: Mundartlesung des Landesheimatbundes in Bernburg. Selbstredend lese ich meine neuen Merseburcher Babeleien.

 

Filmriss

für

Dursun Akçam / Italo Calvino / Chester Carlson / Giles Corey / Gianbattsita Donati / Black Elk / James Abram Garfield / Sidney M. Goldin / Kurt Goldstein / Stephen Gould / Louis Gurlitt / Helmut Heißenbüttel / Wafaa Kamal / Lee Kerslake / Masaoka Shiki / Steffen Meyn / Jacobus Morenga / Gram Parsons / Charlotte Polak-Rosenberg / Annie Pootoogook / María Rivas / Ole Rømer / Josef Antonín Sehling / Nikos Skalkottas / Joke Smit / Johann Weichardt von Valvasor / Mary Wigman / Samuel Kofi Yeboah / Konstantin Eduardowitsch Ziolkowski

 

Das kam uns wie ein Filmriss vor:

Limoges, 1370: Soldaten Edwards of Woodstocks, des „Schwarzen Prinzen“, plündern sechs Tage lang die Stadt und massakrieren bis zu 3.000 Einwohner / Merseburg: 1401 hört schlagartig „ein sintfluth artig Regen auff“, der ein halbes Jahr zuvor eingesetzt haben soll. Danach war „eine überaus große theuerung erfolget“ / Rom, 1450: Massenpanik auf der Engelsbrücke, 172 Tote / Deutschland, 1941: Juden werden gezwungen einen Judenstern zu tragen / 1981 kentert das Flusspassagierschiff „Sobral Santos“ auf dem Amazonas, 300 Menschen kommen ums Leben / Michoacán, Mexiko, 1985: Erdbeben, bis zu 30.000 Todesopfer / 1989 explodiert in einer DC-10 beim Flug über Niger eine Bombe, alle 171 Insassen sterben / Pubela, Mexiko, 2017: Erdbeben, mehr als 300 Tote / 2021 bricht auf La Palma der Vulkan Cumbre Veja aus / 2023: aserbaidschanisches Militär greift einmal mehr Bergkarabach an, schon am ersten Kampftag 27 tote Armenier.

 

 

20. SEPTEMBER

 

Mutprobe

mit

Mahsa Amini / Ananda Mahidol / Jiří Baum / Rudolf Benario / Moritz August Benjowski / Joseph Breitbach / Hanns Cibulka / Vladimír Clementis / Marie-Jean Hérault de Séchelles / Jean-Jacques Dessalines / James Dewar / Hedwig Dohm / Adolf Endler / Friedrich Erdmann von Sachsen-Merseburg / Matthias Erzberger / Eric J. Gale / Jürgen Hart / Albert Hotopp / Elizabeth Kenny / Joseph Kürschner / Georg Marggraf / Javier Marías / Red Mitchell / Alexander Mitscherlich / Ernesto Teodoro Moneta / Jelly Roll Morton / John Panozzo / Hans Scharoun / Upton Sinclair / Victor David Sjöström / Yoshida Shōin / Leo Strauss / Nikolai Wladimirowitsch Timofeef-Ressowski / Monica Zetterlund

 

Dafür hätten wir immer wieder Mutproben bestanden:

Lambeth, 1217: Ende des „Ersten Krieges der Barone“ / Rijswijk, 1697: Ende des Pfälzischen Erbfolgekriegs / 1859: US-Patent für den Elektroherd / 1896 wird zwischen Paris und Nantes das erste Motorradrennen der Welt ausgefahren / 1946: Eröffnung der ersten Filmfestspiele von Cannes / 2019: weltweite Demonstrationen der Fridays-for-Future-Bewegung

 

Ich notierte:

1980: Seit der gestrigen AJA-Nachwuchsgruppentagung in Halle  wieder verunsichert. Mit Döppe werde ich wohl nie richtig ins Gespräch kommen. Bei aller Notwendigkeit des Infragestellens höre ich einfach nichts als Vorurteile von der Gruppe der reinen hohen, stets allwissenden Schreibkünstler, huch, Frollein sprich mich nicht an… Elfenbeintürmler!

1986: Nach einem Film, den ich über Jack Kerouc sah, frage ich mich, ob mein mühseliges, schneckenhaftes Voran-Schreiben emotional genug sein kann.

1995: Mit Henry und Arlette nach Ottawa, der Hauptstadt Kanadas. Gut zwei Stunden Fahrt, meist über Highways. Entgegen der Wetterprognose setzt kein Regen ein, so erleben wir den Hügel mit den imposanten Parlaments- und Regierungsgebäuden über dem Ottawa River sogar noch bei schönem Wetter. Dann schnell eine wagenradgroße Pizza (für 12 C$!) als Lunch in der Innenstadt und auf ins „Museum of Civilisation“ auf der anderen Seite des Flusses, großartiges Haus, großartige Expositionen. Wir bestaunen Totempfähle und Gegenstände indianischen Alltagslebens, Eskimo-Kunst und andere Zeugnisse kanadischer Geschichte, allesamt hervorragend präsentiert. Henry erzählt uns dabei vom Potletch, vom kultischen Verschenken angehäuften Besitzes, um Besitz als Ursache alles Bösen erst gar nicht zum Machtfaktor werden zu lassen - alter indianischer Brauch. Warum hatte ich davon noch nie gehört? Potletch. Nächstes Bestaunenswertes: die riesige Leinwand des IMAX-Kinos, zehnmal größer wohl, als Cinemascope-Leinwände. Gigantisch. Wir sehen, nein, erleben einen Film über die Maya. Am Abend zurück in Ayorama. In Henrys Schreib-Haus vor Büchern W.B.s erstes Gespräch über W.B., das Henry und ich nach dem Dinner fortsetzen. W.B. isolierte seine Bekanntschaften und Freundschaften voneinander, kultivierte diese Isolierungen förmlich. Ausdruck seiner wachsenden Vereinsamung in der Fremde? Henry war als Vertreter des kanadischen PEN gerade in der Ukraine, lernte in der Reisegruppe Lydia, eine ukrainischstämmige Autorin kennen. Die wiederum war mit W.B. vertraut (erfuhr er zufällig), immerhin pflegte W.B. jeden Sonnabend eine Stunde lang mit Lydia zu telefonieren. Davon wusste Henry, (W.B.s offenkundig bester Freund immerhin) nichts. Und Lydia wusste nichts von Arden, W.B.s kanadischer Lebensgefährtin. Und Arden sicherlich nichts von Lydia. Ja, nach dem Tode W.B.s kam es sogar zu einem Zerwürfnis zwischen Henry und Otto Röders, dem deutschen Nachlaßverwalter W.B.s und späteren Herausgeber eines interessanten Briefbandes W.B.s, da Röders anzweifelte, dass Henry tatsächlich der beste Freund W.B.s sei, nie von ihm gehört hatte, so der kanadische Nachlassteil, Veröffentlichungsrechte etc. zu Streitobjekten wurden. Und am liebsten suchte W.B. auch in persönlichen Begegnungen das Zwiegespräch, schon wenn ein Dritter hinzu kam oder dabei war fühlte er sich unwohl. Nicht unwichtig auch für W.B.s kanadisches Lebensgefühl, dass er so gut wie nie aus Toronto herauskam, seinem Titel „Fremd in Toronto“ somit alltäglich Bedeutungsebenen hinzufügte. (Leiden, auch selbstzugefügtes Leiden an der Fremde als Schreibanlass?) Wenn er sich aus seinem Alltagstrott mal hinausbewegte, schien er dies vor allem Henry zu verdanken. Mal Ausflüge zu Theateraufführungen nach Stratford, mal nach Montreal, mal eine kleine Sommerreise nach Prince-Edward-Island, mal eine Reise in Vorbereitung seiner von Henry übersetzten ersten kanadischen Gedichtauswahl nach Vancouver. Ansonsten natürlich seine Reise zur Verleihung des Albert-Schweitzer-Preises 1956 nach München. Und ein-, zweimal universitäre Vortragsreisen in die USA. Das war’s dann aber auch in 24 Jahren Kanada...

1996: Auf dem Golan. Vom Aussichtspunkt beim Mount Avital blicke ich nach Kuneitra hinüber und sehe dich eine gelbe Rose pflanzen, Jahre zuvor. Syrer erzählen dir von jüdischen Gräueln. Mir berichten Israeli, dass sie die eroberte und wiedereroberte Stadt zurückgaben freiwillig, sie seitdem aber unbewohnbar blieb, da sie herhalten müsse als Kainsmal. Bis zum Stacheldraht vorm Niemandsland laufe ich dir entgegen, kicke Basaltsteinchen, schieße Distelköpfe, vermag jedoch nicht mal den UNO-Posten zu erregen. Sei’s drum, vielleicht leeren wir daheim nun gemeinsam eine Flasche köstlichen Weins dieser zerrissenen, verbrannten Erde.

1998: Ayorama. Nach dem Frühstück zeigt uns Arlette ihre neuesten Gemälde, Aquarelle, Pastelle, farbenprächtig allesamt, und berichtet stolz, dass sie allein auf ihrer letzten Ausstellung zehn Exemplare verkauft habe. Dann kommt doch noch ein Rundgang durch den zerstörten Wald zustande. Fast alle Bäume haben ihre Kronen verloren, die elastischeren Stämme, Birken zumeist, stehen noch immer mit dem Wipfel zu Boden gebogen. Henry sagt, das Bersten der Stämme unter der Eislast, dieses entsetzliche Geräusch, habe ihn an den Krieg erinnert, an jene Bombennächte in Köln. Und es ist zu spüren, dass diese Katastrophe hier ihn physisch wie psychisch getroffen hat. Andererseits soll diese Verwüstung ihm Ausgangspunkt für sein Jahrhundertepos sein. Irgendwie kommen wir auch auf Günter zu sprechen, und ich höre durchaus, wie sauer Henry auf ihn ist, dass er nach wie vor die W.B.-Biografie nicht fertig bringt. Und ich begreife möglicherweise auch Walter R.s (und anderer Victorianer) relative Reserviertheit uns gegenüber, denn Henry erzählt, dass zwischen Günter und Walter R. aus eben diesem Grunde seit Jahren Spannungen bestehen, Spannungen, die Walter R., der uns wohl automatisch Günters Herangehensweise zuordnet, auch auf uns übertrug.

Bei Cornwall erreichen Jeanny und ich wieder den St. Lorenz und fahren stromaufwärts durch malerische Flusslandschaften bis Kingston. Während der Fahrt resümieren wir, dass Kanada zweifelsohne ein grandioses Urlaubsland ist, für uns aber als alternative Lebensform nicht in Frage käme. Keine der hier angetroffenen Lebensformen könnte uns länger als zwei, drei Tage begeistern, wenn überhaupt. Die allgemeine Kontaktscheu (die sich durchaus auch in oberflächlicher Freundlichkeit äußern kann) scheint uns daraus zu resultieren, dass die Leute hier (zumal wenn sie Auswanderer sind) jeweils an einem Point of no return ankamen und sich, wie W.B., in der Fremde, die hier durch die Weite des Landes allgegenwärtig ist, so eingerichtet haben, daß kleine Alltage in beschränkter, überschaubarer Umgebung Nähe schaffen, neue Heimat. So erscheint denn auch nicht verwunderlich, dass eine Kellnerin in Kingston beim Smalltalk (alles sehr nett, keine Frage) nicht mal weiß, wo Alexandria liegt (woher wir angaben, heute zu kommen), auch das relativ große Cornwell nicht kennt - wie gesagt, alles nur 100, 200 Kilometer entfernt - ein Nichts für kanadische Verhältnisse. Kein Einzelfall, beileibe nicht, solche Erfahrungen haben wir Dutzende gemacht. Und wahrscheinlich kommt auch die miserable Ausschilderung der hiesigen Verkehrswege (die uns heute mal wieder etliche Male in die Irre schickt) aus diesem Geist: hiesige Verkehrsplaner können sich wahrscheinlich nicht vorstellen, dass jemand entlang fährt, der nicht gleich um die Ecke wohnt. Diese sogenannte Freiheit eines jeden einzelnen wird so natürlich bizarr, denn gepaart mit dem selfmademan-Denken führt dies zweifellos in Isolation. Je nach Charakterstärke dürfte die wiederum recht unterschiedlich wirken (Henry beispielsweise könnte wohl selbst in den menschenleeren Northwest-Territories ein erfülltes Leben führen), aber einen Nachbar um einen Schraubenzieher zu bitten, und dabei nicht gegen irgendwelche Konventionen zu verstoßen, kann man hierzulande wohl kaum.

Was muss W.B. hier in diesen geistigen Provinzen und ohne Chance zu normalen, will sagen: gewohnten nachbarschaftlichen Beziehungen wohl durchlitten haben! Der deutschen Provinzialität wollte er entkommen und geriet hier in ein hypertrophiertes Dorf, in dem jeder dem anderen tunlichst aus dem Wege geht, um sein Ich zu finden und auszuleben! Nun gut, wie man weiß, entstehen auch (oder gerade) aus Leidensdruck Gedichte. Nichtsdestotrotz erleben wir noch einen herrlichen Tag, fahren von Kingston durch die Landschaft der Hundred Islands, die uns sogar nochmals eine kleine Fährfahrt beschert, bis Picton. Hier hat uns Henry ein Quartier empfohlen und vorbestellt. Und wir sind überwältigt: ein hochherrschaftliches Haus altenglischen Stils mit riesigem Rasengarten, abfallend zur Picton Bay, riesiges Zimmer mit riesigem Seeblick-Balkon - und alles für 115 Can$ (inklusive Frühstück)! (Ich hatte schon verstohlen nach unserer letzten Barschaft geschielt...) Unser Wirt ist Deutscher und bittet uns in Hamburger Dialekt auch sogleich ihn Dieter zu nennen. Nun gut: Dieter wanderte 1953 (in meinem Geburtsjahr also) nach Kanada aus und hat es hier offensichtlich vom Handwerker zum Millionär gebracht. Nachdem uns zur Erfrischung hausgemachter Ice-Tea auf dem Balkon serviert wurde, steigen wir nochmals ins Auto, fahren zum Sandbanks Provincial Park: Endlos weiter (Süßwasser)Sandstrand und in der gewitterschwülen Abendstimmung scheint das Wasser des Ontario Sees am Horizont nahtlos in den schweren Himmel überzugehen. Wir schwimmen wie ins Unendliche, wie ins Nirwana, ja meinen irgendwie bergauf zu schwimmen. Dann am kleinen Hafen ein gutes Restaurant mit freundlicher Bedienung (klar). Ich esse den hier typischen Fisch: Walleye. Seidenweicher Abend, sternklarer Himmel. Wir fühlen uns wohl, sehr wohl hier an unserem letzten Abend in Kanada.

1999: Am Morgen nach Halle, um mal wieder ein Qualifizierungs-Seminar zu leiten. Es erscheint aber nur die Hälfte der notwendigen Teilnehmer. Tja, wo sollen auch zu qualifizierende ABM-Beschäftigte herkommen, wenn ABM-Maßnahmen im Osten radikal abgeholzt werden? Da geht also mal wieder eine Verdienstmöglichkeit hin... Böse Kettenreaktionen. Kartenhausprinzip.

2000: Büroroutinen, dann in die Schule nach Spergau, Schreibwerkstatt mit der 3. und 4. Klasse. Zu Hause arbeite ich das Material gleich auf, da es Eichi und Jeanny für ihre Projektgruppen brauchen. Am Nachmittag ins Domgymnasium, Exkursion mit den Projektschülern ins Bauer-Archiv. Mal sehen, ob sie langsam an Bauers Persönlichkeit herankommen. Manches scheint langsam über allgemeines Interesse hinauszugehen.

2017: Lviv. Heute all die langwierigen Berichts- und Wahlprozesse, die auf derlei Kongressen aber unumgänglich sind. Interessant wird es jedoch, als es um Neuaufnahmen geht. Während die Antrag stellenden PEN-Zentren Gambia, Kuba und Süd-Indien so gut wie ohne Diskussion Mitglieder des Weltverbandes werden, geht es beim PEN St. Petersburg ziemlich hoch her. Reden dürfen auf PEN-Kongressen eigentlich nur Delegates, keine Participants, geschweige denn Guests. Dennoch wirbt plötzlich – mit besonderer Erlaubnis der Präsidentin, wie betont wird! – ein Vertreter der Freien Russischen Autoren-Assoziation für die Aufnahme des St. Petersburger PEN und bezichtigt den PEN Russland der Kollaboration mit der aggressiven russischen Regierung. Die große Mehrheit der Delegationen sieht diesen Vorgang der Neuaufnahme eines Splittervereins dennoch keineswegs einen rein politischen Vorgang, sondern meint, das hier sei etwas Ähnliches wie die Neuaufnahme eines fünften indischen PEN-Zentrums, regional und/oder sprachorientiert begründet. So die Diskussionen. Klar, man tagt ja auch nicht rein zufällig in einem Land, dass mit Russland alles andere als in Frieden lebt. Im Anschluss eine Podiumsdiskussion in der Universität u. a. mit Paul Auster zum Thema „Trumps America“. Gut zu hören, dass sich amerikanische Intellektuelle eindeutig gegen diesen stupid ego-man positionieren, doch Optimismus strahlt das alles gewiss nicht aus.

2022: Am Abend nach Halle ins „Objekt 5“, Konzert mit „Fanfare Ciurlan“. Wow, da geht die Post ab, was für eine Spielfreude und Intensität der allesamt hervorragenden Musiker. Danach noch auf eine Gose in die „Gosenschänke“.

 

Meuterei

für

Musa Anter / Cheb Aziz / Siegfried Behrend / Gilles Binchois / Fletcher Christian / Jim Croce / Pablo de Sarasate / Robert Emmet / Theodor Fontane / Jacob Ludwig Karl Grimm / Heinrich Hoffmann / Josef Kainz / Sonia Lewiska / Joan Littlewood / Ernst von der Malsburg / Tadeusz Dołęga-Mostowicz / Felix Nussbaum / Sven Nykvist / Saint-John Perse / Ida Rubinstein / Gerd E. Schäfer / Stepan Schahumjan / Dawood SiawashGiorgos Seferis / Jean Sibelius / Gabriela Silang / Max Slevogt / Ben Webster / Simon Wiesenthal / Wovoka

 

Dagegen hätten wir meutern müssen:

1908 sinkt vor Alaska die Bark „Star of Bengal“, 110 Tote / Islamabad, 2008: Bombenanschlag auf ein Hotel, 54 Menschen kommen ums Leben / Ukara, Tansania, 2018: die Fähre „Nyerere“ kentert auf dem Victoriasee, 224 Menschen sterben.

 

 

21. SEPTEMBER

 

Zeitsprung

mit

Juan José Arreola Zúñiga / Hermann Buhl / John Bunny / Juan de la Cierva y Codorníu / Leonard Cohen / Johann Peter Eckermann / Édouard Glissant / Larry Hagman / Chico Hamilton / Hans Hartung / Gustav Theodore Holst / Hongwu / Noor Jehan / Louis Jolliet / Raimo Kangro / Antioch Dmitrijewitsch Kantemir / Paula von Lamberg / Katharina Lanz / Anneliese Michel / Sunny Murray / Kwame Nkrumah / Heike Kamerlingh Onnes / Mateo Pumacahua / Gail Russell / Girolamo Savonarola / Shinzō Abe / Bernard Silver / Phil Taylor / Vico Torriani / Toyen / Richard „Dick” Turpin / Hélène Vacarescu / Herbert George „H. G.“ Wells

 

An diesem Tage meinten wir, in der Zeit gereist zu sein:

1763 wird in Heiligendamm ein erstes Badehaus eröffnet / Frankreich, 1799: Patentierung der ersten Gasheizung / 1847 werden die Rote und die Blaue Mauritius herausgegeben / 1884: Inbetriebnahmen des Arlberg-Eisenbahntunnels / 1903: Patentierung von Backpulver / 1964 wird Malta unabhängig von Großbritannien / 1981 wird Belize unabhängig von Großbritannien / 1983: erste Zulassung eines Mobiltelefons / 1991 wird Armenien unabhängig von der Sowjetunion / 2002 erster Weltfriedenstag / New York, 2023: 67 Staaten unterzeichnen den Vertrag zum Schutze der Hochsee..

 

Ich notierte:

1982: Zurück vom Schreiburlaub in Güstrow. Zettel, Bücher einsortiert, Post gesichtet, Noch immer ist es erdrückend schwül, aber das hatte ich in den letzten Wochen, in intensivster Arbeit gar nicht bemerkt. Aber für mich ist der Sommer vorbei, zumindest werde ich nicht mehr auf Reisen gehen, dieses Jahr.

1995: Nach dem Frühstück nach Montreal, etwa ebenso weit von Henrys Waldgrundstück entfernt wie Ottawa. Trübes Wetter. Henry fährt im Nachbarort, in Alexandria, mal schnell an seiner Postbox vorbei, etwa 20 Kilometer Wegs, um an seine Briefe zu kommen. In Montreal werden wir an der Alexander-von-Humboldt-Schule, deutschsprachige Schule in einer vorwiegend französisch geprägten Stadt, schon erwartet. Henry hat für mich hier zwei Lesungen organisiert, eine für die älteren, eine für die jüngeren Schüler. Die Tochter des Komponisten Bottenberg (der Henrys „Inuk“-Stück vertonte), bringt auf Nachfrage eine Gitarre mit, und so kann ich den Kleinen sogar meine Kinderlieder singen. Alles läuft gut, jeweils zwei Schulstunden, anstrengend (da auch leichte Verspannung bei mir - erste Veranstaltungen in Amerika, meingott!), doch danach sogar Begeisterung bei den Lehrern, interessante Gespräche, und am Ende ein Scheck. That’s ‘rigth - erstes in Kanada verdientes Geld.

Dann weiter zum Zentrum Montreals, am St. Lorenz Strom entlang, wo unglaublich viele Häuser in traumhafter Wohnlage zum Verkauf stehen - Auswirkungen des neuerlichen Referendums über die Unabhängigkeit der Provinz Quebec, die in Kürze bevorsteht. Zahllose Engländer ziehen weg aus dieser französisch geprägten Region, die die eigene Staatlichkeit anstrebt. Fahrt über die weit den St. Lorenz Strom überspannende Jacques-Cartier-Brücke zum Gelände der ehemaligen Weltausstellung, stromabwärts entdecken wir auch das Olympiastadion von 1976 (W.B.s Todesjahr). Durch die Wolkenkratzerschluchten von Montreal downtown gelangen wir schließlich auf den Mont Royal, den Berg, der der Stadt den Namen gab. Leider etwas neblig, dennoch großartige Aussicht auf die City. Im Park Unmengen von Squirrels, Skipmonks und kreischenden Blue Jays. Auf der Aussichtsplattform des Mont Royal erzählt Henry von W.B.s letzten Tagen: Er hatte ihn zur Uraufführung seines Goya-Stückes nach Montreal gelockt. Und obwohl W.B. da noch völlig gesund schien, erschien er Henry urplötzlich alptraumartig als Skelett - eine Vision, die Henry noch heute zu bewegen scheint (und die im dichter werdenden Dunst auf dem Mont Royal absolut glaubwürdig wirkt). Drei Wochen später war W.B. tot. Es begann mit einem stark juckenden Melanom an seinem Arm. Arden drängte ihn, zum Arzt zu gehen. Der überwies ihn gleich ins Krankenhaus, alles verkrebst. Am 20.12.1976 rief Arden Henry an, der fuhr durch Schneeverwehungen, über vereiste Straßen sofort nach Toronto, saß so bis zuletzt an W.B.s Krankenbett. Henry sagt, W.B. wusste, dass es zu Ende geht, war sehr gefasst. Seltsam, das an diesem Ort, hoch über Montreal, vor den Weiten Kanadas, zu erfahren... Fahrt zur Uni. Henry zeigt uns sein Office, dann schnell ein paar Donuts in der Snack Bar. Mir gelingt meine erste „kanadische Dichtung“: Donut Duck. Henry lacht. Dann die Altstadt am Hafen, malerische Gassen, ein ehemaliges Kloster, Läden, Kneipen, heftige Fischgerüche, unzählige Touristen. Gegen halb sieben holen wir Arlette ab, die ihre Tochter besuchte, fahren essen, chinesisch, köstlich und reichlich. Schließlich noch zu Friedhelm L., einem von Henrys Freunden auf, ein Glas Wein. Friedhelm ist Maler und Germanist, interessante Kombination, interessante Gespräche, phantastisches Haus voller Kunst, die Zeit verfliegt, schon müssen wir los. Friedhelm lädt uns ein, mal wieder vorbeizuschauen.

1998: Picton Frühstück im hochherrschaftlichen Zimmer, freundliche Konversation. Und dann auf nach Toronto. Kamen wir gestern am Ausfluss des St. Lorenz aus dem Ontario See durch einstiges Siedlungsgebiet der Irokesen, kommen wir nun, Prince Edward County verlassend, durch das der Mohikaner, der letzten wohl. Lederstrumpf lässt grüßen... Gegen Mittag erreichen wir Toronto, wühlen uns durch den dichten Verkehr zur Harbourfront. Herrlicher Sonnenschein, herrlicher Blick auf den CNN-Tower, den Skydome und die Wolkenkratzer downtown. Wir bummeln am Hafen entlang, essen noch einmal frische Muscheln und Scampis, fahren dann zu Joachim und Pat, wenigstens auf einen Händedruck und ein Tässchen Kaffee. Joachim geht es halbwegs besser, heute Morgen wurden ihm die Fäden nach seiner Kieferoperation gezogen. Rechtzeitig erreichen wir trotz zunehmender Verkehrsdichte den Airport, Rückgabe des Pontiac, problemlos, dann Einchecken, problemlos. Und unversehens sind wir schon wieder in der Luft, fliegen straight ahead ostwärts, back to Germany. Na denn, bye bye Toronto, bye bye Canada!

2000: Büro, dann auf zum LKJ-Tag nach Magdeburg, unterwegs nehme ich im halleschen Künstlerhaus Ausstellungstafeln für Dieter Bähtz mit, fahre dann über Genthin, wo in der Bibliothek die Bödecker-Ausstellungstafeln fertig geworden sind, übernehme auch die, fahre schnell in Niegripp vorbei, unterschreibe diverse Papiere, und komme endlich in Magdeburg im Landestheater an. Ausstellungsaufbau im Foyer, dann das Konzert des Venezuelanischen Kinderorchester, das den Rahmen für den Präsentationstag gibt, beeindruckend, nein, begeistern. In der Pause kommt sogar Herr Höppner, unser Ministerpräsident an unseren Stand, small talk. Nun ja. Nach dem Konzert noch eine Podiumsdiskussion im Theatercafé zu Möglichkeiten der Jugendförderung. Gegen Mitternacht zu Hause.

2017: Lviv. Endlose Diskussionen und Abstimmungen über Resolutionen. Immerhin hat unser „deutsches Gegrummel“ bewirkt, dass der Vertreter des russischen PEN (mit Sondererlaubnis der Präsidentin Jennifer Clement!) Redezeit erhält. Wladimir Sergijenko nutzt dies sehr geschickt, indem er nicht wie die Ukrainer und die Freien Assoziativen Propaganda macht und Hass versprüht, sondern versucht, „die Türen offen zu halten“, den Wunsch ausspricht im Dialog zu bleiben. Am Abend die Closing Ceremonie in der Organ Hall Lviv, eine schöne alte Kirche, Loretto-Stil. Und hier werden die beiden Seiten dieses Kongresses nochmals überdeutlich: auf der einen Seite einmal mehr antirussische Reden der Ukrainer, auf der anderen Seite wunderbare Orgelmusik: Saint Sains, Bach… Keine Frage, Lemberg-Lwow-Lviv ist eine europäische Stadt, die unbedingt in die europäischen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts einbezogen gehört. Andererseits wird dies wohl kaum durch eine kriegerische Abnabelung von Russland gelingen (vor Jahren stand ich ja in Perejaslawl-Chmelnizky vorm Denkmal der unverbrüchlichen Freundschaft mit dem Brudervolk…). Selbstredend sind dies bilaterale Prozesse, doch wer (zumal von außerhalb) kann noch unterscheiden, was Provokation und Fake, was Agression, was Reaktion ist. Und zweifelsohne ist die Ukraine heute ein hochkorruptes Land (was mir als deutschen PEN-Schatzmeister allein anhand von seltsamen Buchungsdetails, Rechnungslegungen etc. der Kongressorganisatoren unübersehbar war). Insofern bleibt für mich am Ende allein die Ortswahl dieses Kongresses problematisch. Klar, das board des PEN international, das Führungsteam ist anglo-amerikanisch dominiert. Aber das ist gewiss kein Ansatz, die Konflikte des 21. Jahrhunderts perspektivisch anzugehen, geschweige denn visionär, wie ichs’s von meiner Zunft eigentlich erwarte. Hier wurde mir mal wieder deutlich, wie lange es offensichtlich dauert, die (Denk)Strukturen des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt des Kalten Krieges, zu überwinden.

2019: Vor einiger Zeit schon war mir in den Sinn gekommen mal wieder Arthur Brown zu hören. Dann war dann Wetter aber stets viel zu schön, um vor der im Haus Stereoanlage zu sitzen. Heute nun, da ich an einer Erzählung über Hieronymus Bosch arbeitete, griff ich doch endlich ins CD-Regal und zog „Kingdom come“ heraus, eine CD, die ich seit mindestens zwei Jahrzehnten nicht mehr in Händen hielt, keinerlei Erinnerung an das Cover, mit Sicherheit nicht. Reichlich Staub auf der Hülle. Und als ich den weggewischt hatte, glaubte ich meinen Augen nicht trauen zu können: Das Cover bot Szenen Boschs „Garten der Lüste“… Zufall? Oder Zeichen? Doch wenn JA – Wofür?

2020: Beisetzung meiner Mutter auf dem Neumarktfriedhof. In aller Stille: nur Jeanny und ich – zumindest war es so gedacht: in der Zeitung hatten wir per Todesanzeige keinen Ort, keinen Termin mitgeteilt, nur, dass dies ein eine stiller Abschied sein solle. Am Friedhofseingang sehen wir dann aber bigotte Verwandtschaft stehen. Keine Ahnung, wer denen was gesteckt hat. Nicht mal einen letzten Willen können die respektieren. Zum Glück gibt es einen Nebeneingang, der direkt zum Grab führt. Und der Bestatter erwartet uns schon. So können wir zu guter Letzt doch noch in Würde Abschied von meiner Mutter nehmen.

2021: Heute vor 6025 Jahren (nach Greogianischem Kalender – nach Julianischem am 22. Oktober), sagte James Ussher im Jahre 1650, habe Gott die Welt erschaffen – abends um 6!

2022: Am Nachmittag Lesung für Landfrauen in Barnstädt. Sie hatten sich meine „Babeleien“ gewünscht. Passend dazu: Am Abend in Leuna-Klubhaus, Kabarett mit Olaf Schubert. Voller Saal, ansprechendes Programm.

 

Zuspitzung

für

Flavius Aëtius / Fayza Ahmed / Aleksander Antson / Amala / Apollonius / Hans Backoffen / Rudolf Baumbach / Marie Bonaparte / Adelbert von Bornstedt / Walter Brennan / Gerolano Cardano / Chief Joseph / Henry de Montherland / Florence Griffith-Joyner / Klaus Harpprecht / Peter Horton / Bernardo Alberto Houssay / Karl V. / Anton Kippenberg / Peter Kowald / Günter Kunert / Lembitu / Francesco Lo Savio / Iwan Masepa / Mikimoto Kokichi / Jaco Pastorius / Jürgen Roland / Emanuel Schikaneder / Arthur Schopenhauer / Walter Scott / Vergil / Walter Vogt

 

Da schien sich uns alles zuzuspitzen:

Merseburg, 1550 „hat mann in der nacht nach zwölffen eine große feuer wolcke, nach mitternacht zu am Himmel gesehen, welche geschienen, als wenn dieses orths hinauswerths eine große Stadt brennete“ / Ludwigshafen-Oppau, 1921: Explosion im Stickstoffwerk, 561 Todesopfer / 1938 triff ein Hurrikan auf Long Island, New York, bis zu 800 Menschen kommen ums Leben / 1993 schießen abchasische Separatisten eine Tu-134 beim Anflug auf Sochumi ab, alle 27 Insassen sterben / Taiwan, 1999: Erdbeben, mehr als 2.400 Tote / Toulouse, 2001: Explosion im Chemiewerk, 31 Menschen kommen ums Leben.

 

 

22. SEPTEMBER

 

Zeitsprung

mit

Hans Albers / Vittoria Rafaella Aleotti / Emerich Ambros / Anita Augspurg / Anna Magdalena Bach / Georg Matthias Bose / Barthold Heinrich Brockes / Michael Caßler / Christiane von Sachsen-Merseburg / Ann Christy / Michael Faraday / Anton Fils / Philipp Nicodemus Frischlin / Kenji Gotō / Hàn Măc Tú / Ibn Challikān / Anna Karina / Kirka / Anna von Kleve / Adolph Carl Kunzen / Li Zicheng / Siegfried Lowetz / Herbert Mataré / Matthäus Merian d. Ä. / José Maurício Nunes Garcia / Christabel Pankhurst / Sverre Patursson / Rosamunde Pilcher / Karl Benjamin Preusker / Jesko von Puttkamer / Dean Cyril Reed / Daniel Czepko von Reigersfeld / Jacques Savary / Hans Scholl / Gertrud Seele / Erich von Stroheim / Tabei Junko / R. Gordon Wasson / Fritz Winter / Franz Peter Wirth / Alexandre Émile Jean Yersin

 

An diesem Tage meinten wir, in der Zeit gereist zu sein:

Basel, 1499: Ende des Schwabenkrieges / London, 1735: das Haus Downing Street 10 wird Sitz des Premierministers / Hamburg: 1844: auf der Alster findet die erste Deutsche Ruderbootregatta statt / 1862 verkündet Abraham Lincoln das Ende der Sklaverei in den Südstaaten der USA / 1908 erklärt Bulgarien seine vollständige Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich / 1960 wird Mali selbständig / 1981 nimmt der Hochgeschwindigkeitszug TGV auf der Strecke Paris-Lyon seinen Betrieb auf.

 

Ich notierte:

1980: Wolle Haase aus Leipzig, bei dem ich nach der Fahne eine zeitlang spielte, hatte angefragt, ob ich wieder einsteigen würde. Nun habe ich mich entschieden, habe ihm definitiv abgesagt. Dies ist die Entscheidung fürs Schreiben! Nachdem ich bei „Trend“ die Rückkehr zum Rock versucht hatte, mit Haase und „Fakt“ lange auf Tournee und sogar im Studio war, werde ich aus finanziellen Gründen bei Felix irgendwie erstmal weiterwursteln, bis ich den Absprung zur Literatur endlich wagen kann. Oder soll ich mich etwa zum Hilfsarbeiter, zum Fässerrollen zurückentwickeln? Oder wie unser einstiger Fahrer Schulz und Heinz Michaelis eine Kneipe aufmachen? Nein, ich muss, ich werde Prioritäten setzen, um bewusst Leben und Schreiben zu können. Ja!

1981: Großer Tag heute – Überreichung des FDGB-Preises im Klubhaus Leuna an den jungen Autor Jürgen Jankofsky und danach unterzeichne ich sogleich einen Patenschaftsvertrag mit dem Leuna-Werk! Ich bin ebenso aufgeregt wie verunsichert. Ist es der richtige Weg, den ich jetzt einschlage? Kann mein Engagement falsch verstanden werden? Obwohl ich eigentlich ein gutes Gefühl habe, weiß ich natürlich um die Möglichkeiten der Missverständnisse und den Preis, den ich zu zahlen habe. Isolation auf höherer Ebene. Es war ein ungewöhnlich schwüler Tag heute.

1995: Ayorama. Ausschlafen. Eigentlich sollte es heute regnen und kalt werden, es ist aber Fön. Nach dem Brunch ein langes Gespräch mit Henry über den Zustand der Welt, den er für hoffnungslos hält: Ökokollaps und gesellschaftlicher Zusammenbruch durch Raffgier. Wie zur Bestätigung fängt es nun doch an zu regnen und die Temperatur fällt schlagartig um mindestens 10°C. Wir fahren mit Arlette nach Alexandria, einkaufen. Im Supermarkt keinerlei Alkohol - ich wollte mal ein Fläschchen Sekt ausgeben. Dafür müssen wir in ei­nen extra Laden um die Ecke fahren, zum Liquor Store, wo’s die verschämte braune Tüte gibt. Nach einem weiteren langen Gespräch mit Henry, hoffend, dass es zu regnen aufhört, schließlich auf einen Abstecher gen Norden, in die Gateneau Hills. Hinter Cachute rechts ab, Seen, Sümpfe, Wälder, hin und wieder ein vereinzelter roter Baum, der berühmte Indian summer scheint nicht so recht zur Pracht zu kommen, tiefhängende Wolken und es regnet mehr und mehr.

1996: Yom Kippur in Jericho. Weder essen noch trinken, nicht waschen oder salben, keine Lederschuhe tragen und nicht beischlafen! Dies legen sich Juden fröhlich am höchsten ihrer Feiertage auf. Es gilt sich zu versöhnen, mit seinen Mitmenschen zuvörderst und so schließlich mit Gott. Wir aber hören von höchster palästinensischer Not, Steinwürfe nur von der Festruhe entfernt: Arbeitslose en masse, schläfriger Autonomie-Alltag, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit: „We are the jews of the jews!“ Zwei Völker, ein Land, keine Versöhnung. Und während jenseits der borderline gefastet und diesseits um letzten Broterwerb gebangt wird, lassen wir auftafeln in der ältesten Stadt der Welt. Glauben wir Gottlosen etwa an die Kraft biblischer Bilder? Posaunen gegen Ignoranz oder so? Fakt ist, außerhalb der Westbank wird erst nach Sonnenuntergang wieder gefahren und bewirtet werden.

1999: Arbeit für die Bosch-Ausstellung. Gegen Mittag wird (nachdem ich gestern Krach geschlagen hatte) endlich der Internet-Computer angeliefert. Nun hat die Firma aber in der Hektik vergessen, den Monitor mitzuschicken... In der Merseburger Goethe-Schule läuft heute das große Goethe-Festprogramm. Erst stellen Klaus und ich unsere Arbeiten aus bzw. vor, dann halte ich im Programm die Festrede.

2000: Nach dem Mittag mit Jeanny und Mine nach Wurzbach, wo meine Eltern schon auf uns warten. Mein Vater hat für uns Hotelzimmer bestellt, um in dem Ort, wo wir zu DDR-Zeiten regelmäßig in den Ferien waren, ein gemeinsames Wochenende zu verbringen. Das Wetter wird zusehends schlechter, neblig kalt. Dennoch ein erster Ortsrundgang, Kaffeetrinken. Dann langsam zurück in die „Adolfsheide“, unser Domizil. Gutes Abendbrot, danach ein erstes gutes Gespräch mit meinem Vater. Denn das hatten wir uns für dieses Wochenende durchaus auch vorgenommen: versuchen vernünftig miteinander zu reden, um Nickligkeiten künftig ausschließen zu können.

2019: Nachdem unsere Große Koalitionsregierung sich endlich zu Klimaschutz-Beschlüssen durchrang, träume ich von einem knallbunten Fromms-Automaten Männerschutz nur 50 Pfennige!, ziehe einen Pariser und fühle mich sicher für eine Nacht.

2020: Vorstandssitzung der Siegfried-Berger-Stiftung. Es gelingt mir, Heike Lichtenberg, die zahlreiche meiner Bücher gestaltete, ins Kuratorium zu berufen.

2021: Ich lese in der halleschen Kinderbibliothek am Hallmarkt, stelle erstmals der „Hutzelmann“ öffentlich vor. Ich beginne jedoch mit „Anna Hood“, singe den Song, den damit hatte ich vor 2-3 Jahren bei meiner letzten Lesung hier den Schlusspunkt gesetzt. Als ich die „Anna Hood“-Story erzähle, fragt mich ein Sechstklässler, ob ich die Idee von „Fridays for Future“ hätte. Erstaunlich, das Gleiche war ich schon von den Germanisten in Bologna gefragt worden. Und die Antwort ist recht einfach: Greta protestierte zum ersten Mal im Herbst 2018 vor dem Schwedischen Parlament, ich begann im Frühjahr 2016 an meiner „Anna“ zu arbeiten, und zur Frühjahresmesse 2017 als das Buch auf dem Tisch. Wenn schon, dann hat Greta mir die Idee geklaut…

2023: Tagung des Geschichtsnetzwerks Merseburg im Petri-Kloster. Erstaunlich, wie weit der Verein Klosterbauhütte die Restauration dieses schon abgechriebenen Gebäude vorangetrieben hat.

 

 

Zuspitzung

für

Johannes Agricola / Carl Altmüller / Juhuda Amichai / Samira Salih Ali an-Nu’aimi / Isaak Bacharach / Christiane Luise Amalie Becker-Neumann / Irving Berlin / Ralph Adams Cram / Mitra Devi / Thomas Dörflein / Erich Ebermayer / Ferdinand Ferber / Henri Alain-Fournier / Otto von Freising / André Gorz / Michael Gwisdek / Johann Peter Hebel / August Wilhelm Iffland / Melanie Klein / Dorothy Lamour / Hilary Mantel / Marcel Marceau / Niklaus Meienberg / Klaus-Jürgen Rattay / Lucas Rem / Mary Roberts Rinehart / Ottokar Runze / Sayat Nova / Pete Schoening / Shaka / Konrad Siebach / Hans-Jürgen Steinmann / Olov Svedelid / Johann Heinrich von Thünen / Gerbrand van den Eeckahout / Iwan Wasow

 

Da schien sich uns alles zuzuspitzen:

Salem, Neuengland, 1692: die letzten acht Opfer der hiesigen Hexenverfolgung werden gehängt / Bremen, 1792: Explosion eines Pulverturms nach Blitzeinschlag, 32 Tote / Gresford, Wales, 1934: Bergwerksunglück, 266 Todesopfer / 1980: Beginn des Ersten Golfkrieges zwischen Irak und dem Iran / Sochumi, 1993 abchasische Separatisten schießen eine Tu-134 beim Landen, 108 Todesopfer / Lathen, Emsland, 2006: zwei Transrapidzüge stoßen zusammen, 23 Menschen kommen ums Leben.

 

 

23. SEPTEMBER

 

Potpurri

mit

Alexander Arutjunjan / Augustus / Myron „Tiny“ Bradshaw / Roy Buchanan / Ray Charles / John William „Trane“ Coltrane / Anne Cécile Desclos / Dith Pran / Per Olov Engquist / Konrad Friedler / Ellen Fries / Don Grolnick / Knut Haugland / Christian Andreas Käsebier / Alfred Kattner / Theodor Körner / Kublai Khan / Alfred Margul-Sperber / Alfieri Maserati / Aleksi Marschawariani / Linda McCartney / William Cameron McCool / Jean-Claude Mézières / Aldo Moro / John Boyd Orr / Mickey Rooney / Max Sachs / Romy Schneider / Jaroslav Seifert / Grigori Jewsejewitsch Sinowjew / Jeremy Steig / Victoria Woodhull

 

Da hörten wir Angenehmes abgestimmt nacheinander:

1122: Wormser Konkordat, Beilegung des Investiturstreits / 1846: Gottfried Galle entdecket den Neptun / Karlstadt, 1905: Ende der Personalunion zwischen Norwegen und Schweden / 1932: Gründung des Königreiches Saudi-Arabien / Kehl, 1960. Einweihung der Europabrücke über den Rhein / 2002: Veröffentlichung des Webbrowsers Firefox.

 

Ich notierte:

1989: Leuna, Herbstanfang: Transparent werden Hecken, Büsche, Gesträuch, sichtbar aus kleinen Gartenidyllen wieder die allzu nahen Fackeln und Schlote. Kaum jemand aber lichtet heuer sein Gezweig, sorgsam und berechnend wie stets, auf dass Blattwerk übers Jahr das Werk zumindest zeitweise verdränge.

1995: Frühmorgens heißt es Abschied nehmen von Ayorama, Fahrt über den Highway 401 nach Toronto. Umso weiter wir nach Westen kommen, nimmt die Rotfärbung der Wälder weiter ab, schon ist es nur noch der Sumach, nicht der Maple, der Ahorn, der rötlich glänzt. In Toronto zeigt uns Henry, wo W.B. in der Roxborough Street Zuhause war. Arden wohnte „um die Ecke“. Und wie W.B.s Nachkriegswohnungen in Feldafing oder Stuttgart einmal mehr ein ähnlich mondänes Viertel. Henry sagt, dass W.B. recht bewusst seiner Kindheit und Jugend, dem proletarischen Milieu, der Enge zu entfliehen suchte. Zum Licht, zur Weite.

Am St. Lawrence Market treffen wir uns mit Günter, W.B.s Nachlaßverwalter, der eigens aus London (Ontario) anreiste, um mit uns eine Buchprojekt zu besprechen und um mit mir morgen alle Torontoer W.B.-Stätten aufzusuchen. Wir essen in einer Fischgast­stätte, diskutieren, legen einen Plan fest, wollen ein Walter-Bauer-Lesebuch herausgeben, müssen aber schon weiter, denn Henry und Arlette sind am Abend in Niagara on the Lake verabredet, wo wir morgen mit Ihnen zu einem Theaterbesuch eingeladen sind. Freundlicherweise fährt uns Henry noch zu Joachim, wo unsere Koffer „parken“. Doch wird diese Fahrt zur Tortur: Aus unerfindlichen Gründen ist der Highway gen Westen gesperrt, wir erleben amerikanischen Großstadtstau live, Henrys wildes Überholen. Irgendwie kommen wir dennoch an. Kleiner Spaziergang durchs Viertel. Am Abend Party mit Joachim und Pat und Günter und dessen Ex-Freundin Susannah. Schöner Abend mit feinem kanadischem Roastbeef, Ceddar-Käse, Torten und reichlich chilenischem Rotwein. Und Diskussionen selbstredend, nicht zuletzt über W.B.

1998: Nachbemerkung nach unserer zweiten Kanada-Reise: Drittens: Die Empfindung, dass nun die Abenteuer nach intensiver Erfahrung wieder in den Kopf wandern, so die Reisen durch die Alltage wieder ein Ziel haben. Vielleicht. Irgendwo anzukommen mit diesem Leben vielleicht, irgendwo da, wo man hingehört, wirklich hingehört, und nicht auf halbem Wege zu verzweifeln, den Sinn zu verlieren, entmutigt, erschöpft aufzugeben, sich nur noch treiben zu lassen... Asymptotische Annäherung an Unerreichbares. Bewusst. Und die Erkenntnis entwickelt, dass es nichts Unerreichbares gibt, jedoch nicht alles sinnvoll als Lebensort ist. Und nicht jeder Traumraum macht Sinn als Lebensort. Erfahrene Emigrantenschicksale zeigen: Man ist wohl (oder übel) auf sich selbst gestellt, überall. Punktum.

1999: Ausstellungsarbeit. Dann zum Hautarzt. Glücklicherweise ist mit meinen Muttermalen alles okay. Am Nachmittag wieder in die Goethe-Schule. Da nochmals sonniges Wetter ist (am Herbstanfang) gehe ich mit „meinen“ Goethe-Schülern“ in den Schlossgarten. Unterm Denkmal von FW III setzen wir uns auf die Wiese und kommen gut ins Gespräch über Herrn Goethe, die Schüler schreiben sogar spontan ihren ersten Text, Einstieg: ein neuer Schüler kommt in die Klasse, der Johann Wolfgang heißt... Dann schnell nach Hause, den neuen Computer zumindest mal zum Funktionstest zusammenstecken. Doch unablässig klingelt dabei das Telefon. Und schon muss ich weiter hetzen: Am Abend haben wir mit der Band eine Mugge bei Steffen Looke in Merseburg. Schwarzbier-Abend. Nun denn.

2020: Am Nachmittag in der Leunaer Stadtbibliothek: Weiterführung meines aktuellen Anna-Hood-Schreibprojektes. Es tut gut, mal wieder mit Schülern arbeiten zu können, für sie zu lesen und zu singen, sie zum Schreiben anzuregen, mit ihnen zu diskutieren. Das fehlt mir seit dem Bruch mit den Bödecker-Kreisen, seitdem ich so gut wie nicht mehr zu Veranstaltungen eingeladen werde, tatsächlich. In guten Zeiten hatten ich einst 150 bis 200 Veranstaltungen im Jahr…

2022: Herbstanfang, schöner, sonniger Tag, allerdings Halsschmerzen. Und seit gestern lässt Putin mobilisieren, will also seinen Scheißkrieg in der Ukraine noch vor dem Winter forcieren.

2023: Am Nachmittag lese ich in der Dorfkirche Kreypau, wunschgemäß vor allem Babeleien. Volles Haus, gute Atmosphäre. Respekt vor der Arbeit des Heimatvereins, der mich einlud! Nach der Wende schreib ich eine Artikelserie über den Zustand denkmalgeschützter Häuser der Region. Damals war diese Kirche noch eine Ruine, ein hoffnungsloser Fall, glaubte ich. Da rührt es einen schon an, wenn die Kreypauer Heimatfreunde stolz ihr schmuckes Gotteshaus präsentieren.

 

 

Psychoanalyse

für

Ivar Aasen / Adomnan von Iona / Paul Almásy / Malcolm Arnold / José Gervasio Artigas / Kjell Askildsen / Karl Barth / Vincenzo Salvatore Carmelo Francesco Bellini / Bourvil / Margarethe Faas-Hardegger / Louise Fletcher / Bob Fosse / Sigmund Freud / Dan George / Juliette Gréco / Joachim Jungius / Kuboyama Aikichi/ Paul Kuhn / František Kupka / Urbain Le Verrier / Prosper Mérimée / Pablo Neruda / Hugo Raes / Karl Schilling / Franz Carl Spitzweg / Snorri Sturluson / Christian Thomasius / John Vanderlyn / Friedrich Wöhler / Theodor Wolff

 

Das bescherte uns Stoff für Psychoanalysen:

1479 kommt es in Merseburg zum fünften schweren Stadtbrand, „und zwar entstand das Feuer auf folgende Weise. Ein gewisser Martin Hoburgk, welcher ein Bürgermeister war, wohnte in der Gotthardtsgasse und hatte einen Sohn, Peter Hoburgk, welcher Akoluth und Vicarius zu St. Thomä am Sixtistifte war. Diese entzweiten sich einstmals, und der Sohn zündete aus Rache des Vaters Scheune an, welche an der Geisel lag. Das Feuer griff weiter, und es verbrannte die halbe Gotthardtsgasse auf beiden Seiten bis auf den Markt, die Rittergasse, etliche Erbgüter in der Galggasse, verschiedene Häuser in der Nähe der Stadtkirche, die Burgstraße bis an das Neumarktthor, etliche Gebäude in der Oelgrube und einige Vicarienhäuser. Acht Tage darauf aber legte Martin Hoburgk, der Vater, selbst eine Scheune an, wodurch drei Scheunen abbrannten. Und zwar that er dies, um den Verdacht wegen des früheren Brandes von seinem Sohne abzulenken, allein es kam die ganze Sache an den Tag. Peter Hoburgk wurde vom Bischof seines geistlichen Amtes entsetzt und nebst seinem Vater vor dem Klausenthore lebendig verbranndt; seine Mutter, Brüder und Schwestern aber wurden aus dem Lande verwiesen“ / Reutlingen, 1726: Ausbruch eines zweitägigen Brandes, der 80% der Stadt zerstört, doch nur wenige Einwohner ums Leben kommen 1805 erklärt Frankreich Österreich den Krieg / Beledweyne, Somalia, 2023: Autobomben-Explosion, 13 Tote.

 

 

24. SEPTEMBER

 

Aussicht

mit

William Adams / Edward Bach / Black Stalin / Gerolano Cardano / Georges Claude / Johan de Witt / Francis Scott Key Fitzgerald / Howard Florey / Pierre Gemayel jun. / Gu Cheng / Arthur Guinness / Heidi Hazell / Herb Jeffries / James Maury „Jim” Henson / Huang Zongxi / Blind Lemon Jefferson / Jiří Kolář / Gerry Marsden / Theodore „Fats“ Navarro / Anthony Newley / Adam Olearius / Alfons Maria Petzold / Grigori Alexandrowitsch Potjomkin / Charles Ferdinand Ramuz / Tang Xianzu / Elsa Triolet / Horace Walpole / Werner von Walthausen

 

An diesem Tage genossen wir die gewonnene Aussicht:

622: Ankunft des Propheten Mohammed in Medina, Beginn der islamischen Zeitrechnung / Altranstädt, 1706: Friedensschluss im Großen Nordischen Krieg zwischen Sachsen und Schweden / 1877: Ende der Satsuma-Rebellion japanischer Samurai / 1929 beschließt die sowjetische Regierung die Einführung der 5-Tage-Woche / 1873 wird Guinea-Bissau unabhängig von Portugal / Sapporo, 1968: Präsentation einer ersten endoskopischen Kamera.

 

Ich notierte:

1980: Heute im Literaturinstitut ein Gespräch mit Dr. Rothbauer, meinem Mentor. Er sagt, dass meine Miniaturen auf jeden Fall als Abschlussarbeit am Literaturinstitut akzeptiert werden würden, aber noch nicht druckreif seien. Und er rät mir, weiter im Musikermilieu zu bleiben, da kenne ich mich doch aus wie kein anderer, darüber solle ich was machen! Ansonsten solle ich mich in keine Zugzwänge begeben, nichts über den Zaun zu brechen versuchen.

1995: Toronto. Sonntag. Beizeiten mit Joachim zu Günter. Der übernachtete bei Susannah. Und in einem Hochhaus gleich gegenüber hatte W.B. seine letzte Wohnung, Redpath Avenue. Seit 1967/68 lebte er hier, Appartement hochoben, Arbeitszimmer mit Blick nach Osten, gen Sonnenaufgang, den liebte er zu beobachten. Weiter zu W.B.s Grab, nicht weit von der Redpath, auf dem Mount Pleasant. Riesiges, doch wohlgepflegtes Gelände. Man fährt mit dem Auto vor, ja bis zum Grab. Gut, daß ich an einen Blumenstrauß dachte, keine Frage, das geht mich an. Neben Walter liegt Arden. Dann noch einmal zur Roxborough, W.B.s vorletzter Wohnung, schließlich zur Universität. Weitläufiger, parkähnlicher Campus im Zentrum der Stadt. Victorianische Gemäuer. Günter und Joachim zeigen uns das Hart-Haus, in dessen Kellertheater Arden spielte, die kleine Bar, in der W.B. gern saß und plauderte, dann die Seminar- und die Vorlesungsräume, in denen er unterrichtete, und schließlich W.B.s eigentliches „Reich“, die German faculty: grüner Innenhof mit Arkaden, die dem Merseburger Kreuzgang nachempfunden sein könnten. Hier dürfte sich W.B. heimisch gefühlt, den Hauch der Merseburger Zaubersprüche gespürt haben. Schon früh am morgen, vor allen anderen, saß er hier an seinem Schreibtisch, schrieb Gedichte (die er dann tintenfrisch der Sekretärin zum Abtippen zu geben pflegte), beobachtete die auf den langen Parkwegen zur Uni kommenden Studenten. Weiter zur Madison Avenue, unweit des Campus, wo W.B. zuerst wohnte in Toronto (sieht man von einem kurzzeitigen Notquartier in der Indiana Road 195 ab). Madison Avenue, Torontoer Nobelviertel der Jahrhundertwende, als W.B. hier einzog, waren aus den einstigen Villen aber längst Studentenbuden geworden. Schräg gegenüber wohnte Arden. Und die beiden lernten sich zu Weihnachten (1952?) kennen. Ein Bekannter rief bei W.B. von einer Party an und sagte, hier sei eine einsame kanadische Dichterin, gegenüber hocke ein einsamer deutscher Dichter - ob man sich nicht kennenlernen möchte? So begann das (erzählt Günter). Und bald schon schob W.B. auf dem Weg zur Uni morgen für morgen Liebesbriefe unter Ardens Hinterhaustür durch... Eine weitere Adresse von W.B. in Toronto war für einige Wochen Grenbrooke Street, im Norden Torontos. Der Professor mit dem Jutta (W.B.s zweite Frau) „durchging“, stellte ihm freundlicherweise kurzzeitig (wohl da er mit Jutta auf Reise ging) seine Wohnung zur Verfügung. Nun gut.

Joachim und Günter bringen uns schließlich zur Greyhound Sta­tion. Wir kaufen Tickets nach Niagara Falls. 11.15 a.m. soll der Bus abfahren, tatsächlich fährt da aber nur ein durchgehender Bus nach Buffalo. Wir stehen und stehen und erst eine halbe Stunde später taucht der richtige Bus auf. Dann wieder der Stress wegen des gesperrten Highways. Ich gebe schon alle Hoffnungen auf, Henry und Arlette am vereinbarten Treffpunkt zu finden. Punkt 2.00 p.m. beginnt in Niagara on the Lake das Theaterstück, für das Henry Karten besorgte. Irgendwie holt der Greyhound jedoch gehörig auf. Kurz vor halb zwei erreichen wir Niagara Falls. Henry läuft schon nervös auf und ab. Also nichts wie rein ins Auto und in atemberaubender Fahrt hinunter zum Theater. Wir schaffen es natürlich noch rechtzeitig die Plätze einzunehmen, und das Stück („Cavalcade“ nach Noel Coward) ist ein wirkliches Erlebnis: Perfekte Mischung von Historie und literarischem Anspruch: England in den ersten drei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, gute Regie, gutes Schauspiel, gutes Bühnenbild. Standing ovations. Hier, in diesem modernen Theater auf der grünen Wiese (im wahrsten Wortsinn) finden sommers seit Jahren die Shaw-Festspiele statt. Und W.B. war auch hier. Schon sitzen wir wieder in Henrys Auto und fahren aufwärts nach Niagara Falls, nähern uns endlich einem der Höhepunkte jeder Kanada-Reise wohl, den Niagara-Fällen. Zwischenstopp an einer imposanten Aussicht auf das sich zum Ontario-See weitenden Flussbett des Niagara River, an den gewaltigen Kraftwerksanlagen, an der Rainbow Bridge nach Buffalo, in die USA also. Und dann die Fälle selbst - der kleinere amerikanische und die gewaltigen kanadischen, die Horseshoe-Fälle. Was für ein Anblick! Und die Sonne steht genau im richtigen Moment so, dass wir einen Regenbogen sehen. Wunderbar, begeisternd. Man könnte Stunden hier verbringen. Aber Henry hat noch die weite Fahrt bis Ayorama vor sich, setzt uns in Toronto bei Joachim und Pat ab.

1999: Die Bosch-Videofilmer reisen an. Wie besprochen drehen wir heute die Leuna-Sequenzen für die Ausstellung, Stadtarchiv, Rathausausstellung, diverse Stadtansichten mit Frau Feder, die vom Anfang an bei meinem Geschichtsstammtisch dabei war, und einiges in die Kamera zu erzählen weiß. Wir haben auch großes Glück mit dem Wetter, noch einmal ist es wunderbar sonnig. So geht alles recht zügig voran. Zum Kaffee sind wir fertig.

2020: Heute Abstimmungen im Merseburger Klinikum. Seit Jahresbeginn habe ich den Auftrag, deren Chronik neu zu schreiben. Nun hatte ich eine Arbeitsfassung vorgelegt. Mein Bauch sagte mir aber seit einiger Zeit, dass da mal wieder eine Intrige läuft, die „Forum-Mafia“ mich beim Landrat (der zugleich Aufsichtsratvorsitzender der Klinik ist) angeschwärzt hatte. Und so ist es denn auch. Der sichtlich verunsicherte Geschäftsführer will über Gründe der Auftragsstornierung nicht reden, akzeptiert aber meine vorgelegte Arbeitsfassung. So wird dieses fertige Buch zwar nicht gedruckt, doch ich werde zumindest finanziell entschädigt.

2022: Wieder mal so ein Tag, an dem man fest geneigt ist, an höhere Mächte zu glauben: zuerst wird keine Tageszeitung geliefert und dann spinnt das Internet…

2023: Da das Wetter Hoffnung auf Pilzfunde macht, wollten wir mal wieder dorthin fahren, wohin wir jahrzehntelang schon immer mal fuhren: nach Wurzbach. Nun waren wir schon einige Jahre nicht mehr hier, da die Pension, in der wir zuletzt gern übernachteten, wohl der Corona-Epidemie zum Opfer fiel. Obwohl, nochmehr lockte als Zwischenstopp das Gasthaus in Gräfenwarth, wo es die besten Thüringer Klöße weit und breit gab. Zum Glück rufe ich vorher noch mal an, wollte am besten einen Tisch reservieren lassen – höre aber von einer mürrischen Stmme, dass hier, wenn überhaupt, nur noch am Wochenende und schon gar nicht mehr am Wochenanfang geöffnet wird. Tja, das verhagelt mir den Appetit, verzichten wir also auf Klöße und Pilze.

 

 

Ausweg

für

Inessa Armand / Aziz Atiya / Rodolfo Biagi / Franz Xaver Chwatal / Maria de Bohorques / Georges de Brébeuf / Pater Carl Fabergé / Hans Geiger / André-Ernest-Modeste-Grétry / Johann Matthias Hase / Zvi Hecker / Hongwu / Dimiter Inkiow / Humphrey Jennings / Ellis Kaut / Oswald Kolle / Cristoforo Landino / Kito Lorenc / Otto Mueller / Ruth Niehaus / Seán O’Casey / Wolfgang Paalen / Paracelsus / Aladár Pege / Angelo Poliziano / Alexander Nikolajewitsch Radischtschew / Hermann von Reichenau / Françoise Sagan / Pharaoh Sanders / Karl Friedrich Schäffer d. J. / Witalij Schatkowski / Wolfgang „Schobert“ Schulz / Karl Stülpner / Túpac Amaru / Otto F. Walter

 

Da schien uns kein Ausweg mehr möglich:

1853 annektiert Frankreich Neukaledonien / New York, 1869: Erster „Schwarzer Freitag“ an der Börse / 2006 trifft ein Hurrikan zwischen Texas und Louisiana mit einer Flutwelle an Land, mehr als 100 Menschen kommen ums Leben.

 

 

25. SEPTEMBER

 

Vision

mit

Sergei Fjodorowitsch Bondartschuk / Robert Bresson / Ebony Brown / Chit Phumisak / Fletcher Christian / Colin Davis / Hammer DeRoburt / William Faulkner / Karl Friedrich Friesen / Peter Gehre / Glenn Gould / Christian Gottlob Heyne / Friedrich Gustav Jaeger /  August Kühn / Emil Lask / Lu Xun / Charles Kenneth Michael Scott Moncrieff / Thomas Hunt Morgan /  Gestur Pálsson / Georg Paucker / Manfred Praeker / Qianlong / Jean-Philippe Rameau / Christopher D’Olier Reeve / Sam Rivers / Karl Rössing / Mark Rothko / Helmut Routschek / Carlos Ruiz Zafón / Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowski / Maj Sjöwall / Alfred Lewis Vail / Dee Dee Warwick

 

Da erschien uns wie eine Vision:

774: Einweihung des ersten Salzburger Doms / Altmark, 1629: Frieden im Polen-Litauen und Schweden / Dresden, 1855: Eröffnung der Gemäldegalerie Alte Meister / 1992: Fertigstellung des Main-Donau-Kanals.

 

Ich notierte:

1980: Dr. Rothbauer fragte mich heute, ob mir die Musik denn nichts mehr gäbe. Ich sagte, mein Instrument sei mir nach wie vor wichtig, mache mir Spaß, und die Musik, die ich daheim höre, ebenso – nicht aber die Musik, mit der ich mein Geld verdienen muss… Am Abend in Bios Bahnhof (Jeanny hat wieder Nachtschicht) tritt Nina Hagen auf. Was für ein sinnlos exzentrisches Auftreten, Hass versprühen gegen das Land, aus dem sie kam. Meingott, so lange ist das noch nicht her, da stand ich mit Zakk-Set neben ihrer Band „Automobil“ zusammen auf einer Bühnen. Ich glaube, in Döbeln war das.

1981: Wie oft schon lag ich im Halbschlaf und glaubte, einen Roman zu träumen, den ich nur noch aufschreiben müsste… Nur fehlte stets der Wecker, der Impuls letztlich, aufzustehen. Ich werde versuchen, mir solche Impulse zu organisieren!

1995: Toronto. Ausschlafen, ausgiebiges Frühstück und dann fahren Jeanny und ich mit der Subway downtown, laufen von St. Georges die University Avenue hinunter, shoppen im Eaton-Centre, lachen über einen durch die Wolkenkratzer-Straßenschluchten zuckelnden German-Bratwurst-Wagen, schlendern, fotografieren. Um 3 p.m. steht ein Vortrag von mir in W.B.s einstiger Fakultät auf dem Programm. Äußerst freundlicher Empfang durch den Chairman des German Department, Gus D., der mich den Anwesenden dann auch vorstellt. Offenbar sind alle hiesigen Germanisten anwesend, dazu interessierte Studenten, alles in allem etwa vierzig Leute. Mein Vortrag (Ostdeutsche Literatur seit der Wende, doch selbstredend berichte ich auch darüber, daß es in Leuna nunmehr eine Walter-Bauer-Straße und in Merseburg eine Walter-Bauer-Bibliothek und einen von beiden Städten gemeinsam gestifteten Walter-Bauer-Preis gibt) scheint gut anzukommen, eine interessante Diskussion entwickelt sich danach. Gutes Gefühl, hier (gerade hier!) verstanden zu werden, anzukommen. Auch lerne ich Professor Froeschle persönlich kennen, mit dem ich bislang nur korrespondierte und für dessen Deutsch-kanadisches Journal ich schrieb. Mit Gus daraufhin auf ein Bier und anschließend mit Joachim und Pat zum Dinner in einem feinen italienischen Restaurant. Gus (der wie ich einst Musiker war) zeigt sich in jeder Hinsicht aufgeschlossen, begleicht am Ende die Rechnung (auf Universitätskosten sicherlich). Joachim fährt Gus nach Hause, wir fahren natürlich mit. Und da Gus in dem Stadtviertel wohnt, in dem Pat unterrichtet (Deutsch natürlich), lernen wir auch noch deren Schule kennen. Ihr Klassenraum voller deutscher Plakate, und ich muss einen Kreis um Merseburg und Leuna ziehen. „Zuhause“ noch einen Brandy und dann Abschied nehmen von Pat, die morgen früh zeitig los muss, während wir vor unserer Weiterfahrt nach London ruhig ausschlafen können.

1998: Erste Sehnsüchte nach der Weite, nach der Ungezwungenheit Kanada tauchen auf. Unwilligkeit den Alltag wieder anzunehmen. Das Gefühl etwas verloren zu haben. Oder kehrt man nach Kanada tatsächlich immer wieder zurück, irgendwie?

2015: Landung in Haneda. Mari Kashiwagi holt uns ab. Herzliche Begrüßung, als hätten wir noch gestern in Struga zusammen auf der Bühne gestanden. Doch sie hat nicht viel Zeit, arbeitet ja im Hauptberuf als Kuratorin eines der großen Tokyoter Kunstmuseen, des Idemitsu Museums of Arts. Mit dem Taxi ins Häusermeer Tokyo. Hotel im Zentrum, im Kyobashi-Viertel nahe der Ginza. Koffer abgestellt (da noch Vormittag und kein Einchecken möglich). Und rasch noch gemeinsam nach Maranouchi, in die Tourist-Information und gemeinsam einen Happen gegessen. „See you tomorrow!“ Und schon ist Mari entschwunden.

Wir tasten uns langsam anhand Stadtplänen zurück zum Hotel. Nieselregen. An einer großen Kreuzung wende ich mal wieder eine Straßenkarte hin und her, versuche einen Orientierungspunkt zu finden. Schon hält mir ein älterer Herr seinen Schirm über Kopf und Karte, lächelt. „From where?“ „Germany.“ „Ah, Germany.“ Und schon ist auch dieser freundliche Herr entschwunden. Doch am Ende bringt mich mein siebter Sinn sicher ins Hotel. Hier allerdings erleben wir eine böse Überraschung: Das Doppelzimmer, das ich per Internet gebucht hatte, ist bestenfalls ein Einzelzimmer, etwa 5 m² klein. Kein Schrank, kein Regal, ein, ungefähr 1,20 m breites Bett… Unmöglich kann in dieser Abstellkammer ein älteres deutsches Ehepaar elf Nächte überstehen. Langes Palaver an der Rezeption. Nein, alle Zimmer hätten die gleiche Größe. Doch ja, ein Einzelzimmer sei noch frei. Das aber koste genauso viel wie das Doppelzimmer (auch wenn das dann nur als Einzelzimmer belegt sein sollte). Nun gut, es gibt keine Alternative, wie sollten wir hier auf die Schnelle ein anderes halbwegs bezahlbares Hotel finden, und wer weiß, ob dann nicht wieder derselbe Trödel losgeht… „Okay, I take it.“ Und siehe da: als ich dann das weitere Zimmer bezahlt habe (Zimmerschlüssel werden hier immer erst rausgerückt, wenn man die Kreditkarte gezückt hatte…), erweist sich das Einzelzimmer als (zumindest etwas) geräumiger als das Doppelzimmer… Urlaubskasse also gesprengt. Immerhin, die Fernseher in den Zimmern sind gewaltig groß. Nach diesem Schock einmal die Flaniermeile Tokyos, die Ginza-Avenue, auf und ab. Aber auch das bringt bei stärker werdendem Regen und einer gefühlten Luftfeuchte von 120% nicht den richtigen Spaß. Zudem reiht sich hier ein Nobelladen an den anderen, ja, ausschließlich Nobelläden hier. Nicht ein einziges simples Souvenirgeschäft weit und breit. Selten habe ich nach einem Basecape (das ich dann zuhause meiner Basecape-Sammlung einverleiben könnte) intensiver Ausschau gehalten. Keine Chance, die Haare also klatschnass. Klamotten und Schuhe letztlich auch. Gut, gucken wir eben Sumo-Ringen im Fernsehen. Hunger und Neugier treiben uns am Abend dennoch wieder in den (noch stärker gewordenen) Regen hinaus. In unserem Stadtteil Kyobashi scheint es etliche von Japanern nach Büroschluss gut besuchte Gaststätten zu geben. Allerdings hatte ich mir noch zu Hause einen Satz aus der Erzählung Der Gott des Lehrlings von Naoya Shiga notiert: „Plötzlich fiel ihm ein, wie er sich neulich an dem Sushi-Stand in Kyobashi blamiert hatte.“

Ohne zu wissen also, was uns erwartet, wie wir uns verhalten sollen, betreten wir eine der wohl gefüllten Gaststätten, werden sofort und freundliche begrüßt, bestens auf Englisch beraten, genießen also alsbald wunderbare Gerichte – Zunge, so was hast Du in Deinen 62 Jahren noch nicht geschmeckt… - und zwei ältere Damen, die im Laufe des Abends versehentlich nach unserer englischen Speisenkarte statt ihrer japanischen griffen, entschuldigen und verbeugen sich wieder und wieder und schenken Jeanny, als sie aufbrechen, noch einen Riegel Schokolade. Wow, Japan, Land der (Gefühls)Gegensätze…

2021: Vortrag über „Große Merseburger“ für den Merseburger Museumsverein. Ich schlage mal wieder Wilhelm Daene, immerhin ein „Gerechter unter den Völkern“, als Ehrenbürger vor. Immerhin, man hört mir mal zu…

2022: Vermutung: Wahrscheinlich kniee ich mich so intensiv in die Arbeit an den „Seins Fiktionen“ und am „Kalendaricon“, da ich (mir) eine überschaubare, bekannte Welt zu erhalten versuche.

 

Verrat

für

Helena Almeida/ Alexe Altenkirch / Gontalo Arango / Erich Arendt / Thomas Patrick Ashe / Mary Astor / Thomas Patrick Ashe / Dieter Bähtz / Kamla Bhasin / John Henry „Bonzo“ Bonham / Erich Borchert / Francesco Borromini / Vitaliano Brancati / Petrus de Alvernia / Paul Ehrenfest / Louise von François / Heinrich George / Adolf Glaßbrenner / Josef Guggenmos / Safia Hama Dschan / Paola Yannelli Kaufmann / Johann Heinrich Lambert / Ljubomir Lewtschew / Alfred Lichtenstein / Mina Loy / Wangari Muta Maathai / César Manrique / Willy Millowitsch / Lewis Milestone / Albert Joseph Moore / August Heinrich Petermann / Alejandra Pizarnik / Rahkmabai / Erich Maria Remarque / Edward Said / Johannes Secundus / Mary Sidney / Donald Stuart Thomas / Carl Friedrich Zöllner

 

An diesem Tage fühlten wir uns verraten:

1768. Beginn des Fünften Russisch-Türkischen Kriegs / Toulon, 1911: im Hafen explodiert der Panzerkreuzer „Liberté“, 204 Todesopfer / 1963: Beginn des Bürgerkriegs in der Dominikanische Republik / 1978 stößt über San Diego eine Boeing 727 mit einem Sportflugzeug zusammen, 144 Menschen kommen ums Leben / 2023, Bergkarabach: Explosion eines Treibstofflagers, mindestens 20 Tote.

 

 

26. SEPTEMBER

 

Ermutigung

mit

Dev Anand / Martin Hans Blancke / Kelso Cochran / Gal Costa / Darby Crash / Andrea Rita Dworkin / Cyprian Ekwensi / Thomas Stearns „T.S.“ Eliot / Ernst Elsenhans / Joseph Furphy / Théodore Géricault / George Gershwin / Paul Gervais / Vadim Glowna / Karin Gregorek / Maurizio Gucci / Dick Heckstall-Smith / Martin Heidegger / Koizumi Chikashi / Fritz Köthe / Gurgen Margaryan / Olivia Newton-John / Franz Daniel Pastorius / Iwan Petrowitsch Pawlow / Géza von Radványi / George Raft / Arno Rink / Christine Wiegand / Wladimir Nikolajewitsch Woinowitsch

 

Das ermutigte uns:

Schweden, 1832: Inbetriebnahme des Göta-Kanals / 1887 wird das Patent für das Grammophon erteilt / 1905 veröffentlicht Albert Einsrein seine spezielle Relativitätstheorie / 1907: erhalten Australien und Neuseeland den Dominionsstatus, werden weitestgehend unabhängig von Großbritannien.

 

Ich notierte:

1995: Zum Frühstück frische Muffins, dann noch einmal zum Ontario-See, Abschied von Toronto, und mit dem Zug nach Süden, nach London. Günter holt uns vom Bahnhof ab. Mit dem Taxi zu Günters Haus, inmitten gepflegtem Grüns, wie große Teile Londons offenbar. Die rund 300.000 Einwohner sieht man dieser Stadt nicht an. Eher glaubt man in einer Gartenstadt von der Größe Leunas zu sein. Wir spazieren durch Parkanlagen, die Hauptgeschäftsstraße entlang, zu Günters Lieblingscafé, Sebastian’s, hier hat er nachmittags seinen Stammplatz, wird auch gleich freundlich begrüßt. Auf allen Wegen und auch am Abend daheim diskutieren wir über W.B.

1999: Arbeit an den Ausstellungstexten, dann Vorbereitungen für die Schülerschreibwerkstatt in Güntersberge. Am Nachmittag versuche ich mit Jens erneut meinen neuen Computer online zu bringen. Doch erst nachdem Jens einen Bekannten herbei telefonierte, der sich auskennt, kommen wir endlich ins Netz. Am Ende funktioniert zwar längst nicht alles, doch schaffe ich es immerhin spätabends die ersten e-Mails zu versenden, Motto: Hallo, so bin ich nun auch zu erreichen, e-Mails nach Kanada, Israel, Belgien, die Tschechei und natürlich auch an deutsche Adressen. Ganz gutes Gefühl, wenn denn das alles nun so selbstverständlich geht. Mal sehen, wann und wie erste Antworten reinkommen... Die Installationsschwierigkeiten (über die bislang wohl noch jeder klagte) erkläre ich mir am Ende so, dass da sicherlich Beutelschneiderei dahinter stecken muss. Nicht wenige, werden keine hilfreichen Bekannten herbeiholen können, werden auf Fachmonteure, am besten von der Telekom angewiesen sein. Und da kostet’s gleich wieder reichlich...

2000: Am Morgen nach Dessau, um das fürs nächste Jahr geplante Projekt mit den Europaschulen des Landes abzusprechen. Da die LKW-Fahrer heute aber eine Sternfahrt nach Berlin veranstalten, um gegen die extrem gestiegenen Benzinpreise zu protestieren, muss ich einige Umwege fahren. Von Dessau dann nach Hannover, was ohne Staus abgeht. Gegen halb eins erreiche ich die Expo, alles gut ausgeschildert, Parkplätze reichlich und kostenfrei vorhanden. Auf der Weltausstellung selbst ein buntes Gewimmel, viele Jugendliche vor allem. Imposante Bauten der ausstellenden Länder, Schweiz, Estland, Island, Niederlande, Thailand, Nepal oder Jordanien. Meistens aber müsste man eine Stunde oder länger noch anstehen, um in die Gebäude zu kommen. Hie und da wage ich’s doch. Am Ende meines fünfstündigen Rundgangs dann noch das Afrikahaus, wo es gute Live-Musik gibt, die Staaten sich mit Messeständen präsentieren. Aber das sieht alles gut aus, und man präsentiert sich eben und zeigt, wie vielschichtig und farbig die Welt doch ist. Ein Land wie die USA präsentieren sich hier jedoch nicht. Beschämend irgendwie. Weiter zu Klaus Urban, meinem Tandem-Partner“ nach Algesdorf. Pünktlich halb sieben stehe ich vor der Tür. Urbans laden mich zum Essen in die „Ole Dönse“, die Dorfkneipe ein. Danach beschwatze ich mit Klaus noch das Referat, das er bei „meinem“ Interlesekolloquium im November halten soll. Und im Bett komme ich endlich dazu „Harry Potter“ auszulesen. Wird am Ende noch recht spannend das Ganze, nur glaube ich schließlich auch erkannt zu haben, was mir nicht so recht behagt: Die Story kommt nicht von der Sprache, sondern vom Bild, vom Filmischen her. Da ist vieles einfach illustrierend, also bedeutungslos für Handlung und Charaktere.

2015: Tokio. Nach zehnstündigem Anti-Jetleg-Schlaf wie neugeboren. Erstes Ausprobieren der Hightech-Möglichkeiten der Zimmertoilette: Warmwasser-Po-Spülung…, gewöhnungsbedürftig. Und dem Himmel sei dank: es regnet nicht mehr! Mari holt uns im Hotel ab. Mit der U-Bahn nach Ueda. Gut, dass wir mit Mari fahren, denn wer weiß wo wir angekommen wären, wenn wir nicht hätten zusehen können, auf welchem Automaten – ausschließlich mit japanischen Schriftzeichen – wir was hätten eingeben müssen, um zwei Tickets nach Ueda zu erhalten, dann: wo wir die Tickets wie einstecken und wieder in Empfang nehmen müssen, um zu den Bahnsteigen zu kommen – welcher Bahnsteig? welche Linie? – was für ein Liniengewimmel auf dem Linienplan – endlich am richtigen Platz zu stehen, um in die richtige Bahn einsteigen zu können… Doch so erreichen wir Ueda zügig, schlendern zum Ueda-Park. Mari zeigt uns einen orange blühenden Baum, fragt, ob wir dessen aprikosenartigen Duft spürten. Ja, natürlich, der schwebt hier doch allenthalben. Wenn der Kinmokusei blüht, erklärt Mari, beginne in Japan der Herbst. Am Ende des Parks das Nationalmuseum. Beeindruckender Bau, beeindruckende Ausstellungen. Wunderbare Objekte aus der langen japanischen Kunst- und der etwa 1300-jährigen Literaturgeschichte, so Originalrollen der frühen, großen Gedichtsammlungen aus dem Altertum und dem Mittelalter vor allem, so u.a. das Akihagoji.

Einer der großen, frühen japanischen Dichter, Tsurayuki, charakterisierte in seinem Vorwort zu einer der großen Sammlungen, dem Kokin-wakashu, die japanische Lyrik so: „Das japanische Gedicht nimmt das menschliche Herz zu seiner Wurzel und Zehntausende von Worten zu seinen Blättern. Das Wirken der Menschen, die in dieser Welt leben, ist vielgestaltig, und das, was sie im Herzen empfinden, sprechen sie unter Zuhilfenahme von Dingen, die sie mit den Augen und mit den Ohren wahrnehmen, aus. Lauscht man der Stimme der in den Blüten schlagenden Nachtigall oder des in den Wassern hausenden Frosches, welches unter den Wesen, die da leben, äußerte sich nicht in einem Lied? … Was ohne Gewalt anzuwenden, Himmel und Erde bewegt, die den Augen nicht sichtbaren Geister und Gottheiten zu Mitgefühl rührt, die Beziehungen zwischen Mann und Frau noch zärtlicher macht und auch das Herz des ungestümen Kriegers besänftigt, das ist das Gedicht. Und das Gedicht ist entstanden zu der Zeit, da Himmel und Erde sich erstmals öffneten…“

Weiter zu Maris Museum, dem Idemitsu, in der zweiten Etage eines Hochhauses mit Aussichtsraum auf den Kaiserlichen Garten. Die Ausstellung selbst zeigt vor allem Töpferei aus dem 16. und 17. Jahrhundert, Gebrauchsgegenstände, die durch Form- und Farbgebung hochmodern erscheinen und nicht selten schlichtweg verblüffen. Dann lädt uns Mari in ein Teehaus ein. Jeanny und ich wählen aus all den angebotenen Teesorten Macha aus – denn der dürfte daheim wohl nur selten, wenn überhaupt, im Angebot sein – Mache: giftgrüner Sud in bauchiger Schale, bitter, gurkig, rätselhaft schmeckend, dazu eine nur (laut Karte) in dieser Woche erhältliche Dessert: rosa, weißbestäubt, violettbraun gefüllt und noch rätselhafter – einfach mal wieder ein Feuerwerk für die Geschmacksnerven. Dabei lässt es sich mit Mari gut über unser geplantes Kinderbuch sprechen, das komplette Arrangement von der Personage über den Handlungsort bis hin zu den Übersetzungs- und Terminierungsmodalitäten. Am Ende: völlige Übereinstimmung. Wir besiegeln den Kontrakt mit einem Schluck Grünen Tees. Mari verabschiedet sich. Wir schlendern zurück zur Ginsa. Hier ein Bierchen, da ein Snack. Und auch lange nach Sonnenuntergang bleibt es noch schwül-warm.

2022: Am Nachmittag zur Vorstandssitzung der Siegfried-Berger-Stiftung ins Merseburger Ständehaus. Der seit einiger Zeit schwelende Streit zwischen dem Vorsitzenden und mir als Kurator über die Unterstützung von Walter-Bauer-Projekten eskaliert. Ich kündige schließlich an, dass ich diese (einst von Dr. Pleßke und mir initiierte Stiftung) nicht mehr mit Walter Bauer (obwohl dessen Name explizit in der Präambel der von mir erstellten Satzung genannt wird) belästigen werde.

 

Ehrerweisung

für

Emerich Ambros / Béla Bartók / Richard Beer-Hofmann / Gerhard Behrendt / Walter Benjamin / Daniel Boone / Betty Carter / Leonor de Cisnere / Fujiwara no Sadaie / Christian Hummer / Wera Michailowna Jermolajewa / Kraft von Toggenburg / Kyoshi Miki / Alexander Gordon Laing / Alan Lancaster / Shawn Lane / Hermann Löns / Ernst Wilhelm Lotz / August Macke / Anna Magnani / Harriett Monroe / Alberto Moravia / Hilaree Nelson / Paul Leonard Newman / Robert Allen Palmer / Baden Powell de Aquino / George Santayana / Georg Simmel / Bessie Smith / Levi Strauss / Gloria Stuart / Billy Vaughn / Hugo Vogel / Xu Beihong

 

Da empfanden wir Ehrlosigkeit:

1860 beginnen alliierte Truppen im Zweiten Opiumkrieg mit der Eroberung Pekings / 1941 torpediert ein deutsches U-Boot nördlich der Azoren den britischen Passagierdampfer „Avoceta“, 123 Todesopfer / Japan, 1954: das Fährschiff „Toya Maru“ sinkt, 1.1.53 Menschen kommen ums Leben / München, 1980: rechtsterroristisches Attentat auf dem Oktoberfest, 13 Tote und 218 Verletzte / Lagos, Nigeria, 1992: Absturz einer Lockheed C-130, 163 Soldaten sterben / Medan. Indonesien, 1997: Absturz eines Airbus A300, alle 234 Insassen kommen ums Leben / 1997 Erdbeben in Italien, in Assisi und Perugia sterben 11 Menschen / Senegal, 2002: Untergang der Fähre „Le Joola“, 1.863 Tote / Iguala, Mexiko, 2014: 43 Studenten werden entführt und später ermordet / Al-Hamdanija, Irak, 2023: Großfeuer bei einer Hochzeitsfeier, 114 Tote.

 

 

27. SEPTEMBER

 

Auszeichnung

mit

Samuel Adams / Bríet Bjarnhéðinsdóttir / Max Burkhart / Antonio Casimir Cartellieri / Yash Chopra / Grazia Daledda / Carlo Alberto dalla Chiesa / Alfred Deutsch-German / Robert Edwards / Bruno Gironcoli / Philipp Hafner / Miklós Janscó / Jun Tosaka / Meat Loaf / Rudolf Moshammer / Karl Münichreiter / Otto Nagel / Thomas Nast / Arthur Penn / Earl „Bud” Powell / Wacław Rolicz-Lieder / Cosme San Martín / Romano Scarpa / Alan Shugart / Alvin Stardust / Wenzel II. / Wouter Weylandt / Zhang Chongren

 

Das empfanden wir wie eine Auszeichnung:

Melrose, 1422: Friedensschluss zwischen Polen-Litauen und dem Deutschen Orden / München 1589: Baubeginn für das Hofbräuhaus / 1804: Erstbesteigung des Ortlers / 1822 gibt Jean-François Champollion die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen bekannt / 1825: Einweihung der ersten öffentlichen Eisenbahnlinie der Welt zwischen Stockton und Darlington / 1896: Eröffnung des Donaukanals am Eisernen Tor / Detroit, 1908: der erste Ford Modell T („Thin Lizzy“) wird gebaut / Kairo, 1970: Waffenstillstandsvertrag zwischen Jordanien und der PLO / Bremen, 1979: Gründungs des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs / Kairo, 1987: Eröffnung der ersten Metro-Linie Afrikas

 

Ich notierte:

1980: Mugge im Klubhaus der Gewerkschaften Halle: Olympia-Ball mit Teilnehmern der Olympischen Spiele in Moskau, Olympiasiegern sogar – Waldemar Cierpinski, Falk Hoffmann… Ich komme mir in all dem Rummel, der da mit deren Super-Körpern getrieben wird, seltsam verloren vor. Manche tun mir regelrecht leid, mit ihren leeren, traurigen Augen.

1986: Noch immer – obwohl längst angedroht - kein Einberufsbefehl zur Reserve, dafür mal wieder eine Absage für ein Kinderbuch-Projekt. Hat mein Schreiben überhaupt noch Sinn, alles kommt mir wie vor ’ner Hinrichtung vor.

1995: London, Ontario. Am Morgen zur hiesigen Uni. Günter zeigt uns den Campus, ähnliche Anlage wie in Toronto, dann sein Office. Mit Iris, einer Gastdozentin, Kafka-Spezialistin, zum Lunch. Schließlich halte ich auch an der University of Western Ontario meinen Vortrag. Erneut gut besucht, zwei Kurse, zahlreiche Professoren. Interessierte Zuhörer, interessante Fragen. Nachdenkenswertes. Dann „nach Hause“, umziehen und einwenig shoppen. Nach dem Abendbrot arbeiten Günter und ich bis spät in die Nacht am Konzept unseres geplanten Bauer-Buches.

1999: Projektabsprachen in Spergau, Bürgermeister, Schulleiterin. Keine Frage, da werde ich bis Jahresende einiges in Rahmen des Projektes „Unser Dorf liest“ bewegen können. Jürgen, der Bürgermeister, entwickelt sogar eine interessante Idee für eine weiterführende Zusammenarbeit: irgendjemanden würde er gern seine Erfahrungen der 10 Nachwendejahre anvertrauen, jemanden der daraus ein Buch machen könnte... Ich werde drüber nachdenken.

2015: Tokio. Spaziergang zum und durch den Imperial Garden. Riesiges Gelände inmitten der Hochhäuser, umgeben von Wassergräben und Mauern, begründet als die Burg Edo im 15. Jahrhundert. Der Teil, in dem der Tenno noch heute residiert, ist nur zwei Mal im Jahr zugänglich: am 2. Januar (zu Neujahr) und zu Kaisers Geburtstag (23.12.). Aber allein der öffentliche Teil ist so groß, dass wir mehr als vier Stunden für einen (relativ raschen) Rundgang brauchen. Gepflegte Parks allenthalben, recht unterschiedlichen Charakters, hohe Bäume, gestutzte Bäume, mal dicht, mal weit auseinander stehend, Doppeltoranlagen, Brücken, im östlichen Teil auch historische Garten- und Teehäuser, Koi-Teiche, Schreine. Jetzt im Herbst mit der einsetzenden Blattfärbung hat das alles einen ungemeinen Reiz, wirkt beruhigend irgendwie, wird nie langweilig, bieten sich ständig neue Perspektiven, eröffnen sich immer wieder neue Ausblicke. Doch wie prächtig erst muss das hier alles im Frühling sein, mit der weltberühmten japanischen Kirschblüte, ja, der gesamte Park in vollster Blüte (wovon Fotos zeugen). Ein Traum. Zum Lunch probiere ich in meiner unersättlichen Neugier zum ersten Mal Wal (braunes, fein geschnittenes Fleisch und fett rosa gerandeter Speck, Zwiebel, höllisch scharfer Senf) – gewöhnungsbedürftig. Jeanny zieht Thun Carpaccio mit Avocado vor – lecker. Am Abend wieder zur Ginza. Am Sonntag ist die Edelmeile für den Autoverkehr gesperrt. Fußgänger strömen zu den Edelgeschäften also nicht nur auf den Fußwegen, sondern auf dem gesamten Boulevard… Dafür sind dann in unserem Viertel fast alle Gaststätten geschlossen. Wir irren ziemlich umher, bis wir etwas Ansprechendes und Bezahlbares finden. Jeanny scheint der Appetit vergangen, dann schlürft sie meine Ramen-Suppe mit Tofu jedoch gern mit. Im Fernsehen daraufhin ein Wettbewerb: wer frisst die meisten Ramen-Schalen (allerdings mit Schweinefleisch) leer…

2020: Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan. Die Aseris greifen Berg-Karabach an. Da steckt auf Garantie die Türkei dahinter, Erdogan. Ich versichere meinen armenischen Freunden meine Solidarität.

 

Ausbürgerung

für

Oscar Amoëdo y Valdes / Marty Balin / Clara Bow / Clifford Lee „Cliff” Burton / Frederick Catherwood / Geo Chavez / Wolfgang Heribert von Dahlberg / Serafina Dávalos Alfonze / Edgar Degas / Gerald Raphael Finzi / Joy Fleming / Johann Friedrich Grael / Iwan Alexandrowitsch Gontscharow / Emmy Gotzmann / Hugh Hefner / Johann August Heinrich / Engelbert Humperdinck / Monika Hutter-Häfliger / Karl Christian Friedrich Krause / Ring Lardner / James „Jimmy McCulloch / Aristide Maillol / Robert Montgomery / Adolf Overweg / Sylvia Pankhurst / Elisabeth Plainacher / S. R. Ranganathan / Hilla von Rebay / Rory Storm / Andreas Tscherning / Urban VII. / Herman Wildenvey / Yūko Takeuchi

 

So fühlten wir uns ausgebürgert:

1854: sinkt der Passagierdampfer „Arctic“ nach einen Kollision mit dem Dampfer „Vesta“ vor Neufundland, 350 Tote / 1865 erklärt Chile Spanien den Krieg / Danville, Viginia, 1903: Zugunglück, 11 Todesopfer / Honshu, 1959: bis zu 5.000 Menschen sterben durch einen Taifun / Sochumi, 1993: abchasische Separatisten massakrieren mehr als 7.000 georgische Zivilisten / Zug, Schweiz, 2001: bei einem Attentat im Kantonsparlament kommen 14 Politiker ums Leben.

 

 

28. SEPTEMBER

 

Dolce Vita

mit

Achim von Akermann / Jorge Carrera Andrade / Muchtar Äuesow / Rudolf Baumbach / Erik Bodom / Wolf D. Brennecke / Elbridge „Al“ Bryant / Seymour Cray / Elise Crola / Jim Diamond / Peter Finch / Bernhard Heinrich Gustav Hohbach / Heinz Jankofsky / Victor Jara / William Jones / Malalai Kakar / Karl I. / Ben E. King / Kenny Kirkland / Sylvia Kristel / Lata Mangeshkar / Marcello Mastroianni / Johann Mattheson / Prosper Mérimée / Ferdinand Frederic Henri Moissan / Barbara Noack / Louis Pasteur / Elmer Rice / Ludwig Richter / Ethel Rosenberg / Georg Seidel / Ed Sullivan /Albert Vigoleis Thelen /  David Unaipon / Siegfried Unseld / Immanuel Wallerstein / J. T. Walsh / Fritz Weiss

 

Das hielten wir für Dolce Vita:

Preußen, 1717: Einführung der allgemeinen Schulpflicht / London, 1864: Gründung der Ersten Internationale / Seattle, 1924: Abschluss der ersten Weltumrundung mit einem Flugzeug / 1941 wird Syrien für unabhängig erklärt.

 

Ich notierte:

1995: London, Ontario. Nach dem Frühstück nochmals zur Uni. Verabredung mit dem Fotografen der Uni-Zeitung. Keep smiling. Anschließend werde ich der Rektorin vorgestellt. Sie hofft, dass ich bei einem nächsten Besuch eine Lection auf Englisch geben werde.

Dann zeigt mir Günter den von ihm verwalteten kanadischen Nachlaß W.B.s, der hier im Archiv liegt. Große Kisten, einst von Henry gepackt, das meiste noch unsortiert. Ich blättere, wühle, könnte wohl Wochen hier verbringen. Plötzlich halte ich W.B.s letzten Paß in der Hand: Bauer, Walter Reinhold, geboren in Merseburg, 175 cm, blond, Augenfarbe: blau. Und wie eine Anekdote fast lese ich seinen Lebenslauf (in Englisch), den er für die kanadische Einwanderungsbehörde schrieb: offenbar um seine Einreise-Chancen zu verbessern, hatte er angegeben, 1947 Lumberman (Holzfäller also) in Bavaria gewesen zu sein... Kaffeetrinken bei Sebastian’s. Abendbrot bei Günter daheim, Lachs und Wein, köstlich! Und dann liest uns Günter aus dem Manuskript seiner Walter-Bauer-Biografie vor. (Da er daran nunmehr gut fünfzehn Jahre arbeitet, hatte ich schon Stimmen gehört, die bezweifelten, dass dieses Manuskript überhaupt existiert. Leistungs- und Vertrauensbeweis also, diese traute Lesung am Kamin.)

1999: Lesung in Annaburg hinter Torgau. Gemischte Gefühle, da bei Annaburg der Schießplatz liegt, den ich in meinem Grundwehrdienst immer mal wieder besuchen durfte. Aber wie lang ist das her! Und was für eine gelungene Veranstaltung ist das heute. Ich übergebe der Grundschule mehrere Kisten Bücher vom Bödecker-Kreis. Große Freude. Und die Musiklehrerin schiebt mir wie selbstverständlich ein Notenbuch zu, damit ich die Schüler bei den eigens für diese Übergabe eingeübten Liedern begleiten kann. Mache ich doch ganz selbstverständlich!

2000: Notar-Termin (um die Grundschuld für unser Haus löschen zu lassen). Am Nachmittag Buchpremiere „Novembertau“ in Leuna. Gut gefüllter Raum, etwa 50-60 Leute, gute Umrahmung durch die Merseburger „Blechdachse“, eine junge Bläsergruppe, Reden von Dr. Woehe, dem Klubhauschef und Dr. Eberlein, dem Verleger. Die Lesung läuft ganz, seltsame Fragen von der Presse danach, wie: „Haben Sie für das Buch in der rechtsradikalen Szene recherchiert?“ – „Hä?!“ Insgesamt jedoch eine gute und wichtige Veranstaltung und es waren einige Leutchen da, die ich nicht erwartet hatte, aber es fehlten auch einige, wie die gesamte „Politik“ (klar, wenn es um ein politisches Thema geht, mit dem man zur Zeit selbst durch Aktionismus beschäftigt ist...). Jeanny hat danach und nicht zuletzt da es plötzlich nochmals Sommer geworden ist, die Idee, uns Pizzen zu bestellen und noch ein Weilchen im Garten zu sitzen. Genau das machen wir dann auch. Schöner Abend.

2006: Halberstadt. Horizonterweiterung (immens) dank John Cages Regie: as slow as possible – so tönt das längste Stück Musik weltweit hier. Genial. 639 Jahre vor der Jahrtausendwende jubelte im Ort erstmals eine Orgel auf, bis ins Jahr 2639, bis die letzte Pfeife in St. Burchardi verbraucht/verhaucht sein wird, soll Cages „Organ²/ASLSP“ noch klingen: as slow as possible. Irgendwie hatte ich schon vergessen, dass es noch Zukunft gibt.

2015: Mit dem Shinkansen nach Kyoto, der alten Hauptstadt Japans. Wenn es so etwas wie Bahn-Kultur gibt, sollten deutsche Bahn-Manager in Japan zwangsweise Lehrgänge belegen müssen: Kaum fährt der Shinkansen Hikari mit seinem müränen / delphinschnauzenartigen Triebwagen in die Tokyo Station (seine Endstation) ein – passgenau präzise für jede Zugtür vor Zugangsschranken auf dem Bahnsteig, die erst zur Seite gleiten, wenn der Zug steht – schon werden die Aussteigenden von rosa gekleideten Putzfrauen und blau gekleideten Putzmännern mit Verbeugungen begrüßt und wieseln die Putzkolonnen schließlich in und durch jeden Waggon – Türen zu – und ratzbatz sind die Wagen geputzt und gesäubert und die Sitze in Fahrtrichtung gedreht – Türen auf – und da man auf den Anzeigentafeln genau erfährt, wo unreservierte Plätze sind, findet man auch zügig einen freien Platz. Also denn, auf nach Kyoto: 513,6 km in 158 Minuten! Gegen 11 in Kyoto. Hochsommerliche Schwüle im Talkessel der Stadt, die gut 1000 Jahre - bis 1868 im Zuge der Meiji-Umwälzungen aus Edo Tokyo und zur neue Hauptstadt wurde - die Metropole des Landes war. Der Weg zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten, der in meinem Reiseführer als „fußläufig“ beschrieben wird, streckt und streckt sich. Wenn man alle 17 Kulturstätten der alten Kaiserstadt besichtigen wollte, bräuchte man wahrscheinlich 17 Tage. Wir sind am Ende stolz auf uns, dass wir in der Glut vier gefunden und besichtigt haben: den Sanjusangen-do mit seinen schwer beeindruckenden 1001 Kanon-Statuen, den zauberhaften Maruyama-Park, den Chion-in mit dem größten Tempeltor und der größten Glocke Japans (das Tor soll im Übrigen in etwa dem Rashomon ähneln, dem nicht mehr vorhandenen einstigen südlichen Stadttor, das durch Ryonosuke Akutagawas gleichnamige und verfilmte Erzählung weltberühmt wurde), sowie den imposanten (obgleich in Restaurierung begriffenen) Higashi-Honganji-Tempel… en passant noch das alte Geisha-Viertel Gion, quirlige Haupt- beschauliche Nebenstraßen und Gassen und nicht zuletzt der futuristische Bahnhof, zu dem die High-Tech Shinkansen bestens passen… Keine Frage, da bleibt die Ahnung, viel verpasst, Wichtiges nicht gesehen zu haben, doch trotz Nichtgesehenem, Nichterlebten dennoch am Ende ein Hochgefühl: was für ein fantastischer Tag im alten Zentrum einer exotischen Hochkultur!

2019: Halberstadt. Ich lese, spiele und singe gemeinsam mit Paul Bartsch im Gleimhaus. Guter Abend, wichtiger Abend.

2020: Vor zwei Jahren war ich in Auschwitz, schloss mit dem nach diesem Besuch entstandenen Text meine Ortungen-Reihe ab. Und was ich meinem Freund Willi Bartsch darüber erzählte, brachte ihn dazu, auch nach Auschwitz zu fahren (so sehr er – wie ich einst auch - fürchtete, hier touristisch aufzutreten…). Willi schrieb danach ein Stück, das er (zumal nach dem letztjährigen Synagogen-Anschlag in Halle) mit dem Schauspieler Peer-Uwe Teska auf die Bühne zu bringen versuchte (was alles andere als leicht, geschweige denn selbstverständlich war – intellektuelle Auseinandersetzungen mit diesem Thema werden hierzulande noch immer argwöhnisch beäugt…). Ich hatte nun Willis Stück zum Goethe-Theater nach Bad Lauchstädt vermitteln können. Und heute kommt’s nun also zur Aufführung im Kursaal. Für Schüler sollte diese Veranstaltung eigentlich sein. Leider hat nicht ein Schulleiter der Region auch nur einen Schüler mobilisiert. Es sind aber etwa 30 Erwachsene gekommen – und die zollen dem großartigen Programm am Ende ausführlich Beifall. Willis Text endete in 7 Geboten, die er der heutigen Welt empfahl: drei unverzichtbare von den Moses Tafeln: du sollst nicht stehlen, du sollst nicht lügen, du sollst nicht töten – und als siebentes: du sollst nicht gleichgültig gegenüber anderen sein!

 

Demaskierung

für

Mulk Raj Anand / Karl Artelt / Hans Baluschek / Munir Baschir / Rabah Bemari / William Edward Boeing / Burchard Brentjes / André Breton / George Buchanan / Anna Celli-Fraentzel / Coolio / Ben d’Armagnac / Miles Davis / Thomas Day / William K. L. Dickson / John Roderigo Dos Passos / Étienne Émile Gaboriau / Michael Gambon / Albert Hoefler / Edwin Hubble / Thomas Ernest Hulme / Eduard von Kayerling / Elia Kazan / Harpo Marx / Herman Melville / Gamal Abdel Nasser / Emil Orlik / Oskar Panizza / Louis Pasteur / Arthur Penn / Pompejus / Carl Ritter / Wiktor Sergejewitsch Rosow / Barry Ryan / Giovanni Segantini / Max Schmeling / Andreas M. Schmidt / Tan Sitong / Roy Sullivan / Hermann Ungar / Lothar Wolleh

 

An diesem Tage sahen wir Demaskierungen:

Svatý Kopeček, 1705: Brand eines Pilgerhauses, 121 Tote / Kathmandu, 1992: ein Airbus A300 prallt gegen einen Berg, alle 117 Insassen sterben / 1994 sinkt die Fähre „Estonia“ in der Ostsee, 852 Todesopfer / Israel, 2000: Beginn der zweiten Intifada / Conakry, Guinea, 2009: bei Protesten gegen die Regierung kommen 157 Demonstranten ums Leben / Sulawesi, 2018: Tsunami, mehr als 2.000 Tote / 2023: Ankündigung der Regierung Bergkarabachs nach aserbaidschanischer Eroberung, die Republik  zum 1.1.2024 aufzulösen, Massenexodus der armenischen Bevölkerung.

 

 

29. SEPTEMBER

 

Härtung

mit

Andreas Achenbach / Julius Adler / Michelangelo Antonioni / Franny Beecher / Michael Beheim /  László József Bíró / Françoise Boucher / Tommy Boyce / Caravaggio / Miguel de Cervantes / Miguel de Unamuno / Egon Eiermann / Anita Ekberg / Enrico Fermi / Friedrich Feuerbach / Greer Garson / Elisabeth Cieghorn Gaskell / John Heysham Gibbon / Hugo Haase / Joseph Ephraim Casely Hayford / Margot Hielscher / Stanley Kramer / Michaela Krinner / Rolf Kühn / Jerry Lee Lewis / Lonzo / Samora Moisés Machel / Menantes / Horatio Nelson / Václav Neumann / Walther Rathenau / Nikolai Alexejewitsch Ostrowski / Elizabeth Peters / Pompejus / Helga Raumer / Johann Heinrich Roos / Kondrati Fjodorowitsch Rylejew / Gaston Salvatore / Michael Servetzs / Christo Smirnenski / Jacques Charles François Sturm / Michiel Sweerts / Auguste van Pels / Artjom Wessjoly / Anna Christina Witmond-Berkhout

 

An diesem Tage fühlten wir uns bestens abgehärtet:

Montgomery, 1267: Ende des englisch-walisischen Krieges / Aurey, 1364: Ende des Bretonischen Erbfolgekrieges / Genf, 1954: Gründung der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) / 1962 startet Kanada seinen ersten Weltraumsatelliten / New York, 1990: Beginn des Weltkindergipfels.

 

Ich notierte:

1980: Jeanny hat ein Gespür für Wirkungen, für Ästhetik im weitesten Sinn. Schon des Öfteren überraschte sie mich mit neuen Bild-Hängungen, Möbel-Umstellungen, Handgearbeitetem. Ja, die Wohnung hat sie eingerichtet, geschmackvoll, zum Wohlfühlen, gut. Aber heute ist ihr der große Wurf gelungen: vor den ockerfarbenen Stubenstore hat sie eine große Vase mit einem Hagebuttenstrauß drapiert. Das wirkt wie ein Gemälde!

1981: Kalter Regentag. Cathi spielt mir Puppentheater vor: Dornröschen und Aschenputtel werden gegeben. Und zuerst weiß ich nicht so genau, was mich dabei fasziniert, dann begreife ich: Cathi erzählt die Märchen in der Ich-Form! Grandios!

1999: Ausstellungsberatung im Berliner Institut für Museumskunde mit dem Hausherrn Dr. Graf (Bosch-Beiratsmitglied), dem Chef der Brandenburger Landeszentrale für Politische Bildung, Dr. Künzel (Bosch-Beiratsmitglied), dem Direktor des Bonner Hauses der Deutschen Geschichte, Prof. Schäfer, dem Ausstellungsarchitekten, Prof. Große, und Rüdiger, dem Projektverantwortlichen. Läuft ganz gut, ich denke auch einige brauchbare Vorschläge eingebracht zu haben. Doch kommt da noch reichlich Arbeit und nicht zuletzt auf mich zu. Also setze ich mich, kaum zu Hause, wieder für den Abend an den Computer.

2015: Heute auf der Yamote-Linie, eine Art S-Bahn-Strecke, die im Ring um Tokyos Zentrum fährt, nach Shinjuku, dem modernsten, dem Wolkenkratzer-Stadtteil. Im Rathaus mit dem Fahrstuhl zur Aussichtsetage im 45. Stock. Faszinierender Rundumblick über den Häusermoloch Tokyo. Schade nur, dass der Mount Fuji im Dunst liegt, bestenfalls am Horizont zu erahnen ist. Weiter auf der Yamote-Linie nach Shimbashi. Von hier wollen wir eigentlich zum Tokyoter Fischmarkt, dem größten der Welt, verfransen uns im Häusermeer jedoch völlig – alle Straßenschilder hier nur auf Japanisch – ich drehe meinen Stadtplan um und um, versuche irgendeinen Orientierungspunkt zu finden. Zwecklos. Also hangeln wir uns zurück zum Bahnhof Shimbashi, entdecken dabei aber ein wunderbares Sushi-Restaurant. Da eine Kellnerin unsere Bestellung nicht korrekt auf den Tisch lieferte, erscheint sofort der Restaurantchef, verbeugt sich mehrmals, versichert, dass wir umgehend auch die bestellte Herbstsuppe bekämen und dass wir die nicht bestellten, doch bereits neben unserer großen Sushi-Platte auf unseren Tisch gestellten kleinen Sushi-Platten selbstverständlich alle und ohne Zusatzzahlung verzehren könnten. Das freut uns selbstredend. Doch merken wir alsbald, was für eine Unmenge roher Fisch das ist – aber alles so köstlich, mindestens zwei Dutzend verschiedene Sorten… Keine Frage, wir schaffen das, nicht zuletzt dank einem Fläschchen heißen Sakes.

Vorm abendlichen Bummel durchs Nihonbashi-Viertel – Tokyos Mittelpunkt – eine neue Erfahrung: mein erstes Bad in einer Sitzbadewanne. Gewöhnungsbedürftig, dieser moderne Zuber… Die Nihonbashi-Brücke – heute überstelzt von einer Stadtautobahn und gesäumt von modernistischen Gebäuden, ist die Brücke, an der einst die Tokaido-Handelsstraße in den Süden, nach Kyoto und Osaka begann. Von hier aus wurden alle Entfernungen in Japan gemessen. Wer’s nicht im Reisführer gelesen hat, würde nie drauf kommen. Nur einen Straßenzug weiter die klotzige Bank of Japan, und rechts um die Ecke inmitten Stahl und Beton-Fassaden ein Schrein - wenn auch komplett erneuert, dennoch eine wohltuende Oase. Zum Tagesausklang ein, zwei japanische Yona Yona Pale Ale, lecker, und ein japanischer Nikka-Whiskey darf’s auch mal sein.

2020: Jeanny und ich fahren mal wieder nach Wurzbach – einer der wenigen Orte, die wir seit Jahrzehnten immer wieder besuchen. Übers Wochenende hatte es geregnet, und wir hoffen, dass die Pilze aus dem Waldboden schießen… Am Ende fanden wir aber nur 5 eßbare – dafür entdeckten wir jedoch zauberhafte Lichtungen voller Fliegenpilze in allen Formen und Rottönen, und Exoten wie Erdsterne und Eselsohren.

 

Harnisch

für

Lea Aaliste / Chas Addams / Wystan Hugh Auden / Léon Bourgeois / Timothy Ray Brown / Tony Curtis / Machado de Assis / Andrea del Sarto / Rudolf Christian Karl Diesel / Willem Einthoven / Hans Habe / Cheb Hasni / Brigitte Irrgang / Hans Kaltneker / Keizan Jōkin / Hans Leicht / Wilhelm Leuschner / Roy Lichtenstein / Carson McCullers / Balthasar Neumann /  Baden Powell de Aquino / Zofia Pozńanska / Helmut Gustav Friedrich Qualtinger / Helen Reddy / Ilja Jefimowitsch Repin / Otis Rush / Rudolf „Rudi“ Stephan / Wilhelm von Tyrus / Thure von Uexküll / Phil Woods / Georg Wulf / Frances Amelia Yates / Émile Zola

 

Da waren wir geharnischt:

1911 erklärt Italien dem Osmanische Reich den Krieg / Babi Jar, 1941: deutsche Truppen massakrieren mehr als 33.000 Juden / Marzabotto, 1944: deutsche Truppen massakrieren 770 Zivilisten / Majak, Sowjetunion, 1957 Atom-Unfall, fast 11.000 Menschen müssen umgesiedelt werden / Mato Grosso, Brasilien, 2006: Absturz einer Boeing 737, 154 Tote/ Samoa, 2009: Tsunami, mehr als 100 Menschen kommen ums Leben.

 

 

30. SEPTEMBER

 

Vergleich

mit

Virgil Abloh / Kjell Askildsen / Jurek Becker / Heinz Behrens / Marc Bolan / Truman Capote / Lil Dagover / Eric Establie / Hans Geiger / Jobst Harrich / Udo Jürgens / Ilja Iossilowitsch Kabakow / Deborah Kerr / Justin Heinrich Knecht / Lu Haodong / Wilhelm Kleinsorge / Frankie Lymon / Michael Mästlin / Lewis Milestone / Gyan Mukherjee / Oscar Pettiford / Buddy Rich / Ferdinand von Saar / Carl Schorlemmer / Charles Villiers Staford / Karl Stülpner / Hermann Sudermann / Elie Wiesel / Themistocles Żammit / Zhang Ailing

 

Das verglichen wir gern:

Ingolstadt, 1484: letztes großes Ritterturnier auf deutschen Boden / Nürnberg, 1946: Urteilsverkündung gegen die Hauptkriegsverbrecher / 1949: Ende der Berliner Luftbrücke / 1966 wird Botswana unabhängig von Großbritannien / Schweden, 1972: Inbetriebnahme der Ölandsbron.

 

Ich notierte:

1995: In aller Herrgottsfrühe mit dem Shuttle-Bus zum Flughafen Toronto. Beim Einchecken zum Inlandsflug diverse Nickligkeiten, mein Handgepäck mit den Kameras und Manuskripten sei zu groß und schwer, dürfe nicht mit ins Flugzeug. Andere Burschen hingegen schleppen dreimal so große Gepäckstücke an (Freunde der Stewardessen offenbar). Was soll’s. Der Flug selber dann gut. Die Großen Seen, die Prärie, und nach knapp vier Stunden Flug und zwei Stunden Zeitverschiebung Calgary, unser heutiges Ziel. Die Landschaft kommt mir ein wenig wie in Mittelasien vor, Bischkek, Steppenhügel, viel gelbes Gras und geduckte Bäume und am Horizont die schneebedeckten Berge. Die Stadt selbstredend von anderer Skyline, Wolkenkratzer. Bei der telefonischen Hotelbuchung hatte Günter ausgehandelt, daß wir ein Taxi von Associated Cab als Shuttle benutzen sollen, auf Kosten des Hotels. Aber natürlich stehen Taxis von zig Firmen am Flughafen, doch keines von Associated. Wahrscheinlich gibt’s diese Firma überhaupt nicht oder sie hat einen Wagen oder so.

Einmal angekommen sehen wir dann aber, daß unser Hotel recht günstig liegt. Wir spazieren durch downtown Calgary, staunen über einen großzügigen Garten im dritten Stock eines Einkaufszentrums (Devonian Gardens), schlendern zum Bow River, erreichen ein modernes Freizeit-Centrum, viele Jugendliche, sogar ein Hard-Rock-Café, sogar eine Jazz-Kneipe mit Fassbier (unfaßbar). Irgendwie spürt man hier noch die Weltoffenheit der Olympiade. Als wir ein IMAX-Kino entdecken kaufen wir Karten für die Abendvorstellung, gehen bis dahin in ein englisches Restaurant, alles sehr gut. Schöner Tag in Calgary.

1997: Erst kürzlich hatte ich Kindern in irgendeiner Schule erzählt, dass ich stolz darauf sei, mich zeit meines Lebens nie ernstlich geprügelt zu haben. Und dann sehe ich mich als Elf- oder Zwölfjährigen entsetzt die vom Himmel gefallene Schwalbe betrachten, die ich versehentlich beim Luftgewehrschießen traf, das einzige Tier (von Fliegen oder Mücken abgesehen), das ich tötete bisher. Und nicht des ersten wirkliche Herbsttag dieses Jahres (kalter Nieselregen, klamme Klamotten) wegen spüre ich so etwas wie eine Zäsur, einen Spalt, einen Riss, was weiß ich, nein. Soeben bescheinigte mir eine Notarin (auf eigenen Antrag, versteht sich) einen neuerlichen Nach-Wende-Job: Liquidator, ja: Liquidator!. Keine Frage, das wird mich beschäftigen, einige Zeit.

1999: Am Morgen nach Naumburg, graues, regnerisches Wetter, Eröffnung der Landesliteraturtage. Da stehen dann im Naumburg-Haus Prof. Heinemann als Vertreter des Landesliteraturbüros, Hans-Jürgen Steinmann und Rolf Krohn als Vertreter des Förderkreises der Schriftsteller und Jürgen Jankofsky als Vertreter des Friedrich-Bödecker-Kreises im ansonsten leeren Saal und der Herr Kulturdezernent tritt ans Mikrofon (!) und begrüßt die angereisten Vertreter, deren Namen er jetzt aber gerade nicht parat habe... Richtig gut hingegen läuft danach meine Lesung im Puppentheater, voller Saal, begeisterte Kinder und Lehrerinnen, gutes Gespräche danach mit dem Intendanten Peter Stahl. Am Nachmittag wieder Schreibkurs mit den Goethe-Schülern. Ein erster Text wird heute schon mal fertig. Anschließend nach Magdeburg, Abend-Lesung im eine-welt-Haus für die Deutsch-Bulgarische Gesellschaft. Ich berichte über meine Plovdiv-Besuche, lese eigene und Texte befreundeter bulgarischer Autoren. Kommt auch sehr gut an. Gegen Mitternacht zu Hause.

2000: Da weiterhin schönes Wetter ist, „grillen wir ab“. Mine spielt mit mir dabei Oktoberfest – ich bin ihr Karussell, logisch.

2015: Nach dem Frühstück zum Mount Fuji Massiv. Zuerst mit dem Shinkansen Kodama bis Odawara. Umsteigen in den Lokalzug nach Hakone. Weiter mit der Hakone-Tozan-Bahn bis Gora. Umsteigen in die Standseilbahn nach Sounzan. Hier allerdings ist heute Endstation. Keine Weiterfahrt mit der Drahtseilbahn wegen vulkanischer Aktivitäten möglich. Also kleiner Spaziergang mit Ausblick auf oberhalb rauchende Krater, dampfende Quellen oder Geysire oder dergleichen. Den Fuji, Japans heiligen Berg, bekommen wir jedoch den ganzen Tag nicht zu sehen (wieder nicht) – zuerst fehlen uns nun die Blickachsen, später zieht es schwer zu, undurchdringliche Wolkendecke. Zurück nach Gora, Bummel durch den kleinen Bergort, zurück nach Hakone, Bummel durch dieses Städtchen, das als das St. Moritz Japans gilt, köstliches Nudelsuppen-Essen und Ume-Cider-Trinken, zurück nach Odawara. Hier entdecken wir das alte Castle, sehr schöne Anlage, der Hauptschrein allerdings von Bauplanen verhüllt. Wie passend. Zurück also mit dem Shinkansen nach Tokyo.

2023: Nach langer Zeit mal wieder mit dem Rad um den Walldendorfer See zu Pomians Weinkeller. Ideales Radtour-Wetter: 20°C, Sonne, Windstill. Noch immer serviert Meister Pomian Gose und die beste Sülze mit Bratkartoffeln weit und breit. Und vor Wiedersehensfreude bringt er mir und Jeanny mit seinem Knopfharmonium sogar ein Ständchen.

 

 

Verkrustung

für

Jenny Aloni / Federico Barocci / James Dean / Micheil Dschawachischliwi / Eunice Newton Foote / Mary Ford / Heinrich Gretler / Pentti Haanpää / Hieronymus / Willy Jannasch / Pia Juul / Kanō Sanraku / Walter Kollo / Michel Leiris / Jessye Norman / Hans Abraham Ochs / Lewis Fry Richardson / Charles Francis Richter / Wilhelm Rudolph / Rumi / Filippa Sayn-Wittgenstein / Sidonius / Simone Signoret / Martin Spaanjard / Sabine Thalbach / Michael Tschechow / Gustav Adolph Thiem / Oswald Mathias Ungers / Franz Weisz / Patrick White / Woldemar Winkler

 

Da schlich uns Verkrustung an:

Valle die Blenio, Tessin, 1512: Bergsturz, mehrere hundert Todesopfer / 1867 annektieren die USA die Midway-Inseln / Pennsylvania, 1911: Bruch der Austin-Talsperre, 78 Tote / 1954  wird das erste Atm-U-Boot, die „USS Nautilus“ in Dienst gestellt / Indonesien, 1965: angeblicher Putschversuch in dessen Folge bis zu 500.000 Menschen zu Tode kamen / Latur, Indien, 1993: Erdbeben, 10.000 Tidesopfer / Sumatra, 2009: Erdbeben, mehrere hundert Menschen kommen ums Leben.