JÜRGEN JANKOFSKY

 

 

 

 

 

 

Kalendaricon JJ

JANUAR - MÄRZ

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Welt liegt im Sterben, doch nicht einmal das bemerken wir. Wir bemerken nicht, dass sie allmählich zu einem Sammelsurium von Dingen und Ereignissen wird, zu einem leblosen Raum, in dem wir einsam und verloren herumstolpern, hin- und hergeworfen von Entscheidungen, die nicht wir selbst treffen, Sklaven eines unverständlichen Fatums, verfolgt von dem Gefühl, Spielball der Geschichte oder des Zufalls zu sein.

Olga Tokarczuk

 

 

 

1. JANUAR

 

Vernissage

mit

Thomas Alder / Carl Altmüller / Wiktorija Amelina / Chertek Amyrbitowna Antschimaa-Toka / Manuel José Arce y Fagoaga / Khaled Asaad / Schalom Asch / César Baldaccini / Eduard Bass / Maurice Béjart / Christoph Bernhard / Filipina Brzezińska / Arthur Hugh Clough / Antoinette Deshoulières / Hans von Dohnanyi / Christine Dranzoa / Therese von Droßdik / Maria Edgeworth / Agner Krarup Erlang / Ingeborg Feustel / Edward Morgan „E.M“ Forster / William Fox / Silvestro Ganassi dal Fontego / Jost Glase / Georg Gloger / Edwin Franko Goldman / Daniil Alexandrowitsch Granin / Per Hasselberg / Hida Shintaro / Hong Xiuquan / Iwasa Matabē / Milt Jackson / Pejo Jawarow / Ahmad Jawed / Kinoshita Rigen / Hans Koessler / Aleko Konstadinow / Theodor Kramer / Carole Landis / Enrico Giovanni Battista Nencioni / John O’Donohue / Joseph Opatoshu / Joe Orton / Ouida / Sándor Petöfi / Qi Baishi / Miklós Radnai / Frieda Ritzerow / Norman Rosten / Waleri Michailowitsch Sablin / Jerome David „J.D.“ Salinger / Ahmed Sefrioui / Ousmane Sembène / Alfred Stieglitz / Sugihara Chiune / Thomas von Aquin / Christian Thomasius / Ernest Tidyman / Vernon Jay „Verne“ Troyer / Viktor Ullmann / Carry van Bruggen / Lodewijk van Mierop / Hippoliet Jan Van Peene / Ack van Rooyen / Hans Wachenhusen / Gustav Weißkopf / Claus Ulrich „C.U.“ Wiesner / Gustaw Zieliński / Huldrych Zwingli

 

Erstaunliches können wir auf Bildern dieses Tages entdecken:

Rom, 153 v. Chr., das Jahr beginnt nicht mehr am 1. März, sondern am 1. Januar / 1502, ein portugiesischer Seefahrer hält die Guanabara-Bucht für die Mündung eines Flusses, den er Januarfluss tauft: Rio de Janeiro / Schweinfurt, 1652, wird die Leopoldina gegründet / 1801 tritt der „Act of Union“ in Kraft, fortan existiert das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland, The United Kingdom / 1804 erklärt sich Haiti für unabhängig von Frankreich / Kaub, 1814, Blüchers Heer überquert auf dem Weg nach Waterloo den Rhein / 1871 gilt auch in Österreich-Ungarn nun das Metrische System / 1903 wird in Deutschland, Österreich-Ungarn und der Schweiz eine neue Rechtschreibung eingeführt / 1912 ruft Sun Yat-sen die Republik China aus / 1920 nimmt die deutsche Reichspost erstmals Päckchen zum Versand an / 1938 gilt nunmehr in Deutschland das Rechtsfahrgebot / Washington D.C., 1942, 26 Staaten der Anti-Hitler-Koalition unterzeichnen die Deklaration der Vereinten Nationen / 1948: das Welthandelsabkommen tritt in Kraft / 1958 Unterzeichnung der Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft / 1960: Kamerun wird unabhängig von Frankreich (Zusammenschluss mit British-Kamerun im Jahr darauf) / 1993: aus der Tschechoslowakei werden die Staaten Slowakei und Tschechien / 2002 wird der Euro eingeführt.

 

Ich notierte

1980: Vorsatz fürs Neue: konsequenter für meine Ziele eintreten. Und Sport treiben, immer mal Schwimmen gehen. Verflucht, ich werde fett (nachdem ich den Vorsatz des letzten Jahreswechsels – das Rauchen aufzugeben – tatsächlich realisiert hatte!).

1982: Also – auf ein Neues! Es herrscht extremer Fön, 10° plus, vor wenigen Tagen waren es noch 18° Minus! Das ist kaum zu verkraften. Noch erträglich natürlich meine diffusen Aussichten für dieses Jahr. Werde ich zur Reserve müssen? Werde ich als Schriftsteller Fuß fassen können? Oder mal wieder irgendwelchen Gesetzen, Statuten zum Opfer fallen? Und nicht zuletzt: die Welt – was wird aus ihr werden? Wird sie im positiven beeinflussbar? Wird sie beschreibbar bleiben? Wie sehr muss die Kunst dem Friedenskampf Tribut zollen, da offenbar allein die Ökonomie über Leben und Tod entscheidet? Oh ja, es ist Fön.

2000: Genau vor 100 Jahren stand in der „Chicago Tribune“: „An der Schwelle des 20. Jahrhunderts sieht es so aus, als könne es das Jahrhunderts der Humanität und der Brüderschaft aller Menschen werden.“ An der Schwelle des 21. Jahrhunderts sieht es Weißgott nicht so aus, aber vielleicht trifft mal wieder das Gegenteil zu? Wäre wünschenswert. Absolut.

2010: Scheint so, als würden die Teile, die ich mir notwendigerweise zu einem Ganzen zusammen zu puzzeln suche, alljährlich kleiner. Nach negativem histologischem Befund klingt Auf ein Neues jedoch nicht mehr nur fatal.

2011: Klar beginnt’s wieder mit ’nem Rockkonzert, im Fernsehen nun natürlich. Und da die Bandscheibe zwickt, verkabele ich mich sicherheitshalber mit Reizstromdioden, werfe ’ne Schmerztablette ein und öffne ’ne Flasche Waldmeisterbrause. Auf ein Neues also!

2015: In Fliesen-, Möbel- und Parkettmaserungen, in Decken- wie Wandstrukturen, in Sofakissen, Bettbezügen, Stuhllehnen, in Gardinen-, Teppich- und Tapetenmustern, in Steckdosen, Türschlössern, Lampenschirmen, in Tellern und Tassen, in Aktenablagen wie Tastaturen formen sich mir seit kurzem Gesichter: ja, Gesichter von Menschen, die ich nie sah, mir jedoch seltsam vertraut erscheinen, Gesichter von Menschen, von denen ich ahne, dass sie mir schon begegneten, aber nicht mehr wann, wie und wo, geschweige denn warum, ich also nicht mehr weiß, wer sie sind, sowie Gesichter jüngst Verstorbener: de Lucia, Marquez, Cocker, Jack Bruce… Im Gegensatz zu allgegenwärtigen Bildern grassierenden Weltwahnsinns, gelingt es mir, wenn auch verwundert, hiervor noch die Augen zu verschließen.

2021: Vor etwa 30 Jahren sagte ich in einer Diskussion nach einer Lesung – eingeladen als exotischer „Ost-Autor“ - irgendwo in westlichen Landen, dass ich mich des Gefühls nicht erwehren könne, in meiner kleinen Lebenszeit noch einmal eine Wende zu erleben. Vielleicht fürchtete ich damals im Überschwang durch neu gewonnene Möglichkeiten und Ziele, dass ein Atomschlag oder eine Umweltkatastrophe oder eine Weltwirtschaftkrise alle Hoffnungen zunichte machen könnte. Eine Pandemie jedoch wäre mir beileibe nicht in den Sinn gekommen. War ich blind? Waren wir blind? Rückblickend auf das erste „Corona-Jahr“ kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass selbst diese Pandemie – die als solche bald besiegt sein möge – die Welt nicht zur Besinnung bringen wird. Diese Pandemie noch nicht. Doch wie bekannt, stirbt die Hoffnung zuletzt.

2023: Um 0.00 Uhr zeigte das Thermometer 15 Grad an – plus! Und für fast eine dreiviertel Stunde glaubten wir, der Bürgerkrieg sei ausgebrochen. Unglaublich was hier in Luft geschossen, abgefackelt und geböllert wurde. Mit dem verballerten Geld hätte man in Leuna wohl ein Jahr lang einen Kindergarten betreiben oder ein (Kultur)Programm für Jugendliche installieren können. Und das in Zeiten, da das Jammern über beängstigend steigende Energiepreise und die Inflation allgegenwärtig ist. Absurd.

2024: Ich starte ins Neue mit Jimis Monterey-Konzert. Das spielte er am Vorabend meines 14. Geburtstages, meingott. Vergleichbares haben mir heutige Rocker nicht mehr zu bieten. Wohin sind all die Innovationen? Die Träume? Der Mut? All die Hoffnungen auf eine bessere Welt?

 

Finissage

für

Gustl Angstmann / Ivar Axel Henrik Arosenius / Johann Christian Bach / Hjalmar Fredrik Bergman / Marianne Bruns / Maurice Chevalier / Johann Friedrich von Cronegk / José Anastácio da Cunha / C. W. Damodaram Pillai / Joachim du Bellay / Fulgentius von Ruspe / Jeff Golub / Roland Hayes / Heinrich Rudolph Hertz / Grace Hopper / Paul Hubschmid / Martin Heinrich Klaproth / Frank Köllges / Alexis Korner / Johann Kravogl / Johann Ludwig Krebs / Ogino Kyūsaku / Patti Page / Jenö Rejtö / Arhur Ruppin / Werner Schwab / Johannes Mario Simmel / Augustin Souchy / Johannes Stabius / Townes Van Zandt / Heinrich Theodor Wehle / Jakob Wassermann / Edward Henry Weston / Johann Ernst Basilis Wiedeburg / Anna Wimschneider / Hiram „Hank“ King Williams

 

Jene Bilder dieses Tages wollen wir besser nicht mehr sehen:

1152 tobten in Merseburg „unerhörte grausame Sturm-Winde, welche großen schaden getahn“ / 1966 putscht sich Bokassa in der Zentralafrikanischen Republik an die Macht / 1968 stürzt eine Boeing 747 nach dem Start in Bombay ins Meer, 213 Tote / 1995 beweist eine Aufzeichnung auf der norwegischen Ölplattform Draupner-E erstmals eindeutig die Existenz von Monsterwellen /  2024: Auflösung der Republik Bergkarabach / 2024: Erdbeben in der japanischen Provinz Ishikawa, mehnr als 110 Tote.

 

 

2. JANUAR

 

Ouvertüre

mit

Raúl Gustavo Aguierre / Isaac Asimov / Mili Alexejewitsch Balakirew / Ernst Heinrich Barlach / Folke Bernadotte Graf von Wisborg / Wilhelm Karl Eduard Bölsche / František Xaver Brixi / Ricciotto Canudo / Piero di Cosimo / Philip Morin Freneau / Wilhelm „Willi“ Graf / Renato Guttuso / Albert Hoefler / Josef Kainz / Barış Manço / Anna Langfus / Auguste Lechner / Mário-Henrique Leiria / Constance Mary Lloyd / Barış Manço / Augustus Matthiessen / Johannes „Hans“ Mertens / Oscar Devereaux Micheaux / Tomasz Napoleon Nidecki / On Kawara / Heikki Paasonen / Barbara Pentland / Wassili Grogorjewitsch Perow / Christian Daniel Rauch / Paul Revere / Dieter Rex / Mendele Moicher Sforim / Carl-Heinrich Rudolf Wilhelm von Stülpnagel / Kaspar Unternährer / Michael Kemp Tippett / Hermann tom Ring / Nikolaus Welter / Dsiga Wertow

 

Das klang für uns hoffnungsvoll an diesem Tag:

1492 kapituliert der letzte maurische Herrscher von Granada, Ende der Reconquista auf der iberischen Halbinsel / Paris, 1635, die Académie française wird zur staatlichen Institution erhoben/ Hamburg, 1678, Eröffnung der Gänseoper / Wien, 1776 Abschaffung der Folter in Österreich / 1778 erscheint Knigges „Über den Umgang mit Menschen“ / 1907 wird Frankreich laizistisch / 1909 führt die Deutsche Reichspost den bargeldlosen Verkehr mittels Schecks ein / Flensburg, 1958, die „Verkehrssünder-Kartei“ wird in Betrieb genommen / 1959 startet die sowjetische Raumsonde Lunik 1 in Richtung Mond / 2004 fängt die amerikanische Raumsonde Stardust zum ersten Mal Kometenstaub im All ein.

 

Ich notierte

1974: Nachts wollte es wohl schneien. Der Wind heulte schaurig ums Haus. Im Bett war es wohlig warm, doch ich musste raus, brummend, unmutig rein in die Sachen, denn heute soll ja mein erster Arbeitstag in den Leunawerken sein. Dreiviertelsieben in der Kaderabteilung. Der Weg dorthin nervte, es hatte zwar nicht geschneit, dafür aber gehagelt, gegraupelt und jeder Schritt knirschte, als brächte ich eine Riesenmaschinerie in Gang.

1981: Nicht so einfach, das Saufen zu reduzieren, wenn das nicht so recht den gesellschaftliche Gepflogenheiten entspricht. Aber ich glaube, der Versuch ist es alle Mal wert, ich fühle mich wohl, habe auch gut geschlafen und nicht zuletzt: immer mal wieder den eigenen Schweinehund überwunden.

1999: Gegen Mitternacht ruft Günter aus London, Ontario an, wünscht a Happy New Year. Gleichfalls! Seltsam, obwohl wir mittlerweile bereits zweimal bei ihm zu Gast waren, erstaunt es mich (fast zehn Jahre nach der Wende) noch immer „mit Kanada“ zu telefonieren.

2022: Ich beginne Paul McCartneys „Lyrics“ zu lesen, höre dazu selbstredend Beatles. Was für ein großartiger, visionärer Aufbruch! Das schmerzt.

2023: In der „Mitteldeutschen Zeitung“ heute eine Rezension des neuen Bandes meiner „Merseburger Persönlichkeiten“. Und selbstredend erstaunt mich nicht, dass die Banausen der halleschen Kulturredaktion, die mir seit Jahren immer und immer wieder zu schaden versuchen, die nicht zuletzt bei meinem Rausschmiss vor fünf Jahren eine üble Rolle spielten, das Buch verreißen: Aber die Methode ist interessant: Agthe führt große Merseburger Persönlichkeiten an, Thietmar, Rudolf von Schwaben etc., die ich in diesem Band nicht porträtierte – weiß aber nicht, will sagen: leugnet, dass diese alle im ersten Persönlichkeiten-Buch (dessen erste Fassung bereits vor 30 Jahren und die Überarnbeitung vor 10 Jahren erschien) von mir gewürdigt wurden. Aber nein, ich lasse mich nicht provozieren, hoffe, dass Leser dieses Spielchen durchschauen.

 

Coda

für

Nathaniel „Nat“ Adderley / Kristian Anderson / George Biddell Airy / Ignaz von Beecke / John Berger / Margarethe von Bülow / Randy California / Inger Christensen / Josef Krasoslav Chlemenský / Fausto Coppi / Jacopo da Pontormo / Veronika Fitz / / Erroll Louis Garner / Karl Goldmark / Edmond Jabès Vicente Huidobro / Emil Jannings / Thomas Kurzhals / Joseph Kutter / August Friedrich Ernst Langbein / Johann Caspar Lavater / Richard Leakey / Gerda Lerner / Joseph „Kaiser“ Marshall / Alexandros Papadiamantis / Marek Pivovar / Larry „Rhino“ Reinhardt / Dirk Sager / Kurt Seligmann / Domenico Zipoli

 

Davon möchten wir besser nicht mehr hören:

1820 wird in Preußen das Turnen als staatsgefährdende verboten / Galicien, 1921, Untergang des Dampfschiffes „Santa Isabel“, 213 Menschen kommen ums Leben / 1945 Nürnberg wird durch einen alliierten Luftangriff weitgehend zerstört / Glasgow, 1971, bei einer Massenpanik im Ibrox Stadium sterben 66 Fußballfans.

 

 

3. JANUAR

 

Prolog

mit

Fritz Anneke / Carl Arp / Dorothy Arzner / Elsa Asenijeff / Romanus Bange / Moritz Gustav Bauschke / Federico Borrell García / Bartolomeo Bosco / Siegfried Buback / Carl Gustav Carus / Marcus Tullius Cicero / Valentin de Boulogne / Konrad Alexander Friedrich Duden / Johann Georg Fellinger / Richard Franck / André Franquin / Hugo Chanoch Fuchs / Ueli Gegenschatz / Meinhard von Gerkan / Heinrich Wilhelm von Gerstenberg / Sergio Hualpa / James Harrington / Maurice Jacques / Joseph Eugène Jaubert / Douglas William Jerrold / Kurt Johnen / Max Kaempfert / Iwan Knorr / Rudolf Koppitz / Jacques-Nicolas Lemmens / Sergio Leone / August Macke / George Henry Martin / Reinhold Massag / Hans-Rüdiger Merten / Pietro Metastasio / Lucretia Mott / Pola Negri / Robert Neumann / Herbert Horatio „Herbie“ Nichols / Morten Nielsen / Wilhelm Pieck / Felka Platek / Heinrich Gustav Reichenbach / Henry Handel Richardson / Michel Rodange / Friedrich Schneider / Wilhelm Schumacher / Johann Abraham Sixt / Gerhard Steinig / John Ronald Reuel „J.R.R.“ Tolkien / Maxie Wander / Hermann von Weinsberg/ Georg Wrba / Ida Wüst / Gustav Philipp Zwinger

 

So lässt sich uns dieser Tag eröffnen:

1834 erscheint erstmals das „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ / 1851 weist Léon Foucoult mit seinem Pendel die Erdrotation nach / 1871 erhält Harry Bradley das Patent zur Herstellung von Margarine / 1959 wird Alaska 49. Bundesstaat der USA / 1983 stellt Apple den ersten Bürocomputer mit Maus vor / 1987 Aretha Franklin wird als erste Frau in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen / 2009 Start der Bitcoin-Währung.

 

Ich notierte

1980: Nach dem Frühstück zu  unserem Hausarzt. Der Monat Januar ist nun einmal der „dünne“ Monat für Berufsmusiker. So kommt mal wieder die Berufskrankheit der Bassisten zum Vorschein: Sehnenscheidenentzündung.

1999: Am Abend setzt heftiger Regen ein. Ich arbeite noch ein wenig an „Ortungen“, meinem Versuch, Reise-, nein ortsgebundene Erfahrungen der letzten 25 Jahre festzuhalten. Absprachen mit einem Verleger gibt es immerhin seit einiger Zeit, mal sehen, ob er sein Wort hält und dieses Buch in diesem Jahr (gerade in diesem) erscheinen kann. Wäre nicht schlecht.

2000: Erster Schaden des neuen Jahrtausends: unser Videorecorder gibt den Geist auf.

2019: Als Cortez Mexico betrat, glaubte er, die Azteken würden ihn und seine Mannen für Götter halten, da sie ständig beräuchert wurden. Tatsächlich konnten die Einheimischen aber nicht ertragen, wie die Eroberer stanken.

2023: Kann man Gicht im Kopf haben? Im rechten Hinterkopf spüre ich dumpf eine Art Druckstelle, und wenn ich danach zu tasten versuche (oder mir die Haare kämme), glüht ein Schmerz auf wie ich ihn von Gichtzehen, - knöcheln oder -knien her kenne. Andererseits zuckt aus dem Hals (den Mandeln?) ab und an ein Schmerz gen Kopf auf. Merkwürdig. Sollte mich das beunruhigen?

 

Epilog

für

Joy Adamson / Mu’ādh Safi Yūsif al-Kasāsba / Rose Ausländer / Ernst Balzli / Alfred Carl Blancke / Paul Bley / Tommy Bryant / Claude Bourgelat / Lillian Crombie / Henri-Pierre Danloux / Giuseppe dell’Orefice / William Erwin Eisner / Philipp Jason „Phil“ Everly / Baldassare Galuppi /  Luigi Stefano Giarda / Luca Giordano / Dmitri Wassiljewitsch Grigorowitsch / Stefan Großmann / Elmar Gunsch / Ernst Hardt / Jaroslav Hašek / Jeremia Horrocks / Pierre Larousse / Renate Lasker-Harpprecht / Frank Belknap Long / Alfred Margul-Sperber / Josip Antoni Martí / Gerry Marsden / Frans Masereel / Mir ‚Ali Schir Nawā’i / Robert Neumann / Charles-Marie-Xavier Panneton / Franz Riepenhausen / Tadeáš Salva / Victor David Sjöström / Eva Strittmatter / Emmy Surén / Robert Thomas / Richard Weiner / Monique Wittig / Jiří Wolker

 

Damit sollten wir schließen für diesen Tag:

1117, Verona, Erdbeben, die Arena wird schwer beschädigt / 1521 exkommuniziert Papst Leo X. Martin Luther / 1934, Kohlenstaubexplosion in einer Zeche im böhmischen Ossegg, 142 Bergleute sterben / 1962 exkommuniziert Papst Johannes XXIII. Fidel Castro / 1962: eine ägyptische Boeing 737 stürzt ins Rote Meer, alle 148 Passagiere kommen ums Leben. / Ciudad Juarez, Mexiko, 2023: beim Versuch einer Gefangenenbefreiung kommen 14 Menschen ums Leben / Kerman, Iran, 2024: zwei Terrroranschläge, 95 Tote. 

 


4. JANUAR

 

Vorspann

mit

Luigi Abbiate / Johann Friedrich Agricola / Avedis Aharonian / Angela von Foligno / John Howard Appleton / Matilde Bajer / Gerdt von Bassewitz / Ernst Behm / Victor Blüthgen / James Bond / Louis Braille / Arik Brauer / Grace Bumbry / Ramon Casas i Carbó / Émile Cohl / Eberhard Cohrs / Arthur Conley / Paul d’Abrest / Casimiro de Abreu / Louis Bernard Guyton de Morveau / Justin Townes Earle / Amitai Etzioni / Jacob Ludwig Karl Grimm / Jossi Harel / Marsden Hartley / Kira Hlodan / Marta Hoepffner / Carl Humann / Helmut Jahn / Hellmuth Karasek / Wilhelm Lehmbruck / André Masson / Balthasar Ferdinand Moll / Noro Osvaldo Morales / Isaac Newton / Giovanni Battista Pergolesi / Amando Rodrigues de Sá / Nikolai Andrejewitsch Roslawez / Jewdokija Petrowna Rostoptschina / Edmund Rumpler / Julian Sands / Carlos Saura / Witalij Schatkowskij / Egon Schultz / Charles Sherwood Stratton / Josef Suk / Wat Tyler / Vanity / Paul Virilio / Debora Vogel /Frank Wess / Charles Arthur Wheeler

 

Da kommt für uns etwas in Bewegung:

1254 erhält Wilhelm von Rubruk als einer der ersten Eurpäer Audienz beim mongolischen Khan / 1854 wird die McDonaldinsel entdeckt / 1880: Erstbesteigung des Chimbarazo / 1896 tritt Utah in die USA ein / 1936 veröffentlicht „The Billboard“ erstmals eine Hitparade / 1947 erscheint erstmals „Der Spiegel“ / 1948 wird Burma unabhängig von Großbritannien / 1961 kommt der letzte Band des „Deutschen Wörterbuchs“ auf den Markt, dass die Brüder Grimm 123 Jahre zuvor begonnen hatten / 2010, Dubai, das Burj Khalifa, wird als höchstes Gebäude der Welt eingeweiht.

 

Ich notierte

1999: Nach dem Kaffeetrinken mit Mine in die Schwimmhalle - gute Vorsätze fürs neue Jahr und so... Stolz kurvt sie mit ihrem neuen Stützräder-Fahrrad vor uns her. Habe ich wirklich schon eine dreieinhalbjährige Enkelin? Mein Gott...

2001: Keinen Schritt weiter! oder ich stürzte hinter dem Absperrzaun geradenwegs in den Abgrund Steilküste. So abwegig scheint das nicht, sinnierte ich doch silvesters erst, einen Teil meinerselbst getötet zu haben, um überlebensfähig zu bleiben in diesen Zeiten (neues Jahrtausend und so). Was aber ist das für ein Leben, wenn du dich halbtot fühlst... Rechts ab jedoch führt ein Pfad zur Jaromirsburg: Svantevit, ihrem viergesichtigen Gott, opferten die Ranen einst hier. Vier Gesichter, ungeahnte Möglichkeiten! Keine Frage, mir dürfte das eine (oder andere) Gesicht in den Läuften meiner Alltage verlorengegangen sein. Immerhin schimmern mir in den eisigen Seewinden urplötzlich Gesichte auf. Und wer weiß, vielleicht wächst mir sogar ein neues Gesicht zu irgendwann? abgöttisch.

2022: Nun ist Corona sogar in der Antarktis ausgebrochen, und in Frankreich wurde eine neue Mutante entdeckt…

 

Abspann

für

Josef Achhammer / Vincent Adler / Joan Delano Aiken / Keith Baxter / Henri Bergson / Mohamed Bouazizi / Abdul Ghafur Breshna / Albert Camus / Babak Chorramdin / Gabriel Cramer / Paul Laurence Dunbar Chambers jr. / Pino Daniele / Léon Noël Delagrange / Christina Drechsler / Charles Eisen / Thomas Stearns „T.S.“ Eliot / Fritz Julius / Elsas / Ada Falcón / Johan Ferrier / Anselm Feuerbach / Peter Frankenfeld / Franz Xaver Gabelsberger / Benito Peréz Galdós / Hida Shintaro / Adolph Hlolst / Hadayatullah Hübsch / Christopher Isherwood / Johann Georg Jacobi / Günther Jacoby / Diether Krebs / Carlo Levi / Bengt Lidner / Charlotte Lennox / Carlo Levi / Philip Parris „Phil“ Lynott / Maja Maranow / Eduardo Mata / Moses Mendelssohn / Rosi Mittermaier / Kaj Munk / John O’Donohue / Christan Oliver / Henning Pawel / Constant Pemeke / Benito Pérez Galdós / Gerry Rafferty / Jermo Ribbers / Dietmar Rother / Erwin Rudolf Josef Alexander Schrödinger / Tobias Stimmer / Ray Thomas / Lourdes van Dúnem / Martinus Justinus Godefriedus Veltman / Ramón Vinay / Konrad Weiß

 

Danach wird uns schwarz:

1641 bricht auf den Philippinen der Vulkan Parker aus / 1970 sterben bei einem Erdbeben in Yunnan 10.000 Menschen / 1990 fordert ein Eisenbahnunglück in Pakistan 350 Opfer.

 


5. JANUAR

 

Symposium

mit

Konrad Hermann Joseph Adenauer / Alvin Ailey / Gottlieb Siegfried Bayer / Daniel Beckher d.J. / Gérard Berliner / Zulfikar Ali Bhutto / Abraham Kaau Boerhaave / Fritze Bollmann / Klaus Hans Martin Bonhoeffer / Klaus Buhé / Elizabeth Cotten / Nicolas de Staël / Friedrich Reinhold Dürrenmatt / Umberto Eco / Silvia Eisenstein / Berkin Elvan / Joseph Erlanger / Caspar Ett / Rudolf Eucken / Eusébio / Richard Faltin / Emil Frommel / Heinz Fülfe / Pablo Gargallo / Gustaf af Geijerstam / King Camp Gillette / Anne-Louis Girodet-Trioson / Juan Goytisolo / Monty Jacobs / Jo Ann Kelly / Kobayashi Issa / Will Lammert / Paula Ludwig / Theodor Karl Mackeben / Vera Molnár / Constanze Mozart / Kyoshi Miki / Emil Wilhelm Samuel Palleske / Maurizio Pollini / Vladimir Pozner / Joost Schmidt / Karl-Aage Schwartzkopf / Cees See / Xaõ Seffcheque / Abraham Stavsky / Raymond Georges Yves Tanguy / Otto Ubbelohe / Edmé Félix Alfred Vulpian / Fred Wander / Jane Wyman / Yogananda

 

Über diesen Tag können wir einiges Erfreuliche zu berichten:

Paris, 1463, das Todesurteil gegen Françoise Villon wird in zehn Jahre Verbannung gemildert / Paris, 1665, die erste wissenschaftliche Fachzeitschrift erscheint, das „Journal des sçavanes“ / 1769 erhält James Watt das Patent auf seine Dampfmaschine / 1856 erhält Ferdinand de Lesseps die Genehmigung zum Bau des Suez-Kanals / Paris, 1875: Eröffnung der Opéra Garnier / Berlin, 1902, Uraufführung Georg Büchners, 67 Jahre zuvor geschriebenen Stcükles „Dantons Tod“ /  :San Francisco, 1933, Baubeginn für die Golden Gate Bridge / 1951, Gründung der Deutschen Olympischen Gesellschaft / 1968 Alexander Dubček wird tschechoslowakischer Parteichef, der Prager Frühling zeichnet sich ab.

 

Ich notierte

1983: Heute erfahre ich, dass ich mit halber Planstelle beim Bezirksliteraturzentrum eingestellt bin. Mal sehen, was das wird. Eine konkrete Vorstellung habe ich noch nicht. Nun ja, bis auf die ganze Arbeit mit schreibenden Schülern natürlich, für die ich eh schon verantwortlich bin.

1988: Immer wieder bedrängen mich „liebe Verbandskollegen“, das ich was für sie tue: der eine will einen neuen Trabi (ich fahre einen uralten), ein anderer ein Telefon (ich habe Zuhause auch keins), ein Dritter, dass für ihn für eine Kuba-Reise bürge (davon könnte ich nur träumen)… Warum nur versucht ein jeder sich die saftigste, ihm bekömmlichste Scheibe aus mir herauszusäbeln? Was bleibt, wenn’s so weitergeht, von mir? Oder: welche Konsequenzen müsste ich…? Eigentlich wollte ich im neuen Jahr doch nur noch nach vorn sehen, nicht mehr zur Seite ausweichen…

2008: Tunis. Eintauchen in die Medina, in die Buntheit der Souks, labyrinthisches Gedränge. Händler locken auf Italienisch, Spanisch, Französisch, Arabisch sogar – mich, Schwarzbärtigen. Woher sollten sie auch wissen, dass ich noch dinarlos bin.

Catharge. Durch weitläufige Villenviertel hügelan, schweißtreibend zu den Resten, den kläglichen, des Amphitheaters. Zur Einstimmung zitiere ich den hiesigen Kollegen Brechts Text von den drei punischen Kriegen. Den kannten sie noch nicht.

Sidi Bou Said. Tee mit Pinienkernen, Kaffee mit Rosenwasser, dann einen Magot. Und dieses Blau, lichtes, mediterranes Blau: Türen, Bänke, Himmel, Meer. Keine Frage, dass schon Macke und Klee hier trunken wurden.

2016: Täglich wird’s absurder in die Welt, chaotischer, undurchschaubarer. Was läuft hier? Vielleicht ein Kampf zwischen zwei Systemen, die eigentlich aufs Gleiche zielen: das Individuum auszulöschen? Weil das Individuum in dieser Welt immer weniger zurecht kommt, da es immer weniger durchschaut, was läuft? Und sich so nach familiärer Geborgenheit sehnt? Die rückwärtsgerichteten Modelle, der Islam vor allem, streben wohl die klassische Großfamilie, streng hierarchisch, patriarchalisch geordnet, an. Die zukunftsgerichteten Sun-Valley-Geister sehen als Grundstruktur die totale Vernetzung eines jeden mit jedem in dieser Welt an. Der gläserne Mensch, Freund eines jeden anderen? Beides stößt mich nicht nur ab, sondern macht mir Angst. Was fehlt all den treibenden Mitläufern eigentlich? Ich genüge mir selbst (noch zumindest).

 

Requiem

für

Helena Este Adler / Franz Bartzsch / Juan Benet / Sonny Bono / Thomas Bopp / Max Born / Pierre Boulez / Eduardo Brito / Thomas Bopp / Giovanni Antonio Burrini / Buzz Busby / Giulio Clovio / Franz Theodor Csokor / Charles de Valois / Georg Christoph Eimmart / Eusébio / Mal Evans / Francesco Francia / André Franquin / Karl Raimund Hofmeier / Kobayashi Issa / Amy Johnson-Mollison /Rudolf Koller / Julius Leber / Antonio Lotti / Felix Manz / Simon Marius / Marko Marulić / Charles Mingus / Mistinguett / Ferdinando Orlandi / Michel Petrucciani / Víctor Piñero / Andrei Platonowitsch Platonow / Jenny Wyse Power / Anton Philipp Reclam / Jacob Christian Schäffer /  Ernest Henry Shackleton / Wilhelm Steinhausen /Georgi Wassiljewitsch Swiridow /  Sylvie / George Francis Train / Bernhard Wicki / Vero Copner Wynne-Edwards

 

Und an diesem Tag verklingt uns so manches:

1447 fällt Karl der Kühne von Burgund in der Schlacht bei Nancy, fünf Jahre später wird Burgund zwischen Frankreich und Habsburg aufgeteilt / Zürich, 1527, Ersäufung des Täufers Felix Manz, der fortan als Märtyrer gilt / Shetlands, 1993, Ölkatastrophe durch den gestrandeten Tanker „Braer“.

 

 

6. JANUAR

 

Lesung

mit

Martin Agricola / Samuel Alexander / Syd Barrett / Stella Benson / Jakob Bernoulli / Christo Botew / Max Bruch / Klara Caro / Mario Rodríguez Cobos / Marija Antonowna Corsini / Sandy Denny / Edgar Lawrence „E.L.“ Doctorow / Gustave Doré / Josep Lluís Facerías / Pierre Octave Ferroud / Alwyn Howard Gentry / Khalil Gibran / Günter Görlich / Getrud von Helfta /Ion Heliade-Rădulescu / Helius Eobanus Hessus / Victor Horta / Eugen von Kahler / Andrei Andrejwitsch Koslow / James Joseph McCarthy / Van McCoy / Huoy Meas / Jacques Étienne Montgolfier / Weli Muhadow / Henry Pacholski / Richard Perls / Caspar Peucer / Teobaldo Power y Lugo-Viña / Baldassare Peruzzi / Günter Rössler / Eric Frank Russell / Carl August Sandburg / Xaver Scharwenka / Ferdinand Baptista von Schill / Heinrich Schliemann / Siegmar von Schultze-Galléra / Augustin Schurff / Walter Sedlmayr / Alexander Nikolajewitsch Skrjabin / Osvaldo Soriano / Joachim Specht / Benedict Wallet Vilakazi / Sophie Eleonore Walther / Loretta Young / Malcolm Young / Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausen

 

Über diesen Tag können wir gern vorlesen:

Köln, 1389, Einweihung der Universität / 1863: erhält James L. Pimpton das Patent für den von ihm erfundenen Rollschuh / Rom, 1907: Maria Montessori eröffnet ihre erste Schule / 1912 wird New Mexico 47. Bundesstatt der USA / 1926 fusionieren der Deutsche Areo Lloyd und Junkers Luftverkehr zur Lufthansa.

 

Ich notierte:

1978: Heute die letzte Schnapszahl auf meinem „Armee-Kalender“ – noch 111 Tage bis zur Entlassung  – Prost“

1988: Verletzungen ebenso wenig wie Sehnsüchte verdrängen, sondern ausschreiben!

Und 1989: Typische Januarstimmung: die Last der noch folgenden Tage dieses Jahres drückt mich. Oder ist es das unverändert herbstliche, trübe Wetter? Oder beides? Entschlussfreudig stimmt mich das alles aber gewiss nicht.

2008: Mahdia- Alte Hauptstadt der Fatamiden, sonnige Gassen, lauschige Plätze, Raum für ’nen Plausch. Ja, alsbald bieten mir meine arabischen Begleiter schon Witze an, politische selbstredend. Auf einmal brüllts jedoch blechern auf uns hernieder: Allah akbar! Da hörts auf mit dem Spaß.

2021: Gestern wurde der Corona-Lockdown vorerst bis 31. Januar verlängert - und verschärft: nun darf man sich nur noch im Umkreis von 15 km um seinen Wohnsitz bewegen und maximal eine andere Person zugleich treffen…

 

Gedenkstunde

für

Abo von Tiflis / Heinz Alt / Carl Arp / Ron Asheton / Jorge  Barbosa/  Alexander Romanowitsch Beljajew / Berengar von Tours / Peter Bogdanowitsch / Louis Braille / Louise Bryant / Georg Cantor / Chikamatsu Monzaemon / Heinrich Dathe / Georg Dimentstein / Virgílio dos Anjos / Victor Lonzo Fleming / Ala Gertner / Dizzy Gillespie / Uzun Hasan / Lars Hertervig / Franz Hessel / Jizchak Arjei Leo Hirsch / Sneaky Pete Kleinow / Jeanne Marni / Gregor Mendel / Tina Modotti / Ntsu Mokhehle / Rudolf Chametowitsch Nurejew / Ricardo Piglia / Sidney Poitier / George Robert Price / Andreas Raselius / Lou Rawls / Rózia Robota / Marcelle Savageot / Ahmed Adnan Saygun / Horst Seemann / David Alfaro Siqueiros / Charlotte von Stein / Regina Ullmann / Ester Wajcblum / Otto Franz „O.F.” Weidling / Nima Youschidsch

 

Darüber denken wir an diesem Tag wieder und wieder nach:

Merseburg, 1432: „hat man 3 Sonnen neben einander 3 Stunden lang gesehen, u. als dieselben untergegangen, hat man auff den Schnee kleine Würmlein wie Ameisen liegend gefunden.“ / 1993 wird in Sachsen-Anhalt, dem Kernland der Reformation, erstmals der Drei-Königs-Tag als gesetzlicher Feiertag begangen / 2018 kollidiert der Öltanker „Sanchi“ mit einem Massengutfrachter und sinkt wenige Tage später, alle 32 Besatzungsmitgliedre kommen ums Leben / Washington D.C., 2021, Anhänger Donald Trumps erstürmen das Kapitol.

 


7. JANUAR

 

Dialog

mit

Chas Addams / Yasmin Ahmad / Lorenzo Bartolini / Eliezer Ben-Jehuda / Albert Alick „Al“ Bowlly / Titus Charles Constantin / Jean Charles de Menezes / Wolodymir Terentijowytsch Denyssenko / August Dickmann / Shulamith Firestone / Jack D. Forbes / Juan Gabriel / Christian Garve / Peter „Cäsar” Gläser / Albrecht Haushofer / Adolph Holst / William Martin Yeates Hurlstone / Franciscus Gerardus Petrus „Frans“ Kellendonk / Irrfan Khan / Adam Krieger / Leopold Eduard Samuel Magnus / Mori Mari / John Charles de Menezes / Eilhard Mitscherlich / Rolf Nesch / Charles Péguy / Henny Porten / Francis Jean Marcel Poulenc / Luciano „Chano“ Pozo y Gonzales / Johann Philipp Reis / Paul Revere / Sadako Sasaki / Josef Antonín Sehling / Ali Soilih / Bernadette Soubirous / Heinrich von Stephan / Rory Storm / Roland Topor / Paul Ritter Vitezović / Margarete von Wrangell / Johann Heinrich Zedler

 

Darüber können wir gut ins Gespräch kommen:

1610 entdeckt Galileo Galilei Jupitermonde / 1785: erste Überquerung des Ärmelkanals mit einem Gasballon / 1789 wird George Washington zum ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt / 1894 erhält William K. L. Dickson ein Patent für die Erfindung der Filmkamera / 1927: erste Transatlantische Telfongespräch von New York nach London / Phnom Penh, 1979, vietnamesisches Truppen stürzen Pol Pot / 1983: erstes Bericht über die Entdeckung eines Schwarzen Lochs.

 

Ich notierte:

1983: Ein für diese Jahreszeit unglaubliches Wetter: Temperaturen um 15°C, die einem wie Schwüle vorkommen und Regen, Regen, Regen. Nächte unruhigen Schlafs.

1985: Am Abend (des wohl kältesten Tag des Jahrhunderts in Europa) kommt mein Vater und sagt, dass er für uns eine Kühltruhe erstanden habe. Na wunderbar…

1999: Versprochen hatte ich meiner Enkelin, sie heute aus dem Kindergarten abzuholen, es dann aber im Alltagsgeschäft vergessen. Und als sie dann (wie stets) von der Mama nach Hause gebracht wurde, fragte sie mich vorwurfsvoll traurig: „Wo warst du denn, Opa?“ - Tja, wo war ich, wo war ich bloß?

2001: Wie üblich sind die Tage um den Jahreswechsel ruhig bis zum Schlechten-Gewissen-Kriegen: außer Aufräumen, ein paar Planungen u.ä. kaum etwas zu tun. Ich lese viel.

2006: In der letzten Zeit immer mal wieder Begegnungen, Erscheinungen wie diese: Neulich auf der Autobahn gen Rostock, im Stau ein Auto voraus ein schwedischer Kleinwagen, und als sich der Stau auflöst, kurvt dieser Kleinwagen beharrlich vor mir her. Und gerade als ich denke: Na, alter Schwede… überhole ich ein Auto, auf dessen Heckscheibe der Aufkleber prangt: Alter Schwede! Zufall?

2021: Angesichts der aktuellen Diskussionen keimt in mir die Befürchtung, dass das (mutierende) Virus klüger ist, als die Politik.

 

Nekrolog

für

Monty Banks / Robertine Barry / Franz Beckenbauer / John Berryman / Jacon Breda Bull / Jean Cabut / Alexander Stirling Calder / Paul Cassirer / Elsa Cayat / Stéphane Charbonnier / Tony Clarkin / Cyril Davies / Fritz Erpenbeck / France Gall / David Goodis /  Jiří Haussmann / Oury Jalloh / Jo Jastram / Maksym Krywzow / Ludwig von Anhalt- Köthen / Olivia Nova / Pablo Palacio / Neal Peart / Carlos Rasch / Juan Rulfo / Brian David Sicknick / Nicola Tesla / Ingrid Thulin / Bernard Verlhac / Peter Vischer d.Ä. / Jupp Wiertz / Georges Wolinski / Helmut Zenker

 

Dazu schweigen wir wohl letztlicht:

Merseburg, 1645: „floss Purpur-rother safft aus der Wand“ / 1953 verkündet Harry S. Truman, dass die USA eine Wasserstoffbombe entwickelt haben / Ibiza, 1972, beim Landeanflug stürzt eine Caravelle ab, 104 Tote / Paris, 2015, islamische Terroristen stürmen die Redaktion von „Charlie Hebdo“ und ermorden zwölf Menschen.

 


8. JANUAR

 

Meeting

mit

Philip Astley / Emily Green Balch / Madeleine Béjart / Walther Wilhelm Georg Bothe / David Bowie / Sebastiano Conca / Graham Arthur Chapman / Johann Fabricius / Ferdinand Ferber / Henri Giffard / Bill Graham / Walter Gramatté / Ivan Gundulić / Stephen William Hawking / Paul Newell Hester / Charlotte Henriette Hezel / Hadayatullah Hübsch / Sai Kaleshwar / Maximilian Maria Kolbe / Eckart Krumbholz / Waltraud Lewin / Juan Marsé / Rudolf Medek / Willy Millowitsch / Justus Möser / Friedrich Wilhelm Neumann / Gret Palucca / Anton Pashku / Serge Poliakoff / Elvis Aaron Presley / Samuel von Pufendorf / Paul Carl Wilhelm Scheerbart / Elisabetta Sirani / Su Shi / Jean-Marie Straub / Wassyl Semenowytsch Stus / Wassyl Andrijowytsch Symonenko / Sigismund Thalberg / Alfred Russel Wallace / Joseph Weizenbaum / Julie Wolfthorn / Andrew Patrick„Andy” Wood / Béla Zsolt

 

Gern treffen wir jederzeit auf solche Nachrichten:

1867 erhalten Afroamerikaner in Washington D.C. as Wahlrecht / 1889 meldet Hermann Hollerith ein Patent zur Verarbeitung von Lochkarten ein und begründet damit die moderne Datenverarbeitung / Bloemfontein, 1912, die Vorläuferorganisation des ANC wird gegründet / 1959 erreicht Fidel Castro Havanna / 1973: Erstausstrahlung der „Sesamstraße“ in der ARD.

 

Ich notierte:

1979: Was wird dieser Winter noch bringen? Nach dem Schnee- und Frostüberfall zum Jahreswechsel glichen die Straßen heute Morgen Kunsteisbahnen. Es regnete bei drei Grad Minus! So etwas habe ich noch nie erlebt. Etliche Frauen hatten Kniestrümpfe über die Schuhe gezogen. Männer sind offenbar eitler und schusselten vor sich hin. Ich auch…

1982: Ich will versuchen, in einem Essay über Steinmanns „Die größere Liebe“ zu klären, warum man so heute nicht mehr über Leuna schreiben kann, was warum so nicht mehr geht – und daraus Konsequenzen für mein Schreiben ziehen.

1999: Pressemeldung: 1998 war das wärmste Jahr seit Beginn der regelmäßigen Wetteraufzeichnungen.

 

Remümee

für

Thomas Aikenhead / Peter Altenberg / Kenojuak Ashevak / Andrei Bely / Manfred Bofinger / Gunter Böhmer / Rembrandt Bugatti / Jani Christou / Stephen Maynard „Steve“ Clark / Arcangelo Corelli / Eustorg de Beaulieu / Giotto di Bondone / Diponegoro / Josepha Duschek / Galileo Galilei / Madeline Gins / John William Hargreaves / August Herold / Kenojuak Ashevak / Kurt Löwengard / James Mancham / David McWilliams / François Mitterand / Sibyl Moholy-Nagy / Justus Möser / Valentin Nagel / Christoph Friedrich Nicolai / Nikolai Alexejewitsch Nekrassow / Luise Nordmann / Kenneth Patchen / Marco Polo / Christian Rohlfs / Peter Sarstedt / Kurt Schwitters / Stefano Scodanibbio / Shamima Sheikh / Otmar Suitner / Richard Tauber / Michael Tippett / Jacobus Vaet / Paul Verlaine / Eli Whitney

 

Darunter sollten wir einen Schlussstrich ziehen:

Täbris, 1780, bei einem Erdbeben kommen mindestens 50.000 Menschen ums Leben / 1877 unterliegen die Oglala-Sioux in ihrer letzten großen Schlacht der US-Kavallerie / Teheran, 2020, ein ukrainisches Passagierflugzeug wird abgeschossen, 176 Tote.

 


9. JANUAR

 

Signierstunde

mit

Richard Wilhelm Heinrich Abegg / Hans Bethke / Chaim Nachman Bialik / Karel Čapek / Simon de Beauvoir / Josef Bulva / Petronio Franceschini / Brian Friel / Johann Friedrich Grael / Steve Harwell / Amir Kabir / Har Gobind Khorana / Walter Küchenmeister / Lloyd Allayre Loar / Karl Löwith / Eugène Nielen Marais / Heiner Müller / John Knowles Paine / Giovanni Papini / Sergei Paradschanow / Konrad Pellikan / Rio Reiser / Wolfgang Rohde / Agnès Rouzier / Adolph Schlagintweit / Klaus Schlesinger / Uladsimir Jauhenawitsch Soltan / Ahmed Sékou Touré / Kurt Tucholsky / Simon Vouet / Scott Walker / Rodolfo Jorge Walsh / Paula Wimmer / Ferdinand von Wrangel / Wilhelm Zobl

 

Das unterschreiben wir gern:

Mainz, 1789, Uraufführung von Goethes „Egmont“ / London, 1864, im Battersea Park findet das erste offizielle Fußballspiel nach den Regeln des im Vorjahr gegründeten englischen Fußballverbandes statt / Getafe, 1923, erster Flug mit einem Tragschrauber / New York, 1951, Eröffnung des UN-Hauptquartiers / 1960: Baubeginn für den Assuan-Staudamm in Ägypten / San Francisco, 2007, Vorstellung des iPhones.

 

Ich notierte:

1982: Was passiert hier nur, verdammt? Kurz vor Weihnachten war ein Interview mit Herbert Roth in der „Freiheit“, worin der Mann ungestraft sagen durfte: Er wünsche uns allen Frieden, damit’s noch lange so in den Bergen klingt! Und heute ruft Wolfgang Ziegler bei einer Live-Übertragung aus dem Palast der Republik: „Und jetzt klatschen alle mit für den Frieden!“ Es dürfen also irgendwelche halbgewalkten Leute ihre Geschäftchen mit dem wertvollsten machen, wonach die Menschheit strebt? Dürfen Werte naiv (oder bewusst?) in den Dreck ziehen? Es macht mich nicht nur wütend, es beschämt mich.

2008: Bardo. Ra’s Alsana al Higireya – islamisches Neujahrsfest. Einheimische haben heute freien Eintritt ins Nationalmuseum. Fast wäre ich auch so durchgegangen. Doch für diese Fülle kathargischer, frühchristlicher und römischer Artefakte im spanisch-maurischen Palast des türkischen Beys (nicht zuletzt in Haremsgemächern), für diesen Hauch prächtiger Vergangenheiten, zahlt man jederzeit gern.

2021: Über Nacht erneut fragiles Weiß auf Leunas Straßen, Dächern und Gärten. Und weltweit explodieren die Corona-Zahlen weiter: allein in England wohl aufgrund eines mutierten, hochansteckenden Virus: täglich fast 70.000 Neuinfektionen! In Deutschland täglich etwa 20.000, bei mittlerweile 1,9 Millionen Fällen und 40.000 Toten, weltweit: 89 Millionen Fälle, 1,9 Millionen Tote. Und nachdem Trump seine Anhänger zur Erstürmung des Kapitols anstachelte, tauchen nun Gerüchte auf, er wolle in den letzten Tagen seiner Regentschaft auch noch eine Militäraktion starten, irgendwo auf dieser Welt, vielleicht sogar eine Atombombe zünden…

2024: Im stream: "Oppenheimer" - bemerkenswerte, hochaktuelle Variantion des wohl ewigen Galilei-Themas.

 

Post scriptum

für

Johannes Aventius / Emily Green Balch / Herman Bing / Thomas Birch / Hans Bredow / Wilhelm Busch / Peter Edward Cook / Countee Cullen / Dave Dee / Nelly Dix / Halide Edib Adıvar / Friedrich Wilhelm Foerster / Bernard le Bouvier de Fontenelle / John Gilbert / Kate Gleason / Abraham Goldfaden / Caroline Herschel / Walter Heymann / Gottlieb Hiller / Thomas Höhle / Samuel Gridley Howe / Tomás Cabreira Júnior / James Kottak / Katharina Klaučzek / Mário-Henrique Leiria / Liang Sicheng / Katherine Mansfield / Louise Michel / Buschi Niebergall / Ernst Oldenburg / Hans Pleydenwurff / Klaus Poche / Souphanouvong / Wang Yangming / Peter Yates

 

 

Danach sollte u.E. nichts mehr kommen an diesem Tag:

Rouen, 1431, Eröffnung des Inquisitionsprozesses gegen Jeanne d’Arc / 1693 beginnt auf Sizilien eine Erdbebenserie bis zu deren Ende etwa 60.000 Menschen ums Leben kommen / 1942 sinkt vor Menorca das Passagierschiff „Lamoriciére“, 301 Tote / 1959 bricht in Spanien die Talsperre Vega de Tera, 145 Menschen sterben in der Flutwelle / Panama, 1964: bei Protesten gegen die US-Besatzung der Kanalzone kommen 24 Menschen ums Leben.

 

10. JANUAR

 

Forum

mit

Aldo Ballarin / Sune Bergström / Marie-Joseph Chénier / Eduardo Chillida Jiantegui / Jim Croce / Gonzölo Curiel / Jacob Jacobsen Dampe / Lya de Putti / Willie Dennis / Laure Diebold / Annette von Droste-Hülshoff / Marcus Johann Theodor DuMont / Thomas Alva Edison Jr. / Axel Eggebrecht / Botho Sigwart zu Eulenburg / Fukuzawa Yukichi / Peter Gast / Grock / Paul Henreid / Michel Henry / Barbara Hepworth / Giselher Werner „Gisi“ Hoffmann / Vicente Huidobro / Kanō Yasunobu / Georg Katzer / Wolf Caspar von Klengel / Arthur Charles Hubert Latham / Martin Hinrich Lichtenstein / Philip Levine / Simon Marius / Abraham Mapu / Scott McKenzie / Salvatore „Sal“ Mineo / Ozaki Kōyō / Charles George Douglas Roberts / Maxwell Lemuel „Max“ Roach / Ilse Schneider-Lengyel / Nachum Sokolow / Dorothea „Mopsa” Sternheim / Alexei Nikolajewitsch Tolstoi / Henning Hermann Robert Karl von Tresckow / Francisco „Paco” Urondo / Franz Wipplinger / Yamamura Bochō / Heinrich Rudolf Zille / Johann Rudolf Zumsteeg

 

Darüber können wir immer wieder lebhaft diskutieren:

Nürnberg, 1356: Verkündigung der „Goldenen Bulle“ / 1491 veröffentlicht Petrus von Ravenna sein „Phoenix, sive artificiosa memoria“, das erste urheberrechtlich geschützte Buch / London, 1863: Eröffnung der ersten U-Bahn der Welt / 1920. Gründung des Völkerbundes / 1929 präsentiert Hergè erstmals seine Comicfiguren Tim und Struppi / London, 1946: erste Generalversammlung der UNO.

 

Ich notierte:

1974: Heute früh war ich erstaunlicherweise frisch und munter, richtig ausgeschlafen und fuhr bald in den klaren, frostigen Morgen hinein. Doch wieder so ein langweiliger, nutzloser, vergammelter Tag. Jedenfalls ließ er sich so an. Ich half dem kurz entschlossen ab und begann auf Arbeit zu schreiben. Daran werde ich mich jetzt halten. Man kann zwar laufend gestört werden, und die eigentlich notwendige Ruhe fehlt, aber für Skizzen oder Ideen reicht’s allemal:

Mit seidenen Flügeln von den Zinnen sich schwingen,

die den meisten Idol, nur Unglück bedingen…

1982: Am Vormittag sehe ich „Heroes of Rock“ unter anderem Mit Janis und Jimi. Und es tut mir noch immer verdammt weh, dass zu sehen… Dass Anfang der 70er Jahre etwas gestorben war, ist mir klar, doch ich muss auf dieses Lebensgefühl damals, als wohl auch in mir etwas starb, unbedingt eingehen, sollte ich je darüber schreiben.

1999: Ich knüpfe an mein allererstes Kinderbuch „Ein Montag im Oktober“ an. Damals (vor nunmehr 15 Jahren) hatte ich den Konflikt einer Zwölfjährigen mit ihrem Großvater zu schildern versucht, einem Großvater, der im Tausendjährigen Reich mitlief und so mitschuldig wurde. Nun soll die damals Zwölfjährige Ende Zwanzig, Journalisten und Mutter einer zwölfjährigen Tochter sein, die durch eine erste Liebe in eine rechte Clique gerät, eine Clique, deren Aktivitäten von der Mutter in ihrer Zeitung angegriffen werden, was die Rechten Angriffe gegen die Mutter planen lässt. Nun muss sich die Zwölfjährige entscheiden, ob sie wie einst ihr Großvater wegsieht und schweigt (oder sogar mittut), oder ob sie handelt, handelt gegen Gewalt.

2008: Tunis. Lesung für Kinder. Etoile primaire inmitten der Medina. Fragen: Gibt es Schnee in Deutschland? Lebt man dort leicht? Bist du reich? – Ach, na ja. – Und dann wollen sie wissen, ob ich schon mal in einem anderen arabischen Land war. Und als ich antworte: Ja, in Palästina, klatschen sie heftig Beifall. Das gefällt ihren Lehrern.

2023: Am Vormittag ein Treff mit dem Geschäftsführer des Richard-Wagner-Zentrums, der seit Jahresbeginn in Merseburg residiert, genau dort, wo ich vor 30 Jahren als Stadtschreiber zu arbeiten begann, in der Domküsterei. Gutes Gespräch, da scheinen sich diverse Möglichkeiten einer Zusammenarbeit er eröffnen. Am Nachmittag Audienz beim neuen Merseburger OB Müller-Bahr. Ich versuche ihn zu überzeugen, dass Merseburg mehr tun müssen, damit die Zaubersprüche wie angestrebt UNESCO-Dokumentenerbe werden können, bessere Präsenz im Alltag und den PR-Auftritten, Änderung des Beinamens von „Merseburg, Dom- und Hochschulstadt“ in „Merseburg, Stadt der Zaubersprüche“, Umgestaltung des Zauberfestes von reinem Klamauk zu einem Literaturfest etc.pp. Er hört interessiert zu, will das und andere prüfen und auf den Weg bringen. Schaun wir also mal. Hoffnung macht, dass die Merseburger Bürgermedaille, auf deren Wiedervergabe ich seit einiger Zeit gedrungen hatte, wenn es denn schon nicht möglich sei, über neue Ehrenbürgerschaften nachzudenken, also dass diese Medaille nächste Woche zum Neujahrsempfang seit Jahren erstmals wieder vergeben wird – und sogar an den Mann, den ich dafür vorgeschlagen hatte: Prof. Zwanziger, den emeritierten Rektor unserer Hochschule. Und er stimmt mir zu, das Walter-Bauer-Preisgeld bei der nächsten Vergabe auf 5000 Euro zu erhöhen. Ja, er schlägt sogar vor, mit der Preis-Urkunde künftig ein kleines Kunstwerk zu überreichen, eine Medaille oder kleine Figur. Und meine Idee, dafür meinen Freund Klaus-Dieter Urban anzufragen, mit dem ich schon so manches zu Walter Bauer veröffentlichte, nickt er ab. Gut.

 

Finale

für

Hans Aanrud / Herbert Achternbusch / Theo Siegfried Adam / Petrus Aureoli / Jeff Beck / Rudolf Borchardt / David Bowie / Robert Boyle / Coco Chanel / Eddie Clarke / Wolfgang Dauner / Benno Elkan / Johann Fabricius / Joe Farrell / Johann Georg Adam Forster / Othon Friez / Walentin Petrowitsch Gluschko / Benjamin Godard / George Gruntz / Michael Grzimek / Dashiell Hammett / Amir Kabir / Anton Karas / Hermann Kasack / Wladimir Kiritschenko / Heinrich Lautensack / Laza K. Lazarević / Eino Leino / Sinclair Lewis / Carl von Linné / Theodor Karl Mackeben / Gabriela Mistral / César Moro / Charles Olson / Carlo Ponti / Qabus bin Said / Mary Raftery / Fred Raymond / Josef Reding / Francesco Rosi / Wallace Clement Sabine / Jaroslav Seifert / Mano Solo / Robert Sterl / Christoph Stölzl / Heinrich Wilhelm Storck / Marinus van der Lubbe / Howlin’ Wolf / Rüdiger Ziemann

 

Da bleibt es uns dann still an diesem Tag:

Merseburg, 1619, wird Michael Rose, weil er seine Magd geschwängert und ihr das Kind aus dem Leibe geschnitten hatte, „ewiges landes verwiesen“ / 1910 verschwindet das Passagierschiff mit 175 Menschen an Bord nach dem Ablegen in Port Louis, Mauritius, spurlos im Indischen Ozean / 1962 tötet in Peru eine vom Nordgipfel des Nevado Huascarán losbrechende Gerölllawine 2.000 Menschen / 2003 erklärt Nordkorea seinen Austritt aus dem Atomwaffen-Sperrvertrag / 2024: bei Unruhen in Papua-Neugionea kommen mindestens 16 Menschen ums Leben.

 

 

11. JANUAR

 

Projektstart

mit

Johann Friedrich Alberti / Philipp Bertkau / Al Berto / Alexander Stirling Calder / Clarence Clemons / Lucas da Costa / Oswald de Andrade / Eugenio María de Hostos y Bonilla / Tahar Djaout / Gustav Falke / Reinhold Moritzewitsch Glière / Hartmut Gründler / Laurens Hammond / Slim Harpo / Johannes Nicolaas Helstone / Eva Hesse / Albert Hofmann / William James / James „Osie“ Johnson / Clyde Kay Maben Kluckhohn / Bert Papenfuß-Gorek / Parmigianino / Alan Stewart Paton / Alice Paul / Jacob Picard / Helmut Schoepke / Zikmund Schul / Christian August Sinding / Nicolaus Steno / Ilse Weber / Helmut Zenker

 

Das sah uns an diesem Tag nach einem guten Start aus:

1787: Wilhelm Herschel entdeckt die beiden größten Monde des Uranus / 1922: erste erfolgreiche Behandlung eines Diabetikers mit Insulin / 1935. gelingt Amelia Earhart als erstem Menschen in Flug von Hawaii nach Kalifornien / 1949: erste Aufführung des Berliner Ensembles / 1953 gewinnt Josef Bradl die erste Vierschanzentournee / Hamburg, 2017, Eröffnung der Elbphilharmonie.

 

 

Ich notierte:

1974: Feierabend, eine Arbeitswoche um. Nächsten Freitag wird das wieder das Gleiche sein, übernächsten auch… Das geht nun eigentlich schon seit September so. Relativ kurz, nicht? Manche, aber was heißt manche – die Mehrzahl der Leute, erleben Jahre lang, erleben ihr Leben lang nichts anderes. Immer wieder derselbe sture Trott. Warum nur muss sich der Mensch an alles gewöhnen? Kommt er in was Neues rein, sucht er anfangs noch nach Fehlern und Verbesserungswürdigem. Doch er lebt sich ein und sieht bald nichts mehr. Das, wogegen er einst rebellierte oder was er wenigstens belächelte, macht er nun selbst…

1982: In Deuben baue ich eine Ausstellung auf „Das Kind im Brigadetagebuch“, basierend auf meiner Untersuchung, meinem Essay. Der Klubhausleiter eröffnet, die Leute latschen durch und – sind weg. Keine Frage, keine Kritik, nichts. Gleichgültigkeit. Das Übliche eben, doch ich ärgere mich, hatte ich mich doch wieder mal engagiert.

1984: Völlig überraschend war Heinz Sachs verstorben. Und nun bin ich also schon seit 10 Tagen Stellvertretender Leiter des Bezirksliteraturzentrums Halle. Angestellt, anhängig, aber auch anstellend und bindend, und ich hoffe: helfen und sich selbst weiter voranbringen könnend. Natürlich finde ich mich in der neuen Rolle, finde ich mich im neuen Tagesablauf noch nicht so recht zurecht. Kaum Schlaf, wenn Schlaf – unruhig, aber agil, klarer Kopf, doch keine Literatur hervorbringend, oberflächlich also.

1999: Presse-Notiz: „London/dpa. Singvögel in Großbritannien verlernen das Singen. Schuld daran ist nach einer Studie der zunehmende Verkehrslärm. Einige Arten seien bereits stark zurückgegangen, weil sie keinen Paarungsgesang mehr erlernen und dadurch keinen Partner finden könnten, berichteten Experten.“

2023: Das Robert-Koch-Institut meldet, dass es seit Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland 37.540.072 nachgewiesene Infektion mit Sars-CoV2 gab.

 

2024: Am Abend lese ich im Merseburger Schlosshotel für die „Rotarier“, Thema: „Merseburger Zaubersprüche – Alleinstellungsmerkmal oder Fälschung?“. Lebhafte, gute Diskussion. Sie wollen sich fortan mit um eine bessere Nutzung unserer einzigartigen Literaturdenkmale einsetzen.

 

Projektabschluss

für

Gail Borden / Pete Candoli / Domenico Cimarosa / Fabrizio De André / Anita Ekberg / Mickey Finn / Fritz Geißler / Domenico Ghirlandaio / Alberto Giacometti / Thomas Hardy / Georges-Eugène Haussmann / Edmund Percival Hillary / Howard Johnson / Wassili Sergejewitsch Kalinnikow / Imo Moszkowicz / Victor Noir / Tatjana Patitz / Heiner Pudelko / Barbara Mary Crampton Pym / Éric Rohmer / David Sassoli / Georg Schumann / Hans Sloane / Daniel Spitzer / Margo St. James / Oscar Straus / Klaus Hermann Wilhelm Tennstedt / Henri Verneuil / Robert Anton Wilson

 

So schloss für uns an diesem Tag so manches ab:

1866 sinkt das Passagierschiff „London“ im Golf von Biskaya, 220 Menschen kommen ums Leben / 1879: Beginn des Zulukrieges / 1954 fordern Lawinen in Vorarlberg 135 Todesopfer / 2002: die ersten Häftlinge treffen im Camp-X-Ray in Guantanamo ein.

 

12. JANUAR

 

Entré

mit

Kirstie Alley / Roland Alphonso / Mikio Andō / Gustl Angstmann / Johan August Arfwedson / Thomas Patrick Ashe / Long John Baldry / Adelbert von Bornstedt / Heinz Braun / Ignatz Bubis / Reinhold Burger / Edmund Burke / Jusepe de Ribera / George Duke / Wassyl Ellan-Blakytnyi / Morton Feldman / Joe Frazier / Emanuel von Friedrichsthal / Erik Gustaf Geijer / Hanno Günther / Georg Hecht / Ronald Shannon Jackson / Adolf Jensen / Kurt Jooss / Reinhard Keiser / Sergei Pawlowitsch Koroljow / Anton Langer / Étienne Lenoir / Emmanuel Levinas / Jack London / Spyridon Louis / Maharishi / Salvatore Giovanni Martirano / Alice Miller / Fred McDowell / Ferenc Molnár / Rose Montmasson / Candelario Obeso / Charles Perrault / Johann Heinrich Pestalozzi / Siegfried Pitschmann / Luise Rainer / Tex Ritter / Naya Marie Rivera / John Singer Sargent / Kurt Sauerland / Weranika Tscherkassowa / Johann Baptista van Helmont / Vivekananda / Joannes Wanckel / Maharishi Mahesh Yogi

 

Das war uns doch ein guter Auftakt an diesem Tag:

1904: Beginn des Herero-Aufstandes / Den Haag, 1912, die erste Internationale Opiumkonferenz verständigt sich auf eine staatliche Kontrolle des Drogenhandels / 1951 tritt die UN-Konvention „Über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ in Kraft / Detroit, 1959, das Plattenlabel „Motown“ wird gegründet / 1970 endet der Biafra-Krieg / 1976: die letzten spanischen Kolonial-Truppen ziehe sich aus Spanisch-Westafrika zurück / Hamburg, 1999, die erste Wasserstoff-Tankstelle Europas nimmt ihren Betrieb auf / 2024: Die WHO zertifiziert Kap Verde als dritten afrikanischen Staat nach Mauritius (1973) und Algerien (2019) als malariafrei.

 

Ich notierte:

1981: Ich fahre nach Leipzig, will ins Literaturinstitut, will studieren. Dort sitzen aber völlig unbekannte Leute, starren mich an – die andere Seminargruppe – verdammt, ich bin eine Woche zu früh! Doch sogleich ein Gefühl wie zu einst zu Weihnachten: Ich habe quasi eine Woche geschenkt bekommen!

2001: Zu Weihnachten hatte ich mir die „Synchronoptische „Weltgeschichte“ von Peters geschenkt, komme nun erstmals dazu, ausführlich darin zu blättern, entdecke beispielsweise Hochinteressantes über unser „Spiegel-Jahrhundert“, das 21. Jahrhundert v.u.Z.: So wurde in jener Zeit Gold als Zahlungsmittel bestimmt, Tierzuchtstationen und Obstplantagen kamen in Gebrauch, die Prostitution kam in Sumer in die Hände der Priesterschaft, in China wurde neben Hirse auch Reis angebaut und die Einwohnerzahlen mancher Städte im Orient überstiegen die 100.000… Geld, Zeit, Menschenmassen – was wird darüber für „unser“ 21. Jahrhundert zu sagen sein?

2022: Am Abend auf Netflix „Don’t look up!“ von Adam McKay. Hervorragender Film, glaubwürdig bis zuletzt und stimmig eine Gesellschaft paradierend, die nicht sehen will, dass da ein riesiger Komet auf die Erde zurast, der am Ende alles killt. Sogar Widerstand wird gegen Leute losgetreten, die Aufblicken… Corona (und sonstige kommende Katastrophen) ick hör dir trapsen…

 

Fazit

für

Amrish Puri / Georges Anglade / Anthony „Reebop“ Kwaku Baah / Robbie Bachman / Claude Berri / Luiz Floriano Bonfá / Halet Çambel / Marie-Antoine Carême / Agatha Christie / Henri-Georges Clouzot / Jonas Cohn / Alice Coltrane / Jean-Baptiste de Boyer / Peter Dettweiler / Gösta Ekman / Jürg Federspiel / Pierre de Fermat / Alfred Frank / Kinji Fukusaku / Maurice Ernest Gibb / Robert Gover / Auguste Haase / Ida Hahn-Hahn / Lorraine Hansberry / Murad Wilfried Hofmann / Leopold Lahola / Ruth Leuwerik / Jessie Lipscomb / Hermann Minkowski /Arne Næss / Benedikte Naubert / Vasco Pratolini / Lisa Marie Presley / Karl Wilhelm Friedrich Schlegel / Gertrud Seele / Ronnie Spector / Ľudovit Štúr

 

Darunter sollten wir einen Schlussstrich ziehen:

Leiden, 1807, sterben bei der Explosion eines mit Schießpulver beladenen Schiffes 151 Menschen, mehr als 2.000 werden verletzt, 220 Häuser zerstört / 1920 schlägt das der Passagierdampfer „Afrique“ vor der französischen Küste leck und sinkt, 575 Menschen ertrinken / 1945: 1.900 Tote bei einem Erdbeben in der japanischen Mikawa-Bucht / Baku, 1990, werden bei einem Pogrom 90 Armenier ermordet / Mekka, 2006, durch eine Massenpanik kommen beim Hadsch 362 Pilger zu Tode / 2010 kommen bei ein Erdbeben in Haiti etwa 200.000 Menschen ums Leben, 250.000 werden verletzt, 1,5 Millionen obdachlos.

 

13. JANUAR

 

Introduktion

mit

Giuseppe Abbati / Daevid Allen / Karl Bleibtreu / Michael Bond / Vinzenz Büchel / Jean Cabut / Richard Eilenberg / Simon H. Fell / Paul Karl Feyerabend / Kay Francis / Albrecht Gabriel / Gu Hara / Johann Gottfried Lucas Hagemeister / Wassili Sergejewitsch Kalinnikow / Otto Lehmann / Kaj Munk / Nathan Milstein / Ernst Elias Niebergall / Flora Nwapa / Kostis Palamas / Matteo Palmieri / Marco Pantani / Joe Pass / Roland Petit / Johann Kaspar Schade / Karl Siebel / Clark Ashton Smith / Chaim Soutine / August Wilhelm Ludwig Trenkner / Thomas Valentin / Marinus van der Lubbe / Winand Victor / James Charles Napier Webb / Hedd Wyn

 

Das hörten wir hoffnungsvoll:

Mannheim, 1782, Uraufführung von Schillers „Die Räuber / 1898 nimmt Émile Zola mit seinem offenen Brief „J’accuse“ Stellung zur Dreyfus-Affäre / Berlin, 1902, die erste deutsche Volkshochschule entsteht / New York, 1910, erste Hörfunk-live.Übertragung  aus der Metropolitan Opera / :Karlsruhe, 1980, Gründung der Partie „Die Grünen“.

 

Ich notierte:

1982: Nun hat sich plötzlich was bewegt: der Kinderbuchverlag hat mir tatsächlich einen Lektor zugeteilt. Nächsten Donnerstag bin ich zum ersten Lektoratsgespräch nach Berlin eingeladen! Läuft nun alles an? Ich hoffe es.

1990: Das Aus für mein Leuna-Buch? Der Verlag kündigte mir den Vertrag. Begründung: keine gesellschaftliche Wirksamkeit mehr. Wahnsinn! Lange Zeit war mein Thema tabu, brachte mir Probleme über Probleme ein, und nun… Heute Umweltdemo in Merseburg. Enttäuschung. Wenig Leute, nichtssagende Redner, alles Altbekannte, die eigentlich nur sagen: Nieder mit der SED, das ist ein bisschen zu wenig als Umweltkonzept. Niemand scheint weiter hinausdenken zu können. Was wird aus Leuna? Schließen, abreißen? Ganz oder teilweise? Unsere Region könnte die höchste Arbeitslosenquote Europas bekommen. Aber derzeit scheint es auszureichen wenn man ruft: Ich bin dagegen! Beifall! Niemand artikuliert deutlich, für etwas zu sein, keine Kontinuitäten… Und die Umweltschützer: vor uns an jeder passenden Stelle „Nieder!“ brüllend, dann aber die letzte Blumerabatte des Marktes zerlatschend. Und eine Frau wurde in ihrem Trabi von einem Typen zuerst beschimpft und als sie langsam weiterfuhr, sogar geschlagen – nur weil sie Auto fuhr!

2022: Am Nachmittag im Mitteldeutschen Verlag. Abstimmung mit Roman über unsere nächsten gemeinsamen Vorhaben, den neuen Bauer-Band „Phönixlied“, den neuen Band Merseburger Persönlichkeiten, und vorausschauend meine Porträts der zu früh Verstorbenen. Gutes Gespräch.

 

Trauerfeier

für

Sibilla Aleramo / Loreta Asanavičiūtė / Hermann Bachmann / Jean-Jacques Beineix / Tim Bogert / Michael Brecker / Jan Brueghel d. Ä. / Luwig Brulow / Maurice Carême / Conrad Yeatis „Sonny“ Clark / Marie-Catherine d’Aulnoy / Lyonel Feininger / Siegfried Fischbacher / Stephen Collins Foster / Mozart Camargo Guarnieri / Donny Hathaway / James Joyce / Johan Peter Koch / Wilhelm Traugott Krug / Maria Sybilla Merian / Joachim Nowotny / Sylvanus Olympio / Teddy Pendergrass / Franz Reckert / Remigius von Reims / Ferdinand Ries / Julian Sands / David Schwarz / Edmund Spenser / Sophie Taeuber-Arp / Ed Thigpen / Henri Tomasi / Else Ury

 

So endete uns etwas an diesem Tage:

Merseburg, 1668, „wurde zu Mitternacht bey großen Sturm-Winde, Regen u. Plitz ein Erdbeben verspühret“ / 1915 fordert ein Erdbeben im italienischen Avezzano über 30.000 Todesopfer / 1917, Ciurea, Rumänien: bei einem Eisenbahnunglück kommen fast 1.000 Menschen ums Leben / 1986 bricht im Südjemen der Bürgerkrieg aus / 1977 Großunfall im Kernkraftwerk Gundremmingen, Totalschaden / El Salvador, 2001, Erdbeben, 944 Tote / 2012 sinkt das Kreuzfahrtschiff „Costa Concordia“ vor Giglio, 32 Menschen ertrinken.

 

 

14. JANUAR

 

Happening

mit

Rosalía Abreu / Marcus Antonius / Humphrey DeForest Bogart / Stanislaus Bornbach / Ida Dehmel / John Roderigo Dos Passos / Jan Fedder / Eckart Friedrichson / Franchinus Gaffurius / Bruno Gimpel / Helga Göring / Michael Gwisdek / Rudolf Hagelstange / Richard „Ricki“ Hallgarten / Johann Matthias Hase / Christian Friedrich Henrici / Marek Hłasko / John Oliver Killens / Kishida Tomiko / Olaf Koch / Hugh John Lofting / Joseph Losey / Pierre Loti / Bernard Matemera / Berthe Marie Pauline Morisot / Salomon Hermann Mosenthal / Dieter Mucke / Rudolf Olden / Hal Roach / Nathaniel Rochester / Anatoli Naumowitsch Rybakow / Corona Elisabeth Wilhelmine Schröter / Rüdiger Schleicher / Ludwig Philipp Albert Schweitzer / Gottfried Silbermann / Grady Tate / Allen Toussaint / Carlos Trujillo / Kenny Wheeler / Lamar Williams / Yukio Mishima

 

Da kam bei uns Freude auf:

Nürnberg, 1690, Johann Christoph Denner entwickelt die Klarinette / 1784 wird der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg mit der Ratifizierung des Friedens von Paris beendet / 1896 wird in der britanischen Royal Photographic Society  der erste Film / 1897: Erstbesteigung des Aconcagua, des höchsten Berges Amerikas / Berlin, 1916, der erste Expresszug nach Konstantinopel fährt ab / Herleshausen, 1956, letzte deutsche Kriegsgefangene kehren aus sowjetischen Lagern zurück / San Francisco, 1967, im Golden Gate Park findet das „Human Be-In“ der Hippie-Bewegung statt, Beginn des „Summer of Love“ / 1973: erste Ausstrahlung eines Live-Konzerets via Satellit: „Aloha from Hawaii“ mit Elvis Presley / 2005 landet die europäische Raumsonde „Huygens“ auf dem Saturnmond Titan 2015: Eröffnung der Philharmonie de Paris.

 

Ich notierte:

1974: Von nun an will ich jeden Montag nach Leipzig fahren, es wurde einfach Zeit, dass ich mir einen Lehrer genommen habe. Der liebe Bassgott ist er zwar auch nicht, dennoch kann er mir offenbar vieles zeigen. Das werde ich auskosten.

1981: Ich weiß nicht, ob meinen Kompromiss, in einer Showband halbwegs Geld zu verdienen, um in Ruhe studieren und schreiben zu können, noch lange durchhalte, ob ich diese verkommene Szene noch lange aushalte.

1999: Langsam merke ich, dass mir diese ewige Winter-Dunkelheit, diese alltägliche Düsternis wieder wie alle Jahre aufs Gemüt schlägt. Tunnel-Syndrom. Gut, dass man weiß und schon erfahren hat, dass es irgendwann wieder licht und grün werden wird. Also durch, irgendwie!

2021: Ärger mit der Abrechung meines Anna-Hood-Schreibprojektes. Mehrmals schon musste wegen der Lockdowns die Abschlussveranstaltung verschoben werden. So bleibe ich (vorerst) auf den Kosten sitzen, die ich verauslagt hatte (für die Herstellung der Projekt-Anthologie beispielsweise). Aufgrund der „höheren Gewalt“ Corona, konnte ja Ende des letzten Jahres schon eine Veranstaltung nicht stattfinden, auf die ich mich sehr gefreut hatte, die mir wichtig gewesen wäre: ich hätte im „Literarischen Kabinett“ des Bad Lauchstädter Goethe-Theaters lesen sollen/können – und einer der besten Jazz-Gitarristen Europas, Joe Sachse, hätte mich begleitet.

 

Danksagung

für

Ernst Abbe / Paweł Bogdan Adamowicz / Paul Ben-Chaim / Aenne Biermann / Ricardo Bofill Levi / Geoffrey Charles „Geoff“ Brown / Lewis Carroll / Francesco Cavalli / Ralph Nicolas Chubb / Peter Finch / Fred Fisher / Néstor García / Juan Gelman / Chester Gill / Kurt Gödel / Anagarika Govinda / Traugott Hahn / Lotte Hass / Lupus Hellinck / Wolfgang Hütt / Jean-Auguste-Dominique Ingres / Sergei Pawlowitsch Koroljow / Robert Lembke / Ricrado Montalbán / Federica Montseny Mañe / Rudolf Moshammer / Muslimgauze / Dinah Nelken / Anaïs Nin / Gustav Regler / Johann Philipp Reis / Alan Rickman / Lew Semjonowitsch Rubinstein / Hans Schiebelhuth / Petra Schürmann / Douglas Sirk / Rauli „Badding“ Somerjoki / Jesús Rafael Soto / Elisabeth Trissenaar / Onno Tunç / Shelley Winters / Gregorius Xenopoulos

 

Auch der Opfer dieses Tages gedenken wir:

1905 kommen bei einem Erdbeben im jamaikanischen Kingston etwa 1.600 / und 2001 in El Salvador fast 1.000 Menschen ums Leben /  Dnipro, Ukraine, 2023: eine russische Rakete zerstört einen Wohnblock, mindestens 45 tote Zivilisten.

 

 

15. JANUAR

 

Tagung

mit

Max Adler / Maurice Bavaud / Hermann Burmeister / Captain Beefheart / Rudolf Christians / Mihai Eminescu / Ludvig Mylius-Erichsen / Franz Fühmann / Loïe Fuller / Alexander Sergejowitsch Gribojedow / Franz Seraphicus Grillparzer / William Heinesen / Nâzım Hikmet / Etty Hillesum / Martin Luther King / Hans Kippenberger / Johan Peter Koch / Sofja Wassiljewna Kowalewskaja / Gene Krupa / Janusz Tadeusz „Kusy“ Kusociński / Simon Leduc / Ossip Emiljewitsch Mandelstam / Geo Milew / Molière / Gamal Abdel Nasser / Pierre-Joseph Proudhon / Maria Schell / Giovanni Segantini / Walter Serner / Nathan Söderblom / Paul Termos / Ronnie Van Zandt / Artturi Ilmari Virtanen / Ferdinand Georg Waldmüller / Stanisław Mateusz Ignacy Wyspiański / Xu Zhimo / Fotis Zaprasis / Sidonia Hedwig Zäunemann

 

Da stand für uns Gutes auf dem Tagesprogramm:

1609 erscheint in Wolfenbüttel mir dem „Aviso Relation“ eine der ersten Zeitungen in Deutschland / London, 1759: Eröffnung des British Museums / Paris, 1896, Gründung der ersten Autovermietung / 1924 strahlt die BBC das erste Original-Hörspiel aus / Ägypten, 1971, Einweihung des Assuan-Staudamms / 2001 startet Wikipedia

 

Ich notierte:

1985: Noch immer diese Kälte, konstant um minus 10°C, gelegentlich Schneefall. Und eine Regierungs-Wetterprognose sagt, das ginge noch mindestens drei Wochen so weiter. Und dabei mussten selbst Devisen bringende Braunkohle-Exporte schon gestoppt und wurde die Staatsreserve Braunkohle bereits angegriffen… Zuerst kam mir diese Kälte ja fast exotisch vor, aber nun muss man sich ja ganz und gar dagegen schützen, um nicht aus dem täglichen Gleis geworfen zu werden, muss man versuchen irgendwie unter dieser Kälte wegzutauchen. Vögel plustern sich zu dicken, bunten Bällen auf, ich versuche in meinem Kopf ein „Schreib-Wetter“ zu halten. Ich denke, ich muss noch eine ganze Weile überwintern, bis ich mir tatsächlich mal die fürs Schreiben notwendigen Freiräume erschrieben, erduldet, erträumt haben werde.

1998: Donnerstag. Und einmal mehr Stress, Zoff & Frust. Wenigstens bleibt die Vorfreude aufs abendliche virtuelle Skatspiel mit Joseph und Maria. Und sollten mir letztlich auch diese beiden zu blöd kommen, gebe ich im Computerskatprogramm einfach neue Namen ein. Was sonst?

1999: Presse-Notiz: „München/dpa. Schriftsteller, Kritiker und Germanisten haben Robert Musils ’Mann ohne Eigenschaften’ zum wichtigsten deutschsprachigen Roman dieses Jahrhunderts gewählt. Das Ergebnis resultiert aus einer Umfrage des Münchner Literaturhauses und der Bertelsmann Buch AG unter 99 Experten.“ Und im „Spiegel“ lese ich: „So wie Einstein Raum und Zeit in einer Theorie verband, so müsste der Einstein der Biologie an der Schwelle zum dritten Jahrtausend Energie und Information in einem Werk zusammenführen - mit dem sich am Ende vielleicht sogar die komplizierteste aller Fragen angehen lassen könnte, die nach dem Wesen des Bewusstseins.“

2014: Still there nach Jahren (da ich Mike Sterns Allüren, damals im „Quasimodo“ Konzertgäste unterirdisch warten zu lassen, ewig nicht aus dem Sinn bekam) doch mal wieder gehört. Und: ja, das könnte, nein, das sollte gespielt werden, wenn ich dereinst … Still there.

2016: Erstaunlich, dass Houellebecq in seinem ersten Roman „Karte und Gebiet“ am Ende zum gleichen Schluss kommt, wie Salgado in seinem Fotowerk – und insbesondere in Wim Wenders Film über Salgado „Das Salz der Erde“ – dass am Ende die Vegetation über die Zivilisation (wenn sie sich nicht alsbald als solche wirklich herausstellt) obsiegen wird. Aber wieso erstaunlich: denke ich (mittlerweile) nicht ebenso?

2021: Mittlerweile hat der Saalekreis eine der höchsten Ansteckungsquoten, einen der höchsten Inzidentzwerte Deutschlands. Landesweit gibt es mehr als 2 Millionen Fälle, mehr als 45.000 Tote.

 

2024: Am Vormittag im Merseburger Museum. Gespräch über eine denkbare Unterstützung von Projekten durch die Berger-Stiftung. Und es ergibt sich eine interessante Möglichkeit: ab April soll es eine Ausstellung zum Merseburger Raben geben. Wunderbar, über den hat doch Siegfried Berger immer wieder geschrieben – wie auch ich.

 

Bilanz

für

Otto Meyer-Amden / Hermann Bahr / Vasco Núñez de Balboa / Isidro Baldenegro López / Hanna Berger / Ruth Berlau / Orazio Borgianni / Mathew B. Brady / Dawid Dawidowitsch Burljuk / Léona Camille Ghislaine Delcourt / Gendün Drub / Lea Goldberg / Edwin Hawkins / Anton Holban / Edwin Reuben Hawkins / Herbert Ihering / Inoue Keizō / Georg Kerschensteiner / Karl Paul August Friedrich Liebknecht / Rosa Luxemburg / Lloyd Morrisett / Harry Nielsson / Marshall Warren Nirenberg / Dolores Mary Eileen O’Riordan / Kalliroi Parren / Johann Jakob Friedrich Wilhelm Parrot / Brad Barron Renfro / Jewgeni Lwowitsch Schwarz / Elizabeth Short / Jochen Stay / Raymond Georges Yves Tanguy / Weldon Leo „Jack” Teagarden / Eugeniusz Zak / Gustav Philipp Zwinger

 

Das dürfte uns so manches verhagelt haben:

1362 setzt an der Nordseeküste die zweite Marcellusflut ein, die tausende Menschenleben fordern wird / 1790: Ankunft der „Bounty“-Meuterer auf Pitcairn / 1822 sinkt die chinesische Dschunke „Tek Sing“, mindestens 1.600 Tote / Nepal, 1934. Erbeben 10.000 Todesopfer / Argentinien, 1944: Erdbeben 5.000 Menschen kommen ums Leben / Pokhara, Nepal, 2023: Flugzeugabsturz, 72 Tote / Kasindi, Kongo: 2023: Bombenattentat auf eine Kirche, mindestens 10 Menschen sterben.

 

 

16. JANUAR

 

Erkundung

mit

Aaliyah / Vittorio Alfieri / Ossip Maximowitsch Brik / Anatoli Nikolajewitsch Bukrejew / Inger Christensen / Dead / Dian Fossey /Thomas Fritsch / Carl Andreas Göpfert / Anna Margareta von Haugwitz / Gustavs Klucis / Oleksandr Kysljuk / Radu Paladi / Niccolò Piccinni / Percy Sinclair Pilcher / Har Rai / Raoul Hermann Michael Richter / Gisela Richter-Rostalski / Martin Scherber / Kenneth Sivertsen / Josef Skupa / Susan Sontag / Jules Supervielle / Damo Suzuki / Aleksandar Tišma / Siegfried Uhlenbrock / Ester Wajcblum / Albert Hans-Gustav von Wedell

 

Das machte uns neugierig:

1909 erreichen australische Geologen erstmals den magnetischen Südpol / Liverpool, 1957: Eröffnung des Cavern-Clubs / 1969: erstes Andockmanöver im Weltraum zwischen Sojus 4 und Sojus 5 / Liberia, 2006, Ellen Johnson Sirleaf wird als erste Frau Oberhaupt eines afrikanischen Staates.

 

Ich notierte:

1985: Zweieinhalb Stunden dauerte heute die Straßenbahnfahrt von Leuna nach Halle, allein mehr als eine Stunde wartete man in Buna in Eiseskälte auf einen Schienenersatzbus… Diese Kälte macht passiv, man verliert seine Agilität, erstarrt, wartet, dass es vorbeigeht (wobei das bei für die Witterungsunbilden sicher keine unberechtigte Hoffnung ist), ja, ich glaube, solche Kälte zeugt Demut. Michel Tournier sagt im „Erlkönig“: „Irgendwie muss man durch dieses Loch Januar, Februar kommen.“ Gut, wichtig aber, dass einem nicht das ganze Jahr zum Loch wird…

2000: Nachdenkenswerte Passage im „Gall“ (im Kapitel „1300“): „Bonifaz VIII. setzte ... die Feier von runden «Jubiläen» erst eigentlich in Gang, die seither in öffentlichen wie in privaten Begängnissen festlich erinnert werden. Dabei folgte er nur von ferne einem alttestamentarischen Vorbild: dem des «Jobeljahres». «Jobel» heißt Widderhorn, und mit Widderhörnern sollte laut 3. Mose 25,8-12 nach jeweils siebenmal sieben Jahren, im fünfzigsten Jahr, ein großes «Erlassjahr» ausgerufen werden, in dem in Israel Schulden aufgelöst, Pfänder zurückgegeben, Sklaven freigelassen werden sollten.“ (S.137) Tja, davon sind dann wohl bestenfalls die sogenannten Guten Vorsätze geblieben, wenn überhaupt.

2011: Maria Laach. Obwohl ruhig seit langem, wäre der Laacher See, der ein alter Vulkankrater sei, jederzeit für eine Eruption gut, höre ich. Was allerdings damit gemeint sein könnte, ahne ich in der Sauna des Seehotels.

 

Finish

für

Kenneth Arnold / Ernst Balcke / Wilhelm Reinhard Berger / Arnold Böcklin / Wolfgang Bottenberg / Barthold Heinrich Brockes / Adelaide Smith Casely Hayford / Edward Gibbon / Johannes Gillhoff / Eugene „Gene“ Harris/ Georg Heym / Dave Holland / Frank Hurley / Jaroslav Jeremiáš / Paul Kundt / Gina Lollobrigida / Carole Lombard / Fate Marable / Noro Osvaldo Morales / Leif Panduro / Mirjam Pressler / Ike Abrams Quebec / Heinz Rein / Hiram Rhodes Revels /Anton Schmaus /  Georg Spalatin / Gisela Uhlen / Andrew Wyeth / Boubé Zoumé

 

Das beschloss uns etwas ein für alle Mal:

1219 kommen bei der ersten Marcellesflut an der Nordsee etwa 36.000 Menschen ums Leben / 1362 geht während der zweiten Marcellesflut der friesische Ort Rungholt unter / 1920 begann in den USA die Prohibition / 1945 wird Magdeburg durch einen anglo-amerikanischen Luftangriff schwer zerstört / 1969 verbrennt sich Jan Palach aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings auf dem Wenzelsplatz/ 1991 beginnt der Zweite Golfkrieg.

 

 

17. JANUAR

 

Erster Schritt

mit

Muhammad Ali / Etkar Josef André / Vittorio Benussi / Lotte Berk / Ladan Bijani / Laleh Bijani / Anne Brontë / Charles Brockden Brown / Pedro Calderón de la Barca / Sidney Catlett / Chen Qimei / Dalida / Hryhorij Danylowytsch Epik / Julie Eyth / Benjamin Franklin / Freddie Frinton / Leonhart Fuchs / David Lloyd George / Peggy Gilbert / François-Joseph Gossec / Elsa Gress / Johann Christian August Heinroth / Emmy Hennings / Elisabeth Hering / Douglas Hyde / Ismael Ivo / Wilhelm Kienzl / Eartha Kitt / Coco Lee / Lolita / Zororo Makamba / Matéo Maximoff / Andy Rourke / Sakamoto Ryūchi / Florencio Sánchez / Antonio Scandello / Einar Schleef / Johann Elias Schlegel / Konstantin Sergejewitsch Stanislawski / Artur Streiter / August Weismann / Diederich von dem Werder / Betty White / Joanna Wisnewska / Fritz Wrampe / Jan Alois Zahradníček / Alfredo Zitarrosa

 

Da gingen wir gern voran:

Wien, 1685: der Kaiser erteilt ein erstes Privileg zum Ausschank von Kaffee / 1773 überquert James Cook als erster Mensch den südlichen Polarkreis / London, 1921, der Zauberkünstler P. T. Seibt führt zum ersten Mal eine „Zersägte Jungfrau“ vor /

London. 1946, der UNO-Sicherheitsrat konstituiert sich.

 

Ich notierte:

1985: Eine Inversionswetterlage (polare Kaltluft am Boden, Mittelmeerluft in der Höhe) verhindert das Abziehen der Industrieabgabe. Folge: Smog. Im Ruhrgebiet wurde zum ersten Mal Smog-Alarm ausgelöst, Alarmstufe III. Dort dürfen von 6 – 10 Uhr und von 15 – 20 Uhr keine privaten Autos mehr fahren! In Leuna aber herrscht angeblich Nebel (der natürlich kein Smog ist)…

1991: Gespräch Jürgen Jankofsky(JJ) – Lothar König(LK) -

JJ: Sicher fällt es am Tage nachdem der Golfkrieg begann schwer, sich auf Vorgänge zu konzentrieren, die gut ein Jahr zurückliegen, doch halte ich es für wichtig, unseren Versuch, die Ereignisse des Herbstes 1989 in Merseburg mit diesem Gespräch zu einem Abschluss zu bringen, zumindest aus der Sicht: nichts noch weiter unaufgearbeitet liegen zu lassen. In meinem Bemühen, Merseburger Stadtgeschichte aufzuzeichnen, musste ich feststellen, dass das Jahrzehnte lang bestenfalls partiell gearbeitet worden war, und erstaunlicherweise auch die so genannte Wende kaum dokumentiert ist. Ich denke also, dass dieses Gespräch beitragen kann, eine Chronistenpflicht zu erfüllen. Und vielleicht weist das Gespräch durch die Möglichkeit zu werten und Wertungen zu hinterfragen sogar über eine Chronik im engeren Sinne hinaus, bietet eventuell auch die Chance Hintergründiges, durch Akten oder Aufzeichnungen nicht Belegbares zu erhellen ohne Spekulationen Tür und Tor zu öffnen. Von Anfang an interessierte mich, inwieweit Vorgänge in Merseburg in die republikweiten Entwicklungen eingebettet oder Eigenes, Besonderes waren.

LK: Natürlich waren die Merseburger Ereignisse eingebettet in das was allgemein vorging, sind überhaupt nur von daher erklärbar. Weithin haben wir nur reagiert, auf die Leipziger Fürbittandachten beispielsweise. Leipzig und Berlin spielten für uns die entscheidende Vorreiterrolle, und das Besondere ist sicher darin zu sehen, dass die relativ kleine Stadt Merseburg mit den Ereignissen in Berlin und Leipzig zeitlich einherging. Wir waren immer ziemlich nahe dran an den Entwicklungen. In Erfurt beispielsweise liefen manche Entwicklungen erst später ab. Und eine Besonderheit war wohl auch die Belastung meines Verhältnisses zur hiesigen Pfarrerschaft, die ihrerseits mein Verhältnis zu einigen Mitgliedern des Neuen Forums und dessen Entwicklung belastete. Natürlich kam in der zuweilen minutiösen Beschreibung der Herbstereignisse wieder mal Emotionales hoch. Ich war überrascht, wie sehr mich mancher Vorgang noch betroffen macht. Auf der einen Seite hat diese Belastung sicher manches behindert, auf der anderen Seite hat es wohl Merseburger Realität verdeutlicht. So war es eben, und nicht anders.

JJ: Kann man also auch sagen, das, was in Merseburg lief, weit über Merseburg hinausweist, Typisches für die Entwicklung der Bürgerbewegung zeigt?

LK: Ja, exemplarisch. Hier lief in nur wenigen Wochen ab, was andernorts fast ein Jahr brauchte.

JJ:            Mikrokosmos sozusagen.

LK: Ja.

2022: Oxfam sagt, dass die 10 reichsten Männer der Welt ihr Vermögen in und durch die Corona-Pandemie verdoppelt haben, während 160 Millionen Menschen mehr in die Armut getrieben wurden.

 

Letzter Schritt

für

Tomaso Albinoni / Jakob Arjouni / Kurt Bartsch / Chang Bunker / Eng Bunker / Camilo José Cela / Alexander Sergejewitsch Dargomyschski / Juan Crisótomo de Arriaga / Tarsila do Amaral / Frank-Volker Eichhorn / Erwin von Steinbach / Juan Montalvo Fiallos / David „Junior“ Kimbrough / Alexandre Levy / Elisabeth von Lothringen / Patrice Lumumba / Hans Marchwitza / Juan Montalvo / Lola Montez / Uwe Nettelbeck / Czesław Niemen / Adam Müller von Nitterdorf / Oswald Oberhuber / Johnny Otis / Amilcare Ponchielli / Matthäus Daniel Pöppelmann / Julie Ryff / Warlam Tichonowitsch Schalamow / Albert Israel Schatz / Georges Schehadé / Emilie Scotzniovsky / Skanderbeg / Erwin von Steinbach / Wilhelm Waiblinger / Friedrich Ludwig Zacharias Werner / Yosa Buson / Zhao Ziyang

 

So vergingen uns Hoffnungen an diesem Tag:

1941 ein deutsches U-Boot versenkt im Nordatlantik das Passagierschiff „Almedia Star“, alle 360 Menschen an Bord kommen uns Leben / 1955: Jungfernfahrt des ersten Atom-U-Boots, der amerikanischen „Naztilus“ / 1966 stürzt bei Almeria eine Boeing B-52 der US Air Force mit 4 Atombomben / 1995 fordert das Hanshing-Erdbeben in Japan 6.443 Todesopfer und nehr als 44.000 Verletzte/ Kongo, 2002, beim Ausbruch des Vulkans Nyiragongo sterben 146 Menschen, etwa 500.000 werden oddachlos.

 

18. JANUAR

 

Salto

mit

Seth Abderhalden / José María Arguedes Altamirano / Gonzalo Arango / Pjetër Arbnori / Franz Blei / Julián Carrillo Trujillo / Alexis-Emmanuel Chabrier / Rubén Dario / Gilles Deleuze / Paul Ehrenfest / Emmanuel Chukwudi Eze / Azonhon Faton / Cary Grant / Jorge Guillén / Oliver Hardy / Jizchak Arjei Leo Hirsch / John Hume / Danny Kaye / Franz Theodor Kugler / Misag Medzarents / Alan Alexander Milne / Lucia Moholy / Montesquieu / Odano Naotake / Grigor Stawrew Parlitschew / Pem / Arno Schmidt / Ioan Slavici / Gilles Villeneuve / Kenneth Binyavanga Wainaina

 

Da überschlugen sich uns die Ereignisse:

1654: Vertrag von Perejaslaw zur Freundschaft zwischen Russen und Ukrainern / 1778 entdecket James Cook als erster Europäer Hawaii / Moskau, 1825: Eröffnung des Bolschoi-Theaters / Versailles, 1871, Wilhelm I. wird zum deutschen Kaiser proklamiert / Berlin, 1901, Gründung des ersten deutschen Kabaretts, des „Überbrettl“ / Versailles, 1919, Beginn der Pariser Friedenskonferenz / 2002 endet der Bürgerkrieg in Sierra Leone / Köthen, 2007, Neugründung der ältesten deutschen literarischen Vereinigung, der Fruchtbringenden Gesellschaft.

 

Ich notierte:

1978: Am Abend in den Ausgang – mit Olaf, Flucht aus dem Kasernen-Alltag. Wir hatten uns vorgenommen, heute was Besonderes zu machen – nur noch 99 Tage! – wollten entweder kubanisch oder indonesisch essen, doch nirgendwo kamen wir rein. Wir sahen scheele Blicke auf unsere Uniform und hörten Entschuldigungen. Als hätten wir diese Verkleidung freiwillig angezogen, als wären wir nur halbe Menschen oder was!

1981: Zur ersten Mugge nach einem heftigen Streit mit dem Kapellenleiter igelte ich mich völlig ein, sprach kein Wort, mit niemand. Aber singen muss ich ja, verdammt, und spielen – den Zuhörern Freude bringen… Meingott, wie blöd muss ich einst gewesen sein, als ich beschloss, Berufsmusiker werden zu wollen!

1983: Heute Nacht, gegen elf, der erste Schneefall dieses Winters. Endlich diese schäbige, dreckige, triste Leuna etwas verkleidet, verkleinert, bewohnbar. Und nach vernebelten Tagen wieder Klarheit im Denken. Freude.

2000: Intensive Vorbereitungen auf die morgen beginnende Tagung der Bosch Stiftung, Katalog-, Begleitbuch-, Multimediatexte fertig stellen, ausdrucken, kopieren. Dann für den Bödecker-Kreis noch Projektanträge überarbeiten, um Termine zu halten. Am Abend schließlich nach Halle. Klaus stellt im Steintor aus – Rötel-Zeichnungen seiner 97er Rom-Reise. Stimmungsvolle Eröffnung, Laudatio durch Dr. Schulze, seinem einstigen Lehrer und heutigen Freund. Jeanny und ich fühlen uns durch Klaus’ Zeichnungen sehr an unsere schönen Tage in Rom, im Frühjahr 98, erinnert. Ich bitte Klaus, seine Ansicht der Engelsburg, die wir damals täglich vor Augen hatten, für uns zu reservieren. Jeanny tendiert zu einem Studienblatt übers Forum Romanum. Nun ja, warum nicht zwei neue Bilder erwerben... Wie war das doch gleich mit den guten Vorsätzen...?

Am Abend die Nachricht, dass Helmut Kohl dem unsäglichen Spendenskandal Rechnung trägt und als Ehrenvorsitzender der CDU zurücktritt. Aber das kann’s ja wohl noch nicht gewesen sein, oder kann man in Deutschland als Gesetzgeber ungestraft Millionen am Gesetzt vorbeischieben (selbst wenn’s offenbar meinem Heimatort Leuna durch den Raffinerieneubau nutzte)?

2021: Ich bemerke, dass mich langsam Klaustrophobie anweht: Pandemie-Beschränkungen, eisige Temperaturen – und gemunkelt wird, dass die Bundesregierung morgen sogar eine Ausgangssperre beschließen will, um Corona in den Griff zu bekommen… So gerät mir ein, im Kellergang hängendes Foto unserer Silberhochzeit von 1999 in den Fokus: 30 Leute sind neben darauf zu abgelichtet, 4 sind mittlerweile tot, 18 reden nicht mehr mit uns (oder wir nicht mehr mit denen)… Wenig später lese ich in Philip K. Dicks „Valis“: „Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man aufhört, daran zu glauben.“ Zufall?

 

2024: Am Abend zum Neujahrsempfang ins Merseburger Ständehaus. Wie stets bei solchen Anlässen gute Gespräche, wichtige Abstimmungen, Beziehungspflege… 

 

Salto mortale

für

Peter Abraham / Raúl Gustavo Aguirre / Jürgen Bernt-Bärtl / Pietro Bembo / Charles Bruce Chatwin / David Crosby / Leonor Fini / Glenn Lewis Frey / Renato Guttuso / Friedrich Hollaender / Huan Xianfan / John Charles Francis von Großbritannien und Irland / Anton Kuh / Wimalaratne Kumaragama / Manfred Künne / Rudyard Kipling / Saadat Hassan Manto / Denys Anatolijowytsch Monastyrskyj / Feliks Nowowiejski / Peter K. Palangyo / Wallace Reid / Günter Strack / Tamar / Michel Tournier / Andrea Vaccaro / Alfred Lewis Vail / Carl Zuckmayer

 

Das schlug uns schrecklich auf:

Merseburg, 1538 „hat sich ein Comet sehen laßen, wenn die Sonne untergangen gewesen, mit einem langen schwantze, nach dem morgen sich gestrecket im Zeichen der Fische“ / 1629 billigt der schwedische Reichstag den Eintritt Schwedens in den Dreißigjährigen Krieg / 1934: Erdbeben in Bihar, über 10.000 Todesopfer / 2007 fegt der Orkan Kyrill über Europa, 47 Menschen kommen ums Leben, der Sachschaden beträgt mehr als 1 Milliarde Euro / Browary bei Kiew, 2023: Hubschrauberanbsturz, 14 Tote.

 

 

19. JANUAR

 

Anhörung

mit

Hermann Abendroth / Peter Abraham / Per Daniel Amadeus Atterbom / Jean-Philippe Baratier / Nina Bawden / Henry Bessemer / Boris Blacher / Paolo Borsellino / Paul Cézanne / Isidore Marie Auguste François Xavier Comte / Mady Christians / Israel Crosby / Harry Davenport / Eugénio de Andrade / Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre / Phil Everly / Ferdinand Adolf Gregorovius / Friedrich Hacker / Johann Georg Carl Harrys / Lilian Harvey / Javier Heraud / Walter Kaufmann / Dragotin Kette / Reinhard Lakomy / Maria Leitner / Günter Litfin / Otto Mellies / Gustav Meyrink / Otto Möhwald / Kurt Mühlenhaupt / Mario Nuzzi / Johnny O’Keefe / Robert Allen Palmer / Bruno Paul / Wiktor Iwanowitsch Pazajew / Javier Pérez de Cuéllar / Edgar Allan Poe / Jean-François Revel / Werner Riegel / Walentin Alexandrowitsch Serow / Sophie Taeuber-Arp / Max Tau / Andreas Urteil / James Watt / Matthew Webb / Ziaur Rahman

 

Das hörte sich für uns an diesem Tage doch gut an:

1348 stiftet der englische König den Hosenbandorden / Berlin, 1711, Eröffnung der hiesigen Sternwarte / 1905 startet auf dem Mückenkogel in Niederösterreich der erste alpine Torlauf / 1915 wird in den USA das Patent auf die Neonröhre erteilt / 1919 erhalten Frauen in Deutschland das aktive und passive Wahlrecht / 1945 befreit die Rote Armee das Ghetto Litzmannstadt / 2006 startet eine US-Raumsonde zum Pluto / 2024 landet das japanische Mini-Raumschiff "Slim" auf dem Mond.

 

Ich notierte:

1980: Kein Schnee, aber der Nebel so dicht, dass er sich dick als Reif niederschlägt. Meinen Neujahrs-Vorsatz, wöchentlich Schwimmen zu gehen, habe ich  bis dato noch nicht einlösen können. Aber ich arbeite, schreibe, arrangiere.

1981: Geschrieben werden sollte gleich am Morgen, noch vor dem Aufstehen, die allerletzte Schlafphase mit den schönsten Träumen nutzend, langsam wach werden und das Geträumte nicht wieder in die Unergründlichkeit unserer Hirnwindungen zurückglitschen lassen, sondern sie aufs Papier zu zerren – das ist doch Schreiben!

1985: Nachrichten: Die Smog-Wetterlage hält an, im Ruhrgebiet nun Alarmstufe II. In der „Freiheit“ lese ich: „In den Bezirken Erfurt, Gera, Leipzig und Halle traten zeitweise Nebelschwaden auf.“

2002: „Nur der Zufall kann als Botschaft verstanden werden“ lese ich in Kunderas unerträglicher Leichtigkeit des Seins als Metheneys „Roots of coincidence“ erklingt. Na, wenn das keine Botschaft ist! Nur welche? Vielleicht, welche Musike zur Rührung (und Nach-Denken respektive) beitragen sollte, falls mir eines Tages der ganze Kram hier zufällig doch zu schwer geworden sein könnte? Vielleicht. Denn streng genommen legte ich die Metheney-CD erst ein, nachdem ich jene Kundera-Passage entdeckt hatte. Als ich die allerdings zu jenen Klängen nochmals las, kam mir gewichtig die Idee für diesen testamentarischen Text. Zufall?

2020: Noch immer bin ich seit meinem schnöden Rauswurf als Geschäftsführer eines Literaturvereins, der besonders schmerzte, da er anlässlich meines 65. Geburtstages erfolgte (no comment), damit beschäftigt, meine Arbeitsräume aufzuräumen, „Dienstliches“ von „Privatem“ zu trennen, zu entsorgen oder neu zu ordnen. Dabei entdeckte ich in Schubladen Schätze, die ich längst vergessen hatte, Tondokumente von Walter Bauer beispielsweise (die ich sogleich zu vertonen begann). Und heute nun fiel mir ein Tagebuch in die Hände, dessen letzten Eintrag vom 19.1.2016 ich wie eine Prophezeiung beglotzte: „Heute in 3 Jahren wird mein letzter Arbeitstag als Bödecker-Chef sein – falls ich bis dahin nicht in ein Kreuzfeuer gerate oder Schlimmeres passiert…“ Unglaublich, vor genau 4 Jahren notierte ich das und fand es anlässlich des ersten Jahrestages meiner annullierten Abschiedsfeier wieder (die ja im Merseburger Schloss stattfinden sollte - Ministerpräsident, PEN-Präsidentin, Bildungsministerin, Verbandsvorsitzender, Leuna-Bosse, Landrat, Bürgermeister etc.pp. schon geladen). Wie kam ich dazu, das zu notieren? Weiter ging dieser Eintrag so: „… schwer vorstellbar eigentlich auf der einen Seite, andererseits beginne ich langsam Aufgaben und Verantwortung zu übertragen, beginne Jüngere aufzubauen, einzuarbeiten, beginne loszulassen, um mir nochmals neue Ziele stecken zu können.“ Na bitte, da wollte ich mir also offenbar (hellsichtig) schon Mut fürs Danach machen. Denn immerhin – diese neue Notiz verfasste ich ja soeben, alles ordnend (feierlich).

2018: Heuten in einem Jahr, wirklich genau in einem Jahr, werde ich Rentner sein, offiziell. Testlauf also mal: ich versuche mich nicht über Mails, Anrufe und Anmerkungen zu ärgern, nicht von Nachrichten verunsichern, von (Welt)Ansichten provozieren zu lassen; stattdessen zu lesen, was ich schon seit langem lese wollte, und in Ruhe. Natürlich hätte ich auch aus dem Haus gehen können, Tür zu, doch nicht bei diesem üblen Wetter, nein. Und so verunsichern mich denn im Laufe des Tages zunehmend all die Mails und Anrufe, die ich hartnäckig ignoriere, so sehr schließlich, dass ich mich von dem, was ich seit langem lesen wollte, provoziert fühlte und mich schrecklich ärgerte, klar, über mich.

 

Abgesang

für

Ossi Aalto / Consuelo Álvarez Pool / Upendranath Ashk / Loalwa Braz Vieira / William Congreve / Hrant Dink / Denny Doherty / Mychajlo Opanasowitsch Draj-Chmara / Sammy Drechsel / K. Sello Duiker / Esteban Echeverría / Ulrich Ellenbog / August Heinrich Hoffmann von Fallersleben / Louis Joseph Ferdinand Hérold / Henry Howard / Franz Innerhofer / Hardy Krüger / Hedy Lamarr / Albert Niemann / Elis Regina /Jan Palach / Andy Palacio / Wilson Pickett / Pierre-Joseph Proudhon / Henri Regnault / Hans Sachs / Ettore Scola / Heinrich Seffner / Walter Spies / Wolfgang Staudte / Carola Stern / Sándor Wagner / Mary Weiss / Francesca Woodman

 

Da verröchelte es uns an diesem Tage:

1838 sinkt der Passagierdampfer „Cimbria“ vor Borkum, 437 Menschen ertrinken / 1915 bombardieren deutsche Zeppeline erstmals englische Städte / 1942 torpediert ein deutsches U-Boot den kanadischen Passagierdampfer „Lady Hawkins“, 251 Todesopfer.

 

 

20. JANUAR

 

Auftakt

mit

André-Marie Ampère / Manfred von Ardenne / Ariyoshi Sawako / Hippolyte Bayerd /  Egon Bondy / Ernest Amédée Chausson / Ernesto Cardenal / C. W. Ceram / Jesús Fructuoso Contreras / Euclides da Cunha/ Edeltraut Eckert / Bernt Engelmann / Federico Fellini / Joseph Hector Fiocco / Francesco Gessi / Zénobe Gramme / Theodor Grotthuß /Ludwig Karl Gutbier / Grald Holtom / Johannes Vilhelm Jensen/ Leadbelly / Guillaume Lekeu / Carl von Linné d. J. / Immanuel Löw / Sebasttian Münster / Mel Pritchard / Raymond Roussel / Sebastian I. / Lothar Wolleh / Hiroaki Zakōji

 

Da begann uns etwas zu klingen:

1848: Einführung der parlamentarischen Monarchie in Dänemark / 1880 taucht in San Salvador im Ilopango-See eine Insel auf / 1885 wird die erste Achterbahn in den USA patentiert / Springfield, Massachusetts, das erste Basketspiel wird angepfiffen / Washington D.C., 2009, Barack Obama wird als erster Afroamerikaner als US-Präsident vereidigt.

 

Ich notierte:

1980: Sonnenschein heute, azurblauen Himmel, leichter Frost. Nach dem Frühstück laufe ich zur Straßenbahn. In Merseburg hole ich Wim ab, wir fahren nach Halle, Klubhaus der Gewerkschaften, endlich mal wieder ein Mugge. Tanz-Turnier Begleitung, das nervt. Anfangs mag’s ja gehen, aber wenn man dann zum achtzehnten Male Wiener Walzer, Quickstep, Tango oder wasweißich gespielt hat, kommt das einem langsam aus den Ohren raus.

1999: Traum: Ich sei Europa-Abgeordneter in Brüssel und zeche (wegen der schlechten Zugverbindungen) nächtelang in Parlamentskantinen, erinnere mich dabei einst Musiker gewesen zu sein, musiziere... Nun, bis Brüssel muss ich heute nicht, aber immerhin bis Kunrau, die letzte Woche abgesagte Lesung nachzuholen. Und für Kinder habe ich allerdings nicht nur Bücher dabei, sondern auch meine Gitarre... Vier Stunden fast bin ich unterwegs bis nach Kunrau am Rande des Drömlings. Einem farbenprächtigen Morgenrot folgt strahlender Sonnenschein. Temperaturen bis 12°C. Frühling pur. Während der Fahrt durch immer abseitigere Regionen reime ich mir nach und nach den Titel einer neuen Geschichte zusammen: „Die unglaublichen Kapriolen des Kalle Kartoffelkistrich aus Kaffhausen a. d. Glotze“. Mal sehen ob da irgendwann mal noch eine Geschichte nachreift... In Höhe Oebisfelde merke ich, wie ich nach Resten einstiger Grenzbefestigung Ausschau halte. Erstaunlich, wie einen das 10 Jahre nach dem Wendeherbst nach immer berührt...

2001: Zurück von einer Woche Ostsee-Urlaubs mit Mine, unserer Enkelin, nach einigen Alltagsreiberein mit Jeanny eine sehr schöne, harmonische Woche. Wie viel von dem, was man ansonsten tagein tagaus wichtig scheint, kann plötzlich nichtig werden… Und irgendwie kommt mit in diesen Tagen sogar wieder mein allererster Ausbruchsversuch in den Sinn, als ich als Vierzehn- oder Fünfzehnjähriger mit dem Moped nach Rügen fuhr, mich eine Weile vor allem in der Gegend, wo wir nun im Hotel waren, in der Nähe des Jasmunder Boddens, herumtrieb. Erste Ahnungen von Freiheiten jenseits der Alltäglichkeiten. Und dann in den Zeiten schlimmsten Eingepferchtseins, während „der Fahne“, befreite ich mich ein zweites Mal, indem ich die „Die große Reise“ herunterschrieb, besessen, alles ringsum vergessend. Meine erste längere Prosa-Arbeit (hat die eigentlich die Armeezeit überdauert? – eher nicht) – vielleicht sogar der Anfang meines „Schreiber-Lebens“… Sich Ungeahntes vergewissern, Flüchtiges festhalten, Neuerkanntes bewahren wie Steinchen einer Pyramidenschicht.

2021: Der Lockdown wurde tatsächlich bis 14. Februar verlängert, alllerdings ohne Ausgangssperre. Dafür muss selbst beim Einkauf nun nicht mehr nur eine Stoff-, sondern eine me­dizinische Maske getragen werden, eine sogenannte FFP 2-Maske. Allerdings muss man die kaufen (ich schaue im Internet nach: bestes Angebot knapp 27 Euro für 25 Stück), und deren Wirksamkeit ist vor allem bei Vollbartträgern umstritten (keine vollständige Abdichtung möglich). Ein Wunder, dass die Regierung nicht beschlossen hat, dass ich mir den Bart abrasieren müsse, wenn ich jemals wieder einen Supermarkt betreten will. Und so recht ist nicht herauszufinden, ab wann dies eigentlich gilt. Schabowsk-Effekt. Na, da will ich doch besser gleich mal losfahren und meine Bier-Reserven auffüllen…

2023: Auf Netflix entdecke ich einen Bericht über Paula Scher. Und deren Kartengemälde basieren auf Strukturen, die ausgeschriebene Daten, Namen, Zahlen sind, eine Unzahl von Informationen über die jeweilige Region, Verortungen, deren Form zugleich der Inhalt des Dargestellten ist. Irgendwie erinnert mich diese Methode an das, was ich mit „Jankopedia / Kalendarium“ zu realisieren versuche.

 

Schlusspunkt

für

Claudio Abbado / Kosta Abrašević / Bettina von Arnim / Paul Bocuse / Herbert Boeckl / Amílcar Lopes Cabral / Alan Freed / Edgar Froese / David Garrick / Audrey Hepburn / Etta James / Norman Jewison / HKalākaua / Kurt Kretschmann / Meat Loaf / Georg Lohmeier / Juro Mĕtšk / Gerry Mulligan / Adam Oehlenschläger / John Ruskin / Elza Soares / Karel Soucek / Barbara Stanwyck / Abraham Sutzkever / Paul Ritter Vitezović / Max Waldau / Johnny Weissmüller / Christoph Martin Wieland

 

Da war’s uns unwiderruflich vorbei an diesem Tage:

1841 besetzen britische Truppen im ersten Opiumkrieg Hongkong / Berlin, 1887 sinkt das Auswandererschiff „Kapunda“ vor der brasilianischen Küste, 297 Menschen kommen ums Leben / 1942, die Wannsee-Konferenz zur „Endlösung der Judenfrage“ findet statt / Baku, 1990, Pogrom gegen Armenier.

 

 

21. JANUAR

 

Coup

mit

Ethan Allen / Shantaram Athavale / Erich Birkenhauer / Eduardo Brito / Christian Dior / Snooks Eaglin / Carl Wilhelm Eysenhardt / John Fitch / Gisi Fleischmann / Egon Friedell / Hermann Glöckner / Cheíto Gonzáles / Goryeo / Richie Havens / Benny Hill / Felix Georg Otto Hoffmann / Itō Noe / Ludwig Jacobowski / Günter Lamprecht / Patrick Lequerc / Umberto Nobile / Grigori Jefimowitsch Rasputin / Telly Savalas / Moritz von Schwind / Edwin Starr / Clärenore Stinnes / Ludwig Thoma / Marie Trintignant / Walter Weiße / Horace Wells / Israel Zangwill

 

Da schien uns etwas zu gelingen:

1643 entdeckt Abel Tasman Tonga / 1911: Start der ersten Rallye Monte Carlo / London, 1937, in der BBC läuft live die erste Koch-Sendung /1980 wird die Chinesische Mauer unter Denkmalschutz gestellt

 

Ich notierte:

1988: Auf der Rückfahrt von Berlin (Funk, Verlag) sehe ich einen Trabifahrer den Keilriemen wechselnd und denke: das fehlte mir noch bei all den bisherigen Pannen… Und schon wenige Kilometer weiter leuchtet die rote Kontrolllampe auf – aber es ist nicht nur der Keilriemen, der kaputt ist, sondern gleich die ganze Lichtmaschine. Mit Mühe und Not komme ich nach Hause. Schlimm, wenn man zusehends, da nichts Neues kaufbar ist, von uralten, doch notwendigen Dingen abhängig wird.

1999: Am Morgen nach Magdeburg. Termin im Kultusministerium: Verteidigung des Haushaltsentwurfs des Friedrich-Bödecker-Kreises (dessen stellvertretender Landesvorsitzender ich seit Jahren bin, ja das auch). Wir müssen Kürzungen hinnehmen (welche kulturelle Institution derzeit nicht) können aber auch Kompromisse aushandeln. Am späten Nachmittag zu einem Kolloquium an der Fachhochschule Merseburg. Danach ins Alte Rathaus zum Neujahrsempfang des Merseburger Oberbürgermeister. Keine Frage, mit einem Glas Sekt in der Hand lässt es sich gut Absprachen treffen und Termine vereinbaren...

2020: Unsere erste große gemeinsame Fernurlaubsreise hatten Jeanny und ich in diese Region unternommen, unsere Silberhochzeitsreise, vor gut zwanzig Jahren. Mein Gott, was alles hat sich ereignet seitdem! Unsere Familie ist zerbrochen, wir sind allein. Etliche unserer Silberhochzeitsgäste sind tot. Wir sind Rentner. Die Welt hat sich verändert und gewiss nicht zum Besseren. Jahrelang waren die Gewässer vor Ostafrika berüchtigt wegen Piratenüberfällen, Bilder von ungeahnten Naturkatastrophen ständig im Fernsehen. Als wir hier damals am Traumstrand lagen, brachen eines Tages eine Gruppe von reichen Tschechen für einen Drei-Tages-Tripp nach Madagaskar auf. Madagaskar, wie exotisch, wie verlockend klang das! Da wären wir am liebsten mitgeflogen, dieses Ziel bohrte sich fest in meinen Kopf. Aber ich verdrängte es schließlich, kamen doch ewig schlimme Nachrichten von dieser Rieseninsel mit der einzigartigen Flora und Fauna: Hungersnöte, Unruhen, Überfälle auf Urlauber, und ja, sogar die Pest war hier wieder ausgebrochen, hatte Opfer gefordert – ja, auf Madagaskar, vor dessen Küste bekanntlich in jenem üblen Lied geankert wurde und schon das Wasser in den Kesseln faulte… So hatten wir eine Weile gezögert, als wir dieses Reiseangebot entdeckten, uns dann aber dennoch entschlossen, hatten gebucht, waren nochmals ins Schwanken gekommen, als die Reederei das Anlaufen eines von drei geplanten madagassischen Häfen (ohne Angabe von Gründen) stornierte. Als aber feststand, dass wir dafür einen Tag mehr auf Mauritius zur Verfügung haben würden, hatte ich aber schon mal die Inselpläne wieder herausgesucht, hatten wir geschaut, wie wir bei einem Ausflug unser Silberhochzeitshotel wieder erreichen könnten, mit dem Taxi am besten. Und wir hatten gesehen, dass dabei ein Abstecher zum Cap Malheureux, dem Schicksalsort der großen mauritianischen Liebensgeschichte „Pierre und Virginie“, möglich wäre. Auch dort waren wir selbstredend schon – damals. Und auch schon damals hatte ich J.M.G. Le Clézio gelesen, den großen auf Mauritius geborenen Schriftsteller, der dann 2008 zu Recht den Nobelpreis bekommen sollte, und selbstredend lese ich zu Einstimmung nun auch wieder Le Clézio. Und schon der erste Satz des „Goldsuchers“ trifft genau mein Mauritius-Gefühl: „Immer, soweit ich zurückdenken kann, hab ich das Meer gehört. Und den Wind in den Schuppenblättchen der Kasuarinen, einen Wind, der nie aufhört, auch nicht, wenn man sich von der Küste entfernt…“ Und in „Ein Ort fernab der Welt“: „Den größten Teil des Tages habe ich am Rand des Kasuarinenwäldchens geschlafen. Ich liebe das Rauschen des Winds in den Nadeln… und der Klang des Namens Kasuarine hatte für mich etwas Magisches, wie ein Baum, den es nur in Legenden gibt.“

2021: Zum ersten Mal höre von einer Theorie die besagt, dass Außerirdische mit uns noch keinen Kontakt aufgenommen haben, weil eine Zivilisation, wenn sie einen gewissen Entwicklungsgrad erreicht hat, instabil wir und sich selbst vernichtet. Das ist verdammt nachdenkenswert in dieser Zeit, leider.

 

2024: Durch mit „Verstummen“, vielleicht das Beste, was ich bislang zustandegebracht habe. Schaun wir mal…

 

Rückzug

für

Achim von Arnim / Raimund Berger / Charles Brown / Blaise Cendrars / Matthias Claudius / Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre / Cecil Blount DeMille / Bedros Dourian / Champion Jack Dupree / Franz Grillparzer / Alexander Iwanowitsch Herzen /  Hannah Augusta Jawara / Marie Smith Jones / Terry Jones / Franz Jung / Bert Kaempfert / Mascha Kaléko / Ljuben Stojtschew Karawelow / Walter Kubiczek / Guillaume Lekeu / Wladimir Iljitsch Lenin / Gustav Albert Lortzing / Cecilia Magini / Georges Méliès / Božena Němcová / George Orwell / Jemaljan Iwanowitsch Pugatschow / Peer Raben / Ibrahim Rigowa / Joseph Justus Scaliger / Giles Lytton Strachey / Veljo Tormis / Lamar Williams / Jackie Wilson

 

Da ging’s für uns nicht weiter:

Paris, 1793: Ludwig XVI. wird guillotiniert / 1854 sinkt der Klipper „Tayleur“ auf seiner Jungfernfahrt in der Irischen See, 362 Menschen streben / Bali, 1917, ein Erdbeben fordert etwa 15.000 Todesopfer / Neuguinea, 1951, beim Ausbruch des Vulkans Lamington kommen fast 3.000 Menschen ums Leben / Grönland, 1968, eine Boeing B-52 stürzt nahe der Thules Airbase an und verliert 4 Wasserstoffbomben, von denen nur drei geborgen werden können / Alaska, 2008, mit dem Tod von Marie Smith Jones stirbt die Eyak-Sprache aus / Donezk, 2024: Raketenangriff auf einen Markt, 28 Tote.

 


22. JANUAR

 

Narrativ

mit

Abe Kōbō / Francis Bacon / George Balanchine / Krzystof Kamil Baszyński / Willi Baumeister / Ernst Busch / George Gordon Noel Byron / Samuel „Sam“ Cooke / John Donne / Petr Eben / Sergei Michailowitsch Eisenstein / David Hermann Engel / Arkadi Petrowitsch Gaidar / Pierre Gassendi / Wilhelm Genazino / Antonio Gramsci / David Wark Griffith / Francis Hagerup / Jaime Humberto Hermosillo / Joseph Hill / Joseph Emanuel Hilscher / Robert Ervin Howard / Fritz Houtermans / Michael Kelland John Hutchence / Jorge Ibargüengoita / James Louis „J. J.” Johnson / Leo Katz / Reinhard Keiser / Maksym Krywzow / Piper Laurie / Gotthold Ephraim Lessing / Malcolm McLaren / Tilo Medek / Louis Émile Pergaud / Marília Pêra/ Francis Picabia / Wassiljewitsch Prochorow / Willy Peter Reese / Sylvia Rexach / Werner Schulz / Emilie Scotzniovsky / Ludwig Stollwerck / August Strindberg / Sithu U Thant / Conrad Veidt / Sebastian Vrancx / Walter Werner / Johann Bernhard Wiedeburg / Geoffrey Gurrumul Yunupingu

 

Das erzählen wir doch immer wieder gern:

1506 treffen im Vatikan die ersten Schweizer Gardisten ein / Cuxhaven, 1891: das erste Kreuzfahrtschiff "Augusta Victoria" sticht in See / Paris, 1963, Unterzeichnung des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrages, des Élysée-Vertrages / 2006 wird in Bolivien mit Evo Morales erstmals ein Präsident indigener Abstammung vereidigt.

 

Ich notierte:

1978: Sonnabend. Mit der Straßenbahn nach Halle, weiter ins „Haus der Offiziere“, zur Arbeitsgemeinschaft Schreibende Soldaten. Als erstes schiss mich gleich ein Oberstleutnant an, ich solle gefälligst die Hände aus den Hosentaschen nehmen und ordentlich grüßen! Was ist denn hier los? Konrad, der Leiter ließ auf sich warten – freischaffender Schriftsteller hier in Halle, z.Z. in der Filmhochschule Babelsberg, recht passabler Typ – Dann trug ein anderer Oberstleutnant – auch ein schreibender Soldat- seine Ergüsse vor. Konrad zupfte sich seinen Bart und lächelte. Dann las er uns was von Hemingway und Kirsch vor. Der Offiziersgenosse verabschiedete sich und gleich ging es legerer zu. Bier kam auf den Tisch, ich las Grotesken. Allgemeines Grinsen. Schließlich überredete mich Oberfeldwebel Sänger aus Erfurt, Zirkelmitglied mit Romanambitionen, mit zu einem Fußballspiel zu kommen. Rot-Weiß-Erfurt hatte in Merseburg ein Pokalspiel gegen Buna-Schkopau auszutragen. Zwar war ich noch nie zum Fußball gewesen, aber das hier schein zu passen. Also fuhr ich mit. Sogar das Fernsehen war dann auf Platz, doch irgendwie hatte ich mir das eine Nummer größer vorgestellt. Und als die Merseburger dann auf am Verlieren waren, zog ich es vor, nach Hause zu entfleuchen.

1980: Heute wieder beim Hausarzt, er fragte bloß, wann ich wieder arbeiten wolle. Ich sagte: Montag. Er schrieb mich für Sonnabend gesund. In Dürrenberg erstehe ich „unterm Ladentisch“ eine neue Platte: Simon & Garfunkel „Greatest Hits“, lege die zu Hause gleich auf. Oh Mann, die „guten, alten“ sechziger Jahre. The Boxer beispielsweise spielte ich schon in meiner allerersten Band, im Merseburger Josephsheim, mit Alma, mein Gott, wie jung waren wir da – zwölf, dreizehn? Später arrangiere ich wieder was für die Band.

1990: Im Fernsehen heute Bilder der Demontage des Parteisymbols vom ZK-Gebäude. Diese Partei demontiert sich selbst, ist unfähig sich gegen die alten Strukturen und Apparatschiks zu erneuern. Ich bin nun schon eine Woche nicht mehr Mitglied. Einsame Entscheidung. Doch treffe ich auch immer wieder Freunde und Bekannte, die die gleiche Entscheidung getroffen haben, mein Schwiegervater Schorsch schon im letzten Jahr – mein Vorbild einmal mehr. Es gibt aber auch Leute, die nun eingetreten, Andreas beispielsweise, völlige Überraschung, mit ihm glaubte ich vertraut zu sein, ulkte mit ihm und einem ehemaligen Bezirksleitungsmitglied nach einem Saufabend in den absoluten Wendewirren sogar eine Deutsche Monarchistische Partei gründen zu wollen… Nein, nach irgendwelchen Parteiungen, Gruppierungen drängt es mich nicht mehr, beileibe nicht. Obwohl ich die Gefahr der Isolierung, der Vereinsamung ahne, eine wachsende Gefahr wohl. Bringt Kommerzialisierung Kontakte? Austausch? Ehrlichen? Wenn nicht, dann wenigstens eine gewisse soziale, materielle Sicherheit. Denn die Unruhe, die Unsicherheit wohin das alles führt, ist neben der großen politischen Verunsicherung auch stets präsent. Ich habe ein Autorenbuchladen-Projekt angeleiert, das heute weitergekommen sein könnte, vielleicht könnte die Gründung einer Firma mit dem Wohnungsbaukombinat erfolgen, zum gegenseitigen Vorteil. Sie erhalten etwas instand, indem sie es einer seriösen kulturellen Nutzung zuführen… Mal sehen. Irgendein neues Standbein brauche ich, und ich versuche auch wieder ein bisschen zu Schreiben, indem ich mich in die Kindheit zurückversetze, mich an Überschaubares zu erinnern versuche…

1999: Verregneter, grauer Tag, aber noch relativ warm. Im Künstlerhaus Abschluss des Wochenseminars, in den Pausen und danach diverser Alltagskram. Zu Hause Lust auf alte Songs, Beatles und so. Kommt ansonsten nicht mehr allzu häufig vor. Im SPIEGEL Fortsetzung der Artikel-Serie übers 20. Jahrhundert, Thema diesmal: der Ersten Weltkrieg. Darin zwei (mir) notierenswerte Sätze: „Und es war beileibe nicht nur die deutsche Kunst, die der Krieg entsetzlich und dauerhaft verstümmelte. Ganz Europa kannibalisierte sich in einem einzigartigen Akt kollektiven Selbstmords, verprasste in einer Gewaltorgie gemeinsam, was sein Vermächtnis an das 20. Jahrhundert hätten sein können.“ (Hans Michael Kloth) Und ein Satz aus Franz Marcs Nachruf auf August Macke: „Aber unter tausend Braven trifft eine Kugel einen Unersetzlichen.“

2015: In der Sauna präsentierten sich drei Rubensdamen vis-a-vis. Rasch kamen wir ins Plaudern und ich erfuhr so manches über Liberta, Egalita und Fraternita. Schließlich meinten sie jedoch, nicht für ihren Geist würde ich mich interessieren, sondern nur für ihre Körper und ließen mich sitzen. (Träumte mir.)

 

Menetekel

für

Niels Aagard / Abbé Pierre / Abe Kōbō / Rosa Maria Assing / Fredric Bajer / Peter Bardens / Fred Bertelmann / Wilhelm Dodel / Elke Erb / Emil Erlenmeyer / Duke Kahanamoku / Kawatake Mikuami / Else Lasker-Schüler / Ursula K. Le Guin / Heath Andrew Ledger / Simon Leduc / Jaki Liebezeit / Karl Ludwig Nessler / Max Nordau / Pak Wanso / Jeremy Ruehlemann / Telly Savalas / Jean Simmons / Jan Skala / Edward „Teddy“ Solomon / Nikolai Michailowitsch Suetin / Thích Nhất Hạnh / Rick van der Linden / Jan van Leiden / Giovanni Battista Velluti / Victoria / Roman Vishniac / Roger Vitrac / Claire Waldoff / Sándor Weöres / Wilhelmine von Wickenburg-Almasy / August Willich / Alfred Wolfenstein / Xiao Hung

 

Das wurde uns leider wahr an diesem Tag:

1349 werden alle Juden Speyers bei einem Pogrom ermordet / Merseburg, 1562 „früh zwischen 3 u. 4 uhr ist ein solch Ungestühm gewesen von Wind Donner Hagel u. Schloßen, daß man gemeynet, der Tag des Herrn sey vorhanden, denn es durcheinander gangen u. gebrauset, als ob Posaunen von ferne in der Lufft schalleten u. die Schloßen sahen wie glühende Kohlen.“ / 1873 sinkt der Klipper „Northfleet“ vor der Küste von Kent, 293 Menschen kommen ums Leben / 1901 mit dem Tod Queen Victorias endet das Victorianische Zeitalter / 1905 werden beim Petersburger Blutsonntag mehr als 1.000 Demonstranten erschossen, was eine Revolution auslöst / 1906 läuft der Passagierdampfer „Valencia“ vor Vancouver Island auf ein Riff und sinkt, 136 Todesopfer / 1932 Niederschlagung des Volksaufstandes in El Salvador, bei dem insgesamt mehr als 30.000 Menschen vom Militär getötet werden, Kairo, 1973, ein Flugzeug mit Pilgern verunglückt auf dem Rückflug von Mekka, alle 202 Insassen sterben / Mogadischu, 2023: islamistischer Terrorüberfall, 11 Tote / Liangshuie, Yunnan, 2024: Erdrutsch, mindestens 20 Menschen kommen ums Leben.

 

 

23. JANUAR

 

Check in

mit

Ernst Karl Abbe / Jean-Michel Atlan / Cora Berliner / Georg Bernhard Bilfinger / Gottfried Böhm / Friedrich Casimir / Muzio Clementi / Camilla Collett / Cyril Davies / Gertrude Belle Elion / Ortholph Fomann d. Ä. / Jorge Eliécer Gaitán /Konstanty Ildefons Gałczyński / Christoph Graupner / Hans Hass / David Hilbert / Alexander Keirincx / Wolfgang von Kempelen / Volker Krämer / Jakob Michael Reinhold Lenz / Éduard Manet / Anatoli Tichonowitsch Martschenko / Friedrich von Matthison / Jeanne Moerau / William George Morgan / Wilhelmine Mylius / Anita Pointer / Jean „Django“ Reinhardt / João Ubaldo Ribeiro / Tatjana Nikolajewna Sawitschewa / Luis Alberto Spinetta / Karl Stanka / Stendhal / Gottfried Heinrich Stölzel / Jesse Thoor / Christian August Vulpius / Derek Walcott / Michel Warlop / Yukawa Hideki

 

So bezogen wir an diesem Tage neue Positionen:

1571, eröffnet Queen Elisabeth I. die erste Londoner Börse / 1710: August der Starke verfügt die Errichtung der Meißener Porzellanmanufaktur / 1739: in Norwegen wird die Volksschulpflicht eingeführt / Paris, 1803: Gründung der Académie des Beaux-Arts / 1874 verabschiedet der Preußische Landtag das Zivilehe-Gesetz, wonach nun Scheidungen in Deutschland möglich werden / Malolos, 1899, Ausrufung der Ersten Philippinischen Republik / 1986 werden erste Mitglieder in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen.

 

Ich notierte:

1980: Beizeiten fahre ich nach Deuben. Mittag soll im Klubhaus ein Gespräch mit den Leitern der Gruppen stattfinden, die mein Auftragswerk umsetzen sollen. Und ich denke, ich höre nicht recht – die versuchen mir alles zu zerreden, völlig. Der Text reflektiere doch bloß Vergangenes, und unsere Bergleute wollten doch auch ihre heutigen Erfolge gewürdigt und auch Perspektiven gezeigt bekommen… Und die Musik sei viel zu schwer, der Paul beispielsweise, könne doch kein hohes Fis blasen, und der Otto schaffe das tiefe G nicht mehr. Und überhaupt, da müsse geprobt und geprobt werden, um das Ganze dann nur einmal aufzuführen, beim Festakt am 8. Mai. Ich erwidere, nein, das sei der Festakt, so sei es besprochen und genehmigt. Schließlich kommt heraus, dass die Herren Leiter keine Partitur lesen können, ich nun auch noch einen Klavierauszug liefern soll, alles in C bitte! Unglaublich, ich muss mich also von vertrottelten Provinzmusikern vorführen lassen? Fast hätte ich die Noten eingepackt und wäre abgehauen. Aber ich drehe den Spieß um, sage, wenn sie das, was ich vertragsgemäß geliefert habe, nicht umzusetzen vermögen, läge das wohl nicht an der Qualität des Stückes, sondern an der Unfähigkeit der Leiter. Nein, das bleibt alles so wie es ist, keine Vereinfachungen. Mein einziger Kompromiss: ich werde noch einen Klavierauszug schreiben. Sollen sie zusehen, wie sie damit klarkommen! Zu Hause liegt ein Riesenberg Briketts vor der Tür. Das passt. Ich schippe mir die Wut ab. Doch als ich dann erschöpft in der Küche sitze klingelt’s. Die Strom-Frau will die Rechnung beglichen haben und knöpft mir das letzte Bargeld ab. Was für ein schwarzer Tag!

1982: Der Tag in Berlin, bei Katrin Pieper, war sehr erfolgreich. Meine jetzige Fabel für „Sprachlos“ wurde akzeptiert, als gut empfunden. Das war also offenbar der Einstieg in den Verlag. Ich solle das Kinderbuch möglichst bis Ende des Jahres zu Ende schreiben, dann käme der Titel 1983 ins Verlagsprogramm. Bis dahin werde ich einen Fördervertrag bekommen! Und zur gestrigen Schriftstellerverbandstagung im halleschen Presseklub überschlugen sich die Ereignisse dann bald: Deichfuß will veranlassen, dass mein Essay über das Kind im Brigadetagebuch neben einem ähnlich gelagerten Text von ihm in die Begleitmappe der Konferenz eingehen soll, die der Verband anlässlich der Tage der Kinder- und Jugendliteratur ausrichten will. Dann ein Gespräch mit Steinmann, der mit mir über meine Leuna-Projekte reden will. Und dann sitze ich mit Rähmer und Korall am Biertisch und – mit Neutsch! Und nachdem der seinen Story über den Entzug seiner Fahrerlaubnis los ist, beginnt sich sogar Neutsch für meine Leuna-Projekte zu interessieren. Ich solle das, von dem er da höre, unbedingt schreiben, könne ihm, falls ich Vertrauen zu ihm habe, jederzeit was zum Lesen geben. Und schau an: Korall meint dann, dass allein dieses Interesse der Anstoß sein könnte, mal beim Mitteldeutschen Verlag vorzusprechen (wo er ja auch Lektor ist).

2021: Es schneit mal wieder, nasser Schnee. Weltweit wurden mittlerweile mehr als 96 Millionen Corona-Fälle registriert, mehr als 2 Millionen Tote, in Deutschland mehr als 2 Millionen Fälle und mehr als 50.000 Tote.

2023: Für den Abend bin ich zum Merseburger NeuJahrsempfang ins Ständehaus eingeladen. Und obwohl hier aufrgund meines Drängens seit Jahren erstmals wieder die Bürgermedaille verliehen wird, ziehe ich es vor, nicht teilzunehmen. Zwar erhält der einstige Rektor der Merseburger Hochschule, Professor Zwan-ziger, wie von mir vorgeschlagen, diese Auszeichnung, doch auch der längjährige Vorsitzende des Merseburger Altstadtvereins. Und diesen Verein habe ich zwar nach der Wende mitgegründet, war aber schon vor Jahren ob dessen Cliquenwirtschaft und Mauscheleien unter Protest ausgetreten. Zudem will sich mein spezieller Freund George durch die Übergabe eines Siegfried Berger Gedichtes in Szene setzen. Nee, da müsste ich wohl zwei Typen die Hand schütteln, denen ich partout nicht die Hand schütteln will. Und a propos Händeschütteln: noch immer grassiert eine Grippewelle…

 

Check out

für

William Baffin / Jimmy Bain / Samuel Barber / René Beeh / Joseph Beuys / Big Maybelle / Frances Brooke / Robert Montgomery Bird / Ernst Blass / Johnny Carson / Claude Chappe / John Cleland / Allen Larkin Collins / Lil Dagover / Salvador Dalí / Ignazy Domeyko / Gustave Doré / John Field / Friedrich de La Motte Fouqué / Reinhold Frank / Arthur Guinness / Adolf Jensen / Albert Johannsen / Terry Alan Kath / Karl Maria Kertbeny / Larry King / Charles Kingsley / Wilhelm Klemm / Jaroslav Křička / Friedrich de La Motte Fouqué / Lobengula / Otto Lühtje / Hugh Ramapolo Masekela / Jonas Mekas / Jean-Claude Mézières / Helmuth James Graf von Moltke / Edvard Munch / Arthur Nikisch / Helmut Newton / Kid Ory / Otto III. / Nicanor Parra / Gudrun Pausewang / Anna Pawlowna Pawlowa / Johann Wilhelm Ritter / Paul Robeson / Melanie Safka / Adel Salameh / Helene Schjerfbeck / Bobby Sherwood / Osvaldo Soriano / Giambattista Vico

 

So verließen uns an diesem Tage Hoffnungen:

Shaanxi, 1556: folgenreichstes Erdbeben der Menschheitsgeschichte mit schätzungsweisen 830.000 Toten / 1793: Preußen und Russland beschließen die zweite Teilung Polens / Ladysmith, 1900, Beginn des Zweiten Burenkrieges / 1909 fordert ein Erdbenen im Iran 5.500 Opfer / 1913: Militärputsch der Jungtürken unter Enver Pascha / Thüringen, 1930: erste Beteiligung der NSDAP in einem deutschen Bundesstaat .

 


24. JANUAR

 

Einreise

mit

Johann Baptist von Alxinger / Ruth Asawa / Vicki Baum / John Adam Belushi / Uwe Bohm / Uwe Bohm / Ernest Borgnine / William Copley / Pierre Augustin Caron de Beaumarchais / William Congreve / Bernd Eichinger / Farinelli / Friedrich II. „Der Große“ / Erich Giersberg / Gustav III. / Hadrian / E. T. A. Hoffmann / Karl von Holtei / Vitězslava Kaprálová / Friedrich von Logau / Ludwig Mittermaier / Wolf Friedrich Magnus von Niebelschütz / Klaus Nomi / Johann Christian Reinhart / Timotheus Ritzsch / Eugen Roth / Wiktor Borissowitsch Schklowski / Paruyr Sevak / Sharon Marie Tate / Joseph Vilsmaier / Edith Wharton / Christian Wolff / Warren William Zevon / Albin Zollinger

 

Da betraten wir Neuland:

Berlin, 1809: Carl Friedrich Zelter gründet die erste deutsche Liedertafel / Suttler’s Mill, 1848: Beginn des Kalifornischen Goldrausches nach dem Fund eines Nuggets / 1860: Étienne Lenoir erhält ein Patent auf den von ihm entwickelten Gasmotor / 1935: in den USA kommt erstmals Dosenbier in den Handel / 1984: der erste Apple Macintosh Computer wird vorgestellt

 

 

Ich notierte:

1986: Heute ein Gespräch über mein Leuna-Lichtmeß-Manuskript in großer Besetzung: Erik Neutsch, Edith Bergner, Steinmann, Rähmer, Korall, Jendryschik, Konrad –nur der Mitteldeutsche Verlag glänzt mal wieder mit Abwesenheit. Bei aller Unterschiedlichkeit in den Einschätzungen aber eine Tendenz: keiner sieht, dass das ein Buch werden könnte. Das Erstaunlichste: keiner versteht offenbar, was ich hier zu machen versuche: dass die Spergauer Lichtmeß nicht irgendein oller Brauch, sondern etwas unbedingt Bewahrenswertes – zumal hier, im Kontrast zu Leuna. Das, was die jungen Spergauer machen, könnte doch Heranwachsende (und natürlich auch Alte) generell motivieren. Solches Engagement für Tradiertes weist doch in die Zukunft, oder? Bin ich verrückt?

1999: Einmal mehr ein Sonntag, der seinem Namen alle Ehre macht. Am Vormittag spüre ich jedoch noch die Nachwehen des gestrigen Abends: Wursttanz in Spergau, alljährlicher Vorbote des großen Lichtmeßfestes. Vormittags am „Dienstag im November“ weiter geschrieben. Nachmittags das Arbeitszimmer aufgeräumt, uralte Notizen und Manuskripte aussortiert, dabei längst vergessene Tagebücher gefunden. Wie eine Nachricht aus einer anderen Welt lese ich, was ich auf den Tag genau vor 20 Jahren notierte: Lange geschlafen, dann Scholochows „Der Stille Don“ ausgelesen, ein Lied geschrieben und am Abend Monopoly gespielt...

 

Ausreise

für

Schulamit Aloni / Andres Alver / Theo Angelopoulos / Gene Austin / Homi Jehangir Bhabha / Hedwig Bleibtreu / Moritz Brosig / Jean-Baptiste-Michel Bucquet / Winston Churchill / George Dewey Cukor / Bernd Eichinger / Friedrich Feuerbach / Friedrich von Flotow / Alexander Moritz Frey / Adolf Frohner / Heinrich Geißler / Vadim Glowna / Hiraga Gennai / Bernd-Dieter Hüge / Mary Phelps Jacob / Ján Kollár / Gordon MacRae / Marvin Lee Minsky / Amedeo Clemente Modigliani / Uğur Mumcu / Abd ar-Rahman Munif / Avelino Muñoz Barrios / Casimir Jerzy Oberfeld / Victoria Ocampo / Conrad Paumann / David Graham Phillips / Ole Johan Samsøe / Felix Timmermans / Horace Wells / William Griffith Wilson

 

Da schlossen sich uns Grenzen:

1966 zerschellt eine Boing 707 am Mont Blanc, alle 117 Insassen kommen ums Leben / 1976: ein Erdbeben im türkischen Muradiye fordert 3.850 Opfer / Moskau, 2011: bei einem tschetschenischen Terroranschlag am Flughafen Domodedowo sterben 36 Menschen, 152 werden verletzt / Yaoundé, 2022, Massenpanik vor einem Fußballspiel: 8 Tote.

 


25. JANUAR

 

Hausse

mit

Ernst Fredrik Werner Alexanderson / Miguel Alfonseca / Roy Black / Robert Burns / Luigi Luca Cavalli-Sforza / Youssef Chahine / Roman Josef Cycowski / Hans Coppi / Betico Croes / Herbert Eulenberg / James Gordon Farrell / Govaert Flinck / Wilhelm Furtwängler / Joseph Görres / William Hayes / Paul Hofhaimer / Jang Ja-yeon / Friedrich Heinrich Jacobi / Karoline Jagemann / Etta James / Juraj Jánošik / Antônio Carlos Jobim / Dean Jones / Ursula Kurz / Emil Ludwig / Kurt Maetzig / William Somerset Maugham / Florence Mills / Joseph-Louis Lagrange / Harold Llyod jr. / Daniel Casper von Lohenstein / Mathilde von Österreich-Teschen / Charles Grafton Page / Pablo Palacio / Katja Paryla / Paul Pörtner / Ilya Prigogine / Todor „Toše“ Proeski / Robert Rex / Werner Schneyder / Hans Strøm / Marta Traba / Joop Westerweel / Virginia Woolf / Wladimir Semjonowitsch Wyssotzki

 

Da stiegen uns die Kurse:

Moskau, 1755: Gründung der ersten russischen Universität / London, 1774: Eröffnung des ersten Grand Hotels der Welt / 1890 vollendet die amerikanische Journalistin Nellie Bly ihre Weltreise auf den Spuren von Phileas Fogg am 73. Tag / 1921 wird das Burgenland in die Republik Österreich eingegliedert / 1955 beendet die UdSSR per Erlass den Kriegszustand mit Deutschland / 2011 beginnen in Ägypten im Zuge des Arabischen Frühlings Massenproteste gegen die Regierung

 

Ich notierte:

1974: Feierabend und ab in den Probekeller, zur Aufnahme unserer Eigenkompositionen. Wir spielen uns ein, bauen die Anlage um, so dass wir bestmögliche Aufnahmen bekommen können. Jimmy hat sich mittlerweile hat eingepegelt, Tonband läuft! Und in Kleinarbeit spielen wir zuerst die Urbänder ein, die Titel ohne Gesang also. Bis gegen 21.00 Uhr haben wir acht Urbänder geschafft. Wir bauen wieder um und besingen bis weit nach Mitternacht die Urbänder. Erschöpft hören wir uns endlich die Produkte an, machen uns auf dies und das aufmerksam, sind aber recht zufrieden. Funkreife Aufnahmen sind das zwar längst noch nicht, aber auf jeden Fall die besten, die uns jemals gelangen.

1980: Heute Mugge in Dessau, vorher Probe. Felix hat Wort gehalten und beim Rat des Bezirkes meinen Berufsausweis ändern lassen. Nun bin ich also Musiker der Sonderklasse mit Kapellenleiter-Befähigung, Zuschlag: 100%! Und er kündigt an, dass wir in März auf Auslands-Tournee gehen werden, in die Tschechoslowakei. Da kommt Freude auf!

1999: I don’t like mondays-Stimmung, verstärkt noch vom Wochenend-Nachkater-Gefühl und einer leichten Erkältung. Anlesen gegen diese Verlorenheit, die Musik aber, die ich mir dazu aussuche, passt wieder ins „Stimmungsbild“: Terje Rypdal, Bill Frisell, Tom Waits. William Gaddis: „Die meisten anderen Leute sind nur deswegen so clever, weil sie nicht wissen, wie sie ehrlich sein sollen.“

2000: Der Spergauer Bürgermeister bittet mich, ein Buch über die Lichtmess zu schreiben. Ich solle mal ein Angebot machen. Klingt gut.

 

2024: Am späten Nachmittag ins Landesarchiv nach Merseburg. Der Leiter hält einen Vortrag zum Einfluss des Pietismus auf unsere Sekundogenitur. Interessante Aspekte. Auffälig, bei derlei Veranstaltungen sind immer so ziemlich die gleichen Leute da, die kulturtragende Schicht ist hier verdammt dünn geworden seit jenen Zeiten….

 

Baisse

für

Claribel Alegría / Fabian Gottlieb von Bellingshausen / Ruth Berghaus / Fanny Blankers-Koen / Robert Challe / Lucas Cranach d. J. / Klaus Froboese / Ava Gardner / Thomas Garrett / Yvonne Georgi / Beno Gutenberg / Edmond Halley / John Vincent Hurt / Élie Kagan /  Ernst August Friedrich Klingemann / Marie Loeper-Housselle / Maria Marc / Harry Mathews / Ouida / Elias Parish Alvars / Vinzenz „Zenz“ Peristi / Alfons Maria Petzold / Demis Roussos / Ernst Georg Schnabel / Anselm Viola i Valentí / Wilhelm Weitling / Dorothy Wordsworth / Attila Zoller

 

Da stürzten uns die Kurse ab:

1348 versucht ein Erdbeben im Friaul Schäden im Umkreis von mehreren hundert Kilometern / Merseburg, 1637: „führte die Sala wieder Hoch waßer so daß etliche Menschen umbkommen.“ / 1939 fordert ein Erdbeben im Norden Chiles etwa 28.000 Opfer / 1971 putscht sich Idi Amin an die Macht in Uganda / 1990 kommen in Nord- und Mitteleuropa 94 Menschen durch den Orkan Daria ums Leben / 2005 kommen bei einer Massenpanik in einem Tempel im indischen Maharashtra 330 Menschen zu Tode.

 


26. JANUAR

 

ABC

mit

María Luisa Anido / Louis Anquetin / Sabino Arana Goiri / Arafat Muana / Achim von Arnim / Friedrich Bischoff / Erwin Blumenfeld / Helmina von Chézy / Bessie Coleman / Ólafur Davíðsson / Pierre Savorgnan de Brazza / Patrick Dewaere / Coxsone Dodd / Dōgen Zenji / Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg / Ernst Richard Ferdinand Feldtkeller / August Froehlich / Delphine Gay / Rupprecht Geiger / Stéphane Grappelli / Claude Adrien Helvétius / Karl Raimund Hofmeier / Soad Muhammad Kamal Hosny / Therese von Jacob / Giovanni Lanfranco / Benjamin Lay / Eli Marcus / Bernhard Minetti / Rudolf Moroder Lenért / Narabayashi Chinzan / Paul Leonard Newman / Alfons Hermann Paquet /Paul Jerrod Pena / Jean-Baptiste Pigalle / Aloys Pollender / Magnus Poser / María Rivas / Peter Ronnefeld / Théo Sarapo / Rudolf Alexander Schröder / Meeno ter Braak / Johann Henrich Ursinus / Roger Vadim / Eddie Van Halen / Yva / Jens Zetlitz / Malka „Mala“ Zimetbaum

 

Das konnten wir gut buchstabieren:

1699 beendet der Friede von Kattowitz den Großen Türkenkrieg / 1827 trennt sich Peru von Großkolumbien / 1871 wird Rom zur Hauptstadt des Königreiches Italien / 1905 bei Pretoria wird der bislang größte Rohdiamant gefunden, der Cullinan / 1915: Gründung des Rocky-Mountain-Nationalparks / 1926 führt John Loge Baird der Royal Institution of Great Britain den ersten funktionierenden Fernseher vor / 1993 Wahl von Václav Havel zum Präsidenten der Tschechischen Republik /

 

Ich notierte:

1981: Am Nachmittag leere ich in der Leunaer  Buchhandlung mal wieder mein Regal, hole all die Bücher, die sich seit meiner letzten Bestellung angesammelt hatten, ab. 180 Mark, das ist viel Geld. Und doch gebe ich es leichten Herzens aus. In jedem neuen Buch hoffe ich, etwas zu entdecken, was mir etwas gibt, was mich weiterbringt. Klar, wenn man schon vorm Lesen wüsste, was genau drinsteht, könnte man sich vielleicht beschränken. So hat sich im Laufe der Zeit natürlich eine große Hausbibliothek angesammelt, mit Ballast dabei – den ich aber auch nicht missen möchte. Es ist durchaus ein Unterschied, ob man ein Buch aus der Bibliothek oder nur aus dem Wohnzimmer holen muss, um etwas nachzuschlagen. Ja, man will sich mit Freunden umgeben und die jederzeit befragen können.

1982: Am Abend ins Kino: „The Band“. Ein guter Film, der mir ein kleines Stück meiner Jugend in Erinnerung bringt. Und dabei zugleich bei manchen Songs das Bewusstwerden, dass diese Zeit endgültig vorbei ist. So heftig wie die Musik mein Leben war, schmerzt mich bei mancher Erinnerung die Endgültigkeit des Vergehens schlechthin, wird irgendwie greifbar. Ein Strohhalm vielleicht?

1985: Jahrestagung des halleschen Schriftstellerverbandes in Königendorf bei Dessau. Ich bin als Gast eingeladen. Insgesamt eine peinliche Veranstaltung, Bla Bla, am Abend dementsprechendes Besäufnis. Mit Konrad habe ich aber ein (wohl vom Klaren geschliffenes) Gespräch. Er sagt, mein Kinderbuch wird große Wertschätzung erfahren, wenn es dann da ist, doch muss ich höllisch aufpassen, dabei nichts falsch einzuschätzen: es wird um das Objekt, um die von mir beschriebene Sache als solche gehen, nicht um das Geschriebene an und für sich, und schon gar nicht um mich. Ja, ich weiß. Klaus Schumann, meinem Chef im Literaturzentrum, gegenüber äußere ich trunkene Kündigungsabsichten, ein Versuch wohl, mir einen Absprung organisieren zu können…

1999: In meinen alten Tagebüchern blätternd wird mir wieder bewusst, dass ich mir am Jahresanfang 1979 das Rauchen abgewöhnte. Ein Jubiläum, schau an. Ob ich mich in 20 Jahren erinnern werde, dass ich im Januar 1999 (ärztlichen Rat befolgend) bemüht war, mein Gewicht zu reduzieren, um eine Apnoe zu dämpfen? Möglichst Mittagessen ausfallen lassen, Hometrainer strampeln, abends ein Bierchen weniger und so...

2000: Am Nachmittag Termin bei der Merseburger Sparkassendirektorin. Zurückgehend auf meine Chronik möchte man in diesem Jahr das 165. Gründungsjubiläum feiern und bittet mich, im Laufe des Jahres die Festschrift zu entwickeln. Klar, wird gemacht (falls der Organisations- und Kostenplan, den ich nun als Erstes schreiben werde, bestätigt wird…).

2012: Ankunft auf dem Bandaranaike-Airport frühmorgens halb fünf. „Nur“ 25°C – gute Chance, sich ans Klima zu gewöhnen, denn laut Wetterprognose sollen’s hier heute mindestens 32°C werden. In der dichten Menschtraube am Ausgang entdecke ich einen jungen Mann, der ein Schild hochhält: Mr & Mrs Juergen Jankofsky. Und schon erfahren wir, dass dies unser Fahrer & Guide für die gesamte Rundreise ist, dass er Indi heißt, halbwegs Deutsch spricht und Mr & Mrs Juergen Jankofsky und er die gesamte Reisegruppe sind. Im Reisevertrag stand, dass die Gruppe mindestens 4 und höchsten 10 Leute groß sein wird – was uns schon eine Busgruppe befürchten ließ. Schwein gehabt also – und schon steigen wir denn in Indis Limousine - und los geht’s.

2021: Mein Freund Paul Bartsch hatte mir vor einiger Zeit „Report der Magd“ von Margaret Atwood empfohlen. Endlich habe ich dieses wichtige Buch nicht nur gelesen, sondern auch dessen jüngst erschienene Fortsetzung „Die Zeuginnen“, und nicht zuletzt habe ich im stream die Verfilmung gesehen, die dreistaffelige Serie „The Handmaid’s Tale“, beeindruckend inszeniert, berührend gespielt, und tief nachdenklich machend: Verortet ist die Story in Gilead, einem Folge-Staat der USA, in dem die Evangelikalen an der Macht sind, und diese brutal anwenden, um vor allem Frauen zu unterdrücken, zu erniedigen, zu entwürdigen, dabei jedoch stets bigott daherschwafeln, die Welt erretten zu wollen. Was für eine Warnung vor dem, was kommen könnte!

 

SOS

für

Doris Abeßer / Sebastian Abratzky / Ales Adamowitsch / Georges Aeby / Johann Christoph Friedrich Bach / Black / Henry Briggs / Harold Brodkey / Kobe Bean Bryant / Julia Margaret Cameron / Kenny Clarke / Max Daetwyler / Gregorio De Ferrari / José Ferrer / Max Daetwyler / August Everding / Gérard de Nerval / Théodre Géricault / Jeanne Hébuterne / Thomas Theodor Heine / Johann Friedrich Henckel / Gladys Horton / Jean-Claude Izzo / Robert Jacobsen / Edward Jenner / David Kato Kisule / Jean-Christophe Lafaille / Michel Legrand / Ulrich von Liechtenstein / Johann Matthäus Meyfart / Christian Gottlob Neefe / Johannes Olearius / Sulchan-Saba Orbeliani / Nicolaus August Otto / Geoffrey Parsons / Thomas Platter d. Ä. / Pierre Rameau / Ryōgen / Hermann Schaaffhausen / Fritz Selbmann / Ernst Stankowski / Nikolai Iwanowitsch Wawilow / Akaki Zereteli

 

Da wurde uns Not signalisiert:

Lissabon, 1531: Erdbeben, etwa 30.000 Tote / 1788 kommen die ersten Siedler in der australischen Sträflingskolonie Sydney Cove ein / 2001: Erdbeben im indischen Bundesstaat Gujarat, etwa 20.000 Tote.

 


27. JANUAR

 

Konzert

mit

Christen Lauritsen Aagard / Juan Vitalio Acuña Núñez / Fred Åkerström / Waldir Azevedo / Lewis Carroll / Kevin Coyne / Juan Crisótomo de Arriaga / Willy Fritsch / Kim Gardner / Gottfried Christoph Härtel / Otto Hettner / Helmut „Helle” Hirsch / Julius Hübner / Bobby Hutcherson / Elmore James / Eduard Künneke / Édouard Lalo / Tsietsi Mashinini / Katherine Mayo / Wilhelm Morgner / Wolfgang Amadeus Mozart / Demba Nabé / Balthasar Neumann / John Andrew Howard Ogdon / Adam Wassiljewitsch Olsufjew / Oran Thaddeus Page / Donna Reed / Mordechai Richler / Sabu / Leopold Ritter von Sacher-Masoch / Michail Jewgrafowitsch Saltykow-Schtschedrin / Friedrich Wilhelm Joseph Schellling / Ingrid Thulin / Beatrice Muriel Hill Tinsley / Marcel Tyberg / Hannes H. Wagner / Helmut Zacharias

 

Das klang uns gut an diesem Tage:

1080 endet die Schlacht bei Flarchheim zwischen Heinrich IV. und Rudolf von Rheinfelden wegen schlechten Wetters unentschieden / 1763 wird Rio de Janeiro neue Hauptstadt Brasiliens / 1944 endet die 900-tägige Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht / 1945 befreit die Rote Armee die verbliebenen Gefangenen des KZ Auschwitz – seit 1996 ist dieser Tag in Deutschland nationaler und seit 2005 laut UNO-Proklamation internationaler Gedenktag für die Opfer des Holocaust / Paris, 1973: die USA und Nordvietnam unterzeichnen einen Vertrag zum Waffenstillstand im Vietnam-Krieg.

 

Ich notierte:

2000: Nachmittag mal wieder Muße zum Lesen. Komme endlich mit dem von Lothar Gall herausgegebenen Band „Das Jahrtausend im Spiegel der Jahrhundertwenden“ zu Ende. Im letztes Kapitel, verfasst von Gustav Seibt geht’s folgerichtig um das 20. Jahrhundert und das Jahr 2000. Darin einiges notierenswerte Sätze: „1989 endete ein vergeblicher geschichtsphilosophischer Emanzipationsversuch – trotzdem war der Fall der Mauer der glücklichste Augenblick des 20. Jahrhunderts, denn er machte die Weltgeschichte wieder zu einer Angelegenheit menschlicher Entschlüsse mit all ihrer Unberechenbarkeit.“

2002: Gestern sah ich nach gut 15 Jahren Olaf wieder (mit dem zusammen ich „diente“) Herrn Kammersänger Bär. Er gastiert in den Franckschen Stiftungen, danach gehen wir essen und haben einen schönen, entspannten Abend in Leuna daheim. Alles sehr selbstverständlich. Heute bringe ich ihn zum Zug. Abschied für wie lange? Freunde zu halten wird zunehmen wichtiger.

2006: Neue Erfahrung bei Lesungen: Rathaussaal Zeitz, Gedenkstunde anlässlich des Jahrestages der Auschwitz-Befreiung. Ich lese u.a. aus meinen Israel-Tagebüchern. Beim Vorgespräch hatte mich der Oberbürgermeister darauf hingewiesen, dass auch die komplette Fraktion der NPD anwesend sein wird, diese Leute bereits am Nachmittag mit den anderen Parteien einen Kranz für die Opfer des Faschismus mit niedergelegt hatten. Wollen die ihre Gesinnung ändern? Nein, gewiss nicht. Irgendwann mitten in der Lesung schreit mich einer dieser Typen plötzlich an, beschimpft mich als Rabbi und behauptet, dass ich Volksverhetzung treibe. Gebrüll, Türenschlagen der unter lauthalsem Protest den Ratssaal verlassenden NPDler, betretene Gesichter… Danach besteht der Oberbürgermeister darauf, mich mit anderen Stadträten zu meinem Auto und bis vor die Stadt zu eskortieren… Deutschland, „im Jahre 61 danach“.

2019: Gran Canaria. Zu viert hätten wir heute hier ankommen wollen, Jeanny, ich, unsere große Enkelin und deren langjähriger Lebensgefährte, doch Jeanny und ich besteigen allein das Schiff für diese kleine Rundreise, richten uns in unserer Kabine ein, in der mal von mir mit gebuchten Nebenkabine Fremde. Seit gut einer Woche bin ich offiziell Rentner, mit dieser Reise wollte ich den Beginn dieses neuen Lebensabschnitts mit „den Kindern“ feiern. Doch kurz nach ihrem 23. Geburtstag im Sommer gab unsere Enkelin dem jungen Mann, mit dem sie seit ihrem 14. Lebensjahr zusammen war, den Laufpass. Und im Herbst dann auch uns. Wir wissen bis heute nicht schlüssig warum, haben sie auch seitdem nicht mehr gesehen.

2021: Am Abend besucht mich Roman. Wenn der Mitteldeutsche Verlag (so wie alle anderen Institutionen) in Corona-Zeiten keinen Neujahrsempfang durchführen kann, lade ich den Verlagschef eben auf ein Gläschen Rotwein zu mir ein. Auch ihm scheint es gut zu tun, sich mal wieder austauschen zu können. Neben der „Weltlage“ reden wir natürlich auch über die Probleme des Verlages in dieser Zeit. Unvorstellbar, wenn der pleite ginge, ich meinen „Hausverlag“ verlöre. Doch Roman ist halb­wegs optimistisch, und so stimmen wir sogar alles ab, was da in den nächsten Jahren bei ihm von mir erscheinen könnte. Für die „Seins Fiktionen“, an denen ich gerade zu arbeiten beginnen, hat er sogar einen interessanten Vorschlag: die einzelnen Porträts nicht alphabetisch, sondern dem Alter der Protagonisten nach anordnen.

 

Blues

für

Erdre Ady / Jacobo Árbenz Guzmán / Philip Astley / John James Audubon / Isaak Emmanuilowitsch Babel / Nellie Bly / Ebony Browne / Roger Bruce Chaffee / Gottlieb Siegmund Corvinus / Louis de Funès / Gary Gabelich / Ludwig Gies / Virgil Ivan „Gus“ Grissom / Friedrich Gulda / Erich Heckel / Mahalia Jackson / Gideon Klein / Cloris Leachman / Bess Mensendieck / Charles Nodier / Victoria Ocampo / Lilli Palmer / Ernst Penzoldt / Stanisław Piętak / Emmanuelle Riva / Jerome David „J.D.“Salinger / Johann Gottfried Schadow / Adam Sedgwick / Pete Seeger / Stanley Spencer / John Updike / Adriaen Valéry / Giuseppe Verdi / Johann Carl Weck / Edward Higgins White II / Ziryab / Johann Rudolf Zumsteeg

 

Das klang uns wie ein letzter Blues:

447 wird bei einem Erdbeben die Konstantinopel schützende Theodosianische Mauer erheblich beschädigt / 1918 bricht der bis Mai andauernde finnische Bürgerkrieg aus / 1943 mit einem Luftangriff auf Wilhelmshaven beginnen die bis Kriegsende andauernde Bombardements deutscher Städte durch amerikanischen Luftwaffe / 1951 wird in Nevada der erste oberirdische Kernwaffentest durchgeführt / Cape Canaveral, 1967: Brand in der „Apollo 1“-Kapsel, 3 Astronauten sterben / 1981 sinkt in der Java-See eine in Brand geratene Fähre, 147 Tote werden geborgen, 373 Passagiere bleiben vermisst / Lagos, 2002, bei der Explosion eines Munitionsdepots kommen mehr als 1.000 Menschen ums Leben.

 


28. JANUAR

 

Geschmacksbildung

mit

Andreas Aubert / John Barclay / Maria Becker / Kurt Hans Biedenkopf / Acker Bilk / Giovanni Alfonso Borelli / William Seward Bourroghs I. / Jürgen Brinkmann / Colette / Charles Marie de La Condamine / Felix Fechenbach / Laurence Gandar / Ursula Herking / Louis Joseph Ferdinand Hérold / Johannes Hevelius / Gertrud von Hollander / Siegfried Jacobsohn / Biljana Jovanović / Walentin Petrowitsch Katajew / Brian Edmund Peter Keenan / Hermann Kesten / Florian Köhler / Walter Kollo / José Martí / Robert John Le Mesurier McClure / Alice Neel / Victor Ernst Nessler / Claes Oldenburg / Pacual Orozco / Auguste Piccard / Anita Pichler / Paul Jackson Pollock / Artur Rubinstein / Ronnie Scott / Wladimir Sergejewitsch Solowjow / Henry Morton Stanley / Friedrich August Stüler / Ludolph van Ceulen / Simonetta Cattaneo Vespucci / Christian Felix Weiße / Ossip Zadkine / Stefan Jerzy Zweig

 

An diesem Tage erschien uns so manches schmackhaft:

Canossa, 1077: Lösung Heinrich IV. vom Kirchenbann / 1Sankt Petersburg, 1724: Gründung der ersten russischen Universität / New Haven, Connecticut, 1878: Inbetriebnahme der ersten öffentlichen Telefonzelle / Paris, 1887: Baubeginn des Eiffelturms / 1958 wird in Dänemark der Lego-Stein zum Patent angemeldet / Moskau, 1987: mit einer Rede von Michail Gorbatschow beginnen Glasnost und Perestroika.

 

Ich notierte:

1999: Alptraum: Mit dem Trabi im Westen unterwegs zu sein und irgendwie nicht weiter zu können. Wirres Zeug. Nach dem Aufwachen wie gerädert...

2001: Eine Erkenntnis wohl aus meiner Stimmungslagen heraus, vielleicht auch Ausdruck der üblichen, noch dazu von eine Grippe beförderten Winterdepression: Irgendwie ist mir, durch das Schreiben meines „Jahrtausendwende-Tagebuches“ wahrscheinlich, sehr bewusst, dass da gerade etwas ganz Neues beginnt, mit dem ich allerdings in meiner kleinen menschlichen Existenz nicht allzu viel zu schaffen haben werde.

2020: Am Morgen Landung auf den Seychellen, Mahé, Victoria Airport. Hier waren wir vor 21 Jahren auf dem Heimflug von Mauritius schon mal zwischengelandet, gegen Mitternacht. Und da hatte uns die unglaublich schwüle Hitze fast erschlagen. Insofern wussten wir, was uns erwartet, allerdings scheint es hier morgens noch schwüler und heißer als des Nachts. Das Einchecken auf dem Schiff verläuft jedoch völlig glatt. Und am Abend geht´s auch schon los. Auf nach Madagaskar! Merkwürdig nur: als wir auslaufen, läuft ein großes, graues Kriegsschiff mit südkoreanischer Flagge am Heck ein, Südkoreanischer Flottenbesuch auf den Seychellen? Badeurlaub?

 

Abschiedsmahl

für

Safi ad-Din al-Urmawi / Eloy Alfaro / José Feliciano Ama / Martha Asmus / Albrecht Ludwig Berblinger / Konrad Biesalski / Joseph Brodsky / Bryher / Jim Capaldi / Paul Crutzen / Aleš Debeljak / Francis Drake / Heinrich Finkelstein / Alexandru Flechtenmacher / Karl Emil Franzos / Billy Fury / Ludvig Holberg / Vicente Blasco Ibáñez / Gregory Bruce Jarvis / Dieter Gerhard „Jennek“ Jenzsch / Ragnhild Jølsen / Marie Juhacz / Paul Kantner / Karl der Große / Ernst Klett / Bruno Lehmann / Elijah Levita / Astrid Lindgren / Christa McAuliffe / John McCrea /  Ronald Erwin McNair / Franz Mehring / Ellison Shoji Onizuka / Claude Papi / Mel Pritchard / Judith Arlene „Judy” Resnik / Coco Schumann / Francis Richard „Dick” Scobee / Michael John “Mike” Smith / Adalbert Stifter / Ceija Sojka / Marie Takvam / Tom Verlaine / Johann Karl Wezel / Max Weiler / Johann Karl Wezel / Hans Winkler / William Butler Yeats

 

Das konnte uns nicht schmecken:

1563 in Merseburg „ist zwischen Morgen und Mitternacht ein schrecklich feuer Zeichen am Himmel gesehen worden“ / 1870 verschwindet der Passagierdampfer „City of Boston“ mit 191 Menschen an Bord nach dem Ablegen in Halifax spurlos / 1996 bricht das Space Shuttle „Challenger“ kurz nach dem Start von Cape Canavarel auseinander, alle sieben Astronauten kommen ums Leben.

 


29. JANUAR

 

Jour Fixe

mit

Charles à Court / Juhan Aavik / Charles à Court Repington / Derek Bailey / Heinrich Blücher / Katharina von Bora / Johannes Bernardus van Bree / Havergal Brian / David Byron / Gia Marie Carangi / Frederick Delius / Stefan Diestelmann / Sacha Distel / W. C. Fields / John Forsythe / David Gray / Ebenezer Howard / James Jamerson /  Hugo Ködel / Jeanne Lee / Ernst Lubitsch / Rudolf Mauersberger / William McKinley / Grażyna Miller / Barnett Newman / Yaşar Nezihe / Luigi Nono / Matilda Rapaport / Johannes Reuchlin / Rudolph Carl Ripper / Romain Rolland / Walter Saal / Abdus Salam / Johann Gottfried Seume / Reinhard Johannes Sorge / Emanuel Swedenborg / Eddie Taylor / Joachim Thörmer / Anton Pawlowitsch Tschechow

 

Da traten wir in einen fruchtbaren Gedankeaustausch ein:

1819 legt Thomas Stanford Raffles im Fischerdorf Singapur einen Hafen und eine Niederlassung für die Britische Ostindien-Kompanie / 1832: Gründung des Deutschen Vaterlandsvereins zur Unterstützung der Freien Presse / 1942: Ende des Peruanisch-Ecuadorianischen Krieges / 1954 unterbreitet Anthony Eden auf einer alliierten Außenministerkonferenz seinen Plan zur Wiedervereinigung Deutschlands / 1996 beendet Frankreich seine Kernwaffentests / 1998 schließen die ESA, Kanada, Japan, Russland und die USA einen Vertrag zum Bau der Raumstation ISS.

 

Ich notierte:

1974: Jäh wurde ich von meiner Mutter aus dem Träumen gerissen: Ich kam gerade aus dem Krankenhaus, freudestrahlend, Jeanny eingehenkelt und ein kleines Mädchen im Arm. Natürlich war es bildhübsches Mädchen, schrie überhaupt nicht und trug mein Konterfei. Wir stiegen in meinen neuen olivgrünen Sportwagen, den ich eigens zur Geburt unserer Tochter gekauft hatte. In rasanter Fahrt ging’s zu unserer Kleinstvilla. Das Kindermädchen nahm uns die Kleine ab und Jeanny und ich lagen uns überglücklich im roten Zimmer in den Armen…

1985: Heute im Kino: „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ – eine längst fällige Begegnung…

1988: Heute vor einem Jahr wurde ich vom Reservedienst bei der Fahne entlassen. Um Gotteswillen – kein Gedenktag! Aber der Januar vor einem Jahr war wohl einer der eisigsten überhaupt (Zelten bei Minus 30 Grad – Einsatz in der Braunkohle…!) und jetzt, da wir in den Winterurlaub wollen, blühen im Garten schon die Primeln.

2000: Ich beginne ein neues Buch zu lesen: „Globale Trends 2000“ der Stiftung Entwicklung und Frieden. Darin neben wissenswerten Fakten etliche Analysen und Prognosen, die eigene Denkansätze bestätigen. So beispielsweise: „Jede Politik, die demokratisch legitimiert ist, bedarf eines gesellschaftlichen Konsenses über Grundwerte. Globale Politik, die nicht vom recht des Stärkeren bestimmt, sondern auf das gemeine globale Wohl gerichtet ist, muss sich auf universale Grundwerte stützen. Diese müssen in allen Weltregionen und Weltkulturen akzeptiert sein. Eine globale Akzeptanz wird aber nur zu erreichen sein, wenn sich der Konsens auf eine sehr weite Fassung der universalen Grundwerte beschränkt – also Spielraum dafür lässt, dass sie in verschiedenen Kulturkreisen differenziert interpretiert und konkretisiert werden. Ein vom Westen beanspruchtes Monopol zur «wahren» Definition und Interpretation universaler Werte untergräbt die zentrale Voraussetzung eines universalen Konsenses, nämlich einen herrschaftsfreien globalen Dialog. Um ihn zu ermöglichen, sollte ein Konzil der Weltkulturen gegründet werden, in dem alle Weltregionen und Weltkulturen gleichberechtigt vertreten sind.“

2009: Im Flieger nach Singapur – erste Station einer Reise, die unsere (Gott sei dank) noch nicht verblasste Neugier auf die Welt mal wieder ein bisschen befriedigen, eine Reise, die in Shanghai enden soll. Ich fliege mit dem Gefühl, ein halbwegs aufgeräumtes Büro zu verlassen, keine Alltagsprobleme mit mir rumzuschleppen, fühle bei aller Reiseaufgeregtheit so etwas wie eine innere Reiseruhe, hoffe offen für Neues, Anderes, Weiterbringendes sein zu können.

2012: Sonntag, in aller Herrgottsfrühe beginnt unsere Rundreise durch Sri Lanka, erste Ziel: das Elefantenwaisenhaus Pinnawala. So weit entfernt scheint mir der Ort auf der Straßenkarte gar nicht zu sein. Doch sind die Straßen so, dass wir fast zweieinhalb Stunden unterwegs sind. Die ganze Insel kommt mir wie eine einzige Siedlung vor: Haus an Haus, Hütte an Hütte, Laden an Laden, Werkstatt an Werkstatt endlos rechts und links der Straßenränder mit nur kleinen Reisfeld- oder Plantagenlichtblicken. Bei einem Kaffeestopp will ich von unserem Guide Indi wissen, was auf den stets dreisprachigen Straßenschildern überm Englischen Tamilisch, was Singhalesisch ist und bitte ihn dann, meinen Namen auf Singhalesisch zu schreiben. Was für eine verspielte, harmonische Schrift! Und irgendwie erscheint mir der Singhalesische Singsang (der auch singhalesische Deutsch- oder Englischsprecher prägt) diesem im besten Sinne kindlichen wie auch kunstvollem Schriftbild zu entsprechen. Nicht unwichtig wohl: die Unterdrückung der tamilischen Sprache und Schrift war einer der Auslöser des jahrzehntelangen Bürgerkriegs, des tamilischen Terrors, der erst vor knapp drei Jahren mit dem militärischen Sieg der Armee und dem Tod des Tamil Tiger Gründer und Führers Prebhakaran zu Ende ging. Offizielle Schilder seien zwar schon immer dreisprachig verfasst gewesen, sagt Indi, fügt jedoch hinzu, dass seine elfjährige Tochter nun in der Schule neben Singhalesisch und Englisch auch Tamil lernt. Gut zu hören. Dann endlich das Elefantenwaisenhaus, offenkundig eine rundum gute Idee: Elefanten, die in und nach den Jahren des Bürgerkriegs verletzt wurden, auf Minen traten und/oder die Eltern verloren wurden hierher gebracht und aufgepäppelt – jedoch auch Tiere, die ihren Lebensraum verloren. Die Herde zählt heute wohl etwa 90 Tiere. Das hilft den Elefanten, das lockt Touristen, das hilft den Menschen hier – Shops an Shops und Restaurants. Gemütlich sitzt man mit einem eisgekühlten Mangosaft im Schatten oberhalb einer malerischen Dschungelfurt und beobachtet, wie die Herde quer durchs Dorf zum Baden geführt wird, wie die Tiere sich vor Wonne im Wasser wälzen, wie die Elefantenbabys ausgelassen spielen. Klick und noch’ n Foto und nocheins… Und weiter nach Dambulla: Schweißtreibender Aufstieg zu fünf Höhlen eines gewaltigen, die Stadt überragenden Felsblocks mit aus dem Stein gehauenen riesigen Buddha-Statuen. Die Höhlen neben zahlreicher weiteren Figuren auch voller imposanter, teilweise 700 Jahre alter Felsmalereien.

2019: Funchal, Inselhauptstadt Madeiras, malerisch in die Steilhänge hineingebaut. Erster Stadtrundgang, Kathedrale, Gouverneurspalast, die Flaniermeile erinnert uns an Gibraltar. 19°C, überhaupt: Wohlfühlklima, will sagen: wir spüren eine Affinität zu dieser portugiesischen Insel - und dies nicht erst nachdem wir in einer Bodega einen Madeira und dann in einem Park-Café unter riesigen Drachenbäumen das Nationalgetränk Poncha genossen haben. Dann hinauf ins Inselgebirge, abenteuerlich schmale Straßen, engste Serpentinen, Abgründe. Endlich ein atemberaubender Aussichtspunkt mitten in den Wolken – wann immer die Schwaden aufreißen Blick ins Nonnental, Curral das Freiras, 700 – 800 Meter steil unter uns… Weiter zu einem anderen Mirador (mit Glasboden) oberhalb der Küstenklippen und schließlich nach Canara de Lobos, Fischerdörfchen, wo sogar Churchill weilte und immer mal wieder malte. Im Hafen spielen Männer in großen Gruppen Karten, diskutieren lautstark die Züge, dahinter ihre bunten Boote am Felsstrand. Und hier soll die Poncha erfunden worden sein – in offenbar jedem Lokal, jeder Hafenbar, wird das Nationalgetränk angepriesen, und dies sogar in mannigfachen Varianten. Na, da koste ich doch mal die Poncha Absintho… Zurück in Funchal entdecken wir am Hafen sogar noch die Bronze-Statue des Fußballers Ronaldo, der auf Madeira geboren wurde. Das Denkmal selbst ist eine plumpe Peinlichkeit. Und vom Berühren der Fans sind drei Stellen der Bronze blitzeblank: die Hände und der Schwanz…

2024: Die Protestler der „Letzten Generation“ geben bekannt, dass sie sich künftig nicht mehr auf Straßen ankleben und keine Häuser, Gemälde etc. mehr besudeln, sondern gezielt zu Großversammlungen in großen Städten aufrufen wollen. Wow! Sollten diese Leutchen etwa blass vor Neid geworden sein, als in zahlreichen deutschen Städten Menschenmassen jüngst friedlich „Gegen Rechts“ demonstrierten - statt das Unverständnis und den Zorn von zahllosen Menschen über nötigenden Aktionismus der “Letzen Generation“ hervorzurufen, dem Klimaschutz so letztlich zu schaden? Ließe sich Protestpotential vielleicht sogar vereinen? Schaun wir mal.

 

Cut

für

Joseph Abileah / Ernst Moritz Arndt / Pearl Argyle / Teodomiro Alberto Azevedo / Herman Bang / Felice Beato / Leite de Vasconcelos / René Deltgen /Willie Dixon / Johann Gottlieb Fichte / O. W. Fischer / Janet Frame / Robert Lee Frost / Charles Green / Fritz Haber / Hiroaki Zakōji / James Ingram / Inoue Yasushi Ephraim Kishon / Edward Lear / Hans Konrad Leipelt / John Martyn / Will McBride / Christoph Meckel / Henry Louis Mencken / Sandra Milo / Ōku no Himeko / Sibylle von Olfers / Nam June Paik / Daniel Pearl / Alexander Sergejewitsch Puschkin / Louis Racine / Jacques Rivette / Éduard Rod / Andrei Rubljow / Alfred Arthur Sisley / Kyle Smaine / Johann Stüdl / Reiner Süß / Hilton Valentine / Giovanni Verga / Josef Winckler

 

Das hinterließ uns schmerzlich Einschnitte:

1863 massakrieren US-Soldiers beim Gefecht am Bear River mehr als 400 Shoshonen / Stade, 1972: das erste deutsche Kernkraftwerk geht ans Netz / Venedig, 1996: das Teatro La Fenice brennt vollständig ab.

 


30. JANUAR

 

Gratwanderung

mit

Ahmed Abdul-Malik / Carl Fredrik Adelcrantz / Saul Alinsky / Wassili Alexandrowitsch Archipow / Irene Awret / Marty Balin / Richard Brautigan / Ruth Brown / Heidi Rosemarie Brühl / Adelbert von Chamisso / Fritz Duda / Slatan Dudow / Roy Eldridge / Douglas Carl Engelbart / Jens Gerlach / Hasegawa Hachiko / Horst Jankowski / Leopold Lahola / Walter Savage Landor / Eli Lotar / Steve Marriott / Gerty Molzen / Franz Monjau / Hans Erich Nossack / Sven Olof Joachim Palme / Johann Joachim Quantz / Jonas Rein / Emy Roeder / Franklin Delano Roosevelt / Johann Hermann Schein / Ricarda Schwerin / Amrita Sher-Gil / Takami Jun / James Watt

 

Da glaubten wir gut über den Berg zu kommen:

1648: Ende des achtzigjährigen Krieges zwischen Spanien und den Niederlanden / 1649: Ende des englischen Bürgerkrieges / 1790 wird auf dem Fluss Tyne das erste Rettungsboot getestet / 1820: Edward Bransfield betritt als erster Mensch die Antarktis / 1847 Umbennung von Yerba Buena in San Francisco.

 

Ich notierte:

1974: Das frühlingshafte Wetter hielt heute weiter an. Von grünen Wiesen und zarten Blumen kann ich leider nicht schreiben, aber durchaus von sanft zischenden Rohren und etwas weniger stinkigen Lüften, die mich im Werk umgaben. Im Januar lief fast niemand mehr in Wattejacke herum. Diese ungewöhnliche Wärme macht sich auch in mir breit. Ich bin lustig, fast schon schwatzhaft und staune über mich.

1986: Nun auch die Ablehnung meines neuen Kinderbuches. Kritik dürfe ja sein, aber doch nicht so… Ich höre ähnliche Töne wie in der „Leuna-Runde“… Ich werde nachdenken müssen, ob diese Ablehnungen aus meinen Haltungen, meinem Schreiben, letztlich also aus mir selbst her rühren, oder in unserer derzeitigen Verlags- und Gesellschaftssituation begründet liegen. Wäre ich Masochist, könnte ich wohl sehr glücklich sein.

1999: Schlagzeilen am Ende des ersten Monats des letzten Jahres des zweiten Jahrtausends: NATO stellt Konfliktparteien im Kosovo Ultimatum - Dresdner Bank handelte mit Holocaust-Raubgold - Notstandsgesetze sollen Chaos nach Erdbeben in Kolumbien beenden - Hungersnot in Nordkorea - Weltwirtschaftsforum in Davos fordert Kontrolle der Finanzmärkte - Berüchtigter Mafia-Killer aus Sizilien in Mainz gefasst - Warnstreiks in der deutschen Metallindustrie - Heute vor 30 Jahren gaben die Beatles ihr letztes Konzert... Gaddis in „Die Fälschung der Welt“: „Wir leben in erbärmlichen Zeiten, da stimmst du mir zu, oder? Natürlich, damals bei Papst Urban war alles viel hübscher eingerichtet. Da konnte man die abgeschnittenen Zehennägel dieses Nachfolgers Petri als Reliquie kaufen. Und bei der Vorhaut des liebsten Jesuleins konnte man zwischen drei Modellen wählen. War für jeden was dabei, aber heute?“

2020: Madagaskar, Besichtigung von Antsiranana, das auf den Stadtplänen, die uns eifrige Guides und Tuk-Tuk-Fahrer in die Hand zwängen, erstaunlicherweise noch den Namen aus Kolonialzeiten trägt: Diego Suarez. Wohl die Hälfte der Stadtbevölkerung drängt sich in den Straßen und Gassen hinterm Hafen, um die weißen Ankömmlinge zu begaffen, ihnen irgendwas anzudrehen, schmackhaft zu machen, stets freundlich aber. Musiker, Tänzer, Krüppel, Soldaten, Flics… Hat man dieses Gewühl irgendwie hinter sich, steht man in einer trostlosen Tropenstadt mit bunten, stockfleckigen Fassaden, Schutt, Müll, doch prächtigem Grün und sogar blühender Flamboyants. Mit dem Bus zum Montagne-d’Ambre Nationalpark. Die Straßen werden schmaler und löchriger, gehen immer wieder in rote Schlammpisten über. Das Grün allerdings wird üppiger, vielfältiger, dichter. In endloser Kette Weiler an Weiler, Hütten, stets winken Kinder, lachen. Dann ein weißes Kolonialhaus, Ausgangspunkt für eine Wanderung durch den Regenwald. Lemuren, Chamäleons, Riesengeckos, Schildkröten, sogar ein wohl uralte, riesige, dabei, Boas, Tausendfüßer und ein unglaublicher Zikadenalarm. Mangos gären auf den Pfaden, es riecht in der Dschungelschwüle wie in einer fantastischen Maische. Wasserfälle, weite Ausblicke ins madagassische Hochland. Traumwelten.

2024: Vision: Aus all meinen CDs und Platten liefe plötzlich die Musik aus und überflutete mich erbarmungslos.

 

Grabspruch

für

Wassili Alexandrowitsch Archipow / John Bardeen / John Barry / Boris Blacher / Karl Bleibtreu / Carlo Karges / Conrad Dietrich / Carl Djerassi / Malachi Favors / Mahatma Gandhi / Hermann Gruson / Maryse Hilsz / Lightnin’ Hopkins / Willy Jaeckel / Carlo Karges / Hermann Kükelhaus / Barbara La Marr / Jacques-Nicolas Lemmens / Fritzi Massary / Kevin McElhinney / José Álvaro Morais / László Nagy / Ajahn Maha Bua Nanasampanno / Dominique Pire / Francis Poulenc / Professor Longhair / Rudolf von Österreich-Ungarn / Johann Abraham Sixt / Johann Michael Stock / Wendy Wasserstein / Granville Tailer Woods / Orville Wright / Sophie Xeon / Justus Friedrich Wilhelm Zachariae

 

Da vernahmen wir an diesem Tag letzte Worte:

1895 sinkt in der Nordsee der Schnelldampfer „Elbe“, mehr als 300 Tote / Berlin, 1933: Machtergereifung Hitlers / 1945 wird in der Ostsee die „Wilhelm Gustloff“ von einem sowjetischen U-Boot torpediert, beim bislang schwersten Schiffsunglück der Geschichte kommen etwa 9.000 Menschen ums Leben / London, 1969: die Beatles spielen auf dem Dach der Apples-Studios ihr letzte Live-Konzert / Derry, 1972, am Blutsonntag erschießen britische Soldaten 14 Demonstranten / 2000 stürzt nach dem Start in Abidjan ein Airbus A-300 ins Meer, 169 Opfer / Peshawar, 2023: Bombenanschlag auf eine Moschee, mher als 100 Menschen sterben.

 


31. JANUAR

 

Enteisung

mit

Tengis Abuladse / Brian Adams / Aron Atabek / Matthias Beltz / Melitta Bentz / József Bajza / Luís de Montalvor / Michael Degen / René Descartes / Henri Desgrange / Hans Egede / Otto Ehrenfried Ehlers / Hansjörg Felmy / André-Jacques Garnerin / Benoîte Groult / Marianne Grunthal / Jeff Hanneman / Edgar Andreas Woldemar Haßmann / Theodor Gottlieb von Hippel / Marie Louise Kaschnitz / Marwan Kassab-Bachi / Terry Alan Kath / Adele Kurzweil / Irving Langmuir / Mario Lanza / Norman Kingsley Mailer / Rudolf Mößbauer / Ōe Kenznaburō / Betty Parsons / Hans Posegga / Evelyn Richter / Henri Rochefort / Nomi Rubel / Oksana Schatschko / Franz Peter Schubert / Mark Slavin / Stefan Stambolow / Atahualpa Yupanqui

 

Da meinten wir würde es wärmer werden an diesem Tage:

1609: die Amsterdamer Wechselbank nimmt ihren Betrieb auf / Rom, 1732: Erste Aufführung im Teatro Argentina / Oslo, 1892: am Holmenkollen findet der erste Skisprungwettbewerb statt / 1968: Nauru wird unabhängig von Australien / Paris: 1977: Einweihung des Centre Pompidou.

 

Ich notierte:

1974: Auf Arbeit der ewig sture Trott, der einer ebenso sturen Einordnung bedarf, will man nicht von ihm zerwalzt werden.

1986: Nun will der Funk mein drittes Hörspiel nicht produzieren – dritter Tiefschlag in wenigen Tagen… Kann ich nicht (mehr) schreiben, oder ist meine Art des Schreibens in diesem gesellschaftlichen Umfeld nicht (mehr) möglich? Müsste ich vielleicht aufs Papier zu bringen versuchen, woher all diese Ablehnungen, diese Enthauptungen rühren könnten? Warum nur werde ich so missverstanden? Was läuft hier? Sind das Schüsse gegen den Jankofsky, der nicht Autor, sondern Kultur- bzw. Verbandsfunktionär sein soll, der sich dagegen immer wieder zu wehren versucht?

1999: Strahlend blauer Himmel am Morgen verspricht einen guten Blick auf den am Abend zu erwartenden Vollmond, der ein ganz besonderer sein wird: ein Blue Moon, die sich nur selten einstellende Konstellation von zwei Vollmonden in einem Monat.

Ansonsten fühle ich mich jedoch im üblichen Januarloch: Irgendwie möchte man raus, in den Garten, ins Grüne, Sonne auf der Haut spüren, lange Tage genießen, nicht länger muffige Wohnungsluft atmen... Um auf andere Gedanken zu kommen, liest man wohl gerade jetzt stets besonders viel, und nicht ganz zufällig dicke Bücher. Ja, so versucht man wohl und für lange in komplett anderen Welten aufzugehen. Fernsehen hingegen bietet in diesen Tagen meist nur Öde, obskure Mischung von Eiskunstlauf-Getue bis zu ersten karnevalistischen Aufgesetztheiten. Leider zeigt sich der Himmel am Abend so bedeckt, dass nichts zu sehen ist vom Blue Moon...

2012: Auf der Fahrt nach Kandy, der letzten Hauptstadt des alten Königreichs, auf dem Weg in die Berge also, scheint in einem der Straßendörfer heute Olympischer Tag zu sein und haben alle Schülerinnen ergo einen Marathonlauf zu absolvieren. Oder was läuft hier? Begeisterung an der Straßenrändern, Anfeuerung und Jubel aus Tuk Tuks, die neben den Mädchen herfahren, und darin offenbar nicht selten die ganze Familie, Vater, Mutter, Oma, Opa, Geschwister. Wie passen die da bloß alle rein? Irgendwie wühlen wir uns dann durch den Nachmittagsverkehr der 200.000-Einwohner Stadt Kandy. Tuk Tuks kreuz und quer und oftmals passt kein Stückchen Papier mehr zwischen diese allgegenwärtigen Dreirad-Vehikel und unseren Wagen. Einchecken im Hotel. Wunderbare Lage auf einem der Hügel oberhalb der Stadt. Grandiose Aussicht vom Zimmerbalkon. Dann zur Besichtigung des weltberühmten Zahn-Tempels, des größten buddhistischen Heiligtums, wo als Reliquie selbstredend ein Zahn Buddhas bewahrt wird, ein Eckzahn ganz genau. Hätte mich also nicht gewundert, wenn ich hier nicht nur (wie vor anderen Tempeln) Mütze ablegen und Schuhe ausziehen, sondern auch Gebiss abgeben müsste… Natürlich ist die Zahnreliquie selbst nicht zu besichtigen, alltags nicht mal der Behälter, in dem sie aufbewahrt wird. Zu sehen aber ist der prächtige zweistöckige Schrein im Innenhof des Tempels. Anlässlich des größten Festes Asiens zu Ehren Buddhas, dem Esala Perahera, jeweils in den beiden Wochen vor dem Juli/August-Vollmond wird der Zahn-Behälter auf einem Elefanten platziert und festlich durch die Straßen getragen. Immerhin darf man die Tür, hinter der das Heiligtum verborgen ist, fotografieren und eine davor (am Eingang des Tempels zu kaufende) Lotos-Blume opfern. Dennoch eine unbedingt sehenswerte Anlage. Durchaus beeindruckend. Und von den Schäden, die tamilische (also hinduistische) Terroristen vor 15 Jahren hier anrichteten, als sie vor dem Tempel einen Lastwagen voller Sprengstoff zum Explodieren brachten, ist nichts mehr zu sehen. Obwohl – ein altes Gemälde (auf das uns der Tempelguide auch deutlich hinweist) sieht aus wie ein schlecht zusammengesetztes Puzzle, weist offenkundig bewusst weiße Stellen aus… Nach dem Tempel ein paar Schritte weiter am Ufer des Kandy-Sees zur Vorführung traditioneller Kandy-Tänze. Touristisch zwar längst, aber auf jeden Fall das Eintrittsgeld wert. In der Dämmerung fliegen Scharen von Flughunden über den Kandy-See zu ihren Schlafplätzen. Indi kurvt uns zu einem Aussichtspunkt oberhalb des Sees, einzigartiger Blick durch Flughundgewimmel über die hell erleuchtete alte Königsstadt. Stimmungsvoller Abschluss dieses stimmungsvollen Tages – wobei im Hotel natürlich noch diverse köstliche Currys (Dhal, scharfes Linsencurry, beispielsweise) zu genießen sind…

 

Fata Morgana

für

Meher Baba / Daniel Beckher d. J. / Heiner Carow / Johannes Clauberg / Cozy Cole / Don Bosco / Tomás Eloy Martínez / John Galsworthy / Carl Gassner / Artemisia Gentileschi / Jean Giraudoux / Samuel Goldwyn / Grant Green / Christian Hülsmeyer / Slim Harpo / Miklós Janscó / Kirka / Simon Kooper / Deke Leonard / Paul Lindau / Michail Leontjewitsch Mil / A. A. Milne / Roger Morris / James Spriggs Payne / Jakob Roggeveen / Friedrich Rückert / Karl Zeno Rudolf Schadow / René Schickele / Warren Smith / Erwin Strittmatter / Dorothea Tanning / Richard von Weizsäcker / John Wetton / Joanna Wisnewska / Alexander Ypsilantis

 

Das wollten wir besser nie gesehen haben:

1876: in den USA werden Ureinwohner in Indianerreservate beordnet / 1906: Erdbeben in Kolumbien und Ecuador, etwa 1.000 Tote / 1953 sterben bei der „Hollandsturmflut“ 1.853 Menschen in den Niederlanden, 307 in Großbritannien / 1996 kommen bei Selbstmordattentaten von Tamilen in Sri Lanka 86 Menschen ums Leben, mehr als 1.000 werden verletzt / 2020 verlässt Großbritannien die Europäische Union / Elota, Mexiko, 2024: Busunglück, 18 Tote.

 


1. FEBRUAR

 

Entfesselung

mit

Konrad Ernst Ackermann / Wladimir Michailowitsch Bechterew / Jimmy Carl Black / Horst Bosetzky / Dennis Emmanuel Brown / Conrad Celtis / Thomas Cole / Karl Dall / Johann Friedrich Dieffenbach / Günter Eich / Valentin Elizalde / Don Everly / Daniel Damasio Ascencio Filipe / John Ford / Claude François / William Clarke Gable / Alfred Grosser / Mozart Camargo Guarnieri / Ludwig Haberlandt / Cheb Hasni / Curt Hermann / Teodors Hofmanis / Hugo von Hofmannsthal / Langston Hughes / Rick James / James Price Johnson / Gustav Knuth / Dieter Kühn / Brandon Bruce Lee / Oswald Oberhuber / Lisa Marie Presley / Hermann Eduard Otto Ruppius / Ikkyū Sōjun / Jakob Roggeveen / Fausto Romitelli / Jewgeni Iwanowitsch Samjatin / Joe Sample / Muriel Spark / Erich Steinfurth / Theodors Taube / Johannes Trithemius / Gerhard Wartenberg / Rudolph Wurlitzer / Hendrij Zejler

 

So fühlten wir Fesseln fallen:

1720: Friedensschluss im Großen Nordischen Krieg zwischen Schweden und Preußen / 1788: Patentierung des ersten Dampfschiffes / London, 1827: erstmals kommen Stadtpläne in den Handel / 1884 erscheint das erste Faszikel des „Oxford English Dictionary“ / West Orange, New Jersey, 1893: das erste Filmstudio wird fertiggestellt / Stuttgart, 1899: Gründung des Bundes für Vogelschutz / 1946 der erste UNO-Generalsekretär Trygve Lie tritt sein Amt an / Greensboro, North-Carlina, 1960: erster Sit-in durch afroamerikanische Studenten als Protest gegen Rassendiskriminierung.

 

Ich notierte:

1978: Den ganzen Tag jagte ich Brief an Freunde und Bekannte durch die Schreibmaschine: Job wanted! Am Abend ins Studiokino Capitol. Viscontis „Tod in Venedig“. Und obwohl eigentlich alles ausverkauft war, kam ich schließlich nach hartnäckigem Warten doch noch rein: man stellte mir einen Stuhl in den Gang! Und keine Frage, diese Hartnäckigkeit hatte sich gelohnt. Wunderbarer Film!

1999: Über Nacht hat’s geschneit und reichlich diesmal. Und zu allem Überfluss setzt am Morgen bei Minusgraden feiner Nieselregen ein: Spiegelglatte Straßen. Fürs erste keine Chance nach Halle zu gelangen. Gegen zehn wage ich dann die Rutschpartie. Dienstberatungen im Künstlerhaus, Visite (mit Geburtstagsfeier) in der Klosterstraße. Presse: „London/dpa. Auf der Jagd nach dem ersten Baby des Jahres 2000 haben britische TV-Sender damit begonnen, sich Senderechte in Entbindungsstationen des Landes zu sichern. Der Privatsender ITV will nichts dem Zufall überlassen und beabsichtigt, zehn Paare unter Vertrag zu nehmen, die sich zu Sex am Abend des 10. April verpflichten - in der Hoffnung, im ‘Erfolgsfall’ das erste Baby des Jahres 2000 schon seit seiner Entstehung verfolgt zu haben.“

2000: In der Post heute eine Karte, die ich am 17. Mai 1999 auf Mauritius versandte! Schau an.

2009: Wir schippern entlang der malaiischen Küste in den Golf von Siam. Tag auf See, heißt das im Tagesprogramm. Und da ich weder Cha Cha lernen, noch am Bridge-Turnier teilnehmen, nicht minigolfen oder mich an der Kletterwand versuchen will, lassen wir’s ruhig angehen. Liegestühle am Bug.

2020: Nosy Be. Wir ankern vorm Hauptort der kleinen vorgelagerten Insel, vor Hell-Ville. Bevor wir in die Tenderboote steigen dürfen, die uns an Land bringen, messen uns madagassische Gesundheitsbeamte erst Fieber. Die WHO hat gestern wohl, aufgrund des sich heftig von China her ausbreitenden Coronavirus, den Internationalen Gesundheitsnotstand erklärt. Und er scheint also ratzbatz sogar hier schon angekommen. Putzig insofern, das genau hier, vor Nosy Be, im Russisch-Japanischen Krieg, das Zweite Russische Pazifikgeschwader auf der Fahrt nach Port Arthur aufgrund dringender Reparaturen stoppen musste und dann so lange auf Reede festsaß, dass Seuchen an Bord ausbrachen, dass viele Matrosen starben, und es nun in Hell-Ville sogar ein Denkmal für gefallene Russen gibt, und – dass das sattsam bekannte Lied vom Lagern vor Madagaskar in eben diesem Geschehen seine Wurzeln haben soll! Im Übrigen hat der Stadtname ursprünglich nichts mit der Hölle zu tun, sondern geht auf den französischen Admiral Anne Chrétien Louis de Hell zurück, der von hier aus ganz Madagaskar für Frankreich kolonisierte. Fügen wir heute also besser den offiziellen Namen dieses Städtchens hinzu: Andoany.

2023: Seltsam, derzeit werde ich gern zu Sportveranstaltungen eingeladen. Am Sonnabend hätte ich beim Auswärtsspiel der Weißenfelser Bundesliga Basketballer in Rostock dabei sein können, heute, Mittwoch, beim Pokalspiel von RB Leipzig in der VIP-Lounge der Red Bull Arena. Aber zehn Stunden Fahrt im Fan-Bus war mir zu stressig, und VIP-Fußball zu abgehoben.

 

2024: Angesichts üblichen Talkshow-Gezänks wird mir klar, dass die weltweit eskalierenden Probleme durch die bestehenden politischen Strukturen der Welt nicht zu lösen sein werden, wohl eher im Gegenteil.

 

Starre

für

Oswald Achenbach / Michael Philip Anderson / Otto Julius Bierbaum / Adriaen Brouwer / David McDowell Brown / Kalpana Chawla / Laurel Blair Salton Clark / Elise Nada Cowen / Ludwig Eckart / Richard James „Richey“ Edwards / Raoul Hausmann / Werner Heisenberg / Rick Douglas Husband / Salomon Jadassohn / Kann Bahlam I. / Karl I. / Ursula Karusseit / Alfred Kattner / Buster Keaton / Hildegard Knef / Carl Leverkus / Barış Manço / Farabundo Martí / William Cameron McCool / Gian Carlo Menotti / Justin Michael Mentell / Piet Mondrian / Maria Theresia Paradis / Ilan Ramon / Karl Schapper / John Schehr / Maximilian Schell / Eugen Schönhaar / Rudolf Schwarz / Mary Wollstonecraft Shelley / Hans Bartsch von Sigsfeld / Peretz ben Mosche Smolenskin / George Gabriel Stokes / Wisława Szymborska / Nguyễn Văn Lém / Ernst Zimmermann

 

Da erstarrten wir an diesem Tage:

1814 sterben bei einem Ausbruch des philippinischen Vulkans Mayon 1.200 Menschen / 1864: Beginn des Deutsch-Dänischen Krieges / Lissabon: 1908: König und Kronprinz werden ermordet / 1917: die deutsche Marine eröffnet den uneingeschränkten U-Boot-Krieg / 1944: Erdbeben in der Türkei, 2.800 Tote / 1970: Zugunglück im argentinischen Benavidet, 236 Todesopfer / São Paulo, 1974, bei einem Hochhausbrand kommen 189 Bewohner ums Leben / 2003: das Spaceshuttle „Columbia“ zerbricht bei der Landung über Texas, alle 7 Astronauten sterben / 2021: Militärputsch in Myanmar.

 

2. FEBRUAR

 

Variation

mit

Oswald Achenbach / Mike Brant / Reiner Bredemeyer / Alfred Edmund Brehm / Eva Marie Cassidy / Věra Chytilová / Benoît Camille Desmoulins / Tom Disch / Theodor Fabricius / Leo Fall / Farrah Fawcett / Michał Frencel / Karl Gass / Stan Getz / Johann Christoph Gottsched / Ferhat Hached / Marie Hankel / Hastings Ndlovu / Jascha Heifetz / Ernestus Hettenbach / Jewhen Pawlowytsch Hrebinka / Pavol Országh Hviezdoslav / Otar Iosseliani / James Joyce / Hans Kaltneker / Eugen Kogon / Hans Leifheim / Namba Yasuko / Robert Victor Neher / Hugo Niebeling / Walerjan Petrowytsch Pidmohylny / Marigo Posio / Albert Israel Schatz / Balys Sruoga / Fritz Stern / Sonny Stitt / Heikki Suolahti / Waleri Pawlowitsch Tschkalow / Jacob van Campen / Jan van Leiden / Uwe Wesel / Roger Williamson / Gostan Zarian

 

Das hätten wir gern weiter variiert:

1536: Gründung von Buenos Aires / 1848: Ende des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges / Dresden, 1878: Einweihung der Semperoper / New York, 1913: Einweihung des Grand Central Terminals / 1943: Sieg der Roten Armee in der Schlacht von Stalingrad / 1955: Baubeginn des Kosmodroms Baikonur in der kasachischen Steppe.

 

Ich notierte:

1978: Am Nachmittag spielte mir Hansi, unser Saxophonist, im Keller eine neue Scheibe von John Mclaughlin vor: „Shakti“ – völlig neue, ungeahnte Klänge. Im Ausgang zu Dieter, der Urlaub hatte, der legte mir eine neue Scheibe von Billy Cobham auf – sagenhaft. Wie sehne ich mich danach, so was zu spielen!

1981: Ein Tag voller Hektik. Früh versuche ich zu schreiben, da kommen die Handwerker, um Löcher in den Wänden zuzuputzen, dann nach Deuben, weiter nach Hohenmölsen, eine Singegruppe anleiten, die ein Lied von mir singen will. Dann zum Zahnarzt, Extraktion, doch alles gut, keine Schmerzen mehr. Am Abend Mecke von der Fahne, der auch ein paar Lieder von mir haben möchte. Habe ich einen Verkaufsboom? Aber dann schaffe ich es vielleicht nicht, rechtzeitig mit dem Kinderbuch fertig zu werden, vier Kapitel fehlen noch!

1992: Ach, bitte dieses Fest, wenigstens dieses eine noch hier: Spergauer Lichtmeß. Heidnisch buntes Volks lärmt durch die Nacht, sammelt sich im Morgengraun zum Umzug durchs Dorf: Erbsbär und Pferde, Vögel, Schwarzmacher, Pritscher, und der Registrator hoch zu Roß kontrolliert, ob auch wirklich alle da sind, die da sein müßten: Gottlieb Schlenkert? Hier! Ferdinand Sausebraus? Hier!! August Steifhahn? Hier!!! Tusch. Und mit dem ersten Tageslicht zieht das Volks durchs Dorf, den Winter zu vertreiben, den Winter, einen Tag lang: Wenn's an Lichtmeß stürmt und schneit/ ist der Frühling nicht mehr weit/ ist es aber klar und hell/ kommt der Lenz wohl nicht so schnell... Wetterregel und Ansporn, wird doch deutlich nun wo Spergau liegt: umzingelt fast vollständig vom Werk: im Norden Leuna, im Westen Leuna, Pipelines und Tanks bis zur südlichen Flur, Halden im Osten... Schon brennt Unrat und Plunder inmitten des Ortes lichterloh, der Bändermann, Herold des Frühlings, führt all die Figuren herbei. Tusch. Die Pferde schleifen den Pflug durchs Feuer, die Schare zu stählen, Funken stieben. Und das Lichtmeßtagwerk beginnt: Schwarzmacher und Pritscher schwärzen und pritschen und die Heischegänger ziehen von Hof zu Hof, Eierfrauen und Wurststangenträger, Milchmann und Händler, Guckekasten- und Schnurradmann, Soldaten und Küchenburschen. Vor Jahren noch lebte auch in umliegenden Dörfern dieser Brauch: Ockendorfer, Kirchfährendorfer, Kröllwitzer Fahsnacht, und zudem feierte man einst wohl ebenso in Göhlitzsch, Daspig und Rössen. Verloren all diese Verwurzelungen in Industrialisierung und Verstädterung, Krieg und Anti-Brauchtumskampagnen. Fanfare! Die Lichtmeßkarre holpert an, Schicksalsgefährt, seit jeher gut, einen Blick in die Zukunft zu erhaschen. Reges Interesse, verständlich, Arbeitslosigkeit droht; geplant andererseits riesiger Raffinerieneubau, neuerlich Tanks, Pipelines, Kühltürme, Abgasfackeln, Schlote, und in Spergauer Gemarkung nun. Gestärkt vom Eingeheischten: Eier, Würste, Kuchen, Milch, abends zum Tanz, zum Lichtmeßtanz, keiner der sich freiwillig ausschlösse: was für ein Fest von Zusammengehörigkeit, des Lebensmutes, der Freude! Ach, bitte diesen Brauch, wenigstens diesen einen noch hier.

2002: Lichtmeß. Und der wohl wärmste 2. Februar seit Menschengedenken. 18 bis 20°C. Sonne pur. Verrückt. Dabei galt als Wetteregel bislang: Wenn’s an Lichtmeß stürmt und schneit / ist der Frühling nicht mehr weit…

2012: Nach nervendem Chaos auf dem Flughafen Colombo – gleichzeitig sollen um 7.30 Uhr 5 Flüge abgehen, dafür gibt’s aber nur 4 Gates und 2 Sicherheitsschleusen – und knapp einstündigem Flug landen wir in Male der Hauptstadt der Malediven. Man landet quasi mitten im Indischen Ozean. Nahe der Flughafeninsel Hulule die Hauptstadtinsel mit ihren bunten, dicht bei dicht stehenden, mehrstöckigen Gebäuden. Wir werden jedoch sogleich zum nächsten Flughafenterminal gefahren, fliegen mit einem Wasserflugzeug weiter zu unserer Urlaubsinsel im Raa-Atoll. 40 Minuten in geringer Höhe über eine paradiesische Landschaft mit all den Atollen und Inseln, den türkisfarbenen Lagunen. Schon beim Anflug ist zu sehen, dass Meedhupparu, wo wir nun eine Woche Baden, Schnorcheln, Genießen wollen, vollständig bewaldet und eine der größten Inseln des Atolls ist (etwa 700 Meter lang, 300 Meter breit). Freundlicher Empfang, kleine Einweisung und schon haben wir den Schlüssel für unser Inseldomizil in der Hand, ein Bungalow direkt am weißen Strand, Veranda, davor Liegen unter Palmen, wow. Meedhupparu erweist sich als reine Ferieninsel, keine einheimischen Bewohner, und schon beim ersten Rundgang zeigt sich, dass das Paradies zweigeteilt ist: die Nordspitze, wo Wasserbungalows stehen, ist abgezäunt. Aha, andere Preisklasse… Verdächtig oft (und laut) hört man’s hier Russisch palavern. Und auch die Inselmitte ist restricted area: hier grummelt das Kraftwerk und wohnt die staff – alles Männer auf den streng muslimischen Malediven, also keine Zimmermädchen z.B., sondern ausschließlich Zimmerboys… Und die staff ist streng hierarchisch (um nicht zusagen rassistisch) organisiert: auf der untersten Stufe – fürs Wege Kehren und für Gartenarbeiten – stehen Bangladeshi, Kellner und Barleute sind Inder oder Srilanker und nur auf gehobenen Positionen scheinen Malediver zu finden. Beim ersten Schnorcheln dann eine weitere Ernüchterung: dies ist hier nicht mal mehr ein halbes Paradies, denn das Hausriff scheint so gut wie tot. Nachwirkung des Tsunamis von 2004? Von El Niños? Fische tummeln sich in großer Vielfalt, doch bis auf einige braune und blaue Gehirnkorallen scheinen andere Korallenarten abgestorben, liegen als bleiche Skelettteile am Meeresboden. Kein Vergleich zum Roten Meer, zu unseren Schnorchel-Erfahrungen südlich Hurghadas! Keine Frage, wir hatten sogar mehr erwartet hier (nicht zuletzt aufgrund vollmundiger Werbung) und sehen nun, dass alles weniger ist.

2021: In Israel sind mittlerweile fast 60% der Bevölkerung geimpft, in Deutschland sind es gerade mal 2%. Mängel bei der Impfstoffbeschaffung und Organisationschaos. Der Unmut wächst. Gestern tagte im Bundeskanzleramt ein „Impf-Gipfel“. Der verkündete, dass bis Ende des 3. Quartals (beschönigend spricht man von „bis Ende des Sommers“) allen impfwilligen Deutschen ein „Impfangebot“ gemacht werde – entsprechend einer Prioritätenliste: zuerst die Alten und „Systemrelevanten“… Ich kann also getrost alle Urlaubs- und sonstigen Planungen für dieses Jahr vergessen.

 

2024: Mal wieder nach Leipzig, Kaffeetrinken bei unseren alten Nachbarn, den Rosches, gemeinsames Abendessen in einem vietnameischen Restaurant (köstlich) und dann ins Gewandhaus: Großes Konzert anlässlich Arnold Schönbergs 150. Geburtstag, Dirigent: Antonello Manacorda (großartig).

 

Votum

für

Oswald Avery / Christa Borchert / Burkart /Johannes Carion / Daniiel Charms / Alfred Friedrich Delp / Halfdan Egedius / Marieluise Fleißer / Govaert Flinck / Carl Friedrich Goerdeler / Hatuey / Esther John / Boris Karloff / Gene Kelly / Imre Lakatos / Mel Lewis / Sanford Meisner / Dmitri Iwanowitsch Mendelejew / Ernst Meyer / Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold / Oskar Negt / Giovanni Pierluigi da Palestrina / Sally Perel / Jewhen Pawlowytsch Pluschnyk / Bertrand Russell / Johannes Schlaf / Max Schmeling / Martin Schongauer / Wladimir Grigorjewitsch Schuchow / Antonio Maria Valsalva / Sid Vicious / Monica Vitti

 

Da versagte unsere Stimme:

1942: Ende der Schlacht von Stalingrad mit mehr als 2 Millionen „Verlusten“ bei beiden Kriegsparteien/ 1982: Beginn des Massakers an Muslimbrüdern in der syrischen Stadt Hama, bei dem 20.000 bis 30.000 Menschen ums Leben kommen / 1998: beim Anflug auf die philippinische Stadt Cagayan de Ora prallt eine DC-9 gegen eine Berg, alle 109 Insassen sterben.

 

 

3. FEBRUAR

 

Anhörung

mit

Alvar Aalto / Shireen Abu Akleh / Jehan Ariste Alain /Lil Hardin Armstrong / Antonio José de Sucre y Alcalá / Bully Buhlan / Daehaeng Kunsunim / Carl Theodor Dreyer/ Mathias Etenhueber / Lina Hähnle / Jaroslav Havlíček / Karl Jatho / Aksel Jørgensen / Hugo Junkers / Sarah Kane / Eduardo Kingman / Annette Kolb / Ruth Kraft / Umm Kulthum / Kurt Küther / Sidney Clopton Lanier / Lao She / Henriette Lustig / Henning Mankell / Jakob Ludwig Felix Mendelssohn Bartholdy / Ada Negri / María Luisa Puga / Melanie Safka / Johann Blasius Santini-Aichl / Gertrude Stein / Andrzej Szcypiorski / Paul Takahashi Nagai / Camillo Torres Restrepo / Georg Trakl / Johannes Urzidil / Simone Adolphine Weil / Woodrow Wilson / Caroline von Wolzogen / Johnny „Guitar“ Watson / Richard Yates

 

Das hörten wir an diesem Tage mit Freude:

1830: Gründung des Staates Griechenland / Berlin, 1842: Jacob Grimm stellt im Rahmen seiner Antrittsvorlesung in der Preußischen Akademie der Wissenschaften erstmals die Merseburger Zaubersprüche als solche vor / 1966: erste weiche Landung einer Sonde (Luna 9) auf dem Mond / 1976: die Hauptstadt Laurenço Marques des unabhängig gewordenen Mosambik wird in Maputo umbenannt / 1989: Sturz des paraguayischen Diktators Alfredo Stroessner.

 

Ich notierte:

1987: Kurz nach 22.00 Uhr. „Mein“, vor drei Tagen verlassenes Bett in der Leipziger Olbrichtstraßenkaserne dürfte nun wohl wieder besetzt sein. Alte Reservisten (ich auch) sind entlassen, neue eingezogen. Und so ernüchternd, desillusionierend, wertumstoßend dieses letzte Vierteljahr für mich war, tritt nun daheim schon langsam der Effekt ein: War’s wirklich so schlimm? Klar, ich versuche Abstand zu gewinnen, rasch! Noch während ich „diente“, seit dem 1. Februar, wurde ich zum Chef des Bezirksliteraturzentrums Halle – ein Posten, den ich nicht annehmen wollte, gegen den ich mich mit Händen und Füßen gesträubt hatte, aber… Ich muß sehen, daß wenn ich wieder in Halle bin, zumindest das bestmögliche an Konditionen herausholen kann, da war aus der Ferne nichts absolut nichts zu verhandeln – Schweigen des Verbandes, Schweigen des Rats, Schweigen der Partei… Aber verdammt, ich will doch nur endlich schreibend vorankommen!

2020: Port Louis, Mauritius. Begrüßung mit tropischen Sprühregen samt Regenbogen. Schon auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass sich hier seit 21 Jahren einiges verändert hat. Eine Skyline gab’s in der Inselhauptstadt damals noch nicht, inselhoch und -groß, doch unübersehbar. Taxifahren ist hier auch nicht mehr das, was es damals war. Eine ganztägige Inselrundfahrt war 1999 noch für 50 Mark zu haben. Heute muss ich feilschen, um für einen halbwegs machbaren Preis in den Norden zu kommen, nach Grand Gaube und Cap Malheureux: für eine etwa 4-Stunden-Tour 100 Euro. Handschlag. Doch auch in Grand Gaube ist fast alles anders, als wir es in Erinnerung hatten. Die Straße wurde offenbar verlegt, so dass uns die Orientierung schwerfällt. Auch steht Bungalow an Bungalow, wo einst weite Zuckerrohrfelder waren. Und das Hotel, wo wir glücklich unsere Silberhochzeitsreise genossen, ist mittlerweile weitläufig abgesperrt, Stahlgittertor, Wache davor. Aus einem für uns erschwinglichen Ressort, scheint irgendwas für die Reichen und Schönen geworden zu sein. Kamen uns nicht sogar zwei rote Ferraris entgegen? Zum Glück rauschen noch immer die Kasuarinen und am Cap Malheureux steht noch immer die weiße, rotdachige Kirche vor türkisfarbenem Wassern bis hin zum Inselchen Coin de Mire. Ja, hier endete einst die große mauritianische Liebensgeschichte, da Virginie nach Schiffbruch in dieser Bucht ertrank und selbst Paul, am Strand vom Orkan zurückgehalten, sie nicht retten konnte. Vive la Paul et Virginie!

2023: In Deutschland endete die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln, gilt die Pandemie als eingedämmt. Weltweit wurde bis dato 671 Millionen Infektionen registriert, 6,84 Millionen Menschen starben.

 

Nachlese

für

Alois Andritzki / Christoph Buys Ballot / Lisa Baumfeld / Adolph Kurt Böhm / Klaus Brasch / John Cassavetes / Leon Ndugu Chancler / John Chilembwe / Louis de Jaucourt / Kurt Demmler / Agner Krarup Erlang / Fat Pat / Fukuzawa Yukichi / Édouard Glissant / John Gould / Johannes Gutenberg / Buddy Holly / Bohumil Hrabal / Hugo Junkers / Richard Kauffmann / Umm Kulthum / Louis Lewandowski / Dieter Mann / Tilo Medek / Eduardo Chivambo Mondlane / Ono no Takamura / Paco Rabanne / Alla Rakha / Jiles Perry Richardson jr. / Maria Schneider / Lokman Mohsen Slim / Jan Havickszoon Steen / Gottlieb Stolle / Ritchie Valens / Thomas Woodrow Wilson / Maurice White / / Anna May Wong / Yue Fei / Rolf Zacher

 

Da setzten wir Schlusspunkte:

1825 kommen bei der Halligflut an der Nordseeküste 800 Menschen ums Leben, Jütland wird zur Insel / 1931: Erdbeben in Neuseeland, 250 Todesopfer / São Tomé und Principe: 1953, portugiesische Kolonialtruppen metzeln hunderte Kreolen während des Batepá-Massakers nieder / 1972 setzt im Iran ein 6 Tage andauernden Schneesturm ein, in dem mehrere tausend Menschen sterben / 2006 sinkt die Fähre Al-Salam Boccacio 98 im Roten Meer, 1027 Passagiere ertrinken / Bagdad, 2007: Selbstmordattentat auf einem Markt, 137 Tote / 2024: bei .Waldbränden kommen in Chile mindestens 120 Menschen ums Leben / 2024: beim Beschuss der von russischen Truppen besetzten ukrainischen Stadt Lyssitschansk sterben in einer Bäckrei 28 Menschen..

 

 


4. FEBRUAR

 

News

mit

Hans Aßmann Freiherr von Abschatz / Alfred Andersch / Joachim-Ernst Berendt / Dierich Bonhoeffer / Johann Friedrich Böttger / Robert Boyle / Georg Brandes / Manuel Álvarez Bravo / Joachim Wilhelm von Brawe / Neal Leon Cassady / Aristide Cavaillé-Coll / Pierre Carlet de Mariveaux / Georgi Nikolow „Goze“ Deltschew / Siobham Dowd / Friedrich Ebert / Betty Friedan / Almeida Garrett / Friedrich Charles Glauser / Jutta Hipp / Franz M. Jansen / Zabel Jesayan / Nkosi Johnson / Fernand Léger / Charles Lindbergh / Ida Lupino / Ferdando Magellan / Birju Maharaj / Božena Němcová / Andreu Nin i Pérez / Rosa Parks / Jacques Prévert / Jan Procházka / Laisenia Qarase / Karl Schönböck / Werner Schwab / John Stubblefield / Josef Kajetán Tyl / Karl Anton Vogt

 

Davon erfuhren wir gern:

1004 richtet König Heinrich II. das 981 aufgehobene Bistum Merseburg wieder auf / 1789 wird George Washington einstimmig zum ersten Präsidenten der USA gewählt / 1794 schafft Frankreich in allen seinen Territorien die Sklaverei ab / Bonn, 1857: Hermann Schaafhausen berichtet anhand Knochenfunden erstmals über den Neandertaler / 1945: Beginn der Jalta-Konferenz / 1948 wird Ceylon unabhängig.

 

Ich notierte:

2009: Sihanoukville, auch Kampong Song genannt, Kambodscha. Unser heutiger Guide spricht Deutsch. Kein Wunder, studierte er doch, wie viele andere Kambodschaner, in der DDR, wurde jedoch sogleich nach der deutschen Wiedervereinigung ins Flugzeug gesetzt und in seine Heimat zurückverfrachtet. Und dies, obwohl damals hier noch Bürgerkrieg war. Doch Ähnliches hatte ich in Mosambik auch schon erfahren… Als erstes geht’s zu einem Fischerdorf, nach Tumnuk Rolok, wo gerade der Fang der letzten Nacht umgeschlagen, sortiert, teils auch gleich ausgenommen wird. Entsprechend die Gerüche. Und da dies alles inmitten von Müll. Schlamm, löchriger Stege, elender Hütten passiert, rümpfen manche aus der Ausflugsgruppe ziemlich die Nase und können nicht verstehen, warum hier nicht mal ordentlich aufgeräumt wird. Dafür hätten die Leute keine Zeit und keinen Sinn, erklärt mit sanftem Lächeln unser Guide, seien zehn Jahre nach Ende eines dreißigjährigen Bürgerkriegs, der allein in den Schreckensjahren unter Pol Pot, von 1975 bis 1979, etwa 30% der Bevölkerung zum Opfer fielen, noch immer mit dem alltäglichen Überleben beschäftigt. Und dann verschwindet sein Lächeln und er erzählt, dass es keine kambodschanische Familie gäbe, die nicht Opfer zu beklagen habe. In seiner Großfamilie seien 43 Leute von den Roten Khmer ermordet wurden, seine Großeltern, sein Vater, seine beiden großen Schwestern, drei seiner Brüder. Den Tod seines Lieblingsbruders musste er sogar mit ansehen. Der war in einen Baum gestiegen, hatte für ihn Früchte gepflückt. Das allerdings galt als Diebstahl von Volkseigentum. Zwei Kindersoldaten hatten alles beobachtet und erschossen seinen Brüder erbarmungslos sofort. Unter den Roten Khmer lebte seine Familie auch nicht in Sihanoukville, sondern irgendwo auf dem Lande. Sihanoukville stand wie alle Städte des Landes damals leer. Die Bevölkerung war vertrieben, jeder Kambodschaner sollte als Reisbauer vegetieren. Das war die Gleichheit für alle, die Pol Pot als Kommunismus verstand. Irre. So gut wie alle Schulen, Krankenhäuser, Tempel wurden zerstört, alle Intellektuellen (wozu schon Brillenträger, geschweige denn Lehrer, Ärzte, Wissenschaftler, Mönche gezählt wurden) exekutiert. Sogar Nutztiere erschossen…

2018: Schlag sechs liege ich wach, nee, kein Wecker gestellt, innere Uhr. Doch wollte ich heute nicht rüber nach Spergau wie in so vielen Jahren zuvor, nicht mehr dabei sein beim uralten Fest, ja, glaubte, all dies heidnische Gewusel nicht mehr zu brauchen. Abgeblättert die Exotik, nicht länger erkennbar die Janusköpfigkeit zwischen Großchemie und Herkunft in diesem Dorf, bedeutungsschwer, Kain & Abel, Gestern & Morgen, bäurisches Geschacher stattdessen, neoliberal, einsilbig, eindimensional, nichts Entdeckbares mehr, alles beobachtet, alles geschrieben Und ich gebe zu, dass da nun auch eine Trägheit ist, die mich hält in der Bettwärme, zumal es schneit, draußen. So döse ich denn vor mich hin und sehe Schwarzmacher & Pritscher & sonstiges Lichtmeßvolks kommen, mich zu wappnen fürs Jahr, offenbar.

2024: Regen, dennoch nach Spergau zur Lichtmess. Erfreulich wie viele Leutchen mir die Hand schütteln oder mir sogar ein Bierchen ausgeben. 

 

Black out

für

Friedrich Arndt / Herbert Baker / George N. Barnard / Joachim-Ernst Berendt / Adolphe Biarent / Julius Block / Kamau Braithwaite / Donald Byrd / Karen Anne Carpenter / Conrad Celtis / Herman „Junior“ Cook / Amadou Diallo / José Míguel Covarrubias Duclaud / Jürgen Flimm / Betty Friedan / Robert Graf / Tata Güines / Robert Haughton / Alexander James „Alex“ Harvey / Patricia Highsmith / Henry Jager / J. J. Johnson / Louis Jordan / Raimo Kangro / Robert Koldewey / Liberace / Albert Lindner / Renatus Gotthelf Löbel / Hendrik Antoon Lorentz / Manche Masemolo / Kaj Munk / Matti Ensio Nykänen / Leonie Ossowski / Caspar Othmayr / Erich Ponto / Reg Presley / Hermann von Pückler-Muskau / Franz Reichelt / Maurice White / Marianne Wolf / Iannis Xenakis

 

Da spürten wir Ohnmacht an diesem Tage:

1797 wird Riobamba im heutige Ecuador bei einem Erdbeben fast vollständig zerstört, die Hälfte der Einwohner stirbt / 1899: Beginn des Philippinisch Amerkainischen Krieges / 1938 übernimmt Hitler das Oberkommando der Wehrmacht / 1966 stürzt vor Tokio eine Boeing 727 ins Meer, alle 133 Insassen kommen ums Leben / 1975 ein Erdbeben in China fordert 10.000 Opfer / 1976:Erdbeben in Guatemala: mehr als 23.000 Tote / 1998: Erdbeben in Tadschikistan und Afghanistan: 2.300 Todesopfer / Süpd-Chile, 2023: Waldbrand, mindestens 24 Menschen kommen ums Leben.

 


5. FEBRUAR

 

Zauberei

mit

Robert Montgomery Bird / Jussi Björling / Otto Brahm / Ole Bull / William Seward Burroughs / John Carradine / André Citroën / Michael Aidan Courtney / Charlbi Dean Kriek / Nikolai Alexandrowitsch Dobroljunow / John Boyd Dunlop / Peg Entwistle / Ricardo Lindo Fuentes / HR Giger / Sim Gokkes / Jenny Gröllmann / Albert Paris von Gütersloh / Alexander James „Alex” Harvey / Hazrat Inayat Khan / Gerhard Hoehme / Joris-Karl Huysmans / Bryan Stanley (B.S.) Johnson / Bronisław Kaper / Rick Laird / Bruno Lehmann / Trayvon Martin / Selma Meerbaum-Eisinger / Moritz Wilhelm von Sachsen-Merseburg / Christian Gottlob Neefe / Betty Ann Ong / August von Parseval / Ernst Pinkert / Františka Faustina Plámínková / Qara Qarayev / Gottfried Reiche / Selma Rıza / Daniel Santos / Heinrich Schickhardt / Franz Carl Spitzweg / Uwe Timm / Aegidius Tschudi / Johann Vierdanck / Cory Wells / Tom Wilkinson

 

Da fühlten wir uns verzaubert an diesem Tage:

Böhmen, 1796: Gründung der Nationalgalerioe Prag / 1869 wird im australischen Moliagul der bislang größte Goldklumpen entdeckt, der „Welcome Stranger“ mit einem Gewicht von 97,14 Kilogramm / Zürich, 1916: Eröffnung des Cabaret Voltaire“, die Geburtsstätte des Dadaismus / 1922 erscheint zum ersten Mla „Reader’s Digest“ / Genf, 1960: Eröffnung des CERN Synchrotons / 1988: Einführung des Spendentages „Red Nose Day“.

 

Ich notierte:

1974: Probe. Seni hat eines meines liebsten „Kinder“, das Gedicht „Nachwehen“ vertont. Die Noten liegen vor mir. Mit Eifer gehen wir ans Werk und haben den „Rohbau“ bald geschafft. Trotz Nieselregens fahre ich schließlich mit einem Hochgefühl nach Hause.

1981: Heute habe ich es geschafft, bin mit der Erzählung über Kathrin, den Zirkelleiter Gröger und den Opa Treichel zu Ende gekommen, mit dem Kinderbuch also. In einem Gewaltakt hatte ich die letzten vier Kapitel geschrieben. Egal, was nun noch für Nacharbeiten anfallen werden – ich bin durch, habe tatsächlich zum ersten Mal einen langen Stoff zu Ende gebracht! Wie oft war ich mir beim Schreiben nicht sicher, jemals so weit zu kommen? Mal sehen, was nun kommt, ob ich eine Chance erhalte. Ich hole mir eine Flasche Wein aus dem Keller, stoße mit mir selbst an, blättere dabei in den 102 Manuskriptseiten und hoffe, dass mich meine Zufriedenheit nicht gleich wieder verlässt, ich noch ein Weilchen mit mir selbst im Reinen sein kann.

2009: Auf See, irgendwo im Südchinesischen Meer. Angenehmes Lüftchen, nicht mehr so schweißtreibende Schwüle. Morgen werden wir in Vietnam sein. Ich freue mich sehr darauf, bin gespannt was sich seit 2003, als ich schon einmal hier war, weiter entwickelt hat. Damals war ich allerdings im Norden. Den Süden, dem wir nun zustreben, kenne ich noch nicht. Doppelte Vorfreude. Am Abend ein Blick in die Bordbibliothek, und ich bin doch ziemlich überrascht, dass hier neben den üblichen Verdächtigen auch deutsche Ausgaben von DeLillo, Doctorow und Updike, dass hier Bände von Walser, Böll und sogar von Christa Wolf stehen!

2011: La Romana, mal wieder: Schon vor vier Jahren begannen und beendeten wir hier eine Kreuzfahrt, unsere erste. Damals gelangten wir nach abenteuerlichem Transfer von Punta Cana hierher. Mittlerweile hat La Romana einen eigenen Flughafen – und schnurstracks ist man am Hafen und wie selbstverständlich auf dem Schiff. Noch immer aber trüben schwarze Rauchfahnen zweier Fabrikschornsteine die lichte Aussicht. Sollte das Geld (im sicherlich harten Kampf um Touristenanreisen), wenn denn sogar ein komplett neuer Flughafen gebaut werden konnte, nicht noch für zwei lumpige Schornsteinfilter reichen?

2015: Bohrte man geradenwegs durch den Erdmittelpunkt, käme man in Neuseeland raus – hörte oder las ich als Kind. Seitdem (meine ich) war Neuseeland eines meiner Traumziele. Die Antipoden besuchen! Doch waren Sehnsüchte jahrzehntelang das eine, waren mangelnde Reisemöglichkeiten, dann das notwendige Geld und/oder die freiverfügbare Zeit das andere. Zudem schreckte meine Gattin die immens lange Flugstrecke. Nun aber, bevor uns vielleicht Gebrechen in die Quere kommen, haben wir endlich gebucht. Ja! Und wenn wir schon mal in der Gegend sind (dachten wir), erkunden wir gleich auch noch den Kontinent, den wir als einzigen (sieht man von Antarktika ab) noch nicht betraten, Australien, a little bit. Abflug an einem Donnerstagabend von Frankfurt/Main nach Dubai, weiter (wie passend dimensioniert für unser Vorhaben…) mit dem größten Passagierflugzeug der Welt, einem Airbus A380, via Melbourne gen Aotearoa (Land der großen weißen Wolke), wie die Maori ihre Doppelinsel nennen, Ankunft am Sonnabendnachmittag.

2021: Weltweit nun schon mehr als 100 Millionen Fälle, fast 2,5 Millionen Corona-Tote, in Deutschland 2.300.000 Infizierte und 60.000 Verstorbene. In Portugal breitet sich ein mutierter Corona-Virus aus, beängstigende Ansteckungszahlen.

2023: Seit Jahren mal wieder zur Lichtmeß. Überraschung: auf den gelben Ortseingangsschildern steht „Lichtmeßdorf Spergau. Herzlich Willkommen“. Doch irgendwie scheint die Luft raus, zumindest für mich. Immerhin spielt die Kapelle statt der üblichen Mitgröllieder wie „Den Schnee, Schnee, Schnee, Schneewalzer tanzen wir…“ beim Frühschoppen „Brüder zur Sonne zur Freiheit“. Wie passend.

 

Zäsur

für

Christen Lauritsen Aagaard / Antti Amatus Aarne / Fanizani Akuda / Omar Amiralay / Lou Andreas-Salomé / Claude Autant-Lara / Matthias Bernegger / Manfred von Brauchitsch / Matthias Bernegger / Thomas Carlyle / Nicolaus Samuelis Cruquius / William Cullen / Hermann Danz / Kirk Douglas / Gustav Heinrich Eberlein / Hans Fallada / John Heysham Gibbon / Leone Ginzburg / Chris Gueffroy / John Hench / Albert A. Issa / Hans Jonas / Hans Litten / Maharishi / Theodor Neubauer / Pasquale Paoli / Helga Paris / Violeta Parra / Slavoljub Eduard Penkala / Christopher Plummer / Martin Schwantes / Manès Sperber / Violetta Szabó / Woodbridge Strong Van Dyke II. / Dana Vávrová / Douglas „Doug“ Watkins

 

Das waren uns böse Zäsuren:

146 v. Chr. erobern römische Truppen Karthago / im Jahr 62 werden Pompeji und Herculaneum durch ein Erdbeben erheblich in Mitleidenschaft gezogen / 1783 beginn in Messina und Kalbiren eine Serie von Erdstößen, bei denen 30.000 Menschen ums Leben kommen / Alkmaar, 1637: bei einer Versteigerung erreicht die „große Tulpenmanie“ ihren Höhepunkt, danach kommt es zum ersten Börsencrash der Geschichte / 1805 sinkt vor Weymouth die „Earl of Abergavenny“, 261 Tote / 1918 versenkt ein deutsches U-Boot den britischen Truppentransporter „Tuscania“ vor Nordirland, 166 Tote / Sarajevo, 1994, beim Einschlag einer serbischen Granate vor der historischen Markthalle sterben 68 Menschen, 197 werden verletzt.

 

 

6. FEBRUAR

 

Goldener Schnitt

mit

Ağaxan Abdullayev / Claudio Arrau / Saul Ascher / Theo Balden / Pierre Brice / Lothar-Günther Buchheim / Camilo Cienfuegos / Natalie Cole / Sergio Corazzini / Joseph Fickler / Reinhard Fißler / Ugo Foscolo / Zsa Zsa Gabor / John Gosling / Richard Hayward / Christian Henrich Heineken / Carl Christian Horvath / Jin Yong / Heinz Kahlau / Irmgard Keun / Erik S. Klein / Peter Kollwitz / Mary Leaky / Ernst Wilhelm Lotz / Bob Marley / Christopher Marlow /John Henry Mackay / Patrick Macnee / Franz Xaver Messerschmidt / Maria Mies / Alfred Mombert / Colin Murdoch / Ramón Novarro / Gerard Kitchen O’Neill / John Patrick O’Neill / Franz Radziwill / Argentina Santos / Pramoedya Ananta Toer / Rip Torn / François Truffaut / Bruno Wille / Zard

 

Das sahen wir an diesem Tage als nahezu ideal an:

1643. entdeckt Abel Tasman als erster Europäer Fidschi / Leipzig, 1764: Gründung der Akademie für Malerei / Berlin-Johannisthal, 1919: Start der deutschen Luftpost / 1959: Patent für den ersten integrierten Schaltkreis in den USA / Warschau, 1989: erstes Rundtischgespräch zwischen der Gewerkschaft Solidarność und der polnischen Staatsführung.

 

Ich notierte:

1978: Montag. Heute nach Dresden zu einer Tagung. Und ich fahre in Zivil – was für ein Gefühl! Doch in der Pädagogischen Hochschule wusste erst einmal niemand von einer „Werkstatt schreibender und komponierender Arbeiter“ zu der ich ja eingeladen und abkommandiert war. Endlich wusste jemand, dass alles um halb eins im Gewandhaushotel eröffnet werden solle. Also nichts wie hin. Im Foyer saßen Leute, die aussahen als ob sie auch zu dieser Werkstatt wollten. Doch es passierte erst einmal nichts, auch waren die Zimmer noch nicht beziehbar (falls wir hier nächtigen sollten). Endlich sagte jemand, dass es losginge und der Troß wälzte sich zur Tür hinaus und lief zur Pädagogischen Hochschule. Verdammt, da war ich heute doch schon mal! Alles hockte schließlich in einem Seminarraum, etwa 40 18- bis 80-zigjährige. Einführungsvortrag über Einflüsse der Rockmusik auf das kompositorische Schaffen der Neuzeit. Na prima. Und ich sah schon, wie sich die Heimatdichter gegen die Einflüsse des Rock auf ihr Schaffen sträubten. Doch schon ging’s zurück ins Hotel und wir wurden aufgefordert uns rasch einen Partner zu suchen, da es im Hotel nur Zweibett-Zimmer gäbe und es jetzt schnell gehen müsse. Mich sprach ein etwa Gleichaltriger an: „Gestatten: Hoffmann-Ohm, Lyrikzirkel Pankow!“ – „Jankofsky, Nationale Volksarmee!“ Abendessen schien dann in ganz Dresden aber unmöglich – Rosenmontag, alles voll. Immerhin, ’ne Boulette ergattert ich noch irgendwo.

1980: Ich lese Strittmatters „Kramladen“. Das Buch macht mir Mut, das hat Qualität! Am Abend zum Zahnarzt, nachdem ich beim Aufstehen einen brüllenden Schmerz verspürt hatte. Seit gut 15 Jahren hatte ich mich nicht mehr zum Zahnarzt getraut. Mein Gebiss ein Steinbruch, dass ich endlich reparieren lassen muss! Jeanny begleitet mich zu Dr. Maue, ja, ich habe Schiss, trotz „Privat-Audienz“… Schon sitze ich im sich nach hinten senkenden Stuhl, starre in grelles Licht, bin klatschnass – und schon ist ein Zahn raus. Und es tat nicht weh!

1983: Soeben von der Lichtmeß zurück. Schon morgens um sechs war ich mit Cathi losgefahren, um die Lichtmeßgesellschaft bei der Sammlung, der Eröffnung, dem Umzug zu erleben. Eigentlich wollte auch der Funk kommen, abgesprochen war’s. Einiges Hin und Her, dann hatte das Jugendradio DT 64 sogar beim Spergauer Bürgermeister angerufen, und nun ist schnöde niemand vor Ort. Tja, so ist das offenbar mit uralten Bräuchen, noch dazu, wenn die zu nachtschlafener Zeit zelebriert werden… Ich werde darüber schreiben, eine Reportage vielleicht, oder ein Feature. Mal sehen.

1987: Gestern eine erste Lesung nach dem Reservedienst, lief recht ordentlich, es blieb aber auch vieles ziemlich oberflächlich (was durchaus an mir gelegen haben könnte – so recht habe ich diese ganze Reservistenscheiße noch nicht verdaut). Eigentlich hätte ich gestern Abend eine Veranstaltung des Bezirksliteraturzentrums im Volkspark leiten müssen (schrieb mir Matthias, mein Stellvertreter), doch da ich noch immer nicht offiziell zum Leiter berufen bin, nach wie vor „Schweigen im Walde“ herrscht, tat ich so, als wüsste ich von nichts… Außer Matthias hat bis heute überhaupt niemand versucht, mit mir „Heimkehrer“ Kontakt aufzunehmen. Das ernüchtert und verunsichert gleichermaßen. Mut und Wille wären gefragt – für die Wiederaufnahme des „Schreibfadens“ nicht zuletzt – doch dieses mich „Hängenlassen“ lähmt, blockiert mich zusehends. Immerhin, mein Bart wächst, wenn ich in den Spiegel schaue, erkenne ich mich langsam selbst wieder. Doch wenn ich nur daran denke, wie ich noch vor einer Wochen aussah…

1988: Einen Tag vor der Lichtmeß in Spergau bei allen (Außenstehenden ansonsten verschlossenen) Vorbereitungen dabei. Wie selbstverständlich bin ich durch meinen Einsatz für den alten Brauch, durch mein Schreiben darüber, ein von allen angenommener Gast. Ein Küchenbursche sagte: Ich hätte mir so ähnlich wie der Dokumentarfilmer Meinhardt bei den Wildschweinen mittlerweile bei den Spergauern Vertrauen erworben. Was für ein Lob!

2009: Fahrt ins Saigoner Hinterland. Und obwohl ich hier natürlich noch nie war, erscheint mir alles sogleich irgendwie vertraut: die hügelige Landschaft, die sattgrünen Reisfelder, die Häuser, die Menschen, der (Moped)Verkehr. Obligate Stopps an einem Tempel und einem Markt. Dann sind wir zu Gast in mehreren Gehöften. Im ersten wird Reispapier hergestellt, im zweiten Reisschnaps. Interessante Steigerung. Das dritte dann hat einen üppigen, tropischen Garten, und inmitten Palmen, Bananenstauden, Avocadobäumen, Curry- und Pfeffersträuchern und exotisch flatternden Schmetterlingen sehe ich durchaus Unterschiede zum Norden. Hier braucht man offenbar nur einen Strunk in den Boden stecken und schon wächst’s und gedeiht’s. Wo könnte dieses Land, könnte dieses fleißige und geschäftstüchtige Volk heute schon sein, wenn es nicht diesen schrecklichen, vor allem von den Amis aufgezwungenen Weg hätte gehen müssen? Auf dem Singapur-Level womöglich? Auf jeden Fall ist es noch nicht allzu lange her, dass ein Mr. Nixon ankündigte, Vietnam in die Steinzeit zurück zu bomben. Und viel hätte damals wohl nicht mehr gefehlt…

2013: La Romana, zum Dritten. Doch wird nun nicht gen Osten und nicht gen Süden, sondern gen Westen gestartet. Die beiden Fabrikschornsteine rußen am Hafen jedoch unmissverständlich noch immer…

2020: Reunion, Le Port. Inselrundfahrt im Bus. Durch die Inselhauptstadt St. Denis nach St. Andre an der Ostküste. Stopp an einem Hindu-Tempel, den wir aber nicht betreten dürfen, da hier ab Mittag das Muruga-Fest gefeiert wird, zehn Tage lang, und jetzt am Vormittag alle Götterfiguren prächtig mit Blumenkränzen geschmückt werden. Weiter nach St. Anne zu einer neobarocken, katholischen Kirche, natürlich nicht farbenfroh, doch mit fast hinduistischer Zier. Wie auf Mauritius leben auf Reunion Angehörige verschiedenster Religionen friedlich, ja, respektvoll, miteinander. 55% der Inselbevölkerung sind Christen, katholische wie protestantische, 25% Hindus, 13% Moslems, die restliche 7% laufen unter „Verschiedene“. Wichtig hierfür dürfte u.a. sein, dass seit zwei-, dreihundert Jahren, seit der Besiedlung der Insel, die Bevölkerungsgruppen sich ständig weiter vermischen. Unser hervorragender Guide David bietet dafür ein gutes Beispiel: Sein Vater ist Madagasse, erklärt er, seine Mutter Französin. Und auf meine Frage, warum er so gut Deutsch spricht, lacht er: da er mit einer Österreicherin verheiratet sei.

 

Halluzination

für

Mohammed Abd al-Karim / Peter Abraham / Francesco Azopardi / Tatjana Barbakoff / Edward Barnard / Gerdt von Bassewitz / Isabella Mary Beeton / Jesse Lorenzo Belvin / Maxwell Bodenheim / Peter von Bohlen / Ernest-Lucien Boucher / André Brink / Martine Carol / Friedrich August Carus / Claus Hinrich Casdorff / Christopherus Clavius / Athénaïs Clément / Joseph Cotten / John Dankworth / Rubén Dario / Maria Deraismes / Assia Djebar / Falco / Georg Gustav Fülleborn / Carlo Goldoni / Vince Guaraldi / Jorge Guillén / K’an Joy Chitam I. / Inge Keller / Jack Kirby / Gustav Klimt / August Kopisch / Cemal Kütahya / Richard Lemon Lander / Eva Leidmann / Lata Mageshkar / Piero Manzoni / Francesco Mochi / Gary Moore / Armin Müller / Hans Neuenfels / Dieter Noll / Johannes Ockeghem / Humphry Osmond / Francsco Patrizi da Cherso / Rosamunde Pilcher / Joseph Priestley / Ivo Puhonny / Frank Victor Swift / Art Taylor / John Leigh Testrake / Carl Dean Wilson / Minoru Yamasaki / Béla Zsolt / Stefan Jerzy Zweig

 

Da hofften an diesem Tage, dass wir halluzinierten:

1840 müssen die Maori mit dem Vertrag von Waitangi Neuseeland an die Briten abtreten / München, 1958 bei einem Flugzeugunglück sterben 23 Menschen, darunter die gesamte Fußballmannschaft von Manchester United / Puerto Plata, 1996. nach dem Start stürzt eine Boeing 757 ins Meer, 189 Tote/ 1989 kommen beim Untergang einer Fähre vor Borneo mehr als 300 Menschen/ 2023: Erdbeben in der Osttürkei und in Syrien, bis zu 57.000 Tote.

 


7. FEBRUAR

 

Utopie

mit

Alfred Adler / Ernst Alban / Oleg Konstantinowitsch Antonow / Héctor Babenco / Eugen Batz / Max Bense / Louis-Auguste Blanqui / King Curtis / Heinz Czechowski / Jim Durkin / Charles Dickens / Roger East / Friedrich August Eschen / Miguel Ferrer / Johann Heinrich Füssli / Michael Gamper / Dinicu Golescu / Stephen Gray / Juliette Gréco / Stella K. Hershan / William Huggins / Finnbogi Ísakson / Daniel „Dan“ Kaminsky / Alan Lancaster / Fritz Lattke / Sinclair Lewis / Shani Louk / Thomas Morus / Paul Nizan / Feliks Nowowiejski / Lothar Popp / Puyi / Paul Nizan / Jean-François Regnard / Bruno von Salomon / Roy Sullivan / Warren Smith / Hugo von Tschudi / Vettius Valens

 

Da glaubten wir an diesem Tage an die Zukunft:

1882 nimmt die Berliner Stadtbahn ihren Betrieb auf / 1974 wird Grenada unabhängig / 1986 flieht der Diktator Jean-Claude Duvalier aus Haiti / 1992: Unterzeichnung des Maastrichter-Vertrages durch den Europäischen Rat.

 

Ich notierte:

2000: Am Nachmittag treffe ich mich mit einem ZDF-Team, das einen Bericht über Leuna dreht. Natürlich, die Schmiergeld-Affäre. Aber man hat immerhin meine „Graureiherzeit“ gelesen und möchte mit dem Autor ein Gespräch führen. Vom Infra-Gebäude fahren wir zur alten Raffinerie. Unglaublich, was sich hier alles verändert hat. Kaum, dass ich Orte im Werk, die mir einst durchaus vertraut waren, wiedererkenne. Großflächiger Abriss allenthalben. Die Fernsehleute bemerken meine Verwunderung und lassen mich sogleich „ein bisschen in die Kamera staunen“. Schließlich zur Saale. Aber wie nicht anders zu erwarten, kreist natürlich gerade mal kein Reiher... Dennoch nehmen sie meine Statements, was das eigentlich ist, die Graureiherzeit, freundlich auf. Na, mal sehen, was dann am Sonnabend wirklich gesendet wird...

2002: Mal wieder das Gefühl, den Alltag nicht beherrschen zu können, sondern vom Alltag beherrscht zu werden. Mutter im Krankenhaus (nach Schlaganfall wahrscheinlich), Jeanny krank (schwere Grippe), Ärger mit dem Ministerium, meine Vereinsfinanzerin, mal wieder grillig, und weitere Niggligkeiten… Der Berg, der aufgetürmt scheint, scheint nicht abarbeitbar – dennoch (alte Erfahrung): irgendwie ein System reinbringen, irgendwie peu a peu…

2009: Nha Trang. Urlaubshochburg, das „Nizza“ Vietnams. Bereits die französischen Kolonialherren sollen diesen zauberhaften, tatsächlich an die Riviera erinnernden Küstenstrich genossen haben. Und wir sehen überall neue, großzügige Ferienanlagen entstehen, stilvoll, der Landschaft angepasst, keine Bettenburgen. Keine Frage, dieses Land hat etwas vor, strebt mit allen Mitteln auf.

2011: Oranjestad: zweigeteilte Skyline: flache Häuschen downtown hinterm Hafen und klotzige Hotelburgen randwärts hinter den weißen Stränden. Vom Golde soll sich der Name des Inselchens herleiten: Spanisch ruba – Rot und ore – Gold. Tatsächlich gabs hier bis 1919 für fast 100 Jahre einen Goldrausch. Längst sichert hier aber der Tourismus den relativen Wohlstand.

Einst galt die Insel sogar als nutzlos, verkauften die Spanier Aruba schließlich im 17. Jahrhundert sogar an die Holländer. Nunmehr ist Aruba wie Sint Maarten und Curaçao autonomer Staat im Königreich der Niederlande. Und das Kreol, das hier wie auf den anderen beiden so genannten ABC-Inseln (Bonaire und Curaçao) gesprochen wird, heißt Papiamento und spiegelt als Mix aus Spanisch, Portugiesisch, Englisch, Französisch, Niederländisch und afrikanischen Sprachen hörbar die Siedlungsgeschichte.

2015: Von diversen Großstädten der Welt hat man eine gewisse Vorstellung – doch von Auckland, der größten Stadt Neuseelands? Und reichlich beliebig erscheinen mir dann auf der Fahrt vom Flughafen ins Zentrum die weitläufigen Vorstädte: Holzbungalows vor allem, manche modern, manche mit viktorianischem Verzier, eingebettet allerdings in eine parkähnliche Landschaft, und alles sehr gepflegt. Und auch die City wirkt überschaubar, einige mittelprächtige Bank- und Hotelhochhäuser und der Fernsehturm natürlich – der eigens einige Meter höher als der Sydneyer gebaut wurde, damit er als höchster dieser Hemisphäre gilt. Frühlingshafte 21°C, Spaziergang zum Fährhafen, ein buntes Völkergemisch promeniert: Polynesier, Inder, Asiaten, Weiße. Selbst Hobbits oder Elben hätten mich wahrscheinlich nicht überrascht. Überall Restaurants und Pubs, ein erstes Ale in der Abendsonne am Pazifik. Keine Frage, das mundet, doch gegen 21.00 Uhr zurück ins Hotel, den Jetleg wegschlafen! Zudem scheint zu stimmen, was Katherine Mansfield schrieb: „Unsere neuseeländischen Tage kennen keine Dämmerung, sondern nur eine sonderbare halbe Stunde, in der alles phantastisch verzerrt

2021: Sonntag. Heute wäre ich wohl seit frühem Morgen in Spergau zur Lichtmess. Aber selbst dieses uralte Brauchtumsfest kann wegen der Corona-Auflagen nicht stattfinden. Ausgefallen war es bislang nur während und infolge des Ersten und Zweiten Weltkrieges…

 

Totentanz

für

Johannes Ilmani Auerbach / Ava von Göttweig / Baccio Bandinelli / Orson Bean / Edward Wilmot Blyden / Johann Friedrich Cassbohm / Daniel Chodowiecki / Rudolf Christians / Cheik Anta Diop / Albert Finney / Lewis Grassic Gibbon / Alfred Grosser / Douglas James Henning / Birgit Herkula / Uwe Herms / Hussein I. / Eddie „Guitar Slim“ Jones / Mickey Jones / Mashal / Augusto Monterroso / Zbigniew Namysłowski / Karl August Nicander / Nexhmije Pagarusha /Francesco Patrizi da Cherso / Qianlong / Robert Reinick / Emy Roeder / Emil Rosenow / Bartholomäus Sastrow / Adolphe Sax / Volkmar Sigusch / Clarence Samuel Stein / Hatun Aynur Sürücü / Sepé Tiaraju / Pat Torpey / Johann Christian Trothe / David Unaipon / Li Wenglian / Roger Willemsen / Petko Wojwoda / Gerhard Wolf / Zamor

 

Da sahen wir Geister der Vergangenheit spuken:

1863 sinkt das australische Flaggschiff „Orpheus“ vor Neuseeland, 189 Seeleute ertrinken / 1942 ermorden kroatische Ustaschas in Drakulici bei Banja Luka 2.300 serbische Zivilisten / Völklingen, 1962: bei einer Kohlenstaubexplosion kommen 299 Bergleute ums Leben / 2009: Beginn der Buschfeuer im australischen Victoria, bis zu deren Eindämmung sterben 173 Menschen / 2024 am Tag vor den Wahlen kommen in Pakistan bei Terroranschlägen 28 Menschen ums Leben.

 


8. FEBRUAR

 

On the Road

mit

Giovanni Francesco Barbieri / Bob Bemer / Matthias Bernegger / Elizabeth Bishop / Ilona Bodden / Martin Buber / August Joseph Norbert Burgmüller / Chester Carlson / Neal Leon Cassady / Kate Chopion / Ralph Chubb / Gary Coleman / James Dean / Francis Douglas / André-Ernest-Modeste Grétry / Lonnie Johnson / Greta Keller / Robert Knox / Konstantinos XI. Palaiologos / Siegfried Kracauer / Manfred Krug / Richard Lemon Lander / Cristoforo Landino / Albert Lautmann / Jack Lemmon / Karl Theodor Richard Lessing / Franz Marc / Ludwig Marcuse / Dmitri Iwanonowitsch Mendelejew / Paula Modersohn-Becker / Paul Otto / Jochen Piest / Proklos / Lillian Roxon / Friedlieb Ferdinand Runge / John Ruskin / Hermann Scherer / Thomas Etholen Selfriedge / Franz Singer / Eva Strittmatter / Lana Turner / Jules Verne / King Vidor / Alfons Walde

 

Da meinten wir auf dem richtigen Wege zu sein:

1815: der Wiener Kongress verabschiedet eine Erklärung gegen den Sklavenhandel / 1865 veröffentlich Gregor Mendel die Ergebnisse seiner Kreuzungsexperimente / 1919: Gründung der ersten Linienfluggesellschaft, der Lignes Framan, Vorgängerin der Air France.

 

Ich notierte:

1974: Heute war ich schon kurz vor dreiviertel Sieben im Lager. Dreiviertel Sieben ist regulärer Arbeitsbeginn und daran hatte ich mich bis jetzt auch peinlichst gehalten, um ja keine Minute zu viel hier zu verbringen. Mein ganzer Tagesplan war grundsätzlich drauf eingepegelt, dass ich mit jeder Minute Schlaf, mit jeder Minute Freizeit geizen kann. Zum Feierabend sieht die Sache noch ein bisschen anders aus. Hier habe ich einen Dreh gefunden, immer schon fünf bis zehn Minuten eher auszubuchen.

2001: Irgendwie scheine ich aus der Depression gar nicht mehr rauszukommen, im Gegenteil. Seit Tagen mal wieder Zoff mit Jeanny, zudem das Gefühl, dass der Brot-Job unbeherrschbar wird, da Unmengen Ärgerlichkeiten auftauchen. Warum mache ich das eigentlich alles? Warum packe ich nicht einfach meine Schecke und lege mich irgendwo in die Sonne und schreibe…

2009: Da Nang. In der Bucht von Da Nang gingen 1965 die ersten amerikanischen Bodentruppen an Land, bekam der Vietnam-Krieg eine verheerende Dimension. Und so wie heute kaum eine Nachrichtensendung ohne eine Meldung aus Bagdad oder Kabul auskommt, stand in unserer Jugend nicht selten Da Nang im Zentrum des Medieninteresses. Wir fahren auf der berühmten Nationalstraße Nr. 1, die Hanoi mit Saigon verbindet, fahren über den Wolkenpass, die klassische Grenze zwischen Nord- und Südvietnam, Wetterscheide und in all den Jahren des Vietnam-Krieges schwer umkämpft (wovon keine Spuren mehr zeugen), fahren nach Hue. Als ich vor Jahren in Hanoi war, schwärmten unsere vietnamesischen Partner immer von ihrer alten Hauptstadt, der alten Kaiserstadt. Wenn ich mal wieder nach Vietnam käme, müsste ich unbedingt Hue besichtigen. Nun denn! Wir haben heute einen jungen, sehr gut englisch sprechenden Guide (was in der Region nicht eben die Regel ist), der, als er feststellt, dass fast ausschließlich Amerikaner (neben 2 Deutschen) zu dieser Ausflugsgruppe gehören, sogleich die Geschichte des Vietnam-Krieges erzählt, nicht vergisst die Opfer aufzulisten (50.000 GIs, 3 Millionen Vietnamesen), dann aber mit leuchtenden Augen erklärt, wie sehr er sich freut, dass Amerika einen neuen Präsidenten habe, dass er wie viele seiner Landsleute große Hoffnungen in Obama setze...

2011: Colón, laut Reiseführer die Stadt mit einer der höchsten Kriminalitätsraten der Welt. Vor Rundgängen selbst am Tage wird dringend abgeraten. Dass Colón arm und benachteiligt ist, hat Tradition. Hierher kamen Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem Nachfahren schwarzhäutiger Sklaven von den Antillen für den Bau der Panama-Eisenbahn, die auf kürzestem Wege, einem alten Maultierpfad der Conquistadoren folgend, Güter vom Pazifik zum Atlantik befördern sollte. Und ebensolche Slavennachfahren kamen hierher in Scharen für den Bau des Panama-Kanals Ende des 19. Jahrhunderts unter Leitung des Suez-Kanals Erbauers Lesseps, der allerdings aufgab, und schließlich Anfang des 20. Jahrhunderts unter den Amerikanern. Und während in Colón auch heute noch überwiegend Schwarze leben, wohnt in der Landeshauptstadt Panama City auf der anderen Seite des Isthmus, am anderen Ende des Kanals, die weiße Oberschicht. Dorthin gelangt also erst einmal alles Geld, das im Lande erwirtschaftet wird, auch das aus der riesigen Freihandelszone Colóns, und bei der Verteilung scheint dann traditionell reichlich Zaster in der Hauptstadt kleben zu bleiben. Jüngster Beweis: eine nagelneue Autobahn von Panama City endet wenige Kilometer vor Colón (nach heftigen Protesten soll aber demnächst zumindest bis zur Freihandelszone verlängert werden…). Mit dem Bus erreichen wir nach etwa einer Stunde Balboa am Pazifik, Hauptstadt der einstigen Panamakanal-Zone, die de facto Teil der USA war. Als die Franzosen unter Lesseps mit dem Kanalbau scheiterten, war Panama noch Teil von Kolumbien. Und da die Amis mit den Kolumbianern partout nicht handelseinig über die Fortführung des Kanalprojektes werden konnten, beförderten sie heftig die Unabhängigkeitsbestrebungen der Panamaer im kolumbianischen Bürgerkrieg. Und 1903 wurde so aus der kolumbianischen Provinz Panama ratzbatz der neue Staat Panama. Und dessen Regierung unterschrieb nun schnurstracks den von den Amis erwünschten und diktierten Vertrag, und darin enthalten eben auch, dass eine kilometerbreite Zone an beiden Kanalufern künftig und auf ewig an die USA zum Schutze der Kanalsicherheit übergeht. Und erst diverse Unruhen und folgende politische Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten letztlich dazu, dass die Panamakanalzone zum 31.12.1999 aufgelöst wurde, dass die Amis abzogen. Heute erkennt man den einstigen Staat im Staate ebenso wenig wie den Übergang Ost- nach West-Berlin. Und Panama City beeindruckt: man sieht allein schon an der modernen Wolkenkratzer-Skyline, dass mit dem Panama-Kanal Geld zu machen ist. Zudem gilt Panama City neuerdings als Steuer- und Finanzparadies, siedelten sich hier diverse Banken an. Wir durchschlendern die Altstadt (Caso Viejo), durchfahren die Neustadt und gelangen schließlich zum Kanal, erleben an den Miraflores-Schleusen, wie ein Frachter durch die Staustufen gelangt. Beeindruckendes Schauspiel in tropischer Umgebung. Etwa 40 Schiffe passieren täglich den Kanal, mehr geht nicht, noch nicht. Die Preise für die Passage steigen (seit der Übernahme durch den Staat Panama) ständig, betragen je nach Tonnage mittlerweile wohl bis zu 400.000 $. Und entsprechend einer Volksabstimmung baut man derzeit an einem weiteren Schleusensystem, so dass die Kapazität erhöht und die Durchfahrt auch für Super-Schiffe möglich wird. Wie auch immer: dieser Kanal ist eine große Errungenschaft für die Menschheit, verkürzt er Seewege doch um tausende Kilometer. Und nicht zu vergessen: bei seinem Bau ließen 25.000 der 75.000 Arbeiter „in der grünen Hölle Panama“ ihr Leben, Nachfahren von Sklaven von den westindischen Inseln zumeist…

2021: Mittag schneit’s noch immer. Kein Räumdienst, keine Müllabfuhr, keine Zeitung, keine Post… So viel Winter gab’s hier seit Jahrzehnten nicht mehr.

2024: Auf meiner vormittäglichen Fahrradrunde fällt mir Nonsens ein: Fort Marrie Me. Wieder am Computer recherchiere ich für das Porträt eines Zu-früh-Verstorbenen - und kann es kaum glauben: der studierte in Laramie. Was ist dass? Zufall? Oder=

 

   

Abgang

für

Achim von Akerman / Berthold Auerbach / Burt Bacharach / Walter Bothe / Frank Böttcher / Aleksandrs Čaks / Jean-Claude Carrière / Cethswayo kaMpande / Georges de Mestral /Richard Dehmel / /Kurt Edelhagen / Gustav Falke / Gustaf Fröding / Dennis Gábor / Franz von Gaudy / Georg Gerster / Marie Gruber / Francis Hagerup / Kurt Hübner / Keith Knudsen / Pjotr Alexejewitsch Kropotkin / Halldór Laxness / Max Liebermann / Angelika Mechtel / Luc Montaignier / Muborakscho Mirsoschojew / Iris Murdoch / John von Neumann / Alfons Paquet / France Prešeren / Louis Renault / Nicola Salvi / Rahel Sanzara / Lawrence Saunders / Friedrich Schenker/ Moritz von Schwind / Del Shannon / Anna Nicole Smith / Jimmy Smith / Jan Huygen van Linschoten / Violette Verdy / Alfréd Wetzler / Mary Wilson / Nikos Xylouris

 

Da ging uns letztlich alles ab:

1529: Beginn des „Basler Bildersturms“ / 1887: verabschiedet der US-Kongress den General Allotment Act zur Privatisierung indianischer Reservate / 1904 beginnt der Russisch-Japanische Krieg / Carson-City, Nevada, 1924: erstmals wird in den USA ein zum Tode Verurteilter in einer Gaskammer hingerichtet / Malaga, 1937: nach der Schlacht von Malaga nehmen deutsche Flugzeuge und zwei Kriegsschiff flüchtende Zivilisten unter Beschuss, das „Massaker von Malaga“ fordert schätzungsweise 10.000 Todesopfer / Irak, 1963: Putsch, die Baath-Partei übernimmt die Macht / Piräus, 1981: Massenpanik bei einem Fußballspiel, 21 Tote, 32 Verletzte / Teheran, 1993: Kollision einer startenden TU-154 mit einer landenden SU-22, 133 Menschen sterben.

 


9. FEBRUAR

 

Diskurs

mit

Rick Abao / Mir ’Ali Schir Nawā’i / Brendan Francis Aidan Behan / Alban Berg / Thomas Bernhard / Karoline Marie Luise Brachmann / Mrs. Patrick Campbell / Felix Dahn / Fernanda de Utrera / Franz Xaver Gabelsberger / Rainer Maria Gerhardt / André Gorz / Anton Heyboer / Claire Heliot / Little Tony / Amy Lowell / Wilhelm Maybach / Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold / Carmen Miranda / Walter Sylvester Page / Thomas Paine / Yoel Racah / Anita Clare Rée / Rahel Sanzara / John Schehr / Oda Schottmüller / Wassili Andrejewitsch Schukowski / Hans Bartsch von Sigsfeld / Charles Kingsford Smith / Sōseki Natsume / James Owen „Jimmy” Sullivan / Max Valier / Yagi Jūkichi

 

So meinten wir uns gut verständigen zu können:

1896 findet in Sankt Petersburg die erste Weltmeisterschaft im Eiskunstlauf statt / 1926 erfindet Erik Andreas Hofheim die Sprühdose / 1960: den ersten Stern auf der Hollywood Walk of Fame geht an Joanne Woodward.

 

Ich notierte:

1978: Bei der Dresdner Werkstat klimpere ich am Abend auf der Gitarre herum und es setzt sich ein Typ von der Singegruppe Hoyerswerde zu mir, Gerhard Gundermann, spricht mich an, hinterfragt mein Spiel, will einiges gezeigt haben. Interessanter Typ, gutes Gespräch. Und eine Frau Jobst, Gattin des großen Autors Herbert Jobst, bietet mir einige ihrer Gedichte zum Vertonen an.

1980: Mugge in Wolfen, kleiner Saal, geschlossene Gesellschaft: 30 Jahre Stasi (wie hat Felix denn die an land gezogen?). Und diese Leute scheinen sich (und uns selbstredend) ständig zu beobachten, was für eine traurige Angelegenheit. Nee, da kommt keine Stimmung auf. Und am Ende will mich der Gaststättenleiter verprügeln, keine Ahnung warum, aber der Kerl war ein Hüne, klar ziehe ich zurück und also den kürzeren…! Was laufen hier nur für Idioten rum!

1986: Die wohl kälteste Nacht des Jahres, minus 17°C, Eisblumen am Fenster über meinem Schreibtisch. Aber ich weiß nun wieder, dass ich aus mir selbst kommen kann – neue, ordnende Ideen. Und egal was wird – die Gewissheit, ich hoffe wieder, durchs Schreiben weitermachen, mich selbst finden zu können, nicht in dumpfem Frost zu enden. Allein was für schöne Eisblumen sind zu entdecken!

1989: Was für ein Winter! Heute 16°C – plus! Das kommt doch wohl einiges durcheinander.

2006: Stau zwischen Hermsdorf und Triptis Vage kam mit gestern in den Sinn mal was zu schreiben, wie sehr mir langsam klar wird, dass mir wohl immer weniger Ausweichchancen bleiben, nicht mehr beliebig viele Hintertürchen offen stehen ect. pp. Sollte ich morgen im Stau stehen, dachte ich, denke ich mal konkreter drüber nach. Stattdessen verfluche ich nun, verfluche ich immer wieder auch nur im Leisesten einen Stau als Möglichkeit imaginiert zu haben und kann elementare Blitzeis-Ewigkeiten lang nichts, absolut nichts anderes tun.

2008: Eigentlich schien mein Bedarf an Reisen ins tropische Afrika nach dem Mosambik-Trip (erst gut ein Vierteljahr ist’s her) zumindest vorerst gedeckt. Und schon bin ich wieder unterwegs, bin unterwegs nach Ghana. Das Angebot war einfach zu verlockend. Mit Imre, dem Vorsitzenden des Verbandes deutscher Schriftsteller, fliege ich zu einem Treffen mit Kollegen der Pan African Writers Association nach Accra. Finanziert wird das Ganze vom Auswärtigen Amt. Nicht zuletzt wohl, da während unseres Aufenthaltes auch der Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier in Ghanas Hauptstadt sein wird, und (wenn möglich) sogar an diesem Treffen teilnehmen möchte. Eine zeitlang sah es sogar so aus, als würden wir mit der Regierungsmaschine mitfliegen. Aber die steuert danach noch andere westafrikanische Ziele an und soll obendrein durch die übliche Entourage voll belegt sein. Nun gut. Fliege ich also mit Linienflügen von Leipzig nach Accra, Imre steigt in Frankfurt zu. Sonnenscheinflug: Herrliches Alpenpanorama, Korsika, Sardinien, dann Algerien, Niger (erst abwechslungsreiche, bald öde Sahara-Ansichten), schließlich Nigeria im Dunst, doch zunehmendes Grün. Derart voranzukommen wirkt so natürlich, so normal, dass es schon an Realitätsverlust grenzt. Zwischenstopp in Lagos. Und an der Küste des Golfs von Guinea entlang über Benin und Togo nach Ghana. Gegen 18.00 Uhr Ortszeit (Greenwich time) landen wir in Accra. Sauna! Und als wir das Flughafengebäude verlassen, brandet Jubel auf. Yeah! Just in diesem Moment hat Ghana ein Tor geschossen, wird Dritter der Afrika-Fußballmeisterschaft, die gerade hier in Accra ausgetragen wird. Na, da jubelt man doch gleich mal mit. Ja, nehmen wir’s als Omen.

2011: Puerto Limón. „Reiche Küste“ nannten die Spanier dieses Land: Costa Rica, und hofften wie immer auf Gold. Der Reichtum dieses Landes ist jedoch die Natur (und nunmehr: der sorgsame Umgang mit ihr). Schon bei der Annäherung an die Küste lockt reichlich Grün, Wald vom Strand über sanfte Hügel bis hinauf zu einer imposanten Gebirgskette. Mehr als 30% der Fläche des Landes (das ungefähr so klein wie die Schweiz ist) sind als Naturschutzgebiete ausgewiesen. Und es klingt fast unglaublich: etwa 5% aller (!) Tier- und Pflanzenarten leben hier.

2015: Nachtfahrt zur Region Bay of plenty. Dank des geschäftigen Hafens gilt Tauranga als die am schnellsten wachsende Stadt Neuseelands. Nicht weit von hier, an der Landspitze Maketu, soll einst eines der legendären Ahnen-Kanus gelandet sein. Mit insgesamt sieben solcher Kanus gelangten demnach die Vorfahren der späteren Maori-Stämme aus ihrer ost-polynesischen Heimat hierher, vier zur Nord-, drei zur Süd-Insel. Im 13. Jahrhundert wohl. Dann im Bus entlang endloser Kiwi-Plantagen zu einem der heutigen Zentren der Maori-Kultur, nach Rotorua. In diesem Städtchen mit seinem gepflegten Kurpark dampfen allenthalben Thermalquellen, gischten Geysire, Schwefelgestank. Wir besuchen aber, noch etwa 15 Kilometer weiter, eine nachgebaute Maori-Siedlung. Begrüßungszeremonie mit reichlich rausgestreckten Zungen, Augenrollen und Nasenaneinanderreiben, dann Handwerks- und Tanzvorführungen vor Hütten mitten im Wald. Gesänge im Langhaus und schließlich das traditionelle Essen, Hangi: Gerichte aus dem Erdofen, Fleisch, Fisch, Muscheln und alle Beigaben aus Süßkartoffeln (leckeres Brot sogar). So sehr das alles hier folkloristisch ist, sind es doch vor allem junge Maori, die sich hier engagieren, die Sitten und Gebräuche ihres Volkes vorführen. In heutigen Maori-Siedlungen dürfte man kaum Einblicke in einstiges Leben gewinnen können. Überhaupt scheint es seit Jahrzehnten starke Identitätsfindungsprozesse der Maori zu geben, die sich nicht allein in der Pflege kulturellen Traditionen oder der Sprache (die seit 1987 immerhin offiziell anerkannt ist) niederschlägt, sondern auch in politischen und juristischen Ansprüchen.

 

Denkmal

für

Abd al-Karim Qasim / Murlidhar Davidas Amte / Elisabeth von Arnim / Richard Artschwager / Carl Christian Bry / Brian Francis Connolly / Chick Corea / Ernst von Dohnányi / Fjodor Michailowitsch Dostojewski / Maxime Du Camp / Paul Laurence Dunbar / Herschel Evans / Alice Esther Glen / Walter Gramatté / Bill Haley / Friedrich Konrad Hornemann / Joseph Horovitz / Jóhann Gunnar Jóhannsson / August Kühn / Katarzyna „Kasia“ Lenhardt / Paul Levi / Ian McDonald / Adolph von Menzel / Helene Odilon / / Hertha Pauli / Larissa Michailowna Reissner / Herbert A. Simon / Damo Suzuki / Tomi Ungerer / Karl Valentin / Lucilio Vanini / Richard With

 

Das sollte uns mahnen:

1971: ein Erdbeben im San Francisco Valley fordert 65 Menschenleben und richtet schwere Schäden an / Aitrang, 1971: Eisenbahnunfall, 28 Tote, 42 Schwerverletzte / 1991: die peruanische Regierung ruft wegen einer Choleraepidemie, bei der etwa 12.000 Menschen streben, den nationalen Notstand aus.

 


10. FEBRUAR

 

Uraufführung

mit

Stella Adler / Peter Allen / Lajos Batthyány / Herbert Baum / Bertolt Brecht / Brécourt / Clifford Lee „Cliff” Burton / Maria Cebotari / Hossein Fatemi / Jerry Goldsmith / Roland Hanna / Margarete Hannsmann / Ezard Haußmann / Hiratsuka Raichō / Anton Holban / Brigitte Irrgang / Willy Jaeckel / Konrad Klapheck / Alfred Kranzfelder / Jakov Lind / Boris Leonidowitsch Pasternak / Dominique Pire / Thomas Platter d. Ä. / Syria Poletti / Heinz Quermann / Bekololari Ransome-Kuti / Karl Retzlaw / Wilhelm Thöny / Daniel Wilhelm Triller / Giuseppe Ungaretti / William Henry „Chick“ Webb

 

Das glaubten wir noch nie gesehen zu haben:

1763: der Pariser Frieden wird beschlossen, Neuaufteilung Nordamerikas zwischen Frankreich, England und Spanien / 1863 wird in den USA der Feuerlöscher patentiert / Khartum, 1957: Beginn der ersten Fußball-Afrikameisterschaft / Berlin, 1962, erster Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke im Kalten Krieg: Rudolf Iwanowitsch Abel gegen Francis Gary Powers / 1996 verliert Schachweltmeister Garri Kasparow das erste Wettkampfspiel gegen den Schachcomputer Deep Blue.

 

Ich notierte:

1974: Jeanny und ich hatten ihrer Schwester Evi versprochen, sie heute in Ha-Neu zu besuchen und dann deren Sohn Jörg mit zu uns zu nehmen. Straßenbahn, S-Bahn, Bus. Dann hatte Falk, Evis Mann, nicht ein einziges Bier im Haus. So brachen wir mit Jörg in der Mitte bald wieder auf. Natürlich erregten wir Aufsehen. Jeanny schwanger und ich Langhaariger mit dem Kleinen an der Hand. Die Leute schienen nicht so recht zu wissen, was sie davon halten sollten. Ich weidete mich herzlich an ihren verstohlenen Blicken. In der Bahn wurde es Jeanny schlecht, doch Mutters Essen daheim brachte sie wieder auf die Beine. Zum Ausklang dieses Wochenende sahen wir im Fernsehen noch Chabrols „Blutige Hochzeit“.

1999: Für heute hatte mich der Merseburger Oberbürgermeister eigentlich zu einer Fahrt nach Schulzenhof zu Eva Strittmatter eingeladen, der letztjährigen Walter-Bauer-Preisträgerin, für die ich als vorletzter Walter-Bauer-Preisträger die Laudatio hielt. Da Eva Strittmatter damals im November jedoch krank war, sollte nunmehr die persönliche Preisübergabe und das persönliche Kennen lernen folgen. Aber Eva Strittmatter sagte uns kurzfristig wieder ab, Herzattacke. Schade, doch habe ich plötzlich einen Tag gewonnen, einen strahlend blauen Wintersonnentag zumal.

2003: In Halle Treff mit Karamba, unserem senegalesischen Reiseleiter, den ich noch gut aus meinen halleschen Künstlerhauszeiten kenne, als ich ihm damals half, Trommelkurse zu geben, ins Geschäft zu kommen, sowie den anderen Mitreisenden aus dem südlichen Sachsen-Anhalt. Mit einem Kleinbus nach Berlin-Tegel, Treff mit den Magdeburgern und den Wittenbergern, Flug nach Paris, Leichte Verspätung, die sich bis Dakar jedoch auf satte 2 Stunden aufbaut. 22.30 Uhr Ortszeit (23.30 MEZ also) landen wir in Yoff, dann braucht es aber noch mal fast 2 Stunden bis wir alle unser Gepäck haben. Dichte Menschentrauben im und vor dem Flughafengebäude, Stimmengewirr, Polizistenpfiffe, mühseliges Durchdrängen, endlich unsere Partner vor Ort: Diebel und Cissé, herzliche Begrüßung. Auf dem bewachten Flughafenparkplatz zwielichtiges Geschehen: hie wird von etlichen Jugendlichen ein Auto kurzgeschlossen, da montieren andere Räder ab. Und unsere Begleiter müssen mal eben einen im Wege stehenden Wagen zur Seite bugsieren... Nach gut 20 Stunden von Haus zu Haus schließlich in Ngor, im Hotel, Zweibettbungalow, schlicht, aber okay. Temperaturen im Übrigen nur um die 20°C, in der Wattejacke allerdings dennoch reichlich schweißtreibend.

2008: Accra, ein Tag voller Überraschungen beginnt: Unser Fahrer ist vor (!) der verabredeten Zeit im Hotel, so kommen wir auch überpünktlich im PAWA-House, dem Gebäude des Gesamtafrikanischen Schriftstellerverbandes an. Dort sind schon etwa 20 afrikanische Kollegen versammelt, freundliches Shake-Hand, dazu Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung, des Goethe-Instituts, der Europäischen Union sowie der Presse. Und mit dem Begrüßungs-Statement des Generalsekretärs Adukwei Okai bekommen wir sogar ein Programm für die beiden Kongresstage in die Hand. Genauestens durchgeplant, wann wer was sagt (zumindest was die afrikanischen Kollegen betrifft – neben den Ghanaern noch ein Südafrikaner und ein Lybier). Für die german writers sind in jedem der vorgesehenen vier Vortrags- und Diskussionskomplexe präzise die Lücken eingetragen, wann wir uns äußern sollen. Sehr erstaunliche Planung – nicht nur für afrikanische Verhältnisse. Da wir diesen peniblen Plan jedoch erst mit Kongressbeginn ausgehändigt bekommen, just in time sozusagen, können wir nicht wie unsere hiesigen Kollegen ausgearbeitete Vorträge halten, sondern müssen improvisieren. Das wiederum bereitet den Dolmetschern (drei togolesische Studenten) sichtlich und hörbar Probleme, so dass sich alsbald ein buntes Englisch-Deutsch-Sprachgemisch breitmacht. Tatsächlich sprechen auch einige der Teilnehmer ein bisschen bis sehr gut Deutsch, und wir Deutschen verstehen zumindest passabel Englisch, schieben alsbald auch immer mal wieder englische Sätze ein… Das trägt rasch zu einer lockeren Atmosphäre bei aller Ernsthaftigkeit der angesprochenen Themen bei. Und sicher auch, dass ich gleich zu Anfang etwas über Amo sage, der ja unweit meiner Heimatstadt Merseburg lehrte, und für den in Halle seit Jahrzehnten sogar ein Denkmal steht, dass ich zudem die Merseburger Zaubersprüche erwähne, das älteste deutsche Literaturdokument heidnischen Inhalts, und eine meiner Merseburg-Publikationen verteile. Da leuchtet’s doch in den Augen der mit Voodoo-Zaubern vertrauten Ghanaern auf… Heute geht’s um die „Rolle der Literatur in der modernen afrikanischen Gesellschaft“. Und alsbald werden die Wunden spürbar, die jahrhundertelange Ausbeutung und Unterdrückung, die Sklaverei und Kolonialisierung geschlagen haben. Tenor: Ohne Vergangenheit keine Zukunft. Und Vergangenheit fängt in Afrika entgegen europäischer Sichten eben nicht erst mit Beginn der Kolonialisierung an, sondern blickt auf bedeutende Reiche und Kulturen zurück. Den Stolz darauf zu wecken und somit Kraft und Selbstbewusstsein auf dem Weg aus dem nachkolonialem Erbe, den heutigen Konflikten und Katastrophen auf diesem Kontinent zu finden und (gemeinsam!) Brücken zu bauen, muss auch die Rolle der Literatur sein, ist nicht zuletzt die Aufgabe der Autoren. „Facing our changing nations!“, fordert einer der Teilnehmer, Prof. Mensah (fast alle anwesenden Ghanaer –unter ihnen sogar ein ehemaliger Kulturminister- scheinen akademische Grade zu tragen, was wohl auch schon einiges über die Rolle und Stellung der hiesigen Autorenschaft sagt). Und immer kommt hierbei die Idee des Panafrikanismus ins Spiel (nicht so ganz zufällig wohl in Ghana, des ersten, vor gut 50 Jahren in die Unabhängigkeit entlassenen Staates, dessen erster Präsident Kwame Nkrumah vom Panafrikanismus beseelt war – sich allerdings womöglich zu viel um andere Länder und zu wenig um sein Land kümmerte, und so letztlich scheiterte…). Panafrikanismus, klar, obendrein diskutieren wir ja im Hause der Pan African Writers Association. Erforderlich sei die Aufhebung der nachkolonialen, willkürlichen Zersplitterung, der Kleinstaaterei, die Besinnung auf gemeinsame afrikanische Wurzeln, eine Bündelung der Kräfte, um einen gangbaren Weg in die Zukunft des Kontinents zu finden. Keine Frage, dabei wäre wohl jede verständnisvolle, nicht bevormundende Hilfe recht und notwendig. Da könnten Autoren tatsächlich etwas tun, zumal wenn sie versuchen, zusammen zu arbeiten. Gut, morgen soll über Ideen für Kooperationen, über Programme gesprochen und am Ende eine gemeinsame Resolution beschlossen und unterzeichnet werden. Let’s go!

2009: Hong Kong. Allein schon die Einfahrt in den Hafen ist ein Erlebnis. Und war Singapur beeindruckend, ist Hong Kongs Skyline einfach überwältigend, Skyline rundum! Dazu die alten Hafenfähren, Doppelstockbusse, Linksverkehr… Wir unternehmen eine Tour in die New Territories, begeben uns also erst einmal aus der Wolkenkratzer-City weg ins Hinterland der Metropole, wo immerhin mehr als die Hälfte der 7 Millionen Einwohner zu Hause ist. Die Siedlungen in den seit 1972 ausgebauten New Territories werden in meinem Reiseführer „Dörfer“ genannt, für das unglaubliche Entwicklungstempo Hong Kongs spricht aber (wahrscheinlich), dass wir nichts als Hochhausviertel entdecken können, Hochhäuser, Hochhäuser, Hochhäuser…

2014: 2014: Fahrt über den meeresbreiten Rio de la Plata, dessen braungraue Wasser bei gewissen Sonnenständen zuweilen tatsächlich silbern scheinen. Im Hafengebäude ein Geschützturmteil und Anker des deutschen Panzerkreuzers „Admiral Graf Spee“ (nebst Gedenktafel): von englischen Zerstörern gejagt und waidwund geschossen, versenkte Kapitän Langsdorff im Dezember 1939 das Prunkstück der hitlerschen Kriegsmarine im Rio de la Plata (nachdem er die Besatzung in Montevideo heimlich von Bord gehen ließ). Wir schlendern weiter zum Plata Zabata, wo eine schrill-bunte Papageien-Kolonie in den Palmen nistet, dann zur Plaza Constititión mit der verräucherten Kathedrale, und schließlich zur Plaza Independencia mit dem Palacio Salvo (s.o.) und dem monströsen Reiterdenkmal für José Gervario Artegas, der als Gründer Uruguays gilt, samt pompösen Mausoleum, wo Soldaten in Uniformen aus jener Gründerzeit die Urne des Landeshelden (der jedoch wichtige Freiheitskämpfe verlor) bewachen. Irgendwie fühlen wir uns wohl in Montevideos Widersprüchlichkeiten, empfinden die wesentliche kleinere Hauptstadt sogar als weltläufiger, offener, freier als Buenos Aires, könnten durchaus noch verweilen. Doch: Sail away!

2015: Vom Hafen Akaroa mit dem Bus nach Christchurch, der größten Stadt der neuseeländischen Südinsel. Fast genau vor vier

Jahren wurde Christchurch durch ein Erdbeben schwer getroffen. Die Bilder gingen um die Welt: der eingestürzte Turm der Kathedrale, das zerstörte Fernsehgebäude, das verwüstete Zentrum. Fast 200 Tote. Zwei Mal war ich bislang in Städten, die Erdbebenschäden erlitten hatten: im usbekischenTaschkent und im armenischen Spitak, je etwa 20 Jahre nach deren Beben. Im Vergleich dazu sind der Aufbauwille und erste Aufbauerfolge in Christchurch unübersehbar. In Taschkent stand ich mitten im Zentrum noch vor unkrautüberwucherten Gebäudetrümmern, in Spitak schien das Zentrum sogar völlig aufgegeben, standen Wohncontainer oberhalb der Stadt. Dennoch berührt und bedrückt hier in Christchurch die Großflächigkeit der Zerstörungen. Ganze Straßenblöcke sind abgerissen, Baugruben, Baukräne allenthalben, woanders scheinen erste und hochmoderne Gebäude bezugsfertig oder sogar schon bezogen. Das Einkaufszentrum, die Mall, besteht aber noch aus Containern, alles improvisiert, doch offensichtlich funktionierend. Die Kathedrale mitten im Zentrum eine Ruine, über deren Wiederaufbau wohl noch nicht entschieden ist, zumal schon ein buntes Provisorium genutzt wird. Verwaist noch der Sockel des Scott-Denkmals. Seit langem gilt Christchurch als Tor zur Antarktis. So brach von hier auch der Amundsen-Kontrahent Robert Scott auf… Hinterm figurenlosen Denkmal schlängelt sich der Avon durch die Stadt, mäandert durch den weiten botanischen Garten. Mit nur wenig Vorstellungskraft lässt sich bebildern, was für eine schöne, sehr englische Stadt, das einst war, aber auch, wie schön Christchurch bald wieder sein wird.

2021: Da es gegen Mittag bei Minus 12° und Sonnenschein nur noch krümelt, wagen wir die Fahrt zum Supermarkt. Und es ist unglaublich: selbst die Hauptstraßen sind kaum beräumt oder gestreut, geschweige denn Nebenstraßen. Die Trasse der Straßenbahn ist völlig im Schnee verschwunden. Nirgendwo Straßenräumdienste zu entdecken… Wehe wenn in Deutschland der Behördenalltag irgendwie an Grenzen kommt.

 

Tacet

für

Dave Alexander / Antoniqi Zengo Antoniu / Gottlieb Siegfried Bayer / David Brewster / Jean Cayrol / Honoré Daumier / Macedonio Fernández / Paul Gervais / Clara Gonzáles / Alex Haley / Maxim Harezki / Sergei Wladimirowitsch Iljuschin / James „Osie” Johnson / Nikos Kavvadias / Sofja Wassiljewna Kowalewskaja / Archibald Lampman / Judith Leyster / Conchobhar Mag Uídhír / John Mark / Arthur Miller / Ernesto Teodoro Moneta / Montesquíeu / Fritz Puppel / Alexander Sergejewitsch Puschkin / Otto Rademacher / Bekololari Ransome-Kuti / Wilhelm Conrad Röntgen / Hans Rosenthal / Jacques Roux / Carlos Saura / Roy Scheider / Juan Soriano / Cyriakus Spangenberg / Juhan Sütiste / Buddy Tate / Shirley Temple / August Wilhelm Ludwig Christoph Trenkner / Richard Horatio Edgar Wallace / John William Waterhouse / Christian Weiß

 

Da verstummten wir an diesem Tage:

1258 erobern die Mongolen Bagdad / 1555 in Merseburg „hat mann drey Sonnen u. drey Regenbogen darneben am Himmel gesehet“ / Van Diemen’s Land, 1828: beim Cape-Grim-Massaker werden 30 Aboriginies aus dem Hinterhalt erschossen / 1910 sinkt vor Menorca das Passagierschiff „Général Chanzy“, 155 Tote / Neunkirchen, 1933: Explosion eines Gasometers, 68 Menschen kommen ums Leben / 1945 torpediert ein sowjetisches U-Boot vor der pommerschen Ostseeküste das deutsche Passagierschiff „Steuben“, etwa 3.500 Flüchtlinge sterben / 2005: Bruch des pakistanischen Shadi-Kaur-Staudammes, etwa 500 Todesopfer / 2009: erste Kollision zweier Künstlicher Erdtrabanten.

 

 

11. FEBRUAR

 

Einstimmung

mit

Paul Ash / Ottilie Assing / Paul Bocuse / Karl Bodmer / Poggio Bracciolini / Marie-Joseph Chénier / Maryse Condé / Honoré d’Urfé / Wilhelm Dodel / Thomas Alva Edison / Gotthilf Fischer / Paul Christiaan Flu / Fontenelle / Vivian Fuchs / Hans-Georg Gadamer / Pablo Gonzáles Casanova / Karoline von Günderode / Virginia Johnson / Gerhard Kofler / Else Lasker-Schüler / Ernst Theodor Amandus Litfaß / Marie Loeper-Housselle / Didier Lockwood / Bertrand François Mahé de La Bourdonnais / Lisa Martinek / Irène Némirovsky / Leslie Nielsen / Giovanni Pacini / Bobby Pickett / Mary Quant / Burt Reynolds / Johannes Riemer / Stephen Schneider / Leó Szilárd / William Henry Fox Talbot / Big Mama Thornton / Gene Vincent / Joshua „Josh“ Daniel White

 

Das klang uns stimmig an diesem Tage:

1873: Ausrufung der ersten Spanischen Republik / 1889: Verabschiedung der Meiji-Verfassung: Japan wird von einer absoluten zu einer konstitutionellen Monarchie / Rom, 1929: Unterzeichnung der Lateranverträge, der Vatikanstaat entsteht / London, 1963 nehmen die Beatles zwischen 10.30 Uhr und 23.00 Uhr ihr erstes Album auf / 1990: Gorbatschow gibt Kohl seine Zustimmung zur Wiedervereinigung Deutschlands / Südafrika: Nelson Mandela wird aus der Haft entlassen.

 

Ich notierte:

1980: Mugge in Teutschenthal. Programm mit Gerd Christian, derzeit „strahlender Stern am DDR-Schlagerhimmel“ (wie der Ansager ansagt). Ich hatte ihm das Arrangement für einen Maffei-Song geschrieben, das er heute singen will. Und nach der Probe bitte er mich, das auch für Big Band zu arrangieren. Die Mugge dann so la la – Publikum: Gastronomen, die hier schon seit Mittag an einer Tagung teilgenommen hatten, und sich offenbar ausschließlich flüssig ernährten…

1987: Seit Tagen warte ich auf einen Gesprächstermin über meine Arbeit im Literaturzentrum beim Rat des Bezirkes. Meine Situation ist nach wie vor ungeklärt, ungewiss. Langsam wird das unerträglich. Keine Ahnung, warum die pokern. Ich werde mich bewegen müssen, weiß aber nicht so recht wohin. Alles ist möglich: Kündigung wie Selbstaufgabe – wenn mir dieser Job keine Chance zum Schreiben lässt… Wobei ich ahne, dass mir für beide Extreme der Mut fehlt. Aber die Erfahrung dieses Vierteljahres als Reservist und des Davor und jetzt des Danachs – offenbar eine Bestrafung für meine Ausbruchsversuche, oder? - kann wohl nicht ohne Konsequenzen bleiben. Alles ist mir überdrüssig.

2008: In der Dämmerung flattern Myriaden von Vögeln über Accra. Aber nein, höre ich, das sind doch gar keine Vögel, das sind Fledermäuse! Doch in Scharen, Millionen und Abermillionen von Fledermäusen. Ja, sie haben ihre Quartiere in Bäumen nahe eines großen Hospitals. Und dazu gibt es sogar eine Geschichte: Als ein Chief erkrankte, wurde er aus seinem Dorf hierher gebracht, und die Fledermäuse gaben ihm Begleitschutz. Der Chief starb jedoch im Krankenhaus und nun warten und warten die Tiere hier auf ihn… Wir sind zum Abendessen von der Leiterin der Ebert-Stiftung eingeladen (die uns überhaupt in vielen Belangen bestens unterstützte). Köstliche ghanaische Speisen: Reiskloß mit Erdnusssauce und Ziege und Yams mit Palava (einer Art Spinatsauce) sowie Kenkeh (saure, recht gewöhnungsbedürftige Maisbällchen).

2010: Dubai. Nach schier endlosem Winterweiß über Nacht Wüstentöne. Und in der Wüstencity dann allerorts gepflegtes Grün und Blumenrabatten in den Landesfarben (rot-weiß). Und natürlich (sic!) all der Beton, der Stahl, das Glas in kühnen und kitschigen und oft kalten Formen. An Menschen wird hier offensichtlich nur als Autoinsassen oder Geldausgeber gedacht. Alle Funktionalität scheint einzig auf money, money, money gerichtet. Zumindest mühen wir uns fast zwei Stunden vergebens, von der pompösen Wafi-Mall zum Dubai Creek, zu den Anfängen dieser Stadt, zu finden. Kleiner Handelsort an günstig gelegenem Meerarm. Stadtpläne verwirren, Hinweisschilder gibt es nicht, alle Sichtachsen sind zugebaut, somit keine Orientierung möglich. Dennoch tat dieser Spaziergang vorbei an ägyptischen und griechischen Tempeln oder orientalischen Palästen (mit Aufschriften wie Planet Hollywood etc.pp.) richtig gut. Allein die Wärme! Und wären die Autos nicht, wären wir wohl so ziemlich allein in diesem Viertel. Gut, es ist Freitag, Feiertag also, doch ob’s wirklich daran liegt? Sind die smarten Dischdasch-Träger in ihren Luxuskarossen eigentlich echt? Irgendwie kommt mir das hier wie ein gigantisches Disneyland für Erwachsene vor. Keine Frage jedoch, dass die Skyline mit der alles hoch überragenden, oft im Wolkendunst verschwimmenden Nadelspitze des Burj Khalifa (zumal im Licht der untergehenden Sonne) zum Immer-wieder-Hingucken verleitet. Allerdings hat auch das Leuna-Werk bei Nacht seine Ästhetik (wie wir spätestens seit Joseph Roth wissen). Ja, vielleicht wäre das tatsächlich ein Tipp für die Dubaier Abkupferer, sieht die hiesige nächtliche Skyline doch verdammt nach Weltfinanzkrise aus…

2011: Cartagena. Auf diese alte Kolonialstadt war ich besonders gespannt, ist sie doch Handlungsort von „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ von Gabriel Garcia Marquéz. Kaum haben wir das Hafengelände verlassen, meine ich, in den Straßen Juvenal Urbino, Fermina Daza und Florentino Ariza zu sehen, die Protagonisten dieses faszinierenden Marquéz-Romans. Wir fahren zum einstigen Kloster La Popa auf dem gleichnamigen, die Stadt überragenden Berg hinauf. Fantastischer Blick über die mittlerweile 1,5 Millionen Einwohner zählende Stadt. Unübersehbare Kontraste zwischen der modernen Hochhausarchitektur auf der Halbinsel Bocagrande und den Hüttenvierteln der Armen weitläufig ringsum La Popa. Weiter zum riesigen Fort San Felipe, das größte und gewaltigste Lateinamerikas wohl. Klar, die zusammengeraubten Schätze der Neuen Welt, die hier vorm Abtransport nach Spanien gehortet wurden, wollten entsprechend gesichert sein. Aber noch auf andere Art und Weise macht uns dieser Steinklotz zu schaffen: es ist unerträglich heiß, der Marsch durch die Gänge des Forts schier klaustrophobisch. Weiter zu einem Handwerkermarkt mit utopischen Preisen und aufdringlichen Händlern im alten Munitionsdepot (wie überhaupt alles hier – offenbar aufgrund der massenhaft in die Stadt strömenden Kreuzfahrttouristen – reichlich überteuert scheint). Vorbei am knallrot gestrichenen einstigen Kloster Santa Clara, das auch im Marquéz-Roman seine Rolle spielt, und daneben nun das hiesige Wohnhaus des großen Romanciers – ebenso knallrot… Gang durch die Innenstadt: Inquisitionspalast, Kathedrale, die mächtigen Altstadtmauern, all die bunten Kolonialhäuser mit ihren luftigen Balkonen, San Pedro Claver… - alles Schauplätze in „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ Und auf dem Weg zurück zum Hafen kommen wir durch das Villenviertel Manga, wo das Haus von Doktor Juvenal Urbino stand (das ich natürlich auch entdeckt zu haben glaube) und wo die Romanhandlung genial in Gang kommt, als der Doktor, der die Cholera in der Stadt besiegt hatte, am Morgen seines 80. Geburtstages beim Versuch seinen entflogenen Papagei einzufangen, vom Mangobaum in seinem Garten stürzt und sich das Genick bricht, und so mählich die mehr als 50 Jahre verdrängte Liebe zwischen seiner Gattin Femina Daza und Florentino Ariza zu ihrer Chance kommt.

2013: Rosenmontag in Montego Bay und Ochos Rios. Glücklicherweise erreicht die Ausgelassenheit in diesen beiden Karnevalshochburgen der Insel erst zu Ostern ihren Höhepunkt. Schon die alltägliche Aufgedrehtheit unserer Busfahrerin Dorette lässt ahnen, wie Lebensfreude hier dann überbordet. Sie plappert beim Fahren unablässig, steigert Gags mit schrillem Juchzen, singt auch gleich mal den Banana-Song von Harry Belafonte als wir durch den Ort fahren, aus dem der Meister stammt. Und die Schule, in die Usain Bolt, der derzeit schnellste Sprinter der Welt, ging, wird bejubelt, als wir sie passieren. Und die Bucht, in der Columbus landete, ist dann sogar einen Stopp wert. Discovery Bay - heute geprägt von einer petersdomkuppelartigen Bauxitverladeanlage. Tourismus und Bauxitexport sind denn auch aktuell die Haupteinnahmequellen Jamaicas. Köstliches Mittagessen: Chicken Curry und Salsa-Pork und alles so scharf wie lecker. Und als wir dann in einer nahen Bar auch noch einen originalen Jamaica-Rum nippeln, scheint das Touristenglück für heute erreicht. Doch nein, zum Abschied singt uns Dorette (die, wie sie sagt, schon mal als Touristin in Hamburg war) ein deutsches Seemannslied. Na denn, Schiff ahoi!

2015: Dunedin, sprich: Dunn-Edin, benannt nach dem gälischen Namen für Edinburgh: Dùn Èideann, da hier zuerst Schotten siedelten (nach den Maori selbstredend). Vom Hafen Port Chalmers mit dem Bus in die City: unübersehbar viktorianisch geprägt. Imposanter Bahnhof (der schönste der südlichen Hemisphäre angeblich – den in Maputo fand ich allerdings schöner…), gepflegter botanischer Garten.

2021: Nun wurde der Corona- Lockdown bis zum 7. März verlängert. Nur die Frisöre dürfen bereits ab 1. März öffnen. Begründung: um Würde zu wahren. Absurdistan

 

Epistel

für

Alice Babs / Thomas Cole / Carl Michael Bellman / Thomas Cole / Mercedes Composada / Marguerita d’Oingt / René Descartes / Sergei Michailowitsch Eisenstein / Paul Karl Feyerabend / Jean Bernard Léon Foucault / Willi Geiger / Alexander Sergejowitsch Gribojedow / Walter Burley Griffin / Otto Erich Hartleben / Christian Gottlob Hempel / Frank Herbert / Whitney Elisabeth Houston / Fritz Klatte / Victor Klemperer / Hermann Marggraff / Harry Martinson / Piet Mondrian / Phaungkaza Maung Maung / Sylvia Plath / Alja Rachmanowa / William Rowley / Franz Schmidt / Franz Schuhmeier / Elizabeth Eleanor Siddal / Hugo von St. Viktor / Antonio Urceo „Codro“ / William Shenstone / Magdalena Tammendorf / Caspar von Teutleben / Roger Vadim / Pierre Verger / Joseph Vilsmaier

 

Das mussten wir an diesem Tage bitter erfahren:

1907 sinkt im Rhode Island Sound der Raddampfer „Larchmont“, 140 Menschen sterben / Jalta, 1945: Roosevelt, Churchill und Stalin unterzeichnen das Dokument über Nachkriegsordnung Deutschlands, die Teilung.

 

 

12. FEBRUAR

 

Abenteuer

mit

Karim Abdullajewitsch Abdullayev / Lou Andreas-Salomé / Johann Elisa Bach / Gustl Bayrhammer / Max Beckmann / Olga Benario-Prestes / John Blankenstein / Charles Darwin / Du Fu / Johann Ladislaus Dussek / David Rolfe Graeber / Lorne Green / Hans Habe / Hans Koller / Friedrich de La Motte Fouqué / Abraham Lincoln / Otto Ludwig / Ray Manzarek / Jenny Marx / Chris McCandless / Grant McLennan / Joan Mitchell / Federica Montseny / Herbert Nachbar / Hans-Georg Noack / Ōku no Himeko / Anna Pawlowna Pawlowa / Karoline von Perin / Rudolf Platte / Amatore Sciesa / Georges Simenon / Wassili Iwanowitsch Sternberg / Jan Swammerdam / Franco Zeffirelli

 

Das erschien uns vielversprechend:

1772 entdeckt Kerguelen die später nach ihm benannte Inselgruppe / 1776 schreibt Goethe sein erstes Gedicht: „Wanderers Nachtlied“ / 1818 proklamiert Chile seine Unabhängigkeit von Spanien / 1884 wird in den USA der Füllfederhalter patentiert / 1908 startet in New York das „Große Rennen“ mit Autos rund um die Welt nach Paris / 1909: Gründung der amerikanischen Bürgerrechtsorganisation National Association fort he Advancement of Colored People / 1912: der letzte chinesische Kaiser Puyi dankt ab / Oxford, 1941: erste Penicillin-Behandlung / 1961 startet die sowjetische Raumsonde Venera 1 zur Venus / 1971 wird Bhutan souverän / Genf, 1979: Eröffnung der ersten Weltklimakonferenz / 2001 landet die amerikanische Raumsonde Shoemaker auf dem Asteroiden Eros.

 

Ich notierte:

1980: Am Abend mit Jeanny nach Halle zum Sinfoniekonzert. Unser Trompeter Dieter P., der auch bei den Sinfonikern spielt, bei uns eigentlich nur zusätzlich muggt, hatte uns eingeladen. Für Jeanny ist das eine Premiere, und neben Stücken von Ravel und Reger ist sogar eine Erstaufführung dabei: Matthus’ „Responso“, eine sehr gelungene Erstaufführung. Wir sind begeistert. Und beeindruckend für mich, einen Mann, der sonst auf der Bühne nehmen mir steht, bei diesen Aufführungen zu beobachten.

1988: Im Kino: „Im Namen der Rose“. Leider kommt Ecos feines Gespinst zur Sichtbarmachung (auch mittelalterlicher) Machtstrukturen im Film nicht zum Ausdruck. Dabei wollte der Film doch ein Palimpsest sein, ein doppelt beschriebenes Pergament also, dessen ursprünglicher Text durch fotografische Verfahren wieder sichtbar gemacht wird…

2003: Tabaski in Dakar. Etwa 700.000 Hammel würden heute hier rituell geschlachtet und traditionsgemäß zubereitet und verzehrt, höre ich. Schon seit Wochen bereitete man sich auf dieses Fest vor, kaufte neue Kleidung, kaufte Geschenke vor allem für die Kinder, kaufte natürlich auch zumindest einen Hammel (Preis umgerechnet ca. 75 Euro), und nicht wenige Senegalesen sollen sich aus diesem Anlass alljährlich verschulden... Wir sind von Diebel und Cissé eingeladen, dieses Fest in ihren Familien mitzuerleben. Keine Frage, ein einzigartiges, ein großherziges Angebot, doch offenbar durchaus der hiesigen Gastfreundschaft entsprechend. (Selbstredend haben wir gesammelt und schenken, den hiesigen Gepflogenheiten entsprechend für die Familien, das Geld für einen Hammel und bringen natürlich auch reichlich Geschenke mit.) Ich fahre mit der größeren Gruppe nach Rufisque, einem Vorort Dakars, zu Cissé. Der Bus kommt gut eine Stunde zu spät, so haben wir jedoch Gelegenheit zu beobachten, wie auf einem Platz vorm Hotel ruckzuck drei Schafe geschächtet werden. Traditionell kommt dies immer dem jeweiligen Hausherrn zu. Als wir in Rufisque ankommen, hat Cissé diese Aufgabe längst erfüllt, seine Hammel sind schon zerlegt und die einzelnen Bestandteile säuberlich in Schüsseln auf dem Hof verteilt, hie die Keulen, da die Köpfe, dort die Därme etc.pp. Über offenen Feuern brutzelt’s in Töpfen und Pfannen. Die Frauen zerstampfen Zutaten in Mörsern. Teekessel brodeln. Hier lebt eine Großfamilie, 35- bis 40 Menschen schätzungsweise, vier Generationen in einem Hof- und Hüttensystem gleich neben der Moschee. Für uns wurde das Wohnzimmer hergerichtet. Wir werden höflich hereingebeten und schon wird uns aufgetafelt: Olivenspießchen, Baobab- und Hibiskussaft, dann Hammelstückchen mit köstlich scharfer Zwiebel-Knoblauch-Mischung. Nach dem Mahl geht man von Haus zu Haus, schwatzt mit den Nachbarn, so auch wir. Allein von der Atmosphäre her fühle ich mich irgendwie an die Spergauer Lichtmeß erinnert. Allerdings ist man hier auch gänzlich ohne Alkohol lustig. Alles wirkt sehr natürlich, weder Scheu noch Anmache. Am Nachmittag schließlich ein kleiner Spaziergang zum nahen Strand. Hier nun sehen wir jedoch eine Kehrseite: die Überreste des Festes werden einfach abgekippt, Müllhalde statt Traumstrand.

2008: Fahrt nach Akosombo. Alsbald zeigt das Außenthermometer 38°C. Und das bei wohl 100% Luftfeuchtigkeit… Aber so was muss man eben wegstecken, wenn man was sehen, was erleben will. Bei der Siedlung Akosombo wurde unter Kwame Nkrumah, schon in den sechziger Jahren also, der Volta-Fluss gestaut. Ein riesiger, mehr als 400 km langer und weit verästelter Stausee entstand. Keine Frage, dass hier, anders als im recht trockenen Accra, alles tropisch grün ist. Imposante Ausblicke auf die Staumauer, den Stausee. Wir fahren auch zum Hafen, wo Transportschiffe in den Norden Ghanas ablegen, eine immens wichtige Binnenverbindung offenbar. Schwer schuften Docker auf einem riesigen Laster, laden Zementsäcke, die vom Überseehafen Tema kamen, auf Schiffspaletten um. Zementstaub und tropische Schwüle – was für eine Mischung! Mittagessen in einem wundervollen Hotel am See. Und plötzlich brandet unweit Gesang auf. Ich laufe neugierig natürlich darauf zu, sehe am Ufer eine große, bunte Menschenmenge versammelt. In zahlreichen Booten, schmalen Pirogen, singen und tanzen Männer. Palmwedel werden benetzt und geschwenkt. Doch das, was ich für eine Abschiedszeremonie für ausfahrende Fischer halte, entpuppt sich alsbald als etwas ganz anderes: Am Sonntag wurde hier am Ufer ein Junge tot aufgefunden. Und die Dorfbewohner machen nun eine Seeschlange dafür verantwortlich. Sie wollen in ihren Booten auf den See hinausfahren, die Schlange aufspüren, umzingeln und mit langen Stangen erschlagen. Tatsächlich passiert das dann auch, und es sieht sehr pittoresk aus (mit einem Hauch vom halleschen Fischerstechen). Und bis plötzlich ein Mann umweit unseres Tisches aufschreit und mit seiner Bambusschlange wie wild aufs Wasser peitscht, halte ich das Ganze für eine interessante Zeremonie, einen alten Brauch, den wir –was für ein grandioser Zufall!- miterleben können. Weit gefehlt! Der Mann bringt eine Seeschlange zur Strecke, gut zweit Meter lang, verdammt gefährlich aussehend, köpft sie mit seiner Machete, hält den noch zuckenden, sich windenden Kadaver triumphierend hoch. Die Menge jubelt. Und wie gesagt, wären wir hier nicht weit und breit die einzigen Gäste, die einzigen Weißen, würde ich argwöhnen, das alles sei inszeniert. Aber nein, das war einfach Afrika live! Unglaublich!

2009: Xiamen. Hier u.a. begannen 1981 die chinesischen Wirtschaftexperimente getreu Deng Xiao Pings Spruch:  Es ist egal, ob eine Katze weißes oder schwarzes Fell hat, wenn sie denn nur Mäuse fängt… Xiamen gehörte zu den ersten vier Sonderwirtschaftzonen Chinas, ist offenbar das Schlupfloch, um mit dem nah gegenüberliegenden und ansonsten verketzerten, verteufelten Taiwan schwunghaft Handel treiben zu können. Und kürzlich wurde die 500.000-Einwohner-Stadt zur saubersten des Landes gekürt. Glückwunsch. Neblig ist’s in Xiamen. Es gibt jedoch einen sehenswerten Empfang: Drachentanz und Willkommensplakate am Pier. Nach dem hypermodernen Hong Kong wirkt hier dennoch alles recht bieder und provinziell. Doch keine Frage: es wurde und wird sichtlich geklotzt und aufgeräumt allemal.

2013: Von den Cayman Islands hatte ich wohl zum ersten Mal gehört, als sich nach der Wende die Bürgermeisterin eines mansfeldischen Dorfes mit der Gemeindekasse – mehrere Millionen Fördergelder, kurioserweise für die Erschließung eines Gewerbegebietes… - hierher abzusetzen versuchte, jedoch im Knast landete. Knapp 50.000 Menschen leben auf den Caymans, doch gibt es etwa 80.000 Firmen, Banken, Hedge-Fonds und Versicherungen vor allem. Im Zentrum der Hauptstadt passend dazu Markenladen an Markenladen, von Rolex bis Gucchi und selbstredend alles wie geleckt. Entlang der Seven Mile Beach, den schier endlosen Strandhotelketten, zu einer Rumkuchenbäckerei und dann nach Hell: eine trockengefallene bizarre, schwarze Korallenformation gab diesem 3-Häuser-Fleckchen den Namen. Die Attraktion aber ist das Hell Post Office. Keine Frage, dass auch wir Postkarten aus der Hölle verschicken.

2021: Aus der Zeitung erfahre ich, dass Chick Corea vorgestern starb. Meingott, vor wenigen Jahren hatten wir ihn in der Halleschen Oper noch live erlebt. Am Nachmittag höre ich seine „Mozart Sessions“, genial vor allem Coreas Interpretation des d-Moll Klavierkonzerts

 

Abschiedsbrief

für

Peter Alexander / Andreas Altdorfer / Michael Altenburg / George Antheil / Jean-Michel Atlan / Thomas Bernhard / Aaron Bernstein / Carl Ludwig Börne / Rugjer Josip Bošković / August Buchner / James Bulger / Hans von Bülow / Michael Caßler / Pasquale Festa Campanile / Maria Caspar-Filser / Julio Cortázar / Isabella Valancy Crawford / Richard Dedekind / Auguste Escoffier / Peggy Gilbert / Jane Grey / W. E. B. Griffin / Gerhard Armauer Hansen / Screamin’ Jay Hawkins / Karl von Holtei / Franciscus Hotomanus / Al Jarreau / Donald Judd / Immanuel Kant / Nodar Kumaritaschwili / Marivaux / Salvatore „Sal“ Mineo / Domenica Niehoff / Jean Renoir / Muriel Rukeyser / Joe Schermie / Friedrich Schleiermacher / Heinz Schubert / Charles Monroe Schulz / Shiba Ryōtarō / Joachim Specht / Steve Strange / Stevan Tontić / Elio Vittorini / Èmile Waldteufel / Dsiga Wertow / Grant DeVolson Wood / Ernst Widar Amadeus Ziehnert / Oskar Bruno Zwintscher

 

Das hörten wir wie letzte Worte:

1944 versenkt ein japanisches U-Boot im Indischen Ozean den britischen Truppentransporter „Khedive Island“, 1297 Menschen kommen ums Leben.

 

13. FEBRUAR

 

Aufbruch

mit

Friedrich Adler / Bogyoke Aung San / Joseph Banks / Otakar Batlička / Pierre Bottero / Hans Georg Brenner / Maria von Burgund / Ion Luca Caragiale / Gésa Csáth / Françoise de Graffigny / Yves Joseph de Kerguelen de Trémarec / Friedrich Christian Delius / Christoph Derschau / Peter Gustav Lejeune Dirichlet / Ernst Fuchs / Lewis Grassic Gibbon / Adolph Goldberg / Wardell Gray / Ricardo Güiraldes / Traugott Hahn / Thomas Hansen / John Hunter / Sigmund Jähn / Charlotte Jacobs / Angkarn Kalayanapong / Iwan Andrejewitsch Krylow / Anthony „Reebop“ Kwaku Baah / Elijah Levita / Max Lohde / Thomas Robert Malthus / Caspar Merian / Kyaw Min Yu / Kaj Munk / Giovanni Battista Piazetta / Sigmar Polke / Laura Pollán / Antonia Pozzi / Robert Oliver Reed / Sarojini Naidu / Fjodor Iwanowitsch Schaljapin / Hartmann Schedel / Georg Gerhard Schrimpf / George Segal / Peter Tork / Omar Efrain Torrijos Herrera / Berthold Heinrich Otto Vallentin / Friedrich Wilhelm Voigt / Grant DeVolson Wood / Chuck Yeager

 

Da hofften wir an diesem Tage auf Neues:

Rostock, 1419, Gründung der ersten Universität im Ostseeraum / Lissabon, 1668: Friedensschluss im Restaurationskrieg zwischen Spanien und Portugal / Paris, 1895: die Brüder Lumiére lassen ihren Cinématographe patentieren / Dresden, 1985: Wiedereröffnung der originalgetreu rekonstruierten Semperoper.

 

Ich notierte:

1986: Meine dritte Reise gen Osten (die so genannte „Kandidatenreise“ des Schriftstellerverbandes) scheint bereits in Merseburg am Ziel: nein, nicht der tiefverschneiten, vereisten Landschaft wegen - im überfüllten D-Zug teile ich ein Abteil mit einer Reisegruppe aus der Sowjetunion: russische Sprache, Theatralik, Knoblauchdünste...

1987: Freitag. Gestern Abend war ich dann doch soweit, dass ich meine Kündigung als Chef des Literaturzentrums schrieb. Aber heute schickte ich die nicht ab… Es war wohl mehr ein Durchexerzieren einer Möglichkeit. Wie die Haltung eines trotzigen Kindes kommt mir nun manches, was ich formulierte vor. Soll die Mutti doch sehen, wie mir die Hände abfrieren, wenn sie mir keine Handschuhe kauft… Immerhin beschließe ich, mich gesund schreiben zu lassen – da ich mich nach der Entlassung und all dem Schweigen prophylaktisch krank schreiben ließ - , um nächste Woche mit zum Poetenseminar nach Quedlinburg fahren zu können, so behutsam wieder in „die Szene“ einzusteigen. Denn Selbst-Isolation-bis-zum-Geht-nicht-mehr dürfte wohl den gleichen Effekt wie erfrorene Hände haben… Wie ich mich aber letztendlich entscheide, steht nach wie vor in den Sternen…

1989: Der letzte sowjetische Soldat verließ gestern Kabul. Zum Glück ist diese riesengroße politische Dummheit, dort einzumarschieren, erst einmal für die Wehrpflichtigen vorbei. Über 13.000 Tote, 35.000 Verletzte. Was müssen diese armen Schweine, all diese jungen Sowjets, da auf verlorenem Posten gestanden haben! Im Fernsehen der Afghanistan-Film, natürlich im Westfernsehen. Es zum Heulen, warum zeigen wir so was nicht! Gut, immerhin Offizielles in der Zeitung, Gorbatschow zu verdanken offenbar. Aber das Ganze schmerzt.

2003: Fahrt ins Landesinnere des Sengal, nach Touba, dem islamischen Zentrum Westafrikas. Nach wie vor schwer bewölkter Himmel, kühl. Hinter Thiès lockert sich der Himmel jedoch etwas auf, die Sonne wird sichtbar und heiß. Auch die Landschaft wird eine andere: weite, staubbraune von einzelnen Akazien und Baobabs geprägte Flächen, Übergang zur Sahel-Zone. Die skurrilen Baobabs sollen der Sage nach von Gott aus Wut über die Menschen einst ausgerissen und mit den Wurzeln nach oben wieder in den Boden gesteckt worden sein. Wer versucht einen Baobab zu fällen, werde von bösen Geistern heimgesucht, wer sein Holz verbrennt, erblindet... Einst sollen in hohlen Baobab-Stämmen Griots begraben worden sein, die Geschichtenerzähler, Musiker, Schöpfer, Bewahrer und Vermittler traditioneller Literatur, die Berater der Herrschenden, die Träger und Hüter kollektiver Erinnerung, der früher hier nicht schriftlich fixierten Geschichte, von denen gesagt wird: „Wo ein Griot stirbt, brennt eine Bibliothek.“ Dann Touba, wo striktes Alkohol- und Rauchverbot herrscht und unsere weiblichen Gruppenmitglieder ihre Schultern und Haare mit Tüchern zu bedecken haben: nach Vierteln voller Dreck und Unrat wächst vor uns plötzlich die größte Moschee Westafrikas empor, nach Mekka, Jerusalem und Medina eines der wichtigsten islamischen Heiligtümer (immerhin bekennen sich ca. 95% der Senegalesen zum Islam). Hier liegt der Begründer der Mouriden-Bruderschaft, Cheikh Amadou Bamba, begraben. (Grundlagen der Mouriden-Gemeinschaft: 1. die religiöse Praxis, 2. die Pflicht zu arbeiten, 3. die Unterwerfung unter den Befehl des Sektenchefs.) Aus rosa schimmernden portugiesischen und edlem Carrara-Marmor errichteten ihm seine Anhänger diese prächtige Moschee nebst Mausoleum, violette und grüne Kuppeln, fast 90 Meter hohes Minarett. Vor der Koranbibliothek werden wir freundlich empfangen und von zwei Herren in und durch die Moschee geführt. Natürlich dürfen wir fotografieren, wo und was wir wollen. Überhaupt scheint hier alles etwas lockerer, entspannter zu sein, als im Nahen Osten. Neben unseren beiden bestellten Führern begleitet uns in gebührlichem Abstand ein Talibeh, ein hiesiger Koranschüler, der ständig Blickkontakt zu mir sucht, lächelt und am Ende unseres Rundgangs unbedingt die Hand drücken will. Klar, weißer, vollbärtiger Mann, das ist was für ihn. Der Muezzin ruft, die Gläubigen kommen, wir haben uns zu verabschieden. Da den Marabous nachgesagt wird, sie führen alle Cadillacs äuge ich aufmerksam aus dem Busfenster, kann so einen Riesenschlitten aber nirgends entdecken. Doch schreiben mir unsere Führer schnell noch die Adresse der Touba-Homepage ins Notizbuch...

2011: Kralendijk, Bonaire. Erst im Herbst letzten Jahres wurde die Verwaltungsstruktur Niederländische Antillen aufgelöst. Neben dem schon seit den 1980ern autonomen Aruba genießen seitdem auch Curaçao und Sint Maarten diesen Status, während Sint Eustatius, Saba und Bonaire nunmehr gleichberechtigte Landesteile der Niederlande sind. Wir landen de facto also in einem Nachbarland Deutschlands.

2022: Alptraum: ich sitze am Computer und sehe durchs Mansardenfenster eine Passagiermaschine von der Einflugschneise abkommen und in unser Dach stürzen, direkt neben mir. Offenbar war es aber ein Flugmodel oder eine Drohne, keine Explosion, ein Brand. Ich schreibe einfach weiter.

 

Abstieg

für

Eliza Acton / Ethan Allen / Blind Boy Fuller / Szymon Budny /  Christoph Caudwell / Benvenuto Cellini / Mariano José de Larra y Sánchez de Castro / Forugh Farrochzād / Fujiwara no Mototoshi / Johann Joseph Fux / Otto Hans Adolf Gross / Heinz Haber / Ilan Halimi / Oswald Hempel / Catherine Howard / Wilhelm Junker / Kim Jong-nam / Manuela / Minamoto no Sanemoto / Carl Gustav Adolf Nagel / Hans Naumilkat / Michael Naura / Christabel Pankhurst / Marian Rejewski / Henri Salvador / Leopold Schefer / Heinrich Steffens / Elise Ferdinandine Amalie Struve / Johanna von Koczian / Wilhelm Heinrich Wackenroder / Richard Wagner

 

Da verloren wir brüsk Aussichten an diesem Tage:

New York, 1843: der Passagierdampfer „Tempest“ verschwindet nach dem Ablegen mit 150 Menschen an Bord spurlos / 1918: ein Erdbeben in der chinesischen Provinz Gungdong fordert etwa 10.000 Todesopfer / 1939 erlässt Franco das „Dekret über das Verfahren mit politischen Missetätern“, dessen Anwendung bis zum Ende seiner Diktatur hunderttausenden Spaniern das Leben kostet / Dresden1945: Beginn der alliierten Luftangriffe, zwischen 18.000 und 25.000 Menschen streben / Tanezrouft, 1960, in der algerischen Wüste findet der erste französische Atomwaffentest statt / 1975 spaltet sich Nordzypern von der Republik Zypern ab / 2001 sterben bei einem Erdbeben in El Salvador 315 Menschen.

 

 

14. FEBRUAR

 

Agenda

mit

Leon Battista Alberti / Richard Allen / Nora Astorga Gadea / Babur / Johann Ludwig Bach / Sixtus Birck / Timothy „Tim“ Charles Buckley III / Francesco Cavalli / Alexander Sergejewitsch Dargomyschski / Corsino Fortes / Wsewolod Michailowitsch Garschin / Dora Gerson / Frank Harris / Werner Richard Heymann / Max Horkheimer / Harry Mathews / Johann Friedrich Naumann / Hanni Ossott / Alan Parker / Johannes Pistorius d. J. / Christopher Latham Sholes / Fernando Sor / Georg Thomalla / Jules Vallès / Johannes Werner

 

Da meinten wir eine bessere Ordnung zu erkennen:

Paris, 1747: Gründung der ersten Ingenieurschule weltweit, der École des Ponts ParisTech / 1804 beginnt der Erste Serbische Aufstand gegen die osmanische Besatzung / 1876 stellt Alexander Graham Bell seinen Patentantrag für die Erfindung des Telefons / Schollach, Hochschwarzwald: der erste Skilift der Welt nimmt seinen Betrieb auf / 1908:1918 wird in Russland der Julianische gegen den Gregorianischen Kalender ersetzt / Den Haag, 1919: der erste kommerzielle Radiosender weltweit geht auf Sendung / Moskau, 1956: Eröffnung des XX. Parteitag der KPdSU auf dem es zu einer Abrechung mit Stalins Politik kommt / Mexiko-Stadt, 1967: im Vertrag von Tlatelolco werden die Karibik und Lateinamerika zur atomwaffenfreien Zone erklärt

 

Ich notierte:

1974: Heute war ich von Kopf bis Fuß auf „TH-Fasching“ eingestellt. Am liebsten hätte ich auf Arbeit eine Pappnase aufgesetzt. Aber auch so verflog die Zeit und ich war wieder bei Jeanny. Meine Kostümutensilien hatte ich gestern Abend schon von zu Hause mitgebracht, so dass ich die heute nur noch sortieren und anzuziehen brauchte. Schließlich hatte ich einen Anzug von Opa, uralte Schuhe, einen saublöden Hut und bunten Schlips an bzw. auf. Ich zog meinen Parka über und los ging’s. Kaum im Leuna-Klubhaus angekommen, stand ich schon am erstbesten Büfett. Seni, Othello und Wim fuhren im Taxi vor und der Trubel nahm uns auf. Wim reizte jedermann zum Lachen mit seinem Kostüm, ein großväterlicher Badeanzug, unmögliche rote Mütze und Laborbrille. Er sah wirklich zum Schreien aus. Wir lagerten in jedem Saal, das Bier ging uns nie aus. Schon war’s halb eins und mir reichlich übel. Mit Mühe erinnerte ich mich noch, wo ich meine Garderobe abgegeben hatte. Der erste, der drei tollen Tage war vorbei.

1986: Moskau, Hotel „Sebastopol 2“, im „Stabsraum“ - so sagte zumindest unser Dolmetsch. Stabsraum bedeutet, dass hier alle männlichen Teilnehmer der sogenannten Kandidatenreise des Schrfistellerverbandes (u.a. Andreas Montag, Holger Teschke, Thomas Böhme, Matthias Köhler) ein Hotelzimmer zugewiesen bekamen, alle weiblichen (u.a. Kerstin Hensel, Kathrin Schmidt, Miriam Markgraf) ein zweites. Denn nachdem wir 12.30 Uhr in Scheremetjewo gelandet waren, stand für heute nichts weiter auf dem Programm als: Fahrt zum Hotel und Abendbrot essen, nicht aber Übernachten - 0.20 Uhr fliegen wir weiter nach Taschkent. Dort sollen wir gegen 9.00 Uhr (Ortszeit) dann endlich jeder ein Bett finden und schlafen können. Auf unser Bitten hin fuhr der Busfahrer, der uns am Flughafen abholte, immerhin einen kleinen Umweg, „kippte“ uns nicht einfach im Hotel (das ziemlich weit außerhalb des Zentrums liegt) ab, sondern brachte uns zum Puschkin-Museum. Allerdings stellte sich dann heraus, daß wir nicht vor der weltberühmten Gemälde-Galerie standen, sondern vorm Puschkin-Haus, Büsten des Dichters, Autographe, Bücher... Und viele ehrfürchtige Besucher. Auch nicht uninteressant und angemessen wohl einer Schriftsteller-Delegation, diese Besichtigung. Auf jeden Fall aber besser, als die ganze Zeit blöd im Hotel „rumzuhängen“.

2009: Shanghai. Hafenkräne wirken im fahlen Morgenlicht wie überdimensionale chinesische 3D-Schriftzeichen. Die Ankunftshalle am Pier sieht aus wie das Raumschiff Orion. Überhaupt scheint in dieser 22-Millionen-Einwohner-Metropole alles überdimensioniert und futuristisch. Jeanny und ich lassen uns am Hotel, in dem wir einmal übernachten wollen, um diese Weltcity wenigstens ein bisschen besser kennen lernen zu können, absetzen, dem altehrwürdigen „Broadway Mansions“ an der Shanghaier Promenade, der Bund. Fantastisches Panorama an einer Biegung des Huangpo, auf dem unablässig Lastkähne, Frachter, Ausflugsboote, Dschunken flussauf- und flussabwärts streben: auf der einen Uferseite die prächtigen Bauten aus Konzessionszeiten, Banken und Hotels vor allem, auf der anderen der weltberühmte Blick auf die Wolkenkratzer, mit dem Orient-Pearl-Tower, dem Shanghaier Fernsehturm, dem 421 m hohen Jin Mao Building, das ob seiner Pagodenform als eines der schönsten Hochhäuser weltweit gilt, und dem erst kürzlich fertig gestellten Shanghai World Financial Center, mit 492 m das höchste Gebäude Chinas. Wir flanieren durch dichte Menschentrauben über den Bund, flanieren durch dichte Menschentrauben über die Fußgängermeile Nanjing Lu, essen Nudelsuppe mit Stäbchen und köstliche, gefüllte Dampfnudeln, fühlen uns wohl.

2013: Roatán, dem honduranischen Festland vorgelagerte Insel im (nach dem australischen Great Barrier Reef) zweitgrößten Riff der Erde. Von der Inselhauptstadt Coxen Hole, benannt nach einem Piraten-Kapitän (was wohl einiges über die Vergangenheit des Eilands sagt) nach Coxen Grove, eine tropische Buch, Hauptattraktion: zwei Schiffswracks. Und weiter gen Punta Gorda, wo die Garifuna siedeln. Noch nicht allzu lange allerdings – auch dieses Volk lebt in der Diaspora. Die Geschichte ist schnell erzählt: 1635 gingen vor der Karibikinsel St. Vincent zwei Schiffe unter, an Bord: Nigerianer, die in die Sklaverei verschleppt werden sollten. Einigen von ihnen gelang es jedoch, sich zu retten und – nach Jahren sogar, sich mit eingeborenen Kariben zu vermischen. Nicht nur eine ganz eigene Kultur, sondern sogar eine eigene Sprache, das Garinagú, entwickelte dieses Volk, die Garifuna, und wurden zur wichtigsten ethnischen Gruppe auf St. Vincent. Da aber immer mehr englische Siedler auf diese Insel kamen, die ihre Plantagen von schwarzen Sklaven bearbeiten ließen, war der Konflikt mit den schwarzhäutigen, freien Garifuna vorprogrammiert. Es kam zu kriegerischen Auseinandersetzungen und 1796 schließlich wurden die etwa 2000 Garifuna von den Briten nach Roatán deportiert. Uns wird der Tanz des mascaro vorgeführt, der darauf zurückgeht, dass die Frau ihres Anführers Sotuye, diesem auf St. Vincent vorhielt, zu feige zu sein, gegen die Engländer zu kämpfen. Ja, wenn die Männer dazu also nicht fähig seien, würden das eben die Frauen übernehmen. Daraufhin kam Sotuye auf die einige Zeit erfolgreiche List, die Briten in Frauenkleidern zu überfallen. Und so tanzen heute die Garifuna-Männer in Kleidern und maskiert und ausstaffiert wie Spergauer Lichtmeßfiguren in wildem Wirbel den mascaro…

2014: Dritter Landungsversuch nach Wtterunbilden, nun auf der größten Meeresinsel Brasiliens, Ilhabela – im Bundesstaat Sao Paulo. Und endlich klappt’s, ja, wir spazieren tatsächlich durch die Inselhauptstadt Vila! Sympathisches Tropenstädtchen, Flachbauten, Grün allenthalben, Orchideen, Papageien, stattliche blaue Krebse an einem Bach. Schutz vor warmen Regen bietet eine Strandkneipe, wo ein alter, schwarzer Gitarrist Sambas zum Besten gibt. Alles singt mit, wippt, klatscht. Sogleich hinter dem Inselhauptort mit seinen zwei, drei parallel zum Strand verlaufenden und zwei, drei Querstraßen Straßen geht’s steil ins dichtebewaldete Gebirge. Diese Lage erinnert mich stark an Dominica, an Roseau. In der blau-weißen Kirche von Vila stemmt ein Priester Säuglinge und küsst sie unter dem Beifall der Eltern und Familienangehörigen und sonstigen Gläubigen, dazu sanfte Gitarrenklänge vom Band. Neben der Kirche plündern Jungs den Obstgarten des Pfarrers und zwei, drei Bengels nehmen die Aktion mit ihren Smartphones auf. Seltsame Bräuche. Doch wie gesagt, alles wirklich irgendwie sympathisch hier. Ursprünglich war die Insel von Tupi-Indianern bewohnt und hieß: Ciribati, ruhige Insel. Hätten wir besseres Wetter hier, hätten wir sicher erlebt, dass dies längst nicht mehr stimmt. Ilhabela gilt als eines der beliebtesten Ausflugsziele im Großraum Sao Paulo, 40 Inselstrände sprechen eine deutliche Sprache. Danke wir also den tiefhängenden grauen Wolken, den nach wie vor mit ca. 25°C für diesen Ort und diese Jahreszeit viel zu tiefen Temperaturen, den unablässigen Regenschauern, dass wir hier ruhige Tage auf der Insel hatten.

Interessant: obwohl indigene Völker mittlerweile nur noch knapp 1% der Gesamtbevölkerung Brasiliens ausmachen, wird die Sprache Tupi an brasilianischen Schulen gelehrt, und nicht nur für Indios, nein, vor allem bei Weißen soll sich Tupi als Wahlfach zunehmender Beliebtheit erfreuen. Am Abend eines ruhigen Tages dann einen hiesigen Caipirinha – und weißgott, der schmeckt nicht nur besser als alle bislang weltweit von mir konsumierten Caipirinhas, der scheint auch durchaus effizienter…

2016: „Kein Badewetter

(zwischen Rerik und Sansibar)

Strandwanderung also.

Wir suchen Steine

Phantasien,

Erinnerung vielleicht.

Wir sammeln

Kantige, Gefurchte,

Gehöhlte, Bizarre.

Die Glatten

nützen uns nicht.“ -

1980 schrieb ich das, 1980, während eines Ostseeurlaubs in Familie und offenbar Alfred Andersch lesend: „Sansibar oder der letzte Grund“. Welten lagen damals zwischen Rerik und Sansibar für uns. Nun liegen Welten zwischen unserem damaligen und unserem heutigen Leben. Ein Sehnsuchtsort scheint uns Sansibar aber geblieben. Oder warum zieht es uns jetzt, im Februar 2016, zum Badeurlaub dorthin?

„Man mußte weg sein, aber man mußte irgendwohin kommen. Man durfte es nicht so machen wie Vater, der weggewollt hatte, aber immer wieder nur ziellos auf die offene See hinausgefahren war. Wenn man kein anderes Ziel hatte als die offene See, so mußte man immer wieder zurückkehren. Erst dann ist man weg, dachte der Junge, wenn man hinter der offenen See Land erreicht.“ - (A. Andersch „Sansibar…“)

 

Absturz

für

Rafiq al-Hariri / Walter Basan / Louie Bellson / James Bond / Friedrich Cerha / James Cook / Vincent Crane / Shoshana Damari / Odet de Coligny / Ronald Dworkin / Marianne Fiedler / Karl Friedrich Wilhelm Fitzenhagen / Victor Gruen / Cecilio Guzmán de Rojas / Peter Hagendorf / David Hilbert / Julian Huxley / Karl Guthe Jansky / Aubelin Jolicoeur / Louis Jourdan / Kyrill / Mani / Werner Mittenzwei /Karl Münichreiter / Marco Pantani / Alexandra Freiin von Schleinitz/ Johann Anton Schneiderfranken / George Shearing / Friedo Solter / Francisco Tomás y Valiente / Johann Samuel Trothe / Mick Tucker / Johannes Bernardus van Bree / P. G. Wodehouse

 

Da meinten wir an diesem Tage abstürzen zu sehen:

Straßburg, 1349: beim „Valentinstags-Massaker“ werden während der Pest-Epidemie mehr als 2.000 Juden ermordet / Merseburg, 1648: „gegen Mitternacht war so ein grausamer Sturm, Donnern u. Blitzen, daß mann gemeuynet, die Stadt würde mit der Welt untergehen“ – in Holstein kommt es tatsächlich zu einer Naturkatastrophe, bei der unzählige Menschen ums Leben kommen / / 1879 beginnt der Salpeterkrieg zwischen Bolivien und Chile / Chicago, 1929: dem Bandenkrieg rivalisierender Gangs fallen sechs Gangster zum Opfer, was als neuerliches / „Valentins-Massaker“ in die Geschichte eingeht / 1942 gibt das britische Luftfahrtministerium die „Area Bombing Detective“ heraus, die Anweisung zum Flächenbombardement deutscher Städte / 1989 ruft Ayatollah Khomeini eine Fatwa gegen Salman Rushdie aus / 1996 stürzt eine chinesische Rakete nach dem Start vom Kosmodrom Xichang auf ein Dorf, vermutlich 500 Todesopfer/ 2005: bei einer Schlagwetterexplosion im chinesischen Kohlebergwerk Sunjiawan kommen 214 Bergleute ums Leben / Parkland, Florida, 2018: bei einem Schul-Massaker sterben 14 Schüler und drei Erwachsenen.

 

 

15. FEBRUAR

 

Ventilieren

mit

Ion Andreescu / Kokomo Arnold / Jens Immanuel Baggesen / John Barrymore / Jelena Georgijewna Bonner / Susan Brownell Anthony / Jens Immanuel Baggesen / Bai Bureh / Carl Michael Bellmann / Sophie Bryant / Roger Bruce Chaffee / Nathan Davis / Wilhelm Dodel / Heinrich Drake / Chris Farley / Galileo Galilei / Carl Albert Fritz Michael Gerlich / Gerhard Moritz Adolf Goldschlag / HAP Grieshaber / Jan Hecker / Johann Jakob Wilhelm Heinse / Birgit Herkula / Ibuse Masuji / Wilhelm Jensen / Herman Kahn / David Kato Kisule / Dieter Lattmann / Leonid Saweljewitsch Lipawski / Cyrus McCormick / Ludwig Persius / Michael Praetorius / Elihu Root / Ruben Sewag / Ernest Henry Shackleton / Shūzū Kuki / George Johnston Stoney / Johann Heinrich Wilhelm Tischbein / John Trudell / Musa Mostafa ulı Cälil / Charles André van Loo / Willy Vandersteen / Dimitrios Vikelas / Hugo Vogel / Friedrich Ludwig Alexander Weidig / Alfred North Whitehead / Werner Wolff

 

So fühlten wir eine Erfrischung an diesem Tage.

1707 konnte man in Merseburg erstmals in die Postkutsche von Leipzig nach Cölln über Nordhausen mit Anschluss nach Amsterdam einsteigen / 1763 schließen Preußen, Österreich und Sachsen den Frieden von Hubertusburg: Ende des Siebenjährigen Krieges / 1764: Gründung von St. Louis / Berlin, 1902, die erste Strecke der U-Bahn wird zwischen Stralauer Tor und Zoologischer Garten eröffnet / 1912 nimmt in Hamburg die U-Bahn den Betrieb auf / Den Haag, 1922: der Internationale Gerichtshof hält seine erste Sitzung ab / 1972 einigen sich zwölf Atlantik-Anrainerstatten in der Osloer Konvention auf Maßnahmen zur Verhütung von Meeresverschmutzung / 1989 endet die sowjetische Invasion Afghanistans / 2003 protestieren weltweit etwa 9 Millionen Menschen gegen den sich anbahnenden Dritten Golfkrieg / 2005: Gründung von YouTube.

 

Ich notierte:

1980: Heute Start einer Tournee durch den Bezirk Magdeburg. Fünfzehn Uhr soll schon Probe weit im Norden sein, bezeichnenderweise heißt das Nest Mangelsdorf. Winzig kleiner Saal, wir passen kaum auf die Bühne, schreckliche Demmse, Unwohlsein kommt hoch, ich fühle mich an Tourneen früherer Jahre erinnert, mit Uhlenbrock und Konsorten, das ewige Fernsein von Zuhause, die Trostlosigkeit der Säle, der Programme, der Hotels, die sich letztlich nur mit Alkohol ertragen läßt… Doch schau, hier kommt heute eine dufte Stimmung auf, das Publikum geht gut mit. Für die Leute hier ist das offenbar ein Ereignis, standing ovations beim anschließenden Tanz!

1982: Jeanny sagt, ihr sei aufgefallen, dass dann, wenn ich länger weg bin, immer mal wieder ein Wartburg gegenüber hinterm Friedhof stehe, zwei Männer darin, die unsere Fenster zu beobachten scheinen. Scheiße.

1983: Quedlinburg, Fasching. Der Klubhausleiter tippt vielsagend auf seine Uhr, und die jungen Poeten verlassen murrend, doch gehorsam, die Räume ihrer Phantasien. Vor der Tür warten schon Cowboys und Indianer Seeräuber, Rotkäppchen und Scheichs.

1986: Nachmittags um zwei (das ist 9.00 Uhr MEZ) endlich im Hotelzimmer in Taschkent. Tatsächlich waren wir gegen 8.30 Uhr Ortszeit hier, bekamen Frühstück, konnten das Gepäck abstellen. Im Programm stand aber 9.00 Uhr Stadtrundfahrt. Gnadenlos. Schlaf scheint hiesigen Reiseveranstaltern eine gänzlich unbekannte Planungsgröße. Von Taschkent bin ich auf den ersten Blick enttäuscht. Die üblichen Sowjetfassaden: graue Hochhäuser, ewig lange Neubaublöcke, öd breite Boulevards. Dann erreichen wir jedoch die Barak-Khan-Medrese, und ein deutlicher Hauch Orient wird spürbar. Hinter diesem stolzen Bau die Altstadt, präziser: das, was von der Altstadt blieb: Lehmhütten, zur Straße hin fensterlos, strohgedeckt, verkommen bis verwahrlost, finstere, vor Unrat starrende Gassen. Und überall noch direkte Spuren des verheerenden Erdbebens von 1966, Schuttberge, Erdrisse, Trümmer. Aller hundert Jahre, erfahren wir, würde Taschkent von einem schweren Erdbeben heimgesucht. Das vorletzte war 1868. Im Jahre 1966 sollen die Leute dank Vorbeben vor dem radikalen Hauptstoß auf die Straße gelaufen sein. Nur 19 Tote und etwa 150 Verletzte, aber 75.000 obdachlose Familien. Und 10 Kinder pro Familie seien hier keine Seltenheit! Auch die Minarette der zweiten Medrese der Stadt, der Medrese Kukeldasch, fielen diesem schlimmen Beben zum Opfer. Nach dem Abendbrot in die Oper. „Boris Godunow“, in Originalsprache versteht sich, steht auf dem Programm. Damit wird dann jedoch nichts. Zum einen gab’s im Nawoi-Theater (prächtige Ausstattung, wenige Zuschauer) eine Programmänderung: statt Boris Godunow“ „Fürst Igor“ - Slawa! Zum anderen kam in der schweren, samtenen Wärme des Theaters die totale Übermüdung zum Tragen. Manche waren klugerweise gleich im Hotel geblieben. Und wir fünf Aufrechten mit den tollen Plätzen in der ersten Reihe, die wir glaubten, jedes Angebot dieser Reise annehmen zu wollen, zu müssen, nickten, zuckten, gähnten, streckten uns gegen die übermächtige Müdigkeit an. Mit vermischten sich sogar Wirklichkeit und Traum - oder warum stand da plötzlich eine Stewardess auf der Bühne und bot im satten Alt Kaffee an? Nach dem 2. Akt glaubten wir den tapferen, stolzgewandeten Sängern und Sängerinnen unseren Anblick nicht mehr zumuten zu können und schlichen uns von dannen.

1996: Auf der Reeperbahn, nachts gegen neun, schlug meine Neugier langsam in Enttäuschung um: läufige Türsteher und Allerwelts-Reklame, statt Rot-, kaltes Neonlicht. Waffengeschäfte und Plunderläden en gros. Und fröstelnde Nutten vor halbleeren Kneipen - nicht ein Seemann weit und breit - Schnapsidee wohl, im Schneesturm nach St. Pauli zu kommen. Doch vielleicht waren wir nur zu früh hier? Wahrscheinlicher aber: viel zu spät.

2003: Die Schwüle der Nacht wich einer windigen Frische. Mit zwei kleinen, bunten Pirogen fahren wir von Ndangane zur Insel Saloum. Mangrovenbestandene Deltaarme des gleichnamigen Flus­ses, dann weiten sich die Wasserflächen, Wellen gehen hoch. Als wir nach gut zwei Stunden Bootsfahrt im Flecken Djinda ankommen sind wir alle klatschnass, doch ungebrochen guter Stimmung, wohl ob der uns durchaus bewussten Exotik dieses Ortes. Wir werden von der Leitung der hiesigen Fischerkooperative empfangen und als erstes vom Feinsten bewirtet: kleine, schwarze, an den Mangrovenwurzeln wachsende Muscheln in Erdnuss-Zwiebel-Soße, die Exotik wird exklusiv. Dabei sieht man auf den ersten Blick, wie ärmlich es hier in diesem so entlegenen Winkel zugeht: ein Schuppen beispielsweise ihr stolz präsentiertes Vereinshaus. Und stolz will uns der Präsident ihrer Kooperative auch lang und breit von ihren Erfolgen erzählen. Unsere Frauen wollen aber lieber Fragen an anwesende Frauen der Kooperative stellen, wollen keine weiteren Berichte, sondern direkte Erfahrungen machen, das System der Kleinkreditvergabe, dessen Nutznießer vor allem die hier mit anwesenden Frauen sein sollen, besser verstehen, das Leben hier schlechthin. Ein Palaver setzt ein, wer wem wann welche Fragen stellen solle und dürfe, wobei sich die Frauen der Kooperative nun aber einmal ermutigt auch resolut selbst zu Wort melden. Am Ende dennoch gegenseitig freundliche Schlussworte und wir überreichen die Gastgeschenke. Kleiner Rundgang durchs Dorf, um uns ständig Scharen von Kindern. Und zu guter Letzt scheint uns das ganze Dorf zum Landungssteg zu begleiten. Großes Winken. Immer und immer wieder diese große Herzlichkeit, beeindruckend. Zwischenstopp auf einer anderen Insel, Zwischenmahlzeit, dann zu einem Dammprojekt, das Bauern mit Hilfe von Caritas realisierten. Nachdem ihre Reisfelder mehr und mehr versalzten, schien vor Jahren ihre Existenz vernichtet. Mit materieller und logistischer Unterstützung gelang es ihnen aber in Selbsthilfe einen Damm zu errichten, der das weitere Vordringen des Salzwassers verhindern und das kostbare Regenwasser auf den Feldern halten soll. Mitten im sandigen Niemandsland erwarten uns geduldig die Chiefs der umliegenden Weiler. Und als einer der Chiefs hört, dass bei den Deutschen ein Schriftsteller sei, der sich sogar für Senghor interessiert, kommt der stattliche Mann sofort auf mich zu und stellt sich als Mitglied der Familie Senghor vor, heftet mir wie einen Orden ein Plastikschildchen an, darauf das Staatswappen und ein Abbild Senghors. Ich lasse mir erklären, dass dies seine Zugangsberechtigung für die Kathedrale von Dakar anlässlich der Beisetzungsfeierlichkeiten Senghors vor zwei Jahren ist. Wie soll ich auf diese so außergewöhnliche Geste reagieren? Klar, Händedrücke, gemeinsames Foto, Umarmungen, Adressentausch und was ich in meinem Rucksack an Kleinigkeiten zusammenkramen kann (Feuerzeuge, Kulis, Schreibblöcke) schenke ich natürlich. Doch irgendwie fühle ich mich beschämt, verspreche über eine angemessene Hilfe nachzudenken. Care-Pakete vielleicht? Chief Yacuba scheint sich über meine spontane Reaktion aber auch sehr zu freuen, stellt mir sogar noch seinen Sohn vor, der etwas abseits am Eselkarren, der die beiden nach Hause bringen wird, auf den Vater wartete.

2011: El Guamache, Isla Margarita. Aufschlussreich schon mal, was verschiedene Reiseführer über die Herkunft des Inselnamens sagen (da kommt mir doch einiges Spanisch vor): Übereinstimmung darin, dass Kolumbus diese Insel auf seiner dritten Reise entdeckte und benannte, aber: die einen sagen: zu Ehren von Margarete von Österreich, die anderen, ob des hiesigen Perlenreichtums (wobei das spanische Wort Margarita Gänseblümchen bedeutet?) Und erst unser heutiger Guide hat nach Nachfrage eine plausible Erklärung anzubieten: Margarita = Perle komme aus dem Altgriechischen (das Kolumbus angeblich beherrschte)… Besonderheit in Venezuela: unter dem linken Präsidenten Hugo Chavez, der vor allem zu Gunsten der Armen so manches veränderte, erhielt das Land sogar eine eigene Zeitzone: Uhren eine halbe Stunde zurück!

2013: Von Belize City mit dem Boot den Old Belize River hinauf. In der Mündung strecken Manatis fürwitzig ihre Nasen aus dem Wasser, und weiter flussaufwärts schwimmt sogar ein Delfin vor uns her, taucht spielend immer wieder unter unserem Boot durch. Mangrovenwälder an den Ufern, Mahagony-Bäume, diverse Reiher, Krokodile, Affen. Vom Dach eines direkt am Wasser stehenden Hauses und aus Bäumen springen vor uns kreischend Kinder in den Fluss. „Hallo!“ – „Hallo!“ Gegen Mittag in Altun Ha, eine der wunderbaren Maya-Stätten des Landes, besiedelt schon seit ca. 1000 v. Chr., bedeutendes Handelszentrum in der klassischen Maya-Periode. Bis zu 10.000 Menschen lebten damals hier. Ausgrabungen brachten in Altun Ha das größte, bislang gefundene Jade-Objekt zutage: eine 15 cm große Figur des Sonnengottes Kimich Ahau. Und den Tempel dieses Sonnengottes besteigen wir am Ende der Besichtigungstour, Gluthitze, doch fantastischer Rundumblick über die Anlage und den umhüllenden, dichten Urwald.

2015: Mein erster bewusster Berührungspunkt zu Australien dürften die Easybeats gewesen sein: yeah „Friday on my mind“! Dann auch die frühen Bee-Gees. Und auf jeden Fall hatte ich Marcus Clarks „Lebenslänglich“ gelesen, wusste also seit langem um die Anfänge des heutigen Staats Australien als englische Sträflingskolonie. Auf die Kultur der australischen Ureinwohner, der Aborigines, machte mich wohl mein Dessauer Schriftstellerkollege Joachim Specht neugierig, der als junger Mann viele Jahre in downunder gelebt und gearbeitet hatte und in der DDR dafür bekannt war, bei Lesungen Bumerangs und Didgeridoos zu präsentieren. Später dann Peter Weirs „Picknick am Valentinstag“, Bruce Chatwins „Traumpfade“ und Bahumir Wongars Aborigine-Erzählungen. Und zu guter Letzt waren die (Fernseh)Eindrücke von den Olympischen Sommerspielen 2000 in der Stadt, die wir nun ansteuern, ein wichtiger Puzzlestein für mein Australien-Bild. Hafeneinfahrt Sydney morgens gegen sechs: stockfinster ist es noch, schade – die weltberühmte Oper nur in Schemen zu erahnen, wird nicht mal angestrahlt. Nach dem Frühstück spazieren wir dann aber am Fährhafen vorbei zu diesem futuristischen Bauwerk. Bemerkenswert, dass in die Promenade Bronzetafeln eingelassen sind, die Zitate von Autoren bieten, die über Sydney schreiben, The Walk of Writers. Dazu in Bronze ein Satz des Kunstministers von New South Wales Peter Collins, der 1991 diesen Walk ermöglichte: „What we are and how we see ourselves evolves fundamentally from the written and spoken word. The Writers Walk demonstrates that this evolutionary process continues to channel the thoughts and perceptions, the hopes und the fears of writers who have known this great city and its people.” Und als bemerkenswert fällt mir noch dies auf: auf einem Hafengebäude weht nicht nur die Staatsflagge Australiens und die des Bundesstaates New South Wales (dessen Hauptstadt Sydney ist), sondern auch die der Aborigines, rot-schwarz mit gelber Mittelsonne. Im Royal Botanical Garden Scharen von Kakadus, auch Loris, Rallen, Sichler. Und vom Mrs Macquarie Point haben wir dann endlich den weltberühmten Blick auf die Sydney-Oper samt Hafenbrücke (auch wenn’s hier nur so von Chinesen wimmelt, es gar nicht so einfach ist, vorzeigenswerte Fotos zu schießen). Zurück zum Hafen – ein wunderbar kühles Ale im ältesten Pub Sydneys The Fortune of War, und nach einem Rundgang durch das liebevoll restaurierte Hafenviertel The Rocks, gleich noch eins. Wohlsein!

2023: Am Nachmittag in den Rossmarkt zur ersten Zusammenkunft eines neuen Merseburger Geschichtsstammtisches. Die üblichen Leute natürlich (nicht zuletzt von mir einst ausgebildete Stadtführer), doch auch einige junge Interessenten. Ich versuche vor allem Mitstreiter für meine „Zauberspruch-Initiative“ zu gewinnen, eine zielgerichtete Nutzung dieses historischen Kleinods zum Wohle der Stadt, eine Unterstützung des Antrags der Domstifter, dass die Zaubersprüche Weltdokumentenerbe werden sollen, was aber wohl kaum automatisch passiert, wenn die Merseburger Würdenträger mal wieder pennen… Zustimmung.

 

Vakuum

für

Guido Adler / Ai Xia / Sayyd Abdul Al-Khabyyr / Rachid Baba Ali Ahmed / Michael Bernard „Mike” Bloomfield / Lorenz Breunig / Nat „King“ Cole / Georg Raphael Donner / Johann Christian Edelmann / Wilhelm Fabry / Richard Feynman / Martha Gellhorn / Michail Iwanowitsch Glinka / Piero Gobetti / Gu Yanwu / Matija Gubec / Karl Hans Janke / Franciscus Gerardus Petrus „Frans“ Kellendonk / Kinoshita Rigen / Enn Kippel / Dietrich Kittner / Otto von Kotzebue / Gotthold Ephraim Lessing / Little Walter / Eustachio Manfredi / Arna Mer-Chamis / Peter Merseburger / Alexei Anatoljewitsch Nawalny / Sophie Petersen / Michael Praetorius / Camilo Torres Restrepo / Shaftesbury / Sodoma / Sokrates / Art Van Damme / Vanity / Christian Wagner / Karl Jakob von Weber / Georg Weissel / Raquel Welch / Clara Gertrud Wichmann

 

Da ging uns and diesem Tage die Luft aus:

1760 strandet das britische Linienschiff „HMS Ramillies“ bei Plymouth, etwa 700 Seeleute kommen ums Leben / 1865 zerschellt die französische Fregatte „La Sémilante“ an einem Riff zwischen Korsika und Sardinien, 693 Todesopfer / 1898. explodiert die Munitionskammer der „USS Maine“ im Hafen von Havanna, 266 Besatzungsmitglieder sterben, in der Folge erklären die USA Spanien den Krieg / 1942 besetzen die Japaner Singapur, 80.000 alliierte Soldaten gehen in Gefangenschaft / 1970, Santo Domingo, nach dem Start stürzt eine DC-9 ins Meer, alle 102 Insassen sterben / 1982 sinkt die bis dahin größte Ölplattform der Welt vor Neufundland nachdem sie von einer Monsterwelle getroffen wurde, alle 84 Besatzungsmitglieder kommen ums Leben / 1999 entführen türkische Agenten den Kurdenführer Abdullah Öcalan / 2013 explodiert über Tscheljabinks ein Meteor, 1.491 Menschen werden verletzt, etwa 3.500 Gebäude beschädigt.

 

 

16. FEBRUAR

 

Jamboree

mit

Ghazaleh Alizadeh / Friedrich Gustav Arvelius / Iain Menzies Banks / Heinrich Barth / James Baskett / Sonny Bono / Erich Borchert / Pierre Bouguer / Rudolf Braune / Jean Burger / Dobroslav Chrobák / Gaspard II. de Coligny / Hugo de Vries / Kanō Eitoku / Robert Joseph Flaherty / Margot Frank / Friedrich David Gilly / Ernst Haeckel / Wolfgang Hecht / Lars Hertervig / James Ingram / Miguel Bernal Jiménez / Alexa Kenin / Enn Kippel / Alfred Kolleritsch / Agnes Kraus / Nikolai Semjonowitsch Leskow / Peter Ludwigs / Philipp Melanchthon / Octave Mirbeau / Czesław Niemen / Martin Perscheid / Georg Joachim Rheticus / Lucinda Riley / Jacques Pierre Joseph Rode / Jack Rose / Coluccio Salutati / Joseph Victor von Scheffel / John Schlesinger / Helfrich Peter Sturz / Otakar Theer

 

Da kam bei uns Festivalstimmung auf:

1871 enden im Deutsch-Französischen Krieg die letzten militärischen Operationen / 1923 öffnen Howard Carter und Lord Carnarvon die Grabkammer Tutenchamuns / 2005 tritt das 1997 beschlossene Kyoto-Protokoll in Kraft.

 

Ich notierte:

1974: Ein großes Hallo gab’s beim TH-Fasching im Leuna-Klubhaus, als Ronald erscheint. Er hat Kurzurlaub von der Fahne und vom Fasching gehört. Herrgott, sah der Kerl kahl aus, dabei galt Ronald als der Mann mit den längsten Haaren in Leuna und Umgebung, ja, seine waren mal noch länger als meine…

1990: Oft gefragt in diesen Tage, wie ich die Perspektiven sähe, habe ich’s auf den Punkt gebracht: zwar nicht hoffnungs-, aber ziemlich ratlos zu sein. Natürlich bringt diese ungeheure Dynamik der Veränderungen auch ungeahnt Neues, Wichtiges hervor, in das man Kreativität wird einbringen können, doch natürlich weiß wohl noch niemand genau, wo er seinen Platz finden wird, seine Handschrift tatsächlich wird einbringen können. Und umso länger dieser Eiertanz zur Währungs- und Wirtschaftsunion geht, doch es täglich mehr an allem mangelt, an Vernunft nicht zuletzt, muß man sich fragen, wie es hier überhaupt weitergehen kann. Natürlich werden Chemiewerke stillgelegt werden müssen, wird es massive Umstrukturierungen geben, Arbeitslose en masse. 30-40% wurden schon prognostiziert! Auf dem Weg ins Ruhrgebiet – den ich heute angehe, eingeladen nach Gelsenkirche zu einer Lesung des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt, werde ich mich dort genau umsehen, umhören. Wie haben die dortigen Kommunen die Strukturkrise einst bewältigt?

2003: Da es heute zur Senghor-Gedenkstätte geht, zu dem Haus in Joal, in dem der große senegalesische Dichter und Staatsmann aufwuchs, lese ich zur Einstimmung für die Gruppe am Morgen im Bus ein Senghor-Gedicht. In Joal habe ich dann die Ehre, mich ins Gästebuch einzutragen, werde von Cissé natürlich zudem vor der Statue Senghors, des Poeta doctus Afrikas, fotografiert, da besteht er drauf. Weiter gen Norden, Halt in Mbour, mittelgroße Stadt mit dem üblich chaotischen, staubigen Straßengewimmel. Da jeder aus der Gruppe seiner Wege geht, schließe ich mich für die Mittagspause Diebel an. An einer Kreuzung bleibt er vor einem Schrotthaufen stehen, der sich jedoch als eine Art Schnellimbiss entpuppt. Diebel zieht an einem der verrosteten, verschmierten Kästen eine Schublade auf und darin brutzeln Hammelstückchen! Und er sucht sich und mir ein Stück aus und lässt es vom Schrottherdbesitzer zerteilen und würzen und mit fettigen Fingern in ein aufgeschnittenes Baguette stopfen und reicht es mir. Na denn, todesmutig beiße ich zu, horche dann aber während der stundenlangen Fahrt nach St. Louis mit Zwischenstopp an der Moschee von Louga (die wir aber nicht mal fotografieren, geschweige denn besichtigen dürfen, da ist der bärbeißige Moscheewächter vor) argwöhnisch in mich hinein. Hoffentlich ging das gut. Ich bin sehr gespannt auf St. Louis, die einstige Hauptstadt des französischen Westafrikas, seit 2000 UNESCO-Weltkulturerbe, gelegen auf zwei langgestreckten, parallelen Inseln vor der Atlantikküste. Wir kommen aber kaum dazu, die schmucken Zeilen der Kolonialhäuser zu registrieren, da wir zwar vor einem Hotel in der Innenstadt halten, der Besitzer jedoch uns umgehend zu einer in der absoluten Pampa gelegenen Absteige dirigiert, janz janz weit draußen nahe der Südspitze der äußeren Insel. Nach den schlimmsten Elendsquartieren die wir bisher sahen (hausen hier die aus Mauretanien Vertriebenen?) und einem großen Friedhof, gibt’s hier auf einem schmalen Landstreifen nur noch Sanddünen. Und darin einige armselige Hüttchen. Das sollen unsere Quartiere sein. In dem mir mit meinem „ewigen Partner“ Wolf zugewiesenen Raum steht im Schmuddel nichts weiter als eine Holzpritsche. Zwar bringt man mir nach Protest eine Matratze, ein Laken, eine zweifelhafte Decke, doch sackt meine Stimmung (wie auch die Stimmung der meisten der Gruppe) auf den Nullpunkt. Wohl um zu retten, was noch zu retten ist, kutschiert man uns zum Abendessen wieder in die Stadt, wo fast alle von uns erst mal reichlich Bier und Rum bestellen. Dennoch ergibt eine Umfrage, dass die Mehrheit darauf besteht, hier nicht wie vorgesehen zwei, sondern nur eine Nacht zu verbringen. Lange sitze ich dann in der Nacht noch am feinsandigen Strand, starre in die wilde Dünung. Keine Frage, als Surftourist und am Tage könnte es hier sehr reizvoll sein...

2011: Saint George’s. Grenada. Die Straßen der Landeshauptstadt sind in den Landesfarben Gelb-Grün-Rot bewimpelt, allerorts Transparente: We’re proud of our nation! – Kürzlich wurde der 37. Jahrestag der Unabhängigkeit begangen. Wir kurven im Bus die tropisch dicht bewaldeten Hügel zum Grand Etang Nationalpark hinauf, Kratersee inmitten dichtem Grüns, kurven weiter auf und ab durch nicht minder dichtes Grün zu einer Plantation, bewundern Kakao- und Muskat- und Papaya- und Brotfrucht- und weitere exotische Bäume samt Blütenpracht ringsum, kurven ins Städchen Gouyave hinab: Besichtigung einer Muskatnuss-Manufaktur, lange Hallen voller Holzroste voller zum Trocknen einsortierter Muskatnüsse. Wohlgerüche allenthalben. Grenada gilt als die Gewürzinsel, auf dem Gewürzexport, dabei vor allem dem Export von Muskatnüssen, basiert neben dem Tourismus der hiesige Staatshaushalt. Freundliche Händlerinnen bieten selbstgefädelte Gewürzketten mit Muskatnuss und Ingwer und Zimt und Nelken und Lorbeerblatt an. Potenzierung der Wohlgerüche. Im üppigen Grün ist jedoch auch immer wieder Windbruch zu entdecken, in den Siedlungen zerstörte Hütten und Häuser und sogar Kirchen. 2004 zerstörte der Hurrican „Ivan“ 85% der Insel, und dem folgte sogar noch „Andrew“, so dass die gottesfürchtigen Insulaner an eine Strafe Gottes für ihr leichtes Leben glaubten, denn normalerweise wird Grenada nur aller 50 Jahre von Tropenstürmen heimgesucht. Regierungswechsel verliefen auf Grenada sogar schon gewalttätig: 1979 war der charismatische Marxist Maurice Bishop durch einen unblutigen Putsch an die Macht gekommen, hatte längst überfällige Reformen eingeleitet und versucht, einen möglichst unabhängigen Kurs zwischen Ost und West zu steuern. Hardliner seiner Partei wollten jedoch eine Annäherung an Kuba erzwingen, und am Ende interner Streitereien wurde Bishop 1983 von den eigenen Leuten ermordet. Im Fort George, hoch über der Inselhauptstadt, dem Schauplatz dieses Verbrechens, entdecken wir eine Gedenktafel für Bishop und die Getreuen, die hier mit ihm ums Leben kamen. Und wir hören (von mehreren Insulanern), dass damals Chaos ausbrach und die Premierministerin der nahen Inselrepublik Dominica Ronald Reagan bat, zu intervenieren (angeblich, da die Briten, unter deren Commonwealth-Schutz Grenada eigentlich gestanden hätte, zögerten). Die Amis rückten mit 8.000 GIs an, Goliath gegen David also (wobei der David hier aber nicht mal ’ne Schleuder hatte…). Immerhin ist Grenada nun schon der zweite Staat auf dieser Reise, in den die Amis in den letzten Jahren einfielen, um Machtverhältnisse in ihrem Sinne zu regeln. 1999 hatten sie ja in Panama interveniert, den (allerdings zwielichtigen) General Noriega gejagt und festgenommen. Offenkundig scheinen aus dem frühen 19. Jahrhundert stammende Doktrinen, wonach Lateinamerika als Hinterhof der USA betrachtet wird, noch immer nicht aus dem politischen Denken der Amis verbannt.

2014: Mit Sonnenaufgang erreichen wir Rio, schippern an Ipanema vorbei, an der Copacabana, dem Zuckerhut, sehen die Christusstatue auf dem Corcovado langsam aus dem Morgennebel aufsteigen: grandios! Der Verkehr allerdings ist chaotisch, täglich wechselnde Baustellen und Umleitungen. Es wird gebaut, gebaut, gebaut: Rio ist eine der Gastgeberstädte der Fußballweltmeisterstadt 2014 sowie vor allem der Olympischen Spiele 2016. Doch irgendwie manövrieren wir uns durch die Dauerstaus, vorbei am kilometerlangen Sambódromo, wo in wenigen Tagen die Karnevalszüge von Zehntausenden auftanzen werden, gen Corcovado. Auffahrt durch dichten Tropenwald (mitten in der Stadt) mit einer Zahnradbahn. Was für ein Gedränge auf der Aussichtplattform vor dem weltberühmten Christus! 50% der Besucher scheinen auf dem Betonboden zu liegen und die anderen 50% zu fotografieren, wie sie mit weit ausgebreiteten Armen (und entsprechendem Gesichtsausdruck) die Statue zu imitieren versuchen… Mittagessen in einer Churrascaria, einem Grillrestaurant. Die Kellner schneiden dir am Tisch das Fleisch, was immer und so viel du möchtest, von langen Spießen. Köstlich und man kommt kaum mit dem Kauen nach. Weiter zum Zuckerhut. Auffahrt mit einer Drahtseilbahn. Unvergesslicher Rundumblick über die Bucht und die Stadtviertel, die Strände, die Hügel, die Inseln der 6-Millionen-Einwohner-Stadt. Im Minutentakt starten Flugzeuge von einem Airport auf den man blickt und kurven schon quasi auf Augenhöhe an einem vorbei… Und was für ein Glück wir heute tatsächlich hatten, sehen wir am Ende des Tages: die Christusstatue verschwindet wieder in dichtem Nebel. Hätten wir unsere Rundfahrt in anderer Reihenfolge gemacht, hätten wir wohl bestenfalls die Hälfte von dem sehen können, was wir gesehen haben.

2017: Wenn es dir glücklich gelang einen Latent-rechts-Fahrer (Trump-Typ) zu überholen, der dann aber etliche Kilometer weiter (und ohne, dass du - ob neuester Verkehrsfunkfakes vielleicht?- bemerkt hättest, dass er seinerseits dich überholte) unversehens links neben Dir auftaucht (kein Zweifel, der Tollentyp wieder, grinsend nun) hilft wohl nur Fakes abzuschalten, besser noch: auf ’ne Insel zu flüchten, oder?

2022: Die Ansteckungszahlen scheinen weltweit zurückzugehen. Dafür erfahre ich, dass mein guter bosnischer Freund Stevan Tontic gestorben ist. Die „Einschläge“ kommen näher, Anfang Januar mein alter Freund Dietmar, nun Stevan…

2023: 2023: Heureka! Die Arbeitsfassung meines „Kalendariums“ steht.

 

Katatonie

für

Julián Arcas / Christian Bärmann / Boutros Boutros-Ghali / Lojze Bratuž / Ferdinand Buisson / Zoe Caldwell / Giosuè Carducci / Angela Carter / Chien-Shiung Wu / Pierre-Henri de Valenciennes / Paul François Xavier Flatters / Cornelius Fredericks / Bruno Ganz / Wilhelm von Gloeden / Paul Graetz / Keith Haring / Mildred Harnack-Fish / Paul Graetz / K’inich Kann Bahlam II. / Brownie McGee / Johann Klaj / Jannis Kounellis / Kralle Krawinkel / Carl Ferdinand August Linger / Tim Lobinger / Bernard Lown / Janani Jakaliya Luwum / William Howell Masters / Brownie McGee / Octave Mirbeau / Gertraud Moller / Jean-Baptiste Monnoyer / José Orabuena / Rósza Péter / Dhundiraj Govind Phalke / Alí Primera / Friedrich Reck-Malleczewen / Tony Sheridan / Jan Sokol / Jura Soyfer / Johannes Stöffler / Aleksandar Tišma / Helen Vita / Gerry Wolff

 

Da spürten wir an diesem Tage heftige Verkrampfungen:

1707 billigt das schottische Parlament den Act of Union, die Vereinigung mit England / 1962 trifft eine schwere Sturmflut auf Norddeutschland, allein in Hamburg sind mehr als 300 Todesopfer zu beklagen / Taipeh, 1998 verfehlt ein Airbus A300 die Landebahn, 203 Menschen sterben.

 

 

17. FEBRUAR

 

Organisation

mit

Gertrude Abercrombie / Rudolf Agricola / Juan Almeida / Alan Bates / Gustavo Adolfo Béquer / Lojze Bratuž / Georg Britting / Narcís Casanoves i Bertran / Friedrich Cerha / Arcangelo Corelli / Julia de Burgos / Delphine Delamare / Isabelle Eberhardt / Tommy Edwards / Abraham Fraenkel / Johann Gottfried Gregorii / Oliver Taylor Hawkins / Hal Holbrook / Barry Humphries / Uri Katzenstein / Friedrich Maximilian Klinger / Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff / Herbert Köfer / René Laennec / Lola Montez / Adam Friedrich Oeser / Rósza Péter / Gene Pitney / Theodor Plievier / Adolphe Quetelet / Quorthon / Schnuckenack Reinhardt / Ruth Rendell / Karl Schilling / Otto Stern / Christoph Stölzl / Marie Thomas / Gustav Nikolaus Tiedemann / Henri Vieuxtemps / Georg Weerth

 

Da meinten wir, ließe sich Ordnung herstellen:

1836: eröffnet die  Bremer Reederei Sloman die erste regelmäßige transatlantische Verkehrsvervebindung / Sankt Petersburg, 1852: die Gemäldesammlung in der Eremitage wird als Museum öffentlich / 2008 erklärt sich der Kosovo für unabhängig.

 

Ich notierte:

1986: Begegnung mit Kollegen im Haus des usbekischen Schriftstellerverbandes. Ehrfürchtig zeigt man uns den Schreibtisch des Vorsitzenden Ulmas Rachimowitsch Umarbekow. Der Vorsitzende selbst allerdings weilt derzeit auf dem XXI. Parteitag der Kommunistischen Partei Usbekistans. Immerhin erfahren wir, daß Nawoï als Begründer der altusbekischen Sprache und der usbekischen Literatur gilt, und dass man besonders stolz auf sein etwa fünfhundert Jahre altes Poem „Chamsa“ ist. Jemand von uns fragt, woran es läge, dass in hiesigen Buchläden fast nur russische Autoren zu entdecken seien. Antwort: Diese Beobachtung solle nicht zu falschen Schlussfolgerungen führen, denn usbekische Literatur sei eben stets sofort nach Erscheinen vergriffen... Insgesamt gäbe es hier fast 120 verschiedene Nationalitäten (viele Koreaner, Tataren und sogar Deutsche), etwa 10% der Bevölkerung sind Russen. Hauptthema für alte wie junge Autoren aller Nationalitäten sei der Große Vaterländische Krieg. Nun gut. Nach mehrmaliger Bitte fährt man uns am Nachmittag ein Stückchen aus der Stadt hinaus. Endlose Baumwollfelder, hie und da Maulbeerbüsche zur Seidenraupenzucht, Juteplantagen. Dann Besichtigung eines Kolchos namens „Leninscher Weg“: drei Neubauklötze in der Dorfmitte: Kaufhaus, Verwaltung, Kulturpalast. Ansonsten Elend, sich in den Weiten der Steppe verlierend…

Gegend Abend zum Airport. Weiterflug nach Tadshikistan. Ich komme mit einem neben mir sitzenden jungen Afghanen ins Gespräch. Bis zu seiner schweren Verwundung kämpfte er vier Jahre lang gegen die Mudschahedin, studiert nun hier im Nachbarland, ist strenggläubiger Muslim und Mitglied der Kommunistischen Partei Afghanistans und kann überhaupt nicht verstehen, dass ich mich für den Krieg in seinem Land interessiere. Krieg sei doch normal, sei einfach eine Sache der Ehre!

Nach knapp einer dreiviertel Stunde Anflug auf Duschanbe, Hauptstadt Tadshikistans. Es schneit. Und in Lauerposition auf den Rollbahnen schwere, einsatzbereite Kampfhubschrauber. Sind wir etwa auf einer Militärbasis gelandet? Nein, sind wir nicht. Der Afghane winkt mir zum Abschied freundlich zu. Alles normal hier.

2000: Von der Lufthansa kommt die Bestätigung, dass Jeanny und ich unsere aufgelaufenen Meilengutschriften für einen Flug nach Athen nutzen können. Na, da wird doch gleich gebucht, Flug und Hotel. Und am liebsten würden wir gleich losfliegen... Immerhin beginne ich gleich in einem Reiseführer zu schmökern. Am Abend zur Eröffnung einer Ausstellung des Malers Bernt Wilke in die Leuna-Galerie. Interessante Überlegungen des Laudators Dr. Wolfgang Hütt, dass Malerei in Zeiten hektischer Medien-Bilderfluten etwas beruhigend Statisches habe.

2014: Am Morgen zur Copacabana. Ein Tag am wohl berühmtesten (wenn auch künstlichem) Strand der Welt. An Baden ist jedoch nicht zu denken, gewaltige Brecher, tief hängende Wolken, dann sogar Regen. Strandwanderung also bis zum Fort Copacabana und zurück über die breite Promenade. Bars und Imbissstände aller 50 Meter. Und wenn ich befürchtet hätte, an diesem Superstrand abgezockt zu werden, hätte ich mich absolut getäuscht. Der Caipirinha ist hier noch gehaltsvoller und schmackhafter und: preiswerter! (8 Reals, das sind keine 3 Euro) als auf Imhabela. Und auch von irgendwelchen Räuberbanden, die immer mal wieder Touristen terrorisierend durch Journaillen geistern, ist weit und breit nichts zu entdecken. Wenn jetzt also eines der Traumvehikel unserer Kindheit, das rosafarbene und grünbesternte Cabriolet, in dem Belmondo in „Abenteuer in Rio“ über Kinoleinwände kurvte, auftauchte, würde’s mich nicht wundern…

2015: Kisch brach sich 1934 ein Bein, wir gelangen ohne Komplikationen auf den Melbourner Pier und zu einem Ausflugsbus, der uns zu einer der Attraktionen des australischen Bundesstaates Victoria bringt, den Zwölf Aposteln. Wir streifen Geelong, weites Farmland, gelegentlich Eukalyptushaine. Kurzer Stopp in Colac, verschlafenes Hinterlandstädtchen mit Häusern aus der Gründerzeit. Weiter zur Great Ocean Road, die ihren Namen zu Recht trägt. Und plötzlich das Naturwunder The Twelf Apostels. (Ich hatte erwartet, dass wir zuvor noch Tiere zu sehen bekommen, denn im Melbourner Slang unseres heutigen Guides klang Apostels stets wie Opossums…) Vor der hochumgischteten Steilküste himmelwärts weisende Sandsteinfelsenfinger. Zwar sind es mittlerweile nur noch acht (letzter Einsturz 2005), doch schmälert das kaum die Erhabenheit dieser einzigartigen Landschaft. Weiter zu malerischen Buchten und Schluchten: Loch Ard Goge. Und schließlich das Hafenstädtchen Port Campbell. Lunch am Strand.

 

 

 

Ohnmacht

für

Samuel Agnon / Josef Ahrer / Alexander Nikolajewitsch Baschlatschow / Ciro Alegría Bazán / Hervé Bazin / Madeleine Béjart / Rolf Bossert / Nicolas Bouvier / Giordano Bruno / Berry Louis Cannon / Napoléon Coste / Edgar Evans / Mercantonio Flaminio / Rudolf Fuchs / Geronimo / Christian Johann Heinrich Heine / Ibaragi Noriko / Jurga Ivanauskaitė / Ernst Jünger / Friedrich Heinrich Ferdinand Emil Kleist von Nollendorf / Jiddu Krishnamurti / Jakov Lind / Mesrop Maschtoz / Molière / Thelonious Monk / Salomon Hermann Mosenthal / Blinky Palermo / Johann Heinrich Pestalozzi / Pixinguinha / Tony Sarg / Johann Joseph von Scherer / M. P. Shiel / Christopher Latham Sholes / Jean Servais / Hertha Sponer / Lee Strasberg / Jan Swammerdam / Samuel Erdmann Tzschirner / Hélène Vacarescu / Bruno Walter / Hans-Günther Wauer / Ror Wolf

 

Da fühlten wir einmal mehr unsere Ohnmacht:

1164: erste überlieferte Sturmflut an der Nordseeküste, die Julianenflut, etwa 20.000 Tote / Merseburg, 1665: „fiel wieder ein solcher tiefer schnee als zuvor noch nicht gewesen, so hielten auch die starcken fröste an biß in die Marter woche hinein. Umb solcher ursache willen wurde auch die Leipziger ostermeße biß auff den Sonntag Trinitatis auffgeschoben. Weil die frembden Kauffleute, so weit entlegen, wegen des bösen weges nicht wohl reisen u. fort kommen können“ / 1917 versenkt ein deutsches U-Boot den französischen Truppentransporter „Athos“ im östlichen Mittelmeer, 754 Tote / 1979: Beginn des Chinesisch-Vietnamesischen Krieges / 1993 sinkt vor der Küste Haitis die Fähre „Neptun“ vermutlich bis zu 2.000 Passagiere kommen ums Leben /1996 bei einem Erdbeben in Irian Jaya sterben 166 Menschen / 2006 zerstört ein Erdrutsch die philippinische Gemeinde Saint Bernard, 1.126 Todesopfer.

 

 

18. FEBRUAR

 

Beschallung

mit

Johann Georg Daniel Arnold / Robbie Bachman / Skip Battin / Inge Brandenburg / Jean-Baptiste-Michel Bucquet / Jacques Cassini / Fabrizio De André / Elke Erb / Enzo Ferrari / Miloš Forman / Hedwig Courths-Mahler / Georg Daniel Coschwitz / Charles de l’Ecluse / Thomas Girtin / Maxim Harezki / Christian Holm / Amir Abbas Hoveyda / John Hughes / Mór Jókai / Keith Knudsen / Matthias Kraus / Max Klinger / Otto Küstermann / Audrey Geraldine Lorde/ Rolf Losansky / Gerhard Marcks / André Mathieu / Adolphe Menjou / Toni Morrison / Franz Xaver Friedrich „Fritz“ Quant / Paco Rabanne / Ramakrishna / Christian Heinrich Rinck / Christo Schiwkow / Dido Sotiriou / Louis Comfort Tiffany / Lucio Urtubia / Alessandro Volta / Gustav von Wangenheim

 

Das meinten wir, würde weithin gut zu hören sein:

1911: erste Postbeförderung mittels Flugzeug (von Allahabad nach Naini) / 1930: Entdeckung des Pluto / 1965 wird Gambia unabhängig von Großbritannien / 2005 tritt in England und Wales der Hunting Act, das Verbot der Fuchsjagd, in Kraft / Rio de Janeiro, 2006: die Rolling Stones spielen an der Copacabana das bis dahin größte Freiluftkonzert vor etwa 1,2 Millionen Menschen / 2021 landet die NASA-Sonde „Mars 2020“ auf dem Mars.

 

Ich notierte:

1974: Ein grauer, verregneter Montagmorgen. Langsam, triefend fahre ich durch die dreckige, stickige Luft zur Arbeit. Arbeit – was ist das überhaupt? Von manchen wird sie als Berufung, von anderen als Profession, und wieder von anderen als notwendiges Übel bezeichnet. Natürlich gibt’s auch immer wieder Leute, die Arbeit gar nicht kennen, noch nie was davon gehört haben und folglich auch nichts von ihr halten. Und so manchem raubt diese finstere Monotonie jede schöpferische Lust, diese gleichbleibenden Rhythmen, diese Monotonien der Gespräche, der Handlungen, der Anschauungen, der Verbohrtheiten. Man muss irgendwie mitschwimmen, der eine mit kräftigen Armzügen, der andere lässt sich treiben. Das Gegen-den-Strom-Schwimmen soll übrigens aus der Mode gekommen sein. Trotzdem, Meinung ist, Arbeit muss sein, um Leben zu können, um sich etwas zu schaffen. Wer nicht oder schlecht arbeitet, lebt schlecht oder gar nicht. Stellt Arbeit also nur die materiellen Bedürfnisse und urwüchsige Triebe zufrieden? Da aber die Durchführung der Arbeit tagein tagaus ein Maximum an Zeit und Energie verbraucht, frage ich mich, wann sich wer noch emotional befriedigen kann. Bis zur völligen Erschöpfung arbeiten, aber wen befriedigt das? Wäre es nicht überlegenswert die Arbeit als Produktion materieller Güter umzuprofilieren, den Trend zur immer weiter entmenschlichenden Umwelt aufzuhalten, sich des Geistes, schöpferischer Möglichkeiten bewusster zu werden? Wer hat denn bestimmt, wer wann wo wie und wie lange arbeitet? Sind das nicht eigentlich verdammt willkürliche Festlegungen? Gut, aus den mannigfaltigsten Notwendigkeiten und Überlegungen heraus. Doch gesetzmäßig? Wo steckt die Objektivität in diesem Wirrwarr? Geredet wird darüber, und nicht zuletzt auf Arbeit, viel, was mich aber bestenfalls zum Gähnen bringt. Seit Menschengedenken redet die Generation der Alten von d i e s e r Jugend, die unter den Lasten des Broterwerbs stöhne und von Glück und Freiheit träume. Immerhin gab’s ja immer auch Freude bei der Arbeit: Sklaven sangen, Wolgatreidler, die schlesischen Weber…

1985: Für einige Tage nach Quedlinburg (trotz Schnee), Leitung des Bezirkspoetenseminars.

1999: Am Nachmittag halte ich einen Vortrag an der Fachhochschule Merseburg, Thema: Walter Bauer - die Stimme aus dem Leunawerk. Gut, dass sich Mitglieder des Vereins Sachzeugen der chemischen Industrie einem literarischen Thema öffnen. Nicht selten hatte ich erlebt, dass gestandene, kluge Chemiker durchaus dünnhäutig werden, wird auf die Janusköpfigkeit dieser Industrie hingewiesen. Literarische Aufarbeitung von Zuständen als persönlicher Angriff - was für ein Missverständnis! Umso mehr staune ich, dass der Hörsaal gut gefüllt ist, etwa 75 Zuhörer, und sich nach meinem Vortrag sogar ein interessantes Gespräch entspinnt. Wäre ja nicht schlecht, wenn im geplanten Merseburger Chemiemuseum nicht nur Technik, sondern auch Literatur und Kunst eine Rolle spielte, man dazu vielleicht sogar mit beigetragen hätte...

2011: Roseau, Dominica. Kolumbus erreichte die größte der Windward Islands am 3. November 1493, das war ein Sonntag (Spanisch: Domingo), und so soll Dominica zu ihren Namen gekommen sein. Und Dominica ist die einzige Insel der Karibik, wo indianische Ureinwohner, wo Kariben überlebt haben. Ein englischer Gouverneur stand ihnen 1903 ein Reservat an der Ostküste der Insel zu. Und dahin fahren wir. Meine Befürchtung, schlappe folkloristische Darbietungen geboten zu bekommen, bestätigt sich glücklicherweise nicht. Durch „normale“ Siedlungen der Kariben gelangen wir zum Museumsdorf Kalinago Barana Auté, Rundgang mit kundigen Erläuterungen. Die Männer beispielsweise lebten in einem großen Haus beisammen, die Frauen hatten mit ihren Kindern kleine Hütten. Im Alter von 12 Jahren hatten die Jungen Initiationsriten zu überstehen, so wurden ihnen scharfe Gewürze in frisch geritzte Armwunden gerieben, danach zogen sie mit ins Männerhaus. Wollte ein Mann eine Frau heiraten, übergab die ihm ein Steinbeil und suchte einen Baum aus, den er zu fällen hatte. Gefiel ihr seine Arbeit, konnte geheiratet werden. Die Kariben haben eine eigene Sprache, die allerdings keine Schrift kennt. Insofern wird dieses Idiom auch nicht in der Schule gelehrt, sondern nur von Mund zu Mund weitergegeben.

2013: Als Conch (sprich: Konk), als Tritonshörner also, bezeichnen sich die Bewohner von Key West. Und als es an einem Kontrollpunkt beim Zugang zur einzigen Straße, die das amerikanische Festland mit der vorgelagerten Inselkette, den Florida Keys, verbindet, zu Problemen kam, erklärte der Bürgermeister von Key West am 23. April 1983 die Unabhängigkeit und rief die Conch Republic aus. Und die wiederum erklärte der USA den Krieg – kapitulierte allerdings eine Minute später bedingungslos. Dieses geschickte Manöver zog allerdings die Aufmerksamkeit der Medien an, sorgte für immense Popularität in den USA (wohl auch wegen des Mottos der Separatisten, dass auch die Flagge der Conch Republic ziert: we seceded where others failed) und führte rasch dazu, dass die missliebigen und das Tourismusgeschäft behindernden Kontrollstellen von den US-Grenzbehörden aufgegeben wurden. Obwohl die Conch Republic also nur wenige Minuten existierte, wird in Key West am 23. April seitdem Jahr für Jahr der Unabhängigkeitstag, der independent day, gefeiert, und gibt es Vertretungen der Conch Republik in Frankreich und Finnland und seit 2010 in Bingen am Rhein ein „General-Konsulat“. Das wär doch mal ’n Posten, oh ja, den würde ich gern bekleiden: Generalkonsul der Conch Republic, wow! Wer in Key West geboren wurde und ständig hier lebt, gilt als Salzwasser-Conch, wer seit mindestens 7 Jahren in Key West wohnt, als Süßwasser-Conch – und wer mal nur den Winter hier verbringt, als Trinkwasser-Conch… Unüberseh- und –hörbar hier: die umhergockelnden Hähne, Nachfahren von Kampfhähnen, die Kubaner ins Exil mitbrachten, und die man dann, als der Hahnenkampf verboten wurde und daraufhin gegen den Versuch, die Hähne samt Hühnern und Küken zu schlachten, von freiheits- und tierliebenden Conchs erfolgreich geklagt worden war, einfach freiließ. 1928 kam Hemingway erstmals nach Key West, seit 1930 lebt er hier und bezog mit seiner zweiten Frau Pauline 1931 das Haus, das heute als Museum dient – und das wir selbstredend besichtigen. Etwa 60 Nachfahren von Hemingways sechszehiger Katze snowshoes, Riesentiere zumeist, streifen heute hier durchs Gelände. Einer der snowhoes-Nachfahren wird sogar im offiziellen Museumsführer erwähnt: „Bitte gehen Sie nun die Treppe nach oben und rechts ins Schlafzimmer. Sollte eine Katze auf dem Bett genüsslich ihren Mittagsschlaf halten, so ist das Archibald McLeish. Lassen Sie sich nicht von ihm stören, er stört sich auch nicht an Ihnen…“. Hemingway sagte über Key West, es sei „der großartigste Platz der Welt zu jeder Zeit, an jedem Tag“. Immerhin zog er dann 1940 mit seiner dritten Frau Martha ins nur 90 Meilen entfernte Kuba. Doch keine Frage, diese südlichste Stadt der USA hat etwas an Leichtigkeit, Luftigkeit, Selbstverständlichkeit, Quirligkeit und Lebenslust, was seines Gleichen sucht. Und ebenso keine Frage, dass wir auf unserer heutigen Tour nicht die Bar auslassen, in der sich Hemingway jeden Abend (oder auch schon mal Nachmittag) nach getaner Schreibarbeit einfand: Sloppy Joe’s. Cold beer and daiquiri? – Yes, we too!

2015: Les Wicks, australischer Lyriker, den ich letztes Jahr bei Struga-Festival kennenlernte, hatte mich eingeladen, ihn daheim in Adelaide zu besuchen. Doch leider nimmt er nun, da ich in Adelaide bin, an einem Poesie-Festival in Nicaragua teil… Da Les mich in Struga beim Weingedicht-Wettbewerb (bei dem ich meine herben Blütengrund-Texte zum besten gegeben hatte) mit seiner vollmundigen Poesie klar geschlagen, den ersten Platz belegt hatte (Preis: 5 Liter mazedonischer Wein – den er allerdings mit mir und den anderen unterlegenen Weintextern umgehen teilte), trinke ich heute in der Hauptstadt Südaustraliens ein Gläschen besten Adelaide-Weines auf Les. Cheers!

2017: Am Cabo Verde, der Westspitze Afrikas, stand ich vor 15 Jahren und träumte mich zu den Kapverden hinüber, atlantischer Archipel, unbesiedelt bis die Portugiesen, unwirtlich bis die Touristen kamen. Verde, grün, jedoch war wohl nur ich (sprichwörtlich), ja, bis mir grünte, dass dort draußen längst der Sahel beginnt, also Gelb angesagt wäre, amarelo. (Wobei Gelb meine Lieblingsfarbe ist, was womöglich erklärt, weshalb ich immer mal wieder zu kapverdischen Pauschalreiseangeboten schielte.) Zwischenlandung auf Boavista, dann Sal – unsere Urlaubsinsel im 15-Insel-Archipel Cabo Verde. Erster Eindruck: Brauntöne dominieren diese beiden Inseln, wenig Grün. Frühlingshafte Temperatur, laues Lüftchen aus Nordost, sehr angenehm. Weniger, dass wir zwar in Deutschland die notwendigen Visa beantragt und bezahlt hatten, die Reisegesellschaft diese aber offenkundig nicht besorgte. Einreise-Chaos also. Es dauert bis wir im Hotel sind…

Das allerdings hält, was es versprach, weitläufige Anlage, Gebäude im maurischen Stil und in Braun, castanho. Gutes Essen, hiesiges auch, Fisch vor allem. Alsbald zieht es jedoch zu, und aus schwarzem Himmel fällt Regen. Meingott, es hieß doch stets, dass es hier im Februar absolut sonnensicher und regenfrei sei. Vielleicht erleben wir hier sogar, dass Sal grün wird…

 

Grabgesang

für

Cliff Aeros / Agrippa von Nettesheim / Johann Georg Daniel Arnold / Balthus / Georg Bernhard Bilfinger / Günter Blobel / Jakob Bosshart / Matwei Petrowitsch Bronstein / Simón Díaz / Gerd Domhardt / Johannes Driesch / Snooks Eaglin / Beppe Fenoglio / Fra Angelico / Philipp Galen / Johann Wilhelm Ludwig Gleim / Carl Gustav Jacob Jacobi / Dedan Kimathi / Kublai Khan / Sophie von La Roche / Thomas Langhoff / Wassil Lewski / Didier Lockwood / Jakub Lorenc-Zalĕski / Martin Luther / Edith Ngaio Marsh / Maggie McNamara / Michelangelo / John Knudsen Northrop / Okamoto Kanoko / Robert Oppenheimer /Idrissa Ouédraogo / George Plantagenet / Otfried Preußler / Hermann Rietschel / Alain Robbe-Grillet / K. R. H. Sonderborg / Maria Stuart / Clyde Stubblefield / Thabit ibn Qurra / Prežihov Voranc / Wang Fuzhi

 

Da glaubten wir Abgesänge zu hören an diesem Tage:

Berlin, 1943 propagiert Goebbels den „totalen Krieg“ / 2003 kommen bei einem Attentat in der U-Bahn von Daegu 198 Menschen ums Leben / Nischapur, Iran, 2004: 320 Tote bei einem Eisenbahnunfall.

 

 

19. FEBRUAR

 

Erzählung

mit

Svante Arrhenius / Władysław Bartoszweski / Keith Baxter / Heinrich Christian Beck / Luigi Boccherini / Kay Boyle /Constantin Brâncuşi / Thomas Brasch / André Breton / Rachel Cohen-Kagan / Jackie Curtis / Charles-Françoise Tiphaigne de la Roche /  Gerd Domhardt / Élie Ducommun / Johnny Dunn / Günter Ebert / Falco / Lucio Fontana / David Garrick / Franky Gee / Hans Grundig / Luigj Gurakuqi / Eddie Hardin / Nicolai Hartmann / Sven Hedin / Friedrich Hoffmann / Nikolaus Kopernikus / Zygmunt Krasiński / Lee Marvin / Carson McCullers / Gabriele Münter / José Eustasio Rivera Salas / Lew Semjonowitsch Rubinstein / Jorge Álvaro Sarmientos / Daniel Carlsson Solander / U. V. Swaminatha Iyer / Tōge Sankichi / Howhannes Tumanjan / Heinrich Leopold Wagner / Rosy Wertheim / Michael Westphal / Paul Zech

 

Das klang an diesem Tage nach einer hoffnungsvollen Story:

1674 endet mit dem Zweiten Frieden von Westminster der Dritte Englisch-Niederländische Krieg, die amerikanische Kolonie Nieuw Amsterdam fällt endgültig an die Briten / Paris, 1855: Urbain Le Verrier stellt auf einen ersten Wetterkarte eine Wetterprognose vor / 1878 lässt Thomas Alva Edison den Phonographen patentieren / 1919 hält Marie Juhacz als erste Frau eine Rede in einem deutschen Parlament.

 

Ich notierte:

1980: Abends um sechs geht plötzlich das Licht aus, Stromsperre. Zum Glück kommt der Strom gegen Zehn wieder, so dass ich im Zweiten ein Zappa-Konzert von 1974 sehen kann. George Duke an den Keyboards. Mann, da geht was ab!

1986: Fahrt nach Nurek im Hissar-Gebirge. In diesem imposanten Hochgebirgstal ist es Mitte Februar bereits so warm, dass hier allerorten die Mandelbäume blühen. In phantastischem Farbkontrast dazu, die türkisfarbenen Wasser des vom Gebirgsfluss Wachsch gespeisten Stausees, die in Ocker- und Brauntönen ringsum und steil aufragenden Berge. Und dann kommt uns auf der Krone des Staudammes auch noch ein alter Mann in Landestracht, buntgestreiften Umhang (Chalat) und reich bestickter Kappe (Tjubejka), auf einem Esel entgegengeritten. Abenteuerliche Rückfahrt über tiefverschneite Pässe. Überholmanöver des Busfahrers, die nicht nur die weiblichen Mitglieder unserer Delegation aufkreischen oder die Hände vors Gesicht schlagen lassen. Am Abend im Hotel haben wir uns landestypisches Essen mit Erklärung bestellt. Da wird reichlich aufgetafelt: Piroggen aller Coleur, mit Hackfleisch oder süßlichem Kraut oder Undefinierbarem gefüllt und vor allem Reis mit Gemüse und Fleisch, Pilaw, wobei alles Fleisch Hammelfleisch ist, Hammel, Hammel, immer und ewig Hammel, leicht tranig meist und in Ölseen schwimmend. In der Gruppe wird es irgendwann üblich zu sagen, man gehe zur Altölfete statt zum Essen... Alle Nachtischköstlichkeiten, die zum grünen Tee gereicht werden, sind so süß, dass ich schon beim Anblick alle meine Zahnplomben spüre...

2003: Überfahrt nach Goreé, der einstigen Sklaveninsel, seit 1978 zum Weltkulturerbe erklärt, als Gedenkstätte für die Opfer der Sklaverei schlechthin. Erstaunlich allerdings wie sehr ich um den Besuch auf Goreé „kämpfen“ musste, nachdem der geplante Besuch wegen an Tabaski angeblich nicht fahrender Fähren ausgefallen war. Allzu groß schien das Interesse in der Gruppe an diesem Symbol für Sklaverei schlechthin nicht zu sein (schlechte Vorbereitung?), und am ausweichenden Verhalten unserer afrikanischen Partner meine ich zu fühlen, wie sehr ihnen die Geschichte der Sklaverei nach wie vor auf der Seele lastet, als Wunde erscheint, als Schande womöglich sogar. Andererseits dürfte der heutige Zustand des Kontinents, diese latente Labilität, wenn überhaupt nur aus der schrecklichen Verquickung von Sklaverei und Kolonialismus zu erklären sein. Und so absurd das mir so auch erscheint: Goreé ist der idyllischste Flecken des Senegal, das wir sahen. Schmucke Häuser im Kolonialstil, viel Grün, Palmen, Bougainvillas und nicht zuletzt, nirgendwo der übliche Dreck und Müll, dazu keine Autos, also auch kein Smog. Sinnbild insofern vielleicht für die Janusköpfigkeit Afrikas.

2021: Die PR-Chefin des Mitteldeutschen Verlages bat mich um einen Beitrag zum 75. Verlags­geburtstag. Eigentlich hätten wir in diesen Tagen beisammen sitzen und feiern wollen… Aber selbstredend schreibe ich umgehend was auf:

Als ich in den 1980er über Leuna zu schreiben begann, versuchte ich zu verstehen, was diesen Ort definiert und - warum ich dort blieb. Der Arbeitstitel dieses Vorhabens war. „Auf’s Ganze“. Obwohl ich natürlich wusste, dass man – wie Rilke sagte – keinen Globus im Maßstab der Welt erfinden kann, wollte ich dieses schier unüberschaubare Konglomerat doch möglichst vielseitig beschreiben, in recht unterschiedlichen formalen wie inhaltlichen Facetten diesem Chemiegebilde möglichst nahe kommen, ein Puzzle schaffen, dass sich im Kopf des Lesers zusammensetzt. „Auf’s Ganze“… Die damalige Verlagsleitung schien an meinem Vorhaben interessiert, nach einem Verlagsgespräch brach ich dann jedoch alle Beziehungen zu diesem Hause ab. Ja, man könne sich durchaus vorstellen dass… und es müsste natürlich noch… und vor allem diese eine Geschichte müsse raus, diese Geschichte über Leute, die bereits in den 1920er Jahren versucht hatten, Umweltschäden bei der Leitung der Leunawerke einzuklagen… Aber das hatte ich doch säuberlich recherchiert, das beruhte doch auf Tatsachen! – Mag sein, aber wollen Sie denn heute die Arbeiter zum Widerstand aufrufen…? Nee, das wollte ich eigentlich nicht, ich wollte nur versuchen, mich in diesem Ort auf dieser Welt zu verstehen… Mitte der 1990er Jahre schrieb ich eingedenk jüngster Erfahrungen weiter an diesem Manuskript, und unter dem Titel „Graureiherzeit“ nahm sich ein damals Böblingen lebender chinesischer Verleger dem Ganzen an. Und als dann Mitte der 2010er Jahre der 100. Jahrestag der Grundsteinlegung der Leunawerke nahe rückte, fand ich in der neuen Leitung des Mitteldeutschen Verlages ein offenes Ohr, eine Walter-Bauer-Buchreihe, von und über den Autor der 1930 erstmals erschienenen „Stimme aus dem Leunawerk“, zu initiieren. Und so erschienen denn zugleich eine Neuausgabe der „Stimme aus dem Leunawerk“ mit meinen weitergeschriebenen und Walter Bauer gewidmeten Leuna-Geschichten: „Graureiherzeiten“. Mittlerweile umfasst diese Reihe sechs Titel, und bis zu Walter Bauers 50. Todestag im Jahre 2026 sollen es 12 sein.

 

Drama

für

Nikolai Samuilowitsch Abelman / Martin Brandenburg / Constantin Brâncuşi / Gary Brooker / Georg Büchner / René Char / Larry Coryell / Jean-Charles de Borda / Marie Eugenie Delle Grazie / Umberto Eco / Wilhelm Fraenger / Robert Fuchs / André Gide / Bruno Gironcoli / Dan Graham / Kelly Groucutt / Knut Hamsun / John Howard / Friedensreich Hundertwasser / Mya Thwe Thwe Khine / Stanley Kramer / Hamza Kurtović / Karl Lagerfeld / Harper Lee / Teo Macero / Ernst Mach / Gurgen Margaryan / André Migdal / Nirad Mohapatra / Lee Morgan / Onwanonsyshon / Vladmir Pozner / Erasmus Reinhold / Bon Scott / Pop Smoke / Charles Trenet / Hippoliet Jan Van Peene / Koloman Wallisch / Wladimir Juljewitsch Wiese

 

Da spürten wir Dramatisches:

1600 bricht der Vulkan Huaynaputina in Peru aus: verheerendster Vulkanausbruch Südamerikas in historischer Zeit / 1860 sinkt der Passagierdampger „Hungarian“ vor der Küste von Nova Scotia, 205 Menschen kommen ums Leben / Bilbao, 1985: beim Landeanflug stürzt eine Boeing 727 ab, 148 Todesopfer / 2024 sterben in Afghanistan nach schweren Schneefällen und Lawinen mindestens 26 Menschen.

 

20. FEBRUAR

 

Fortschritt

mit

Ansel Adams / Robert Altman / Zacharie Astruc / Walter Becker / George Bernanos / Ludwig Boltzmann / Tarita Cheyenne Brando / Randy California / Kurt Donald Cobain / Heinz Ehrhardt / Margarethe Faas-Hardegger / Ibrahim Ferrer / Friedrich Theodor Fröhlich / John Warren Geils Jr. / Wilhelm Guddorf / Lucie Höflich / Herwig Hübner / Alan Hull / Rolf Italiander / Robert B. „Bobby“ Jaspar / Mikala Jones / Béla Kun / Marie Marvingt / Otto Meyer-Amden / Miss. Tic / Sidney Poitier / Johann Christian Reil / Joshua Slocum / Lew Soloff / Ishikawa Takuboku / Johann Heinrich Voß / Joseph Victor Widmann / Nancy Wilson / Simon Gottlob Zug

 

An diesem Tag meinten wir voranzukommen:

Den Haag, 1720: Friedensschluss der Quadrupelallianz (Großbritannien, Frankreich, Österreich, Niederlande) mit Spanien / 1797: Beginn der zwangsweisen Übersiedlung der Garifuna von Baliceaux nach Roatan durch die Briten / New York, 1872: Eröffnung des Metropolitan Museum of Art / 1913: erste Vermessungsposten für die künftige australische Hauptstadt Canberra werden gesetzt / Berlin, 1926: Beginn der ersten Grünen Woche / 1938 stimmen die Schweizer dafür, Rätoromanisch als vierte Landessprache anzuerkennen / 1965 schlägt die NASA-Raumsonde Ranger 8 auf dem Mond auf / 1974 ratifiziert der Bundestag den Atomwaffensperrvertrag.

 

Ich notierte:

1982: Gestern Nachmittag war ich zum ersten Mal bei der Prosa-Gruppe des Verbandes. Und nun weiß ich, warum da eigentlich kein Jüngerer hingeht. Da treffen sich die Verbands-Rentner! Ich höre, dass die altbewährten Lesungen doch die besten seien, weshalb Neues? Und weshalb müsse in unserer Literatur stets der Parteisekretär ein uneheliches Kind haben – unsere Werktätigen hätten doch genug schon Probleme, wollten am Abend, beim Lesen einmal entspannen. Gilde, Direktor des Instituts für Schweißtechnik, der soeben in den Verband aufgenommen wurde – warum eigentlich? – redet in der Diskussion statt über Literatur übers Hochseeangeln, wird befragt, ob man besser mit oder ohne Hilfsmotor segele und wohin man eigentlich so alles komme. Na ja – Leningrad, Finnland, Gotland, Italien… Ah ja, darum geht’s hier also wirklich.

1986: Duschanbe, Höhepunkt des Tages: Besichtigung der Nationalbücherei, benannt nach Firdûsi (um 934 - 1020/26), dem persisch-tadshikischen Nationaldichter, und unglaublich, doch wahr, uns wird sein „Schahname“ aus dem Panzerschrank geholt und auf den Tisch gelegt. Bitte, ihr könnt gern blättern…

2007: Als wir erwachen, schippern wir gerade durch die Flanagan Passage zwischen den US- und den British Virgin Islands. Und vom Bett aus sehen wir Norman Island an uns vorbeiziehen, das Inselchen, das sich Robert Louis Stevenson angeblich als Vorbild für die „Schatzinsel“ nahm. Wenig später laufen wir in den Hafen von Roadtown auf Tortola ein (Road von: sicherer Ankerplatz). Das Inselgewirr hier war über lange Zeit eine Hochburg der Piraten. Die wichtigste Wasserstraße wurde nicht von ungefähr nach Sir Francis Drake benannt, der hier von der Mitte bis gegen Ende des 16. Jahrhunderts seinen Stützpunkt hatte. Von den Virgin Islands ging so mache Kaperfahrt aus. Ein anderer berüchtigter Freibeuter, Blackbeard, soll auf der Mini-Insel Dead Chest Gefangene ausgesetzt haben… Heute wirkt alles sehr friedlich und verschlafen hier, obwohl gleich nach uns noch ein riesiger Luxusliner am kleinen Pier von Roadtown anlegt und ein weiteres Kreuzfahrtschiff auf Reede liegt. Ohne Tourismus könnten die Virgin Islands (wie die meisten anderen Karibik-Inseln) schlicht nicht existieren. Sicherlich daher rührt wohl auch, dass die Virgin Islands an der Spitze der Weltrangliste des Alkoholverbrauchs stehen. Pro Kopf werden hier jährlich gut 27 Liter Alkohol konsumiert (zum Vergleich: Russland bringt’s nur auf knapp 20, und Deutschland sogar nur auf 5,5 Liter). Wenn diese Zahl nicht mit dem Tourismus zu tun hat, und damit, dass sich hier mehr und mehr Reiche & Schöne Anwesen errichten lassen, müssten die Besoffenen ja an jeder Straßenecke liegen… Dem ist gottlob nicht so. Gewöhnungsbedürftig allerdings ist, dass hier links gefahren (klar, zu Großbritannien gehörend), aber mit Dollar bezahlt wird.

2014: Zwei Stunden etwa braucht der Bus, um von Santos ins etwa 700 Meter hoch gelegene Sao Paulo zu gelangen. Kurvenreiche Autobahnen durch Dschungel, allenthalben lila blühende Ipé-Bäume. Und dann die Megalopolis Sao Paulo, mehr als 22 Millionen Menschen sollen mittlerweile im Großraum leben. Größte Stadt des Landes, Wirtschaftsmotor, nicht zuletzt 1.500 deutsche Unternehmen produzieren hier. Doch irgendwie scheint die Stadt zu schnell gewachsen, zumindest schneller als die Infrastruktur. Müll, allenthalben Elendsviertel, selbst in Zentrumsnähe, Bekiffte, Becrackte reihenweise auf Bürgersteigen wie tot schlafend – mitten am Tage… (Was mich eigentlich nicht überraschen sollte, da ich ja u.a. auch „Mama es geht mir gut“ des hier lebenden jüngeren Autors Luiz Ruffato gelesen hatte, das sogar auf der letzten Frankfurter Buchmesse eine Rolle spielte, eigentlich...) Wir besichtigen Parks, zuerst den Ipiranga, dann den Ibirapuerte, keine Frage, beide sehr schön. Auf dem Weg zum hiesigen Prado geraten wir in einen Probelauf für den anstehenden Karneval. Und obwohl ich als Alt-Rocker einiges gewöhnt bin, wummert der Lautsprecherwagen der Karnevalisten lauter als alles, was ich bislang erdulden musste. Hubschrauber kreisen, Unmengen Polizeiwagen, Pferdestaffeln sogar. So gut scheint’s um die hiesige Sicherheitslage offensichtlich nicht bestellt zu sein. Und zu guter Letzt zieht noch ein Tropengewitter auf… Glück auf den Weg also, Brasilien!

2021: Nun wird es schon so frühlingshaft warm, dass wir erstmals in diesem Jahr ein Mittagsbierchen im Garten trinken können. Die Schneereste eignen sich wunderbar zum Kühlen der Flaschen. Eigentlich hätten wir heute auf den Azoren sein wollen. Aber da soll es jetzt 5° kalt sein und regnen…

 

Rückschlag

für

 

Sayyid Shayk al-Hadi / al-Musta’sim bi-’llah / Fikret Amirow / Klas Pontus Arnoldson / Muhammad Asad / Solomon Asch / Carlos Baca-Flor / Laura Bassi / Kurt Batt / Hermann Biow / René Cassin / Frederick Douglass / John Dowland / Maria Goeppert-Mayer / Ove Verner Hansen / Andreas Hofer / Joseph II. / Claus-Jürgen Kämmerer / Paul Kane / Sarah Kane / Otto Küstermann / Jacinta Marto / Peter Mayr / Donella Hager „Dana“ Meadows / Ferdinand Frederic Henri Moissan / Otto Niemeyer-Holstein / Christopher Nolan / Erik Pauelsen / Robert Edwin Peary / Balthasar Permoser / Jan Procházka / Brigitte Reimann / Ulrich Roski / Peter Rüchel / Fats Sadi / Sayyib Shaykh al-Hadi / Johann Scheubel / Max Schreck / Eugène Scribe / Friedrich Wilhelm Adam Sertürner / Hunter S. Thompson / Tecún Umán / Zilla Huma Usman / Georg Christian Unger

 

Da lähmten uns Rückschläge:

1305 bricht im italienischen Laticum die antike Staumauer von Subiaco zusammen und verursacht schwere Überschwemmungen / 1811 erleidet Österreich einen Staatsbankrott / Concepción, Chile, 1835: Erdbeben und Tsunami, etwa 5.000 Tote in der Region / 1929 wird Amerikanisch Samoa zum Territorium der USA / Bergkamen / 1946: bis dahin schwerstes Bergwerksunglück in Deutschland, 405 Bergleute sterben / 1947 geht die Kalaschnikoff AK-47 in Serienfertigung / Ayyat, Ägypten, 2002: Eisenbahnunglück, 383 Tote / West Warwick, Rhode Island, 2003: Brandkatastrophe in einem Nachtclub, 100 Menschen kommen ums Leben.

 

 

21. FEBRUAR

 

Matinee

mit

Wystan Hugh Auden / Jeanne Calment / Paul Cassirer / Karl Otto Conrady / Carl Czerny / Casiano Dal Pozzo / Jacques Decour / Karl Wilhelm Diefenbach / Pjotr Iwanowitsch Dolgow / Hans Dürer / Eugenio Espejo / William Falconer / Cheíto Gonzáles / Sacha Giutry / Gerhard Rüdiger „Gundi” Gundermann / Roland von Hößlin / Ishigaki Rin / Friedrich Karl Kaul / Erich Knauf / Jewgeni Michailowitsch Lifschitz / Dany Mann / Zdenĕk Miler / Anaïs Nin / Anton Emanuel Peschka / Sam Peckinpah / Raymond Queneau / Paul Raabe / John Rawls / Alan Rickman / Friedrich Rohmer / Schāh Walī Allāh ad-Dihlawī / Andrés Segovia / Kehat Shorr / Nina Simone / Arthur Gundaccar Joseph von Suttner / Marie Trintignant / Karl August Varnhagen von Ense / David Foster Wallace / Otto Wallburg / August von Wassermann / Vince Welnick

 

Das gaben wir an diesem Tage gern kund:

1701: Erster urkundlicher Nachweis einer Kohleförderung im Geiseltal / 1842 wird in den USA das Patent für die Nähmaschine erteilt / 1848 veröffentlichen Karl Marx und Friedrich Engels das „Kommunistische Manifest“ / New Haven, Connecticut, 1878: das erste Telefonbuch erscheint / New York, 1947: Vorstellung der ersten Sofortbildkamera / 1958 entwirft Gerald Holtom das Peace-Zeichen für den Londoner Ostermarsch / Rom, 2004: Gründung der ersten gesamteuropäische Partei, die Europäische Gründe Partei.

 

Ich notierte:

1986: Halb sieben Wecken zum Weiterflug nach Frunse, der Hauptstadt Kirgisiens. Schöner Flug bei phantastischer Sicht. Tiefverschneite Gebirgsketten ziehen unter uns weg, dann rotbraune, schwarz­braune Steppen. Zwischenlandung in Leninabad. Hier kurvt das Bodenpersonal mit Fahrrädern übers Rollfeld, ein Techniker lehnt sein Fahrrad einfach an die Gangway unserer altersschwachen TU-134. Halb eins im Hotel. Erstmals auf dieser Reise kein Neubau, sondern ein Altbauklotz, Kasernenstil. Der uniformierte Pförtner und sogar die Deschurnaja haben ein weißes Tuch vor Mund und Nase gebunden. Wirkt sehr befremdlich. Das Zimmer ist hoch wie ein Hinterhofschacht und vom Sockel bis zur Decke mit giftgrüner Ölfarbe gestrichen. Auch nicht eben anheimelnd. Die Stadt selbst kommt mir als ein unglaublich nichtssagender Ort vor, endlose, schnurgerade Straßen, halbverfallene Neu- und überdimensionierte Prunkbauten für Partei- und Staatsführung. Man brüstet sich, den größten Lenin-Platz der ganzen Sowjetunion zu haben. Na, bitte. Die Menschen hier wirken sehr in sich gekehrt, sind wenig kontaktfreudig. Jemand erklärt, dass die Kirgisen noch vor zwei, drei Generationen Nomaden gewesen seien. Was für ein Kontrast zu den aufgeschlossenen, höflichen, wissbegierigen Tadshiken! Selbst auf Fragen bekommt man hier, wenn überhaupt, bestenfalls eine knapp genuschelte Antwort. Und jeder blickt stets stur an dir vorbei. Unglaublich, dass Aitmatow, einer der mir derzeit wichtigsten Autoren überhaupt, Kirgise ist.

1999: Fast wie um mir einen Übergang zur Arbeit im Künstlerhaus zu verschaffen, die mir morgen wieder zum Alltag werden wird, beginne ich José Saramagos „Handbuch der Malerei und Kalligraphie“ zu lesen. Und durchaus ein bisschen wehmütig wird mir bewusst, dass ich die Leseintensität der letzten Zeit sicherlich nicht werde durchhalten können. Andererseits türme ich mir in Vorbereitung auf ein Seminar, das ich demnächst zu leiten habe, diverse Bücher auf, um sie mal wieder durchzusehen: Franz Fühmann „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm zu Babel“, Andreas Thalmayr „Das Wasserzeichen der Poesie“, Erwin Arndt „Deutsche Verslehre“, Gerhard Grümmer „Spielformen der Poesie“, Hans Pfeiffer „Kochrezepte für Kriminalgerichte“, Gianni Rodari „Grammatik der Phantasie“, das Gilgamesch-Epos, Büchners „Lenz“ u.a. Ja, um kreatives Schreiben soll’s mal wieder gehen, ausgehend selbstredend von eigenen Lese- und Schreiberfahrungen. Winters wird mir Lesen wohl mehr als nur die Beschäftigung mit Literatur, wird so etwas wie Lebenshilfe gegen Öde und Düsternis, wird zur Struktur fader Tage, die sonst vielleicht nur Warten wären, Lethargie, Substanzverlust, Selbstzweifel. So aber findet man möglicherweise sogar Bestätigung, bleibt aber auf jeden Fall aktiv, man liest...

2007: In der Nacht sehen wir die Lichterketten von Saba, St. Eustachius, St. Kitts und Nevis an uns vorbeiziehen. Bei Sonnenaufgang laufen wir im Hafen von St. John’s, der Hauptstadt von Antigua & Barbuda ein. Inselrundfahrt: Auch hier wird links gefahren und mit Dollar bezahlt. Antigua & Barbuda ist jedoch seit 1981 unabhängig, obwohl noch im Commonwealth. Sofort fällt auf, dass nirgendwo Müll herumliegt, es zwar auch ärmliche Häuser und Hütten gibt, die aber zumindest einen freundlichen Farbanstrich haben. Nach Barbados und Trinidad & Tobago gilt Antigua & Barbuda als drittreichstes Land der Karibik: immerhin knapp 10.000 $ Jahresdurchschnittseinkommen. Und fast 80% des Bruttosozialprodukts kommen aus dem Tourismus. Allein heute legten nach uns noch drei weitere Luxusliner in St. John’s an! Antigua ist die Regen ärmste Karibik-Insel, und nur auf Haiti stehen weniger Bäume als hier. Alles einst wegen der Zuckerrohrplantagen abgeholzt. Dennoch wirkt die Insel grün auf uns. Nicht von ungefähr wohnt wohl seit einiger Zeit auch Eric Clapton hier

2015: Ankunft in Freemantle. Ausschiffung und im Bus nach Perth, der Hauptstadt Western Australias. Als erstes Stadtrundfahrt durch Freemantle, das sich als sehenswertes Hafenstädtchen mit gut erhaltener Gebäudesubstanz aus der Siedlerzeit erweist. Ältestes Haus der Stadt ist das Gefängnis, das die ersten Sträflinge, die hier um 1830 hergebracht wurden, sich selbst erbauen mussten. Ja, auch so kann eine Stadtgeschichte beginnen, das braucht dann keine Legende. Weiter zum Badeort Coldesloe: weite, weiße Strände, schattige Promenaden auf der Hochküste, kleine Cafés, Pubs – ach, wenn doch Esperance so hätte sein können, dann hätten wir auf dieser ganzen langen Reise wenigstens mal einen Badetag gehabt… Denn schon müssen wir weiter nach Perth, gut 20 Kilometer im Hinterland, da, wo sich der bei Freemantle in den Indischen Ozean mäandernde Swan River zu einem See verbreitert. Fatastischer Blick über die Stadt vom sehr gepflegten Kings Park. Perth gilt als Boomtown dank der reichen, in jüngster Zeit erschlossenen Bodenschätze Westaustraliens. Schon ist Perth mit rund 1,5 Millionen Einwohnern die viertgrößte Stadt ganz Australiens – und vor der Skyline wird allenthalben gebaut… Wobei man hier offenbar auf menschliche Dimensionen achtet: neben Wolkenkratzern finden sich auch Gässchen fast wie in Rüdesheim. Am Abend sitzen wir am Fährhafen in einem Pub mit Blick über den Swan River bei Live-Musik, kühlem Ale und Chips & Fish. Vielleicht liegt es am erstmals ganztägig genossenen blauen Himmel, dem lauen Abendlüftchen, denn Jeanny und ich sind uns einig: Perth erscheint uns als die schönste Stadt dieser Reise. Oder so: unser ranking der lebenswertesten Städte fiele so aus: Perth, Auckland, Sydney. Und dass wir hier tatsächlich in einer ganz anderen Weltregion sind, wird auch dadurch deutlich, dass Kinder hier in der Schule als erste Fremdsprachen Chinesisch und Japanisch lernen (zudem gehen die Kinder die ersten sechs Schuljahre gemeinsam in die Primary School, dann die nächsten sechs in die Highschool). Und Perth wechselte in eine andere Zeitzone, um den asiatischen Metropolen näher zu sein… Und die Universitäten sind Wirtschaftsfaktoren, ziehen durch ihre Qualität zahlende (ausländische) Studenten an. Und die Parks und Grünanlagen werden von Freiwilligen gepflegt, die stolz sind, etwas für ihre Stadt tun zu können… Und die Busbenutzung ist kostenfrei… Und überall findet man im öffentlichen Raum Kunst… Ja, hier scheint Zukunft zu boomen.

 

Memento

für

Giuseppe Abbati / Gennadi Nikolajewitsch Aigi / Alfred Andersch / Gus Backus / Frederick Grant Banting / Hieronymus Bock / Heinz Braun / Constance Cummings-John / Tadley Ewing „Tadd“ Dameron / Baruch de Spinoza / Homa Darabi / Horst Drinda / Tilla Durieux / Kurt Eisner / Gertrude Belle Elion / Howard Florey / Margot Fonteyn / Edwin Franko Goldman / George Ellery Hale / Henjō / William K. Howard / Jadwiga Janczewska / Heike Kamerlingh Onnes / Kanō Tsunenobu / Justinius Kerner / Johannes Edlef Köppen / Ján Kuciak / Hedwig Lachmann / Inge Lehmann / Malcolm X / Heike Kamerlingh Onnes / Johann Georg Palitzsch / Lazare Picault / Micheline Presle / Augusto César Sandino / Michail Alexandrowitsch Scholochow / Otar Taktakischwili / Olena Iwaniwna Teliha / Clark Terry / Dorothea Tieck / Nadja Tiller / Louis Tuaillon / Constant Troyon / Jethro Tull

 

Das dürfte uns übel in Erinnerung bleiben:

1519 ordnet der Regensburger Stadtrat die Vertreibung der „städtischen Juden“ an, bei dem folgenden Pogrom wird die derzeit größte jüdische Gemeinde im Heiligen Römischen Reich zerstört / 1858 zerstört ein Erdbeben Korinth / 1907 sinkt im Hafen von Hoek van Holland das Passagierschiff „Berlin“, 128 Tote / 1916 beginnt die bis zum 18. Dezember tobende Schlacht um Verdun / Arequipa, 1931: früheste bekannte Flugzeugentführung der Welt durch peruanische Rebellen / Zürich, 1970 stürzt ein Schweizer Passagierflugzeug kurz nach dem Start durch eine Bombenexplosion ab, die eigentlich eine El-Al-Maschine gelten sollte, 47 Menschen kommen ums Leben / 1973 schießt die israelische Luftwaffe über dem Sinai ein libysches Passagierflugzeug ab, 113 Personen sterben / 2005 kommen bei Lawinen im indischen Kaschmir mehr als 100 Menschen ums Leben.

 

 

22. FEBRUAR

 

Berufung

mit

Peter Anich / Andre Asriel / Ludmilla Assing / Robert Baden-Powell / Hugo Ball / Erwin von Bary / August Bebel / Siegmund Breitbart / Luis Buñuel / Walter Conrad / Cornelis Gerard Anton de Kom / André Deed / Manfred Deix / Karin Dor / Louise Dumont / John Fahey / Joachim Nicolas Eggert / Karl Otto Götz / Heinrich Rudolph Hertz / Stephen Robert „Steve“ Irwin / Sonny James / Jules Janssens / Danilo Kiš / Adolf Kußmaul / Eduard Weniaminowitsch Limonow / James Russell Lowell / Giulietta Masina / Guy Mitchell / Billy Mo / Otto Modersohn / Bradley James „Brad“ Nowell / Seán Ó Faoláin / Nasrat Parsa / Rembrandt Peale / Hildegard Maria Rauchfuß / Robert Reinick / Jules Renard / Alexis von Roenne / Wilhelm Rudolph / Joanna Russ / Just Scheu / Arthur Schopenhauer / Edna St. Vincent Millay / Fritz Straßmann / Buddy Tate /Robert Pershing Wadlow / George Washington / Fjodor Alexandrowitsch Wassiljew / Ita Wegman Ottilie Wildermuth

 

An diesem Tag meinten wir erhoben zu werden:

Paris, 1635: Richelieu richtet die Académie française auf / 1784 entdeckt Wilhelm Herschel die Spiralgalaxie NGC 3521 / 1828 synthetisiert Friedrich Wöhler erstmals einen organischen Stoff / München, 1857: im Gasthaus „Zum ewigen Licht“ sollen erstmals Weißwürste serviert worden sein / 1904 beginnt Argentinien die erste Forschungsstation in der Antarktis einzurichten / 1979 wird St. Lucia unabhängig.

 

Ich notierte:

1986: Erwachen in Frunse. Zur miesen Stimmung passendes, kaltes, trübes Wetter. Alle aus der Gruppe sind der Meinung: nichts wie weg hier! Unsere Dolmetscherin ist von ausgesprochener asiatischer Freundlichkeit. Sie sagt: „Ich hören man sagt in Deutschland, wenn reisen Engel, dann schönes Wetter, ja. Sie also keine Engel, nicht wahr?“ Wir fahren mit einem klapprigen Bus in die Ala-Artscha-Schlucht (Wacholderschlucht). Schneegestöber. Die Dolmetscherin erzählt, wenn man sich im Fluß Ala-Artscha wasche, würde man zehn Jahre jünger. Wie meint sie denn das nun schon wieder? Rastplatz in 2200 Meter Höhe. Dichter Nebel. Wir steigen über Felspfade weiter auf, vielleicht bis 2600, 2700 Meter. Meingott, so hoch war ich noch nie! Und die Luft wird klar, Sonne und phantastische Aussicht! Gletscher, Täler, Gipfel. Ein seltsames Rauschen wie von einem nahen Wasserfall. Drosselartige, rostrote Vögel umschwirren mich. Wie in einer anderen Welt. Auf der Rückfahrt glauben wir am Wegesrand einen mohammedanischen Friedhof ausgemacht zu haben. Die Dolmetscherin ignoriert jedoch unsere Anfragen, berichtet stattdessen, dass es in Frunse neben einem russischen auch ein kirgisisches Theater gäbe. Das kirgisische Nationalepos „Manas“ sei, da die Kirgisen bis vor wenigen Jahrzehnten noch keine eigene Schriftsprache hatten, von Generation zu Generation als Steigreifspiel überliefert, mündlich also, begleitet von Gestik und Mimik. In Frunse wird das Schneetreiben immer dichter. Die Stadt schneit ein. Auf den Straßen gleichgültig starrende Leute. Ein Volk, das vor sich hinzudämmern scheint. Nur vorm einzigen Schnapsladen der Stadt, prügeln sich heute, am Tag der Sowjetarmee, hohe Offiziere mit zwielichtigen Gestalten um die Wodka-Ration.

1987: Nach einer Woche Poetenseminar während der mich alle Offiziellen als Leiter des Bezirksliteraturzentrums titulierten und behandelten, alle offensichtlich wesentlich besser auch über die Aufgaben und Möglichkeiten meiner neuen Funktion unterrichtet waren als ich selbst, wird für mich immer fragwürdiger, was zu tun ist. Stillschweigende Akzeptanz und somit Bekräftigung dieses Zustands wäre wohl eine Entscheidung für (materielle) Sicherheit (wobei alle vorherigen Leiter dieser Einrichtung maximal anderthalb Jahre auf diesem Stuhl saßen…). Ein Nein wäre ein Gang in die Unsicherheiten (auch die materiellen) des Schreibens… Am Rosenmontag – wie passend – soll es nun endlich ein Gespräch geben. Wenn ich dabei nur kalte Administration spüre, Mißachtung meiner Person also, denke ich, zu wissen, wie ich mich entscheide.

2007: Wenn uns gestern schon Antigua Grün vorkam, muss St. Lucia mit seiner auf den ersten Blick erkennbaren üppigen Vegatation als Grün Grün charakterisiert werden. Hier soll es sogar noch Reste tropischen Regenwalds geben. Ich bin sehr gespannt auf St. Lucia, ist diese Insel doch die Heimat des Literaturnobelpreisträgers Derek Walcott, „The Homer of the Caribic“. Castries wirkt nicht so pittoresk wie St. John’s, vor allem, da diese Stadt allein im 20. Jahrhundert zweimal abbrannte (1926, 1948), nichts von alter Substanz blieb. Es braucht jedoch nicht lange, und ich höre aus dem Munde unseres heutigen Guide Bernadette (einer fidelen Einheimischen) den Namen Derek Walcott: ein zentraler Platz ist nach dem wohl bedeutendsten Lucianer benannt. Und (wenn ich’s im Vorbeifahren richtig sehe) es steht auch ein Denkmal des großen Lyrikers schon zu Lebzeiten hier. Na bitte. Walcott schreibt dem zweiten Stadtbrand übrigens poetisch seinen phoenixhaften Aufstieg zu! Später am Strand werde ich mit einem fliegenden Händler ins Gespräch kommen, und obwohl der bekifft wirkt, freut er sich sichtlich, als ich sage, dass ich die Gedichte Walcotts kenne und schätze. „He, brother!“ (Ob man mit einer vergleichbaren Aussage in Deutschland Sympathie erwecken könnte?)

2000: Am Morgen nach Halle: Übergabe der Projekte-Verlags-Geschäfte an Konrad, Klärung von Rückzahlungsforderung beim Regierungspräsidium, Ausfahren von Einladungen und Plakaten für die bevorstehende Bücherfrühlingseröffnung. Dann mit  unserer Lektorin, nach Taucha zu Dr. Pleßke, letzte Korrekturen am Siegfried-Berger-Lesebuch, das zu Frühjahrsmesse vorliegen soll. Im Radio eine recht nachdenklich machende Nachricht: Die Regierung von Tuvalu habe die Regierung Neuseelands ersucht, allen 11.000 Tuvulaner eine neue Heimat zu geben, da aufgrund des steigenden Weltmeeresspiegels eine baldige Überflutung der Inselgruppe befürchtet würde.

2022: In all den Talkshows der letzten Tage, die nur ein Thema hatten: den bevorstehenden Einmarsch der Russen in die Ukraine, hatte ich aufgelacht, als eine amerikanische Beraterin zitiert wurde, die festgestellt haben wollte, dass Putin einen Hang zur Theatralik habe: Georgien habe er am 08.08.2008 angreifen lassen, die Ukraine also gewiß am 22.02.2022… Gestern hatte Putin nun die ukrainischen Seperatisten-Regionen Donezk und Luhansk medienwirksam als souveräne Volksrepubliken anerkannt und in der Nacht „Friedenstruppen“ in diese Gebiete entsandt. Da vergeht einem das Lachen…

2023: Am Abend mal wieder ins „Objekt 5“ nach Halle. Mitch Ryder spielt. Oft hatte ich mich mit Peter Rüchel, dem Rockpalast-Chef, über Mitch Ryders legendäres Konzert im Oktober 1979 in der Essener Grugahalle unterhalten. Und wir waren einer Meinung: das war eines der besten Konzerte des „Rockpalastes“. Nun also Mitch Ryder nicht im Fernsehen, sondern live, Konzerttour anlässlich seines 78. Geburtstages. Und der Meister kann kaum noch laufen, erklimmt nur mit Mühe die Bühne, einen Hocker. Aber dann: was für eine Röhre! Ryders Stimme scheint seit jenen Tagen noch kräftiger, noch charakteristischer geworden zu sein, gereift. Und er gibt sogar einige der Stücke, mit denen er schon vor mehr als vier Jahrzehnten begeisterte, zum Besten: Ain’ Nobody White Can Sing the Blues. Er schon!

 

Nachruf

für

Thomas Clifford Allbutt / Luca Attanasio / Florence Ballard / Jehuda ben Samuel / Sudirman bin Arshad / Ossip Maximowitsch Brik / Charles Brockden Brown / Christa Anita Brück / Lothar-Günther Buchheim / Jean Chapelain / Jean-Baptiste Camille Corot / Moisés da Costa Amaral / Ferdinand Mongin de Saussure / Hilde Domin / John Fahey / Lawrence Ferlinghetti / Alexander Fesca / Ladislav Fialka / Walter Furrer / Hermann Haack / Theo Harych / Günter Kochan / Fritz Koenig / Oskar Kokoschka / Francesco Lana Terzi / Mark William Lanegan / Nick LaRocca / Lee Eun-ju / Miguel Llobet Solés /Habbo Gerhard Lolling / Charles Lyell / Antonio Machado / Francisco Ignacio Madero Gonzáles / Ibn Mālik / Heinrich Karl Eckard Helmuth von Maltzan / Sándor Márai / Rudolf Mauersberger / Ludwig Mittermaier / Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen / Adam Olearius / August von Parseval / Eleanor Anne Porden / Christoph Hermann Ananda Probst / Eduard Profittlich / Wolfgang Sawallisch / Hans Scholl / Sophie Scholl / Amerigo Vespucci / Andy Warhol / George Washington / Hugo Wolf

 

Das hallte uns böse nach:

1890: in Arizona bricht der Staudamm Walnut Grove, bis zu 150 Tote / San Francisco, 1901: der Passagierdampfer „City of Rio de Janeiro“ sinkt, 138 Tote / 1901 wird Lew Tolstoi wegen „Blasphemischer Äußerungen“ in seinem Roman „Auferstehung“ aus der Russisch-Orthodoxen Kirche ausgeschlossen / 1944 bombardieren amerikanische Flugzeuge Nijwegen, 800 Menschen  sterben, der Angriff sollte eigentlich dem deutschen Kleve gelten / Zwickau, 1960: bei einer Schlagwetterexplosion sterben 123 Bergleute / Sararand, Iran, 2005: ein Erdbeben fordert 600 Todesopfer / Christchurch, Neuseeland, 2011: 165 Menschen sterben bei einem Erdbeben / Valencia, 2024: Hochhausbrand, 10 Tote..

 


23. FEBRUAR

 

Aufklärung

mit

Chaim Arlosoroff / Johann Wilhelm Bartsch / Hans-Jürgen Graf von Blumenthal / Klaus Brasch / Margarethe von Bülow / Matthias Corvinus / Rosalía de Castro / W. E. B. Du Bois / Edgar Ende / Victor Lonzo Fleming / Peter Fonda / Florian Fricke / Giuliano Frullani / Julius Fučik / Casimir Funk / Pier Antonio Quarantotti Gambini / Oleg Iwanowitsch Jankowski / Karl Jaspers / Sámal Joensen-Mikines / Erich Kästner / Richard Lachmann / Elisabeth Langgässer / Walter E. Lautenbacher / Joseph Lebourgeois / Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch / Jiří Menzel / Gustav Nachtigal / Samuel Pepys / Steve Priest / Claude Sautet / Fernanda Seno / Iwan Jegorowitsch Starow / Franz von Stuck / Kasia von Szadurska / B. Traven / Vincent Voiture / Jean-Jacques Waltz / Johnny Winter

 

Da hofften wir auf bessere Verständigung:

Regenburg, 1767 Jacob Christian Schäffer entwickelt einen Vorläufer Waschmaschine / 1893 erhält Rudolf Diesel ein Patent auf den von ihm entwickelten Motor / Chicago, 1905: Gründung des ersten Rotary-Clubs / Basel, 2002: in einer Polizeiaktion gelingt die Sicherstellung der Himmelsscheibe von Nebra / 2024: erste kommerzielle (unbemannte) Mondlandung durch ein US-Unternehmen.

 

Ich notierte:

1986: Nach abenteuerlichem Flug mit zwei kleinen JAK-40 (nach mir wurde beispielsweise wurde ein Hammel in die Kabine geschoben), Landung in Alma-Ata. Und eine völlig andere Welt scheint sich aufzutun: Auf der Gangway lächeln uns Stewardessen entgegen. In der Foyerbar kann die Barfrau tatsächlich sprechen, sagt freundlich: „Guten Tag!“ Es gibt sogar Weißwein, trockenen, wohlschmeckenden Weißwein! Unser Dolmetscher erwartet uns bereits, stellt sich höflich als „Mohammed“ vor und erkundigt sich als erstes nach unserem Wohlbefinden. Keine Frage, die Stimmung steigt wieder. Alma heißt auf kasachisch Apfel, und Ata Vater, Alma-Ata folglich: Vater des Apfels. Danke, Mohammed! Unser Hotel ist westlichen Zuschnitts, Service allerorts und auch die Zimmer sind nicht gift­grün. Zudem heißt es „Otrar“, nach einer hiesigen Stadt, in der seit dem 4. Jahrhundert vor der Zeitrechnung Wissenschaft und Kultur blühte, die dann allerdings von Dschingis Khan zerstört wurde. Am Abend Tanz im Hotel in einem wie eine riesige Jurte gebauten Saal. Die Leute holen dich hier einfach aufs Parkett zu einer Art Ringelreihen, fassen sich und dich bei den Händen und hin und her geht’s im Kreis. Immer wieder wird gefragt, woher wir kommen und auf die Antwort „Aus Frunse“, ernten wir immer wieder Gelächter. Nun gut, wer den Schaden hat, braucht für den Spott eben auch hier nicht zu sorgen.

1999: Am Abend im Fernsehen die Nachricht, dass in Rambouillet weder die Serben und die Kosovo-Albaner trotz extremer Drücke durch Amerikaner und Europäer und trotz Verlängerung eines Ultimatums den vorbereiteten Friedensvertrag unterschrieben. Tja, nun hatte die NATO allerdings angedroht, dass der Schuldige am Scheitern dieser Verhandlungen bestraft werden sollte: die Serben durch Luftangriffe, die Albaner durch Versagen jedweder Unterstützung. Nun sind beide Parteien gleich schuld. Und was sagt da die NATO-Strategie? Balkan eben oder was? Schulterzucken? Oder begreift man langsam auf dieser Welt, dass Politik zunehmend und weltweit versagt, wirklich neues Denken, gekoppelt mit wirklich neuen Handlungsmechanismen her müsste? Dringend! Sondersendungen laufen jedoch überall aufgrund der zunehmenden Lawinenunglücke in den Alpen (am Nachmittag wurden wohl etwa 40 Menschen im österreichischen Paznauntal verschüttet). Schlimm, keine Frage. Was ich jedoch beim besten Willen nicht verstehen kann: Scharenweise fuhren Skitouristen in die akut gefährdeten Regionen, warteten sogar teilweise tagelang, bis verschüttete Straßen in die Pistenorte wieder freigeräumt waren... Lemminge?

2007: Guadeloupe wird ob seiner Form auch Schmetterlingsinsel mit den beiden Flügeln Basse-Terre und Grand-Terre genannt und gehört zu Frankreich, bildet mit Martinique und einigen kleineren Inseln ein Überseedepartement. Wir kommen also in der EU an und können mit Euro bezahlen. Auch von dieser Insel stammt ein Literaturnobelpreisträger: Saint-John Perse, dem im Hauptort Guadeloupes, in Pointe-a-Pitre ein Museum gewidmet und nach dem hier ein großes Einkaufszentrum benannt ist. (Walter Bauer schätzte Saint-John Perse sehr, zitierte ihn oft.) Mit V.S. Naipaul, der aus Trinidad stammt, wäre das Triumphirat der karibischen Literatur-Nobelpreisträger komplett. Solch ein kleines Zipfelchen Welt, und solche Geistesgrößen – Respekt! Vor allem Derek Walcott verkörpert hierbei den selbstbewussten Aufbruch dieser Region nach düsteren Zeiten von Entmenschlichung und Unterdrückung. Nach den Inselhauptstädten St. John’s und Castries wirkt Pointe-a-Pitre wie eine europäische Metropole: Skyline mit einigen 10-15-Geschossern, breite Straßen, sogar eine Autobahn und alles gut aufgeräumt. Wir machen einen Ausflug nach Basse-Terre, dem Vulkanflügel der Doppelinsel, immerhin mit dem höchsten Berg der Kleinen Antillen, dem fast 1.500 m hohen Vulkan Soufrière (so heißen offenbar alle Vulkane der Karibik), der das letzte Mal 1976 aktiv war. An diesem Gebirgszug regnen sich ständig Wolken ab, ergo üppig grüne Vegetation. Wir spazieren durch den Botanischen Garten von Valombreuse. Was für ein Blühen, was für eine Pflanzenpracht! Porzellanrosen und riesige Helikonien, Baumfarne, Brot- und Kaffeebäume und dazwischen schwirren Zuckervögel und Kolibris.

2023: Am Vormittag ins Museum Merseburg. Vorbesichtigung des Spiegelzimmers, das ab 1.3. wieder von der Öffentlichkeit bestaunt werden kann – allerdings nur virtuell. Vor 100 Jahren war es von Merseburg nach Berlin abtransportiert und unweit des Pergamon Altars präsentiert, im Krieg in Kisten verpackt und in preußischen Kulturkellern verschwunden… Seit der Wende hatte ich genervt, Kommunalpolitiker vor allem, das Spiegelzimmer nach Merseburg zurückzuholen, so die Attraktivität der Stadt zu steigern. Da die Stiftung Preußischer Kulturbesitz es aber nicht rauszugeben gedenkt, hat man nun also das Ganze digitalisiert, und es kann mittels VR-Brille wieder bewundert werden. Wow!

 

2024: Erkunden: zuerst Kinderbett & -zimmer, Haus & Garten, Familie, Nachbarschaft, Sexualität, die Musik und nochmals die Musik sowie wieder und wieder die Literatur, dann die Ferne, die Welt, Erfolg, Niederschläge, Schmerz… Und was bleibt da nun noch? - Das Warten? Wozu? Worauf?

 

 

Agonie

für

Emma Adler / José Afonso / Leo Hendrik Baekeland / Giambatista Basile / Johann Matthäus Bechstein / Heinz Berggruen / Benno Besson / Marija Antonowna Corsini / Ernest Christopher Dowson / Klaus Buhé / Edward Elgar / Jack D. Forbes / Melvin Franklin / Carl Friedrich Gauß /Nikolaus Dietrich Giseke / Albrecht Goes / Ofra Haza / Alice Herz-Sommer / Fannie Hurst / Mercédés Adrienne Ramona Manuela Jellinek / Kurt Kauter / John Keats / Friederike Kempner / Zygmunt Krasiński / Christian Friedrich Krull / Stan Laurel / Peter Lustig / Étienne Louis Malus / Nellie Melba / Georg Muffat / Ernst Neufert / Mabel Normand / Quanah Parker / Marigo Posio / Wilhelmine Reichard / Joshua Reynolds / Alexei Niokolajewitsch Tolstoi / Wilhelm Trippe / Friedrich Ludwig Alexander Weidig / Tony Williams / Bartholomäus Ziegenbalg / Stefan Zweig

 

An diesem Tage erschien uns alles zu erstarren:

303 leitet Diokletian die Christenverfolgung im Römischen Reich ein / 1887: Erdbeben an der Côte d’Azur, 2.000 Tote / Pforzheim, 1945: bei einem 22-minütigen alliierten Luftangriff kommen 17.600 der 60.000 Einwohner der Stadt ums Leben / 1997 fordert eine Brandkatastrophe im indischen Orissa über 100 Opfer / Galltür, 1997; durch eine Lawine sterben 31 Menschen / 2002 wird die kolumbianische Präsidentschaftskandidatin Íngrid Betancourt von FARC-Rebellen entführt.

 


24. FEBRUAR

 

Jubiläum

mit

Abu al-Qasim asch-Schabbi / Etel Adnan / Ludvík Aškenazy / Max Black / Johannes Clauberg / Marjorie Courtenay-Latimer / Johan Christian Clausen Dahl / Henri-Pierre Danloux / Jacques de Vaucanson / Konstantin Alexandrowitsh Fedin / Wilhelm Grimm / Winslow Homer / Nicholas Christian „Nicky“ Hopkins / Ibn Battūta / Wsewolod Wjatscheslawowitsch Iwanow / J. Jayalalithaa / Steven „Steve“ Paul Jobs / Karl V. / Georg Friedrich Kauffmann / Helmut Kolle / Charles Le Brun / Erich Loest / Lyncker / Pablo Milanés / George Moore / Uri Orlev / Daniel Payne / Giovanni Pico della Mirandola / Mohsen Schekari / Gabriele Schnaut / Sybilla Schwarz / Friedrich Spielhagen / Anita Steckel / Collin Walcott / Stanisław Ignacy Witkiewicz

 

Das könnte unserer Meinung nach stets bejubelt werden:

1538 endet der zwölfjährige Ungarische Bürgerkrieg mit dem Frieden von Großwardein / Mantua, 1607: Uraufführung der ersten Oper: „L’Orfeo“ von Monteverdi / Mainz, 1793: erstmals finden auf deutschem Boden demokratische Wahlen statt / New Orleans, 1857: erster Mardi Gras-Umzug / 1871 erscheint Charles Darwins „The Descent of Man“.

 

Ich notierte:

1981: Sonntag war ich mit Jeanny zum ersten Mal nach Wurzbach gefahren, wo meine Eltern mit Cathrin Urlaub machten. Doch Montag musste ich schon zurück – Mugge in Gardelegen. Und nun bin ich zum zweiten Mal hier angekommen, nach einer Gewaltfahrt – die ganze Nacht durch hat es geschneit, ein Wunder fast, dass ich hier angekommen bin. Schön, im Warmen, im Bungalow zu sitzen und in die Winterlandschaft hinaus zu gucken. Gleich werde ich mir Skier anschnallen…

1986: Alam-Ata, Stadtrundfahrt. Kathedrale (die einstige), eines der größten hölzernen Bauwerke der Welt, Auesow-Theater, Breshnew-Platz, Museum der Künste, Basar, heftiges Feilschen, Mohammed weist uns auf eine Spezialität des Landes hin: Kumys, vergorene Stutenmilch. Und den Männern raunt er zu (aber so, daß es auch die Frauen hören können): „stärkt Potenz!“ Dann fahren wir vom 700 - 1000 Meter über N.N. liegenden Alma-Ata nach Medeo hinauf, weltberühmte Hochgebirgseisbahn. Aufstieg zuerst zu einer Staumauer, die Alma-Ata vor Schlammlawinen, die hier immer mal wieder verheerend niedergehen (zuletzt 1963 und 1972, woraufhin die Mauer erhöht wurde), schützen sollen. Wenn ich richtig gezählt habe (falls man bei langsam ausgehender Luft überhaupt noch richtig zählen kann): 836 Stufen! Wird mir schwarz vor Augen? Nein, unglaublich schöne Aussicht über die beeindruckenden Eissportanlagen auf die Viertausender des Alatau-Gebirges. Und während in Alma-Ata grimmiger Frost herrscht, ist es hier zum Sonnen warm. Noch weiter bergwärts Museumsjurten eines kasachischen Auls (eines Dorfes). Und der Hauch von Exotik wird noch deutlicher, als unser Guide sagt, dass China nur noch gut 300 Kilometer entfernt liege.

1999: Fast anderthalb Stunden brauche ich am Morgen, um in dichtem Schneetreiben nach Halle ins Künstlerhaus zu kommen. Am Nachmittag werde ich in Leuna zum stellvertretenden Vorsitzenden des Heimatvereins gewählt. Nun gut, das auch noch.

2003: Ich versuche einzulösen, was ich Chief Yacuba jüngst im Sahel versprach, frage also auf der Post nach, was ich bei einer Paketsendung in den Senegal beachten müsse: Zollerklärung und Inhaltsverzeichnis auf Französisch, Porto 181,50 Euro, und an das Dorf des Chiefs kann absolut nicht gesendet werden, es stünden nur einige wenige Postämter in Städten auf den Auslieferungslisten. „Gibt es denn keine größere Stadt in der Nähe?“ „Ja, Kaolack.“ „Kaolack steht auf der Liste.“ Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich mein ganz persönliches Paket für Chief Yacuba an die Caritas schicken möchte. Und wenn Yacuba ein Konto hätte und ich ihm das Porto als Finanzhilfe überwiese, gingen mehr als zwei Drittel davon für Überweisungs- Bank- und sonstige Gebühren drauf (höre ich in meiner Sparkasse). Unglaublich, oder anders: Schön eingefädelt das Ganze von all denen offenbar, die die Entwicklungshilfepfründe unter sich aufgeteilt haben in dieser Welt. Was für eine Erfahrung, dass persönliches Engagement am Ende ins Leere zu laufen verdammt, Hilfe von Mensch zu Mensch unmöglich scheint. Doch so leicht gebe ich im Allgemeinen nicht auf, wenn etwas erst einmal in den Fokus meiner Interessen rückte...

2022: Am Nachmittag ruft mein alter Freund Axel an. Nachdem er im Sommer einen schweren Herzinfarkt hatte, liegt er nun mit Corona straff. Aber das ist nicht der Grund seines Anrufs. Axel will mit mir über den offenbar wahnsinnig gewordenen Putin reden, der letztlich jeden, der noch irgendwo links steht desauvouiert. Das letzte Mal wurde die Ukraine 1941 von den Nazis angegriffen… Explosionen in Kiew… Unfassbar.Vor 8 Jahren waren wir beide zusammen noch hier, fuhren sogar nach Perejaslawl-Chmelnizki, standen am Mahnmal für die unverbrüchliche Freundschaft zwischen dem russischen und dem ukrainischen Volk…

2023: 2023: Am ersten Jahrestag Putins Überfall auf die Ukraine geistern recht unterschiedliche Zahlen durch die Medien, von bis zu 180.000 getöteten oder verwundeten russischen und 150.000 ukrainischen Soldaten ist die Rede. Reuters berichtet: mindestens 43.000 Tote, 57.000 Verletzte, 15.000 Vermisste, 14 Millionen Flüchtlinge, 140.000 zerstörte Gebäude. Und kein Ende, geschweige denn Frieden in Aussicht…

 

Debakel

für

Franny Beecher / Mario Bunge / Octavia Estelle Butler / Henry Cavendish / Clive Cussler / Properzia de ’Rossi / Rukmini Devi Arundale / William Webb Ellis / Ennin / Robert Fulton / Osman Hamdi Bey / Uwe Johnson / Wilhelm Kress Georg Christoph Lichtenberg / Oskar Loerke / Josef Mayr-Nusser / Bobby Moore / Jan Otčenášek / Joseph Jenkin Roberts / Günther Rücker / Claude Shannon / Memphis Slim / Sridevi / Helene Stöcker / Heinrich Waldmann

 

Das schockte uns an diesem Tage:

1875 sinkt das Passagierschiff „Gothenburg“ vor der Küste von Queensland, 113 Menschen sterben / 1942 versenkt ein sowjetisches U-Boot die „Struma“ nahe des Bosporus, 781 jüdische Flüchtlinge und 10 Besatzungsmitglieder kommen ums Leben / 2003 bebt die Erde in Xinjiang, 261 Todesopfer / 2004: Erdbeben in Marokko, 600 Menschen kommen ums Leben / 2022 überfällt Russland die Ukraine.

 


25. FEBRUAR

 

Song

mit

Mushtaq Ahmed / Sabahattin Ali / Meher Baba / Alexei Oktjabrinowitsch Balabanow / Anthony Burgess / Benedetto Croce / Jorge Donn / José de San Martín / Gert Fröbe / Carlo Goldoni / Nicolaus Hieronymus Grundling / George Harrison / Ryō Kawasaki / Martin Kippenberger / Maria Margaretha Kirch / Max Kommerell / Quirinus Kuhlmann / Les Kurbas / Pierre Laporte / Alfredo Marceneiro / Zeppo Marx / Ewald Mataré / Karl May / Lew Alexandrowitsch Mei / Giovanni Battista Morgagni / Heinz Müller / Jusuf Naoum / Siegmund Neuberger / Andranik Ozanian / Christian Franz Paullini / Karl Wilhelm Ramler / Philipp Remelé / Pierre-Auguste Renoir / Santiago Rusiñol / Scipione / Ernst Sorge / Friedrich Spee von Langenfeld / Heinrich Tischler / Jane Colman Turell / Lesja Ukrajinka / José Joaquim Cesário Verde / Rudolf Wacker / Mathias Zdarsky / Bibiana Zeller

 

Das hörten wir gern an diesem Tage:

1837 erhält Thomas Davenport das Patent für seinen Elektromotor / Paris, 1856: beginn des Kongresses zur Beendigung des Krim-Krieges / 1870 wird Hiram Rhodes Revels erster afroamerikanischer Senator / 1947 lösen die Alliierten Preußen vollständig auf / Buenos Aires, 1951: Eröffnung der 1. Panamerikanischen Spiele / Moskau, 1956: Chruschtschow hält seine Geheimrede „Über den Personenkult und seine Folgen“.

 

Ich notierte:

1980: Diese Woche von Montag bis Donnerstag wieder zum Studium nach Leipzig. Und wie meist am ersten Tag im Literaturinstitut fühle ich mich nicht so recht zugehörig, fällt es mir schwer von Tournee- auf Studienbetrieb umzuschalten. Am Abend spielt mir Cathi auf dem Klavier „Alle meine Entchen“ vor. Und es freut sie sichtlich, als ich sage, wie sehr mich erfreut, was sie geübt hat, wie stolz ich auf sie bin.

1999: Heute Versammlung aller im Künstlerhaus beschäftigten oder eingemieteten Künstler. Sogar der Vorsitzende des Hausvereins nimmt teil. Doch so sehr sich der neu eingestellte Koordinator für Bildende Kunst auch bemüht, einen Grundkonsensus von Zusammenarbeit zu befördern, werden doch nur alte Rechte verteidigt, alte Animositäten gepflegt und kleinkariertem Handwerkertum das Wort geredet. Ich hatte mir schon vor Jahren und immer mal wieder den Unmut „unserer“ Künstler zugezogen, indem ich meinte, entweder müsste das Haus nach außen eine gemeinsame künstlerische Idee vertreten oder die Werkstätten müssten professionelle Dienstleistungen anbieten können. Andererseits sage ich Pessimisten gern, dass 1994, als das Haus in freie Trägerschaft gegeben wurde (und auch ich hier zu mitzuarbeiten begann) wohl kaum jemand vermutet hätte, dass wir so lange überleben könnten, Arbeitsplätze schaffen, Projekte durchführen, Stück für Stück reparieren, sanieren, modernisieren...

2000: Am Abend stehe ich beim „Iron Butterfly-Fleetwood Mac“-Abend in der Merseburger Ölgrube auf der Bühne, spiele nach einem Vierteljahrhundert mal wieder einige meiner Lieblingstitel: „Green Manalishi“ und „Butterfley Bleu“.

2022: In der Nacht träumte ich, dass ich wieder zur Musterung musste… Nach dem Aufstehen schalte ich als Erstes den Fernseher ein, um zu erfahren, was in der Ukraine in der Nacht geschah…

 

2024: Hat eigentlich schon mal jemand die Drei Heiligen Affen aktualisiert: einer mit VR-Brille, einer mit Kopfhörern, einer mit Corona-Mundschutz? Obwohl, das könnte man mittlerweile auch gut an einem Kopf bewerkstelligen.

 

Schlussakkord

für

Alexander Archipenko / Anton Stepanowitsch Arenski / Boris Jean Bestianek / Peter Benenson / P. Bhaskaran / Karl Boda / Ian Carr / Cem / Vittoria Colonna / Eddie Constantine / Mário de Andrade / Paco de Lucía / Mário Raul de Morais Andrade / Heinrich Focke / Tsegaye Gabre-Medhin / Laure Gatet / Rudolf Hausner / Mark Hollis / Injannasi / Jurij Iwanowytsch Janowskyj / Erland Josephson / Khushal Khan Khattak / Jakob Levitzki / Otto Ludwig / Thomas Moore / Nikolaus Moreau / Elijah Muhammad / Bill Paxton / Lidia Poët / Pu Songling / Johnnie Ray / Paul Julius Reuter / Emil Alphons Rheinhardt / Mark Rothko / Saitō Mokichi / Christian Schad / Glenn T. Seaborg / Ahmed Sefrioui / Friedrich Spielhagen / Mehmet Turgut / Tennessee Williams / Jan Zajíc

 

Da verklang uns alles an diesem Tage:

1643 überfallen niederländische Söldner Pavonia in der der Kolonie Nieuw Nederland und ermorden 120 indigene Wiechquaeskeck / 1923 beenden französische Truppen die Existenz der Mikronation Freistaat Flaschenhals in Hessen-Nassau / 1992 kommen beim Massaker von Chodschali in Bergkarabach mindestens 200 aserbaidschanische Zivilisten ums Leben / Hebron, 1994. ein jüdischer Siedler tötet 29 Muslime beim Gebet.

 


26. FEBRUAR

 

Versicherung

mit

François Arago / Ott Arder / Eduardo Arroyo / Tex Avery / Robertine Barry / Konstantin Biebl / Buffalo Bill / Johnny Cash / Émile Coué / Henri Crolla / Émile Coué / Honoré Daumier / Fernando de Araújo / Adem Demaçi / Rudolf Dirks / Janus Djurhuus / Fats Domino / Camille Flammarion / John Giblin / Mihri Müşfik Hanım / Bob Hite / Hans Heinz Holz / Hans-Joachim Hörig / Victor Hugo / Ludwig Heinrich von Jakob / John Harvey Kellogg / Nadeschda Konstantinowna Krupskaja / Hermann Lenz / Katre-Liis „Liisi“ Ojama / Tony Randall / Mordecai Seter / Shaftesbury / Adolf Stieler / Levi Strauss / August Thieme / Vercors / Ahmed Zewail

 

Das schien uns Sicherheiten zu bringen:

1871 schließen Otto von Bismarck und Adolphe Thiers den Vorfrieden von Versailles / 1919 wird der Grand Canyon US-Nationalpark / Daventry, England, 1935: erste Radar-Feldversuche / Augsburg, 1948: Eröffnung der Puppenkiste / Göttingen, 1948: Gründung der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften / Spitzbergen, 2008: Einweihung der weltweiten Saatgutbank.

 

Ich notierte:

1980: Dichter Nebel am Morgen, doch halbwegs pünktlich im Literaturinstitut, Prosa-Seminar. Am Nachmittag Dramatik bei Pfeiffer. Und er meint, dass am Institut eigentlich nur eine Seite geschätzt und ausgebildet werde, die künstlerische, während die praktische (Verwertung und Verantwortung) brach läge. Doch beides zusammen mache doch erst den Künstler! Am Abend Bergfest im Institut, mit Büttenreden uns so. Nun ja. Um zehn verschwinde ich. Jeanny holt mich vom Zug in Bad Dürrenberg mit dem Moped ab.

1986: Heute nun also zurück nach Moskau. Abflug 9.30 Uhr Mittelasiatischer Zeit. Herrliche Sicht, herrliches Flugwetter, und ich sitze sogar am Fenster. Meine Hoffnung, irgendwo in den Weiten der Steppe den legendären Weltraumbahnhof Baikonur zu entdecken, erfüllt sich jedoch nicht, liegt wohl zu weit „ab vom Schuss“. Gegen 11.00 Uhr (Moskauer Zeit) Landung in Domodedowo. Zwar scheint auch hier die Sonne, aber die Thermometer zeigen 25 Grad unter Null! So kalt ist es, dass dem Bus, der uns ins Hotel bringen soll, der Diesel einfror, der Fahrer mit einer Lötlampe die Treibstoffleitung erst beängstigend auftaut. Und wohin man blickt, hängen Parteitagsplakate. In der Hotel-Rezeption liegt neben der „Prawda“ auch ausländische Zeitungen aus, darunter sogar eine deutschsprachige, die heutige „Volksstimme - Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs“. Na, da schau her. Titelzeile: „Gorbatschow: ‘Sind an einem Wendepunkt!’“

1990: Wetter außer Kontrolle: nach den wärmsten Tagen zu dieser Jahreszeit seit Beginn der Wetteraufzeichnungen nun zum wiederholten Male Orkan. Gerät auch mir alles außer Kontrolle? – In der Post heute die schriftliche Kündigung meines Freundschaftsvertrages mit den Leunawerken.

1999: Am Vormittag zu einer Projektbesprechung in die Merseburger Goethe-Schule. Von 1964 bis 1968 lernte ich hier, nun bittet man mich künstlerische Aktivitäten im Goethe-Jahr zu leiten, zum Festakt anlässlich Goethes 250. Geburtstag im September in der Aula zu reden. Das ehrt einen schon, keine Frage. Mittags eine Besprechung mit dem Presse-Chef der Leunaer Elf-Raffinerie. Er lädt mich zu einem Arbeitsessen in die Goethe-Stuben nach Bad Lauchstädt ein. Na, das passt selbstredend. Gute Küche - ich esse zum ersten Mal Steckrübensuppe -, gutes Gespräch, das sogar einen kleinen Auftrag für mich und einen fürs Künstlerhaus bringt.

2001: Mir scheint, mein Schreiben verlohne sich. Das, was ich in tagtäglicher Mühsal hervorbringe, bringt erstmals per Saldo Erfolgt. Allerdings habe ich die Fiktionen zugunsten Projektanträgen und –abrechnungen, Arbeits- und Geschäftsberichten, Tagungsprotokollen, Pressemeldungen, Redevorlagen und dergleichen Texte aufgegeben. Und ich hoffe, dass ich noch ein Weilchen in dieser Realität leben kann. Helau!

2003: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten: In der Nacht höre ich in mir plötzlich Schlager, die meine Eltern in den Fünfzigern, als ich also noch ganz klein war, hörten, und die ich seitdem gewiss nie wieder hörte, die ich glaubte, völlig vergessen zu haben: „Zwei Schimmel, ein Wagen / vier Räder, die uns tragen / wir singen und bringen / und beide ins Glück…“-  Blödsinn oder Warnung?

2022: Am Vormittag bin ich von einem Stadtführer, den ich vor 30 Jahren mal ausgebildet hatte, und der sich nun bemüht, neue Stadtführer zu gewinnen, eingeladen, über Merseburg zu erzählen, zu lesen, mit ihnen zu diskutieren. Gutes Gefühl, etwas zielgerichtet weitergeben zu können.

 

Verteufelung

für

Anandi Gopal Joshi / Hans Andorn / Kârale Andreassen / Jorge de Montemayor / Karl Dedecius / Ruth Drexel / Roy Eldridge / Fernandel / Slim Gaillard / Johann George Ludwig Hesekiel / Karl Theodor Jaspers / Kurt Johnen / David Kindt / Gustavs Klucis / Stefan Lisewski / Mouloud Mammeri / Trayvon Martin / Buddy Miles / Hermann Obrist / Hazy Osterwald / René Pollesch / Fritz J. Raddatz / Jef Raskin / Avjit Roy / Alois Senefelder / Johan Tobias Sergel / Michael Somare / Władisław Starewicz / Gábor Szabó / Giuseppe Tartini / Max Taut / Johann Heirnich Wilhelm Tischbein / Vico Torriani / Boris Trajkovski / Arturo Uslar Pietri / Otto Wallach

 

Das klang uns höllisch nach:

1852 sinkt vor Südafrika der Truppentransporter „Birkenhead“, 450 Tote / 1885 wird auf der Berliner Afrikakonferenz der Kongo als Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II. bestätigt / 1918 versenkt ein deutsche U-Boot das Hospitalschiff „Glenart Castle“ im Bristolkanal, 153 Patienten, Krankenschwestern und Seeleute kommen ums Leben / West Virginia. 1972: der Buffalo-Creek-Damm bricht, 125 Todesopfer / / New York, 1993 verüben islamische Terrorosten einen Anschlag auf das World Trade Center, 6 Menschen sterben / 1995: Bankrott der Investmentbank Barings nach Fehlspekulationen / 2023 havariert vor Kalabrien ein Kutter, mindestens 72 Migranten kommen ums Leben..

 


27. FEBRUAR

 

Lektion

mit

Winifred Atwell / Mildred Bailey / Milo Barus / Hans Bien / Frederick Catherwood / Lúcio Costa / Carel Pietersz Fabritius / Vera Friedländer / Deniz Gezmiş / Dexter Gordon / Peter Hamm / Alfred Hrdlicka / Kanō Hōgai / Konstantin der Große / Lotte Lehmann / Henry Wadsworth Longfellow / George Herbert Mead / Franz Mehring / Guy Mitchell / Pjotr Nikolajewitsch Nesterow / Bertha Pappenheim / Hubert Parry / Paul Ricœr / Siegfried Schnabl / Martin Selber / Irwin Shaw / Joaquín Sorolla / John Steinbeck / Rudolf Steiner / Elizabeth Taylor / Wilhelm Tkaczyk / Václav Beneš Třebízský / Inge Trisch / Manuel Ugarte / Grethe Weiser

 

Das schien uns sinnvoll zu belehren:

1617 beendet der Friedensschluss von Stolbowo den Ingermanländischen Krieg zwischen Russland und Schweden / London, 1693: die erste Frauenzeitschrift der Welt erscheint: „The Ladie’s Mercury“ / 1844 wird die Dominikanische Republik unabhängig von Haiti / 1848 beginnt die Badische Revolution / 1976: Ausrufung der Demokratischen Arabischen Republik Westsahara durch die Frente Polisario.

 

Ich notierte:

1980: Am Nachmittag in Leipzig mit Wolfgang de Bruyn in den „Kaffeebaum“. Gutes Gespräch, wir haben ähnliche literarische Ansätze. Danach ins Dimitroff-Museum, dort hängt eine interessante Grafik-Ausstellung, die ich sehen will: Gerhart Bettermann. Zu Hause ein Schreiben vom Finanzamt: ich muss Steuern nachzahlen. Ach, Scheiße.

1986: Fahrt zum Wagankowski-Friedhof. Grab Jessinins, Grab Wissotzkys und ein Hinweis-Schild auf das Grab der Zwetajewa, das wir in all den Schneemassen aber nicht finden. Vielleicht auch, da es im Gegensatz zum Grab Wissotzkys nicht durch Unmengen frischer Blumen geschmückt ist? Nicht durch Milizionäre bewacht wird? Vorm Jungfrauenkloster wird uns erklärt, daß hierhin einst in Ungnade gefallene Frauen verbannt wurden. Doch auch Boris Godunow soll hier eine Zeitlang eingesessen haben, bis das Volk sich vor den Klostertoren versammelte und lautstark für ihn den Zarenthron einforderte. Am Nachmittag Spaziergang über den Arbat, das Künstlerviertel. Nirgends sonst allerdings scheinen die Leute aggressiver, ständig wird man angerempelt, finstere Blicke. Nichts zu spüren von der Parteitags-Euphorie hier.

1999: Ein herrlicher erster Vorfrühlingstag, strahlender Sonnenschein, Temperaturen um 10°C, in allen Gärten ringsum tauchen die Nachbarn auf, man grüßt sich gut gelaunt und wie nach einem tiefen Winterschlaf, Laub wird geharkt, Bäume beschnitten, Autos geputzt. Am Nachmittag Spaziergang Erschreckend zu sehen, wie viele Fenster seit der Wende blind geworden sind, wie viele Wohnungen und ganze Häuser in Leuna mittlerweile leer stehen und verwahrlosen.

2018: Singapur. Hier waren wir vor 9 Jahren schon mal. Allerdings hatte Jeanny damals der Klimawechsel geschockt – vom tiefsten deutschen Winter in tropischste Schwüle – und eine leise Erkältung wuchs sich aggressiv zu einer schweren Angina aus. Sie erinnert sich also bestenfalls an ein Hotelzimmer, und dass ich ihr von kleinen Erkundungen Leckeres mitbrachte: Blätterteigtaschen, Durian-Saft… Damals stachen wir dann in die entgegengesetzte Richtung in See, schipperten gen Osten, gen China. Nun hoffen wir, dass auch unser Aufenthalt in Singapur eine entgegensetzte Erfahrung bringt, bevor wir gen Westen aufbrechen… Manches erkennen wir sogleich wieder hier, anderes gab es bei unserem ersten Besuch noch gar nicht. So die Sehenswürdigkeiten, die wir nun vor allem besichtigen, die Super Trees, der Flower Dome – das größte Gewächshaus der Welt immerhin - und der Cloud Forest der Gardens by the bay. Damals gab’s das Land, auf dem diese Attraktionen errichtet wurden, noch gar nicht. Da war nur Meer. Singapur schüttet fleißig Land auf, vergrößert sich ständig. Die Super Trees stehen in einem bestens gepflegten Parkteil (wobei nach wie vor die ganze Millionenstadt wie geleckt erscheint), ragen etwa zwischen 25 und 50 Meter hoch auf - ihre Betonstämme von exotischen Pflanzen berankt – ihr Stahlgeäst bietet des Nachts eine imposante Lichtshow. Und zwischen zwei Supertrees spannt sich auf Asthöhe ein Skywalk. Schön, einfach schön. Und nachgerade fantastisch erscheinen uns die beiden gigantischen Glashallen des Flowers Domes und des Cloud Forest. Was für eine Fülle von Pflanzen aus allen Regionen der Welt – nicht wenige haben wir noch nie gesehen – was für eine kluge Anordnung und Gestaltung der Ausstellung – die multimedialen Bestandteile natürlich auf dem aktuellsten Stand der Technik… Das Cloud-Forest-House erweist sich als ein gewaltiger künstlicher Felsen samt Wasserfall, Höhlen und Serpentinenwegen voller Überraschungen: diese Farbenpracht durchschwebt von feinen künstlichen Nebeln und hie und da tauchen Kultgegenstände und Masken indigener Völker auf. Und in den Museumsräumen behutsam Didaktisches zur Bedeutung und zur unbedingten Erhaltung, zur Rettung der Regenwälder… Eine Milliarde Dollar soll diese Anlage gekostet haben. Keine Frage, weise angelegtes Geld. Und die Besucherströme (gut, dass wir frühmorgens, sogleich bei der Öffnung hier waren) dürften gutes Geld in die Stadtkasse bringen. Das sollte sich so mancher deutsche Kämmerer mal ansehen, genau ansehen. Zum Abschluss ins mittlerweile (obwohl ebenso jung wie die Gardens by the bay) weltberühmte Marina Bay Sands Hotel, ja, wo man auf dem Dach, im 57. Stock im Pool schwimmend die Skyline vor Augen hat. Baden dürfen wir nicht, das ist Hotelgästen vorbehalten, aber immerhin im 56. Stock den Rundumblick genießen. Bei unserem ersten Besuch Singapurs hatten wir das andere weltberühmte Hotel dieser Stadt besichtigt, das altehrwürdige Raffles, wo auch Joseph Conrad abgestiegen war und sein Bildporträt mit „Lord Jim“ unterschrieben hatte. Hier wurde angeblich der Singapure Sling erfunden. Klar, dass wir uns am Abend einen solchen genehmigen.

 

2024: Solange sich mit der Ausbeutung von Umwelt mehr Geld verdienen lässt als mit deren Schutz, wird es weiter unglaubliche bis absurde Ideen geben: so überlegt wohl der Welt-Skiverband, Skisprung-Wettbewerbe alsbald auch in Brasilien oder Saudi-Arabien durchzuführen.

 

Läuterung

für

Aaron Allston / Mirza Fath Ali Axundov / Anna Magdalena Bach / Gholam Hossein Banan / Peter Behrens / Alexander Profirjewitsch Borodin / Gustav Bunsen / Ettore Chimeri / Carlos Manuel de Céspedes / Adriaan „Ad“ Dekkers / Gustav Friedrich Heinrich Paul von Diest / Lillian Gish / Yvan Goll / Siegmund Haber / Stéphane Hessel / Ernst Hottenroth / Georg Friedrich Kauffmann / Kimura Kenkadō / Nadeschda Konstantinowna Krupskaja / John Lanchbery / Bernd Leistner / Richard Lewis / Konrad Lorenz / Frankie Lymon / Spike Milligan / Boris Jefimowitsch Nemzow / Leonard Nimoy / Kostis Palamas / Iwan Petrowitsch Pawlow / Ludwig Rabiner / Günther Werner Hans Ramin / Ivan Rebroff / France-Albert René / Johann Georg Sulzer / Tanikaze Kajinosuke / Johannes Tralow / J. T. Walsh / Robert J. Widlar / Yi I

 

An diesem Tage fühlten wir uns geläutert:

1916 läuft der britische Passagierdampfer „Maloja“ vor Dover auf eine Mine und sinkt, 155 Menschen ertrinken / Berlin, 1933: Reichstagsbrand / Sumqayit, 1988: Pogrom an der armenischen Bevölkerung, mehr als 50 Tote / 2014 beginnt die russische Annexion der Krim.

 


28. FEBRUAR

 

Satisfaktion

mit

Kurt Absalon / Elias Parish Alvars / Tengku Amir Hamzah / Berthold Auerbach / René Beeh / Johann Beer / Gérard Blitz / Willie Bobo / Roman Anton Boos / Henri Breuil / Jost Bürgi / René-Antoine Ferchault de Réaumur / John Fahey / René-Antoine Ferchault de Réaumur / Hercule Florence / Frank Gehry / Thomas Theodor Heine / Ludwig Hirsch / Brian Jones / Hans Hermann von Katte / Karl Maria Kertbeny /Mohammad Ibraheem Khwakhuzhi / Karl Leisner / Francesco Lo Savio / Peter Brian Medawar / Vincente Minnelli / Michel Eyquem de Montaigne / Richard Bernhard Hermann Mühlfeld / Rudolf Nilsen / Marcel Pagnol / Linus Pauling / Klaus Piontek / Joachim Rachel / Ernest Renan / Martiros Sarjan / Johann Christian Senckenberg / Willi Sitte / Joe South / B. Traven / Koloman Wallisch / Juliusz Zarębski / Mihály Zichy

 

Das schien uns zu befriedigen an diesem Tage:

1827: in Maryland wird ein Gesetz zur Gründung der Baltimore and Ohio Railroad verabschiedet, der ersten Eisenbahngesellschaft der USA / 1935 wird Nylon patentiert / 1953 enträtseln James Watson und Francis Crick die Struktur der DNS / 2013 endet das Pontifikat von Papst Benedikt XVI. nach dessen Amtsverzicht.

 

Ich notierte:

1974: Ein überdurchschnittlicher 0-8-15-Tag: Aufstehen, Arbeit, Feierabend, Probe, Fernsehen, Schlafen. Ich musste mich wahrhaft philosophisch konzentrieren, um diesen einen Satz über diesen Tag herauszukristallisieren. Und somit unterschied sich denn dieser von durchschnittlichen 0-8-15-Tagen.

1982: Der Spielraum wird immer enger, der mir für „Persönliches“ bleibt. Die „Tage“ ziehen mich mehr und mehr in Abhängigkeiten. Aber ich merke auch mehr und mehr, dass diese „Tage“ eine große Chance sind, sich einen Namen zu machen. Der Weg nach vorn geht nur übers Engagement. Das ist dann natürlich auch sofort Erfolgszwang spürbar. Neulich hatte ich wieder eine Veranstaltung für Kinder, sang dabei erstmals von mir geschriebene Kinderlieder – und kam gut an. Gut vielleicht auch – ich habe kaum noch Zeit, mir selbst „nachzuhängen“, endlos alles zu zergrübeln. Ja, das bleibt vielleicht manches oberflächlich, und doch dringe ich in ungeahnte Bereiche der Gesellschaft vor. Traumhaftes wird Realität. Da muss man sich bestens zurechtfinden, also nochmals: Erfolgszwang!

2021: Die Corona-Kennzahlen werden nicht kleiner, sondern steigen wieder an, zumindest da, wo man mit dem Impfen nicht vorankommt, wie in Deutschland beispielsweise. Aufgrund grassierender Mutanten wird eine dritte Welle befürchtet. Mir war die letzten Tage etwas übel, seltsame Schmerzen in der rechten Seite vor allem. Eine Zerrung? Doch was schießt einem da so durch den Kopf… Ja, man wird langsam zum Hypochonder.

2022: Gegen Morgen gellen Sirenen durch Leuna. Da sitzt Du schlagartig im Bett, nachdem Putin gestern Nachmittag seine Atomtruppen in Alarmbereitschaft versetzte…

2023: Talkshows laufen in diesen Tagen immer nach dem gleichen Schema ab: der/die Moderator/in hat sich 2-3 Gäste eingeladen, die für den totalen Sieg der Ukraine über Russland sind, und einen weiteren Gast, der versucht, Friedensverhandlungen das Wort zu reden, ins Wort fallen und gemeinsam niederbrüllen.

2024: Im stream "Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr" - beachtenswerter Film, bestens in meine Stimmungslage passend, großartige schauspielerische Leistung von Timothy Spall.

 

Schock

für

Eriks Ādamsons / Winifred Atwell / Hermann Burger / David Byron /  Cuauhtémoc / Chris Curtis / Alphonse de Lamartine / Freeman J. Dyson / Friedrich Ebert / Annie Girardot / Henry James / Yaşar Kemal / Carmen Laforet / Francesco Maria Molza / Charles Kenneth Michael Scott Moncrieff / Franz Monjau / Vasile Ursu Nicola / Anny Ondra / Sven Olof Joachim Palme / Jehuda Pen / André Previn / Raffael / Jane Russell / Mike Smith / Billy Thorpe / Aegidius Tschudi / Alexandre Émile Jean Yersin / Helmut Zacharias / Mihály Zichy

 

Das schockierte uns:

1890 sinkt die RMS „Quetta“ in der Torres-Straße vor Quensland, 134 Tote / 1897 wird die letzte madagassische Königin ins Exil verbannt / 1947 beginnt in Taiwan ein Aufstand, bei dem über 10.000 Todesopfer zu beklagen sind / 1991: Erdbeben in Armenien und Aserbaidschan, 1.100 Tote / Waco, 1993: Feuergefecht zwischen radikalen Davidianern und Ermittlungsbeamten, bei der anschließenden 51-tägigen Belagerung des Sektenquartiers sterben 82 Menschen / 1997: Erdbeben im Nord-Iran, 3.000 Tote / Larisa, Griechenland, 2023: Zugunglück, mindestens 42 Menschen kommen ums Leben.

 

 

29. FEBRUAR

 

Crescendo

mit

Fjodor Alexandrowitsch Abramow / Balthus / Margit Carstensen / Dee Brown / John Byrom / Kan Chazan / Rukmini Devi Arundale / James „Jimmy“ Dorsey / Dennis Farina / Herman Hollerith / Herbert Ihering / Michèle Morgan / Aurelio Lomi / Seymour Papert / Gioachino Rossini / Dinah Shore / Bernd Witthüser / Adolf Wölfi / Adele Zay

 

Da vernahmen wir langsam etwas deutlicher:

1880: Durchstich des Gotthardtunnels / 1996 endet nach 1.425 Tagen die Belagerung Sarajevos durch serbische Truppen, die längste des 20. Jahrhunderts / Doha, 2020: Unterzeichnung eines Abkommens zur Beendigung des Afghanistan-Krieges zwischen den USA und den Taliban.

 

Ich notierte:

1996: Julius Cäsar also haben wir diesen Schalttag zu verdanken, lese ich in der Zeitung. Kaisergeschenk, alle vier Jahre wieder. Und ich, wie habe ich diese besondere Zeit genutzt: Morgens an einer Rede geschrieben, dann recherchiert, für ‘nen Artikel, neuesten Tratsch erduldet, später, gegen Mittag telefoniert und gefaxt, über Rezensionen gestritten, schließlich über Rechte gefeilscht, am Abend Rechnungen kopiert, Briefe beantwortet und zu guter Letzt noch ein paar Minuten vor mich hingestarrt. Ich danke dir, Julius Cäsar.

2024: Am Nachmittag werden auf einen Schlag zwei meiner neuen Bücher angeliefert: WBs „Verse von einer Universität/Logbuch“ und mein „Figuricon“. Na, da habe ich doch gleich was zum Kaupelen, denn am Abend nach Halle ins Literaturhaus. Mein Freund Willi stellt seinen soeben bei Wallstein erschienenen neuen Gedichtband „Hohe See und Niemands Land“ vor. Thomas Kunst moderiert. Runde, inspirierende Veranstaltung.

 

 

 

Diminuendo

für

Avraham Barkai / Luigi Brogna / André-Charels Boulle / Ramon Casa i Carbó / Patrick Hamilton / Davy Jones / Ferenc Karinthy / Anne Marie Moss / Ruth Pitter / Louise Rennison / Emily Ruete / Paul Schallück / Bill Smith / Johann Andreas Stein / Tatsuya Takahashi

 

Da wurde uns langsam alles leiser:

Agadir, 1960: bei einem Erdbeben kommen bis zu 15.000 Menschen ums Leben / Innsbruck, 1964: beim Landeanflug kollidiert eine Bristol Britannia mit einem Berg, alle 83 Insassen sterben / Hohenthurm, 1984: Zugunglück, 11 Tote/ Arequipa, Peru, 1996: eine Boeing 737 prallt gegen einen Berg, 123 Tote.

 

 

 

 


1. MÄRZ

 

Overtüre

mit

Akutagawa Ryūnisuke /Albert Ammons / Tony Ashton / Qandeel Baloch / Harry Belafonte / Sandro Botticelli / Rudolf Buchheim / Karen Anne Carpenter / Frédérik Chopin / Henriette Davidis / Martin Disler / Georg Ebers / Ralph Waldo Ellison / Beppe Fenoglio / Gidō Shūshin / Franz Hanfstaengl / Christoph Friedrich Heinle / William Dean Howells / Gagik Howunz / Kawatake Mokuami / Oskar Kokoschka / Joachim Edlef Köppen / Robert Lowell / Georgi Iwanow Markow / Martial / Alton Glenn Miller / Emmanuel Mounier / Georg Mylius / David Niven / Okamoto Kanoko / Leze Qena / Gert Prokop / Jitzchak Rabin / Jacques Rivette / Roger Rössing / Arhur Ruppin / Meta von Salis / Johann Balthasar Schupp / Georg Simmel / Giles Lytton Strachey / Adolfo Wildt

 

Das klang uns nach einem guten Anfang:

Paris, 1382: Beginn des Aufstandes der Maillotins / 1700: in den protestantischen Teilen des Heiligen Römischen Reiches und in Dänemark wir der Gregorianische Kalender eingeführt, in Schweden erst 1753 / Paraguay, 1870: Ende des Tripel-Allinaz-Krieges / 1872: Gründung des Yellowstone-Parks, des ersten Nationalparks der Welt / Wuppertal, 1901: die Schwebebahn nimmt ihren Betrieb auf / St. Louis, Mussouri: 1912 springt Albert Berry als erster Mensch mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug ab / 1952 gibt Großbritannien Helgoland an Deutschland zurück / Denver, 1963: erste Lebertransplantation an einem Menschen / 1992 erklärt sich Bosnien-Herzegowina für unabhängig von Jugoslawien / 1994 tritt Südafrika seine Exklave Walvis Bay an Namibia ab / 1999 tritt die Ottawa-Konvention zur Ächtung von Personenminen in Kraft.

 

Ich notierte:

1999: Der nächste Ausrichter der Landesliteraturtage, die Stadt Naumburg, möchte möglichst keine Autoren des Landes einladen. Na, da fühlt man sich doch in seiner Autorenehre schön gekränkt. Doch keine Frage: immer wieder und immer drastischer greifen in der ganzen Literatur- und Kunstszene Marktmechanismen. Was für eine Verengung, Verödung, Verwüstung gewachsener Literatur- und Kunstlandschaften. Und wer heimst da eigentlich wessen Geld ein! Und zum Thema Naumburg kocht in mir auch gleich wieder die alte, aus meiner Merseburger Stadtschreiberzeit herrührende „Privatfehde“ mit dem Naumburger Domstift ein, das auch für die Verwaltung des Merseburger Domes verantwortlich ist, diesen jedoch samt allen Präsentationsmöglichkeiten der Merseburger Zaubersprüche zum Wohle des (für deutsche Geschichte bei weitem nicht so bedeutungsvollen) Naumburger Domes (will sagen: zur Ankurbelung des Fördermittelsegens) verkommen lässt...

2018: Nach problemloser Fahrt durch die noch vor wenigen Jahren durch Piratenüberfälle höchst gefährdeter Straße von Malakka Ankunft in Port Klang. Und mit einem Volant verzierten Bus in die Hauptstadt Malaysias, nach Kuala Lumpur. Die ersten Straßenzüge, die ersten Häuser, die wir sehen, erscheinen zu Singapur wie Tag und Nacht. Doch unsere Fremdenführerin klärt rasch auf, dass hier in Hafennähe vor allem Leute wohnen, die im Hafen oder anschließenden Gewerken arbeiten. Diese Tätigkeiten wollen Einheimische, wollen Malayen im Allgemeinen nicht mehr ausführen, also wurden und werden Gastarbeiter angeheuert – Indonesier vor allem, aber auch Philippinos, Bangla Deshi und Nepalesen. (Kommt uns irgendwie bekannt vor…) Die Unterkünfte für diese Arbeiter stellen die jeweiligen Firmen, also wird hier auf Deibel kommt raus gespart, sieht’s hier aus, wies hier eben aussieht… Tatsächlich werden die Straßen, umso mehr wir uns Kuala Lumpur nähern, immer besser, der Müll verschwindet und die Häuser werden ansehnlich. Und im hochmodernen, quicklebendigen Zentrum der Hauptstadt haben wir wieder singapursche Verhältnisse… Im Fernsehturm, dem KL-Tower, bringt uns ein Fahrstuhl rasch auf die Aussichtsplattform in etwa 270 Meter Höhe. Imposante Wolkenkratzer ringsum. Anschließend besichtigen wir wohl das bekanntest Gebäude dieser Stadt, die Petronas-Doppeltürme, vor wenigen Jahren mit 452 m noch das höchste Gebäude der Welt (heuer nur noch auf Platz 15 dieser Liste…). Nicht so einfach, dieses Riesengebäude im Ganzen zu fotografieren! Doch in einem anschließenden wunderbar gepflegten und luftigen Park gelingt dann auch das. Und glücklicherweise geraten wir sogar noch in Brauchtumgsgeschehen: Am letzten Tag des chinesischen Neujahrsfestes (die Chinesen stellen im islamischen Staat Malaysia die mit Abstand größte Minderheit) werden aus einem Bistro durch Tanz-Löwen die bösen Geister für ein gutes neues Jahr vertrieben. Dieses Procedere sieht dem der Spergauer Lichtmeß nicht unähnlich. Schau an!

2020: Mir träumte, dass ich ein Corona-Tagebuch als Babelei beginne, wohl, damit es ab und an noch was zu Lachen gäbe. Tatsächlich in der Nachrichten: in Bayern prügeln Zechkumpane einen Mann krankenhausreif, als der plötzlich zu husten anfängt, doch die Saufrunde nicht freiwillig verlassen will… im Westfälischen gibt es in einem Supermarkt eine Prügelei um gehastertes Mehl… im Hannoverranischen um Toilettenpapier… Allein im schwerstbetroffenen Italien sterben allein am Frühlingsanfang jedoch mehr als 600 Menschen an der Seuche, in Deutschland registriert man mehr als 6.000 Neuinfinzierte an einem Tag…

2022: Am Vormittag nach Spergau. Mit meinem alten Freund Eichi zum Grab unseres alten Freundes Peter. Die Madam, die Peter offenkundig beerbt, hatte den Beisetzungstermin vor uns geheim gehalten, warum auch immer. Vorgestern war er stillschweigend, „im kleinsten Kreis“ beigesetzt wurden. Was für ein Trauerspiel.

 

Oratorium

für

Schores Iwanowitsch Alfjorow / Iris Apfel / Louis Appia / Oskar Baum / Jürgen Borchert / Ernesto Cardenal / Jackie Coogan / Tristan Corbière / Otto von Corvin / Gabriele D’Annunzio / Lucio Dalla / Ólafur Egilsson / Richard Epple / Richard de Fournival / Paula Fox / Girolamo Frescobaldi / George Herbert / Fritz Houtermans / Ki no Haseo / Arthur Koestler / Kume Masao / Hans Leifheim / Edward Moor / Friedrich Louis Nulandt / Ernst Oppler / Friedrich Carl Petit / Gert Prokop / Alain Resnais / David Rubinger / Frank Teschemacher / Robert Henry „Bobby” Timmons / Jacobus Henricus van’t Hoff / Charles Varlet / Johann Jacob Friedrich Weinbrenner / Oswald Wiersich

 

An diesem Tage vernahmen wir bitter Nachklingendes:

1420 ruft Papst Martin V. zu einem Kreuzzug gegen die Hussiten auf / 1562 löst das Massaker von Wassy die Hugenottenkriege aus / 1694 sinken in einem Orkan sieben englische Kriegsschiffe vor Gibraltar / 823 Tote / Kairo, 1811: Muhammad Ali Pascha lässt 450 Mamlucken ermorden / 1879: setzt des zehnjährigen Salpeterkrieges zwischen Bolivien und Chile ein / Korea, 1919: Beginn des Aufstandes gegen die japanische Besatzung, bis zur Niederschlagung im August kommen etwa 7.500 Menschen ums Leben / 1932 richtet Japan den Marionettenstaat Mandschuko ein / Bikini-Atoll, 1954: bei einem amerikanischen Wasserstoffbombentest werden mehr 240 Menschen verstrahlt / Corsier-de-Vevey, 1978: der Sarg Charlie Chaplins wird gestohlen, um Lösegeld zu erpressen.

 


2. MÄRZ

 

Chorus

mit

Scholem Alejchem / Melchora Aquino / János Arany / Lykke Aresin / Desi Arnaz / John Bernecker / Walter Bruch / Jackson C. Frank / Georg Gustav Fülleborn / William Rory Gallagher / Howard Garns / David Goodis / Michail Sergejewitsch Gorbatschow / Ernst Haas / Itō Jakuchū / Nikos Kazantzakis / Siegfried Köhler / Kurt Kretschmann / Lee Sun-kyun / Tony Meehan / Multatuli / Willis O’Brian / Elias Ravian / Lou Reed / Johann Samuel Schroeter / Franz von Sickingen / Bedřich Smetana / Alessandro Vallebona / Douglas „Doug“ Watkins / Kurt Julian Weill / Wolfgang Winkler / Tom Wolfe

 

Da meinten wir konstruktiv improvisieren zu können:

London, 1819: ein erstes Gaswerk nimmt seinen Betrieb auf / 1836: Texas erklärt seine Unabhängigkeit von Mexiko / Emden, 1861: Gründung des Vereins zur Menschrettung auf See / 1949 endet auf der Carswell Air Force Base im texanischen Fort Worth nach 94 Stunden in der Luft die erste Non-Stop-Weltumrundung / 1956 wird Marokko unabhängig von Frankreich / Toulouse, 1969: Erstflug der „Concorde“ / 1970 ruft die ehemalige englische Kronkolonie Rhodesien, das spätere Simbabwe, seine Unabhängigkeit aus / 1989 beschließen 12 Staaten der EU zum Schutz der Ozonschicht Fluorchlorkohlenwassersroffe zu verbieten.

 

Ich notierte:

1999: Beeindruckende Szene bei Saramago: Die an der unerklärliche Blindheit erkrankten legen sich in der Irrenanstalt, in die sich zur Quarantäne eingeliefert wurden, die Arme auf die Schultern, um gemeinsam zur Toilette zu finden. Natürlich schimmert einem da das Bruegel-Zitat (samt Walter Bauers Bild-Gedicht) auf, von der Metapher für heutigen Menschheits-Alltag ganz zu schweigen...

2000: In Athen, wo wir gegen 16.30 Uhr Ortszeit ohne Probleme landen, ist es tatsächlich und wie erhofft frühlingshaft: zwar windig, doch sonnig und 17°C. Auschecken völlig unkompliziert, und auch der gebuchte Transit zum Hotel klappt. Ja, der freundliche Taxifahrer spricht sogar Deutsch! Da ist selbst der chaotische Verkehr zu ertragen. Autos in immer enger werdenden Straßen dicht an dicht, mehr stehend als vorankommend, und durch kaum auszumachende Lücken kurven rasant Moped- und Motorradfahrer und natürlich fast alle unbehelmt... Gegen 18.00 Uhr Ankunft im Hotel, das inmitten der Plaka, der Athener Altstadt liegt. Zimmer mit Balkon und phantastischer Aussicht zur greifbar nahen Akropolis hinüber. Gepäck abstellen, schnell frisch machen und los zum ersten Erkundungsbummel. Die eigentliche Plaka unterhalb der Akropolis erscheint uns als fast dörfliches Idyll inmitten dieser lauten, quirligen Millionenstadt. Schließlich erreichen wir den Areopag, wo einst Gericht gehalten, Orest beispielsweise verurteilt wurde, aber auch der Apostel Paulus zu den Athenern predigte. Hier oben tost ein Sturm vom Meer herüber, der einen fast umhaut. Wir suchen Schutz in einer Ouzeria oberhalb der griechischen Agora, wo Platon und Sokrates wandelten. Na, darauf einen Ouzo! Später finden wir eine Taverne, wo live Harfe gespielt wird. Und auf den Straßen der Plaka wimmelts mehr und mehr von bunten Volks. Karneval in Athen. Meingott! Fast jeder griechische Jeck hat eine Plastikkeule und haut damit anderen griechischen Jecken auf den Kopf. Ob’s hilft?

2022: Nun starb in diesem Jahr schon der dritte meiner alten Freunde: Nach Dietmar Rother Anfang Januar und Stevan Tontic vor wenigen Wochen nun Peter Gehre. Als ich noch Rockmusik spielte, war Peter einer meiner Fans, und als ich die Haare längst kurz trug, stellte Peter stolz seine graue Mähne zu Schau. Er hatte ein Vision, wollte die Welt bessern, indem er 193 Bilder, eines für jeden offiziellen Staat malte und passend aneinanderreihte, sein Weltbild, friedlich, naiv, doch durchaus Aufmerksamkeit erzeugend. Nachdem in der vorigen ein Zeitungsartikel berichtete, dass ich meinen Kunstbesitz an die Stadt Leuna verschenken will, rief er noch besorgt an, fragte, ob es mir nicht gut gehe… Absurd. Nun ist er tot, mein Freund, wurde leblos in seinem Atelier gefunden…

2023: Erster Todestag meines Malerfreundes Peter Gehre. Mit dem Spergauer Bürgermeister und meinem anderen Spergauer Freund Eichi zu seinem Grab, das noch immer wie eine Müllhalde aussieht, da die „Dame“, die Peter gelegentlich besuchte und die er gutgläubig zu seiner Erbin bestimmt hatte, sich um nichts kümmert, nur seinen Nachlass eingestrichen, das Atelier aufgelöst und verhindert hatte, dass ich seinem letzten Wunsch nachkomme, dass nämlich die 193 Gemälde seines Weltbildzyklus einmal im Ganzen ausgestellt werden. Das hatte ich vor einem Jahr rasch arrangiert, die Spergauer Jahrhunderthalle hätte zur Verfügung gestanden, doch leider… Nun wissen wir nicht mal, ob und wenn Ja wo Peters Bilder noch existieren. Immerhin hat der Bürgermeister mittlerweile in die Wege geleitet, dass Peters Grab in einen würdigen Zustand versetzt werden kann.

 2024: Sonnabend, doch gleich zwei Muggen. Um 14.00 Uhr im Merseburger Landesarchiv: „Die Zaubersprüche von Jacob Grimm bis Siegfried Berger, ich doziere und lese. Um 17.00 Uhr in der Spergau „Linde“ eine Gedenkveranstaltung anlässlich des 2. Todestages meines Malerfreunde Peter Gehre, ich erzähle, lese und singe. Das Jahr über hatte ich Druck gemacht, damit Peters Grab nicht mehr wie eine Müllhalde aussieht. Der Bürgermeister sagt, das seine Erbin nun endlich zugesagt habe, einen Steinmetzt zu beauftragen. Peters Gemälde aber scheinen verloren.

 

Chronik

für

Djamel Amrani / Chris Barber / Mary Bauermeister / Bernd Bergel / Eugénie Brazier / Emily Carr / Howard Carter / Charlie Christian / Luís de Montalvor / Fred Düren / Ota Filip / Serge Gainsbourg / Philip K. Dick / Peter Gehre / Luigj Gurakuqi / Karl Gottfried Hagen / Norman Jeffrey „Jeff“ Healey / Josiah Mwangi Kariuki / David Herbert D.H.” Lawrence / Ricardo Miró / Berthe Marie Pauline Morisot / Kumaratunga Munidasa / Heinrich Wilhelm Olbers / Iwan Iwanowitsch Panajew / Erna Sack / Sarojini Naidu / Adam Scharrer / Werner Schneyder / Wayne Shorter / Martin Smith / Dusty Springfield / João Bernardo Vieira / Bunny Wailer / Horace Walpole

 

Das trugen wir tief in Chroniken ein:

1861: Erdbeben im algerischen Blida, 7.000 Tote / 1933: Shōwa-Sanriku Erdbeben in Japan, 2.900 Tote / Moskau 1938: der dritte große Schau-Prozeß gegen Stalin-Gegenr beginnt / 1962 putscht die Generalität in Birma, isoliert das Land fortan / 1969 kommt es zu Grenzgefechten zwischen chinesischen und sowjetischen Truppen am Ussuri / Kerbela, 2004: bei einem Terroranschlag kommen 270 Menschen ums Leben.

 

 

3. MÄRZ

 

Harmonisierung

mit

Starlin Abdi Arush / Ghazi al-Gosaibi / Aram Asatryan / Lys Assia / Alexander Graham Bell / Aenne Biermann / James Bradley / Georg Cantor / Émile Chartier / Chief Joseph / Carl Gottlob Cramer / Bobby Driscoll / Chief Joseph / Maurice Garin / Jimmy Garrison / William Godwin / Jean Harlow / Hergé / Asger Jorn / Canada Lee / Heinz Knobloch / Jacek Kuroń / Andreas Sigismund Marggraf / John Murray / Spiridon Neven DuMont / Arnold Newman / Juri Karlowitsch Olescha / Christian Oliver / Gudrun Pausewang / Camillo Procaccini / Käthe Reichel / Robert Roberthin / Loki Schmidt / Rudolf Schwarz / Charles Sealsfield / Jan Arnošt Smolere / Philip Edward Thomas / Ernst Volkmann

 

An diesem Tage glaubten wir an Harmonie:

Vicenza, 1585: Eröffnung des Teatro Olimpico, des ersten freistehenden Theatergebäudes Europas / Paris, 1671: Eröffnung der Nationaloper / 1861 hebt Russland als letztes Land in Europa die Leibeigenschaft auf / Montreal, 1875: erstes Eishockeyspiel in einer Halle / 1878: Unterzeichnung des Friedens von San Stafano, Ende des russisch-türkischen Kriegs / 1886: Friede von Bukarest: Ende des serbisch-bulgarischen Krieges / Washington D.C., 1913: erste Suffragettenparade / 1918: Frieden von Brest-Litowsk, Ende des Ersten Weltkrieges an der Ostfront /1919: Beginn der Märzkämpfe bei denen 1.200 Menschen durch Noske-Söldner hingerichtet werden / 1924: Absetzung des letzten Kalifen des Osmanischen Reiches durch Atatürk / Washington D.C., 1973: Unterzeichnung der Artenschutz-Konvention CITES .

 

Ich notierte:

1980: Montagmorgen – und noch immer Stromsperre. Ich muss nach Deuben zur Anleitung der Brigadetagebuchschreiber. In Bahnhofswartesälen und im Zug lese ich fürs Studium „Ole Bienkopp“, sehr gut.

1985: Sonntag. Zusammen mit Schorsch gucke ich im Fernsehen die letzte Folge von „Das Boot“. Er schüttelt immer mal wieder den Kopf, sagt, als er auf U 403 gefahren sei, sei vieles anders gewesen…

1986: Eisiger Morgen, fröstelnd auf dem Weg nach Halle das Gefühl, durch einen Time-Tunnel zu rennen. Wohin?

1987: Faschingsdienstag und nun bin ich offiziell (und rückwirkend zum 1. Februar) Leiter des Bezirksliteraturzentrums Halle. Es blieb mir keine andere Wahl. Völliger Neubeginn? Absurd. Und langsam komme ich innerlich etwas zur Ruhe. Man sagte mir, ich hätte mich für die Herausforderung entschieden. Nun gut.

1999: Ermutigung dieses Tages: Der Abschluss eines von mir geleiteten Projektes mit dem halleschen Reichwein-Gymnasium, Übergabe der fertiggestellten Keramiken, Drucke, Fotos, Textilgestaltungen und Dokumentationen an die Schule. Schüler, Lehrer, Künstler und Pressevertreter kommen in der Ausstellung der Schülerarbeiten miteinander ins Gespräch. Manche Schüler artikulieren, dass sie durch das Projekt künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten für sich entdeckt hätten und weiter nutzen möchten und (kaum minder wichtig), dass dies einfach Spaß gemacht habe... Frustration dieses Tages: Meine Idee, im Rahmen eines Sonderprogramms der neuen Bundesregierung für arbeitslose Jugendliche Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen im Künstlerhaus einzurichten, läuft ins Leere. Erst nach meinen gescheiterten Verhandlungen erfahre ich, dass unsere frühere Geschäftsleitung just gegen die Beamtin, die nun mit der Abwicklung dieses Sonderprogramms verantwortlich ist, vor Jahren mal eine Beschwerde wegen Bürokratismus eingereicht hatte...

2000: Da sich die drohenden Regenwolken langsam verziehen entschließen wir uns, nach Piräus zu fahren. Proppevolle Stadtbahn, aber keinerlei Probleme. Wir schlendern an den Häfen entlang, finden am Zea-Hafen ein schönes Küstenlokal. Herrlicher Blick nach Athen hinüber, dieses von hier aus strahlend weiße Häusermeer. Zwei Mutige gehen am Strand sogar schon baden. Vorbei am Hafen Mikrolimano erreichen wir die Metro-Station Faliro und fahren bis zum Monastiraki-Platz. Ein paar kleine Einkäufe, Mitbringe-Eulen vor allem. Dann Spaziergang quer durch die römische Agora mit dem Turm der Winde und durch die Plaka bis zum Hadrianstor und dem Tempel des Olympischen Zeus. Und am Sintagmaplatz erleben wir sogar die Wachablösung der Garde. Zu guter Letzt finden wir uns in unserer Ouzeria wieder. Schöner Sonnenuntergang. Abendbrot essen wir heute weiter oben in der Plaka, genießen am Ende nochmals den Blick vom Areopag auf die gelb und weiß angestrahlte Akropolis. Obwohl – die Aussicht vom Hotelbalkon ist auch nicht schlecht...

2022: Verrückt – aber seit Tagen, gerade in dieser Zeit, gucke ich auf Netflix die Serie „After life“ von Ricky Gervais.

 

Dissonanz

für

Anton Wilhelm Amo ? / Herbert Asmodi / József Bajsa / Mustafa Barzani / Edward Bond / Ursula Böttcher / Horst Buchholz / Berta Cáceres / Gilles Cistac / Lou Costello / Eugen d’Albert / Aracy de Carvalho / Yves Joseph de Kerguelen de Trémarac / Marguerite Duras / Jackson C. Frank / Grete Giehse / Müslüm Gürses / Hergé / Danny Kaye / Kunigunde / David Lindley / Maria Grazia „Lella“ Lombardi / Bruce Low / Ausiàs March / Alfieri Maserati / Hans Joachim Nauschütz / Nikolai Wassiljewitsch Nikitin / Ōe Kenzanburō / Johann Pachelbel / Georges Perec / Heinrich Peuckmann / Ludwig Purtscheller / Otto Reutter / Albert Sabin / Erich-Günther Sasse / Scholom Schwartzbard / Martin Selber / Eugene Sledge / Tito Speri / Johannes Sturm / Giovanni Battista Viotti / K Za Win / Myint Myint Zin

 

Das klang uns verdammt schrill in den Ohren:

1945 bombardieren alliierte Flugzeuge versehentlich Den Haag, 500 Tote / Paris-Orly, 1974: nach dem Start stürzt eine DC-10 ab, alle 346 Insassen kommen ums Leben / 2002 sterben bei einem Erdbeben im Hindukusch 166 Menschen / Köln, 2009: Einsturz des Historischen Stadtarchivs.

 


4. MÄRZ

 

Zwischenspiel

mit

al-Musabbihi / Taos Amrouche / Karl Johann Andersson / Araki Takeshi / Sigurður Breiðfjörd / Bobbi Kristina Brown / Berta Cáceres / Matthäus von Collin / William Dobson / Henri Duvernois / Ernst A. Ekker / Robert Emmet / Johanna Ey / Fran Krsto Frankopan / Wiktor Granowskij / Theresa Hak Kyung Cha / Heinrich der Seefahrer / Kanō Tan’yū / Bernhard Kellermann / Johann Friedrich Kind / Roland Kuhn / Paul Kundt / Karl Konrad Friedrich Wilhelm Lachmann / Erna Lauenburger / Edeltraud Lautsch-Eisold/ Kito Lorenc / Kazimierz Łyszczyński / Miriam Makeba / Garrett Morgan / Johann Wilhelm von Müller / Josip Murn / Alexandros Papadiamantis / August Peters / Christine Poniatowska / Jean-Joseph Rabearivelo / Knute Kenneth Rockne / Ulrich Roski / Chris Squire / Alan Sillitoe / Eduard Vilde / Antonio Vivaldi / Hans Jürgen Wenzel / Bobby Womack / Johann Rudolf Wyss

 

An diesem Tage waren wir gespannt auf Weiteres:

1769 beobachtet Pierre Méchain erstmals den Orion-Nebel/ Den Haag, Schottland, 1890: Eröffnung der Brücke über den Firth of Forth / 2009: der Internationale Strafgerichtshof erlässt erstmals einen Haftbefehl gegen ein regierendes Staatsoberhaupt, gegen den Sudanesen Umar al-Bschir.

 

Ich notierte:

1980: Im Finanzamt versuche ich zu klären, warum ich Steuern nachbezahlen muß. Und siehe da, eine freundliche Dame fragt mich, ob ich denn nicht studiere und fürs Studium schon eine Steuerermäßigung beantragt hätte? Natürlich beantrage ich sofort und siehe da – meine Steuerschuld ist verschwunden...

1997: A7. Schier endlose Behinderung durch Polizeifahrzeuge, Mannschaftswagen, Wasserwerfer, Bulldozer, zwischen Rhüden und Hannover-Ost. Im Radio Erklärungen der Schutzbedürftigkeit umstrittenen Atommülltransportes ins Wendland.

1999: Einmal mehr Seminarleitung und Büroroutinen und dann bei drei Ausstellungseröffungen. Die erste in Merseburg, mit Peter, einem alten Spergauer Freund, der sich erstaunlicherweise zum Hobbymaler entwickelte. Die zweite in Leuna, Klubhausgalerie, Claus Kämmerer, der Leiter hatte mich gebeten unbedingt zu kommen, Ausstellung 15 hallescher Künstler, Pfeifer, Triebsch, Penz, Giebler, Duday u.a. Die dritte schließlich im Künstlerhaus, Eröffnung unserer neuen Hausgalerie mit einer Vorstellung unseres „Hausfotografen“ Semjon Prosjak, der vor zwei Jahren auf einmal bei uns auftauchte, seit dem hie und da kleine Aufträge realisierte und mir neulich als Dankeschön ein Original schenken wollte. Bis dahin hatte ich künstlerische Arbeiten von Semjon nicht gesehen, schämte mich nun, als ich seine sehr stimmungsvollen, hochprofessionellen Ansichten seines Heimatdorfes sah, dafür ihn bislang nur mit Dokumentationsaufträgen u.ä. beschäftigt zu haben, entschied sofort: Semjon muss seine Ausstellung bekommen. Schön zu sehen, wie viele Leute, Landsmänner- und -frauen von ihm auch, kommen, Künstler, Presse, etliche Jugendliche auch. Vielleicht hilft es Semjon ein wenig in seiner neuen Heimat Fuß zu fassen.

2000: Sonnabend. Und keine Wolke am Himmel. Also nach dem Frühstück auf zum Lykabettos, dem höchsten Stadtberg Athens. Zwar finden wir die im Stadtführer gepriesene Drahtseilbahn nicht, erreichen den Gipfel aber dennoch. Zu Fuß natürlich. Und die Anstrengung lohnt sich fürwahr. Einzigartiger Blick auf die Akropolis und das Häusermeer der griechischen Hauptstadt hinunter und zu den als Schemen erkennbaren Bergen des Peloponnes hinüber. Abstieg und Wanderung durch die Häuserschluchten zum Archäologischen Museum. Gleich im ersten Ausstellungsraum der ganze, von Schliemann ausgegrabene mykenische Goldschatz mit jener weltberühmten Goldmaske, die Schliemann fälschlicherweise für die des Agamemnon hielt. Trotzdem – schwer beeindruckend. Nicht minder: die großartigen Bronzestatuen, vor allem die des Poseidon. Dann weiter durch das Kontrastprogramm der heillos verstopften Straßen, über den von Hupen schrillenden Omonia-Platz zur Plaka. Schnell eine Gyrros-Pitta und Aufstieg auf einen weiteren Hügel, auf die Pnyx. Hier tagte die Ekklesia, die Volksversammlung. Urstätte der Demokratie sozusagen. Faszinierender Blick zur nahen Akropolis hinüber. Ebenso vom dritten Hügel, den wir heute besteigen, den Philopapposhügel. Von hier oben feuerte im Jahre 1687 ein Soldat Schwarz aus Lüneburg seine Kanone so treffsicher ab, dass das Geschoss das Dach des damals noch völlig intakten und von den Türken als Pulvermagazin (für Schwarzpulver!) genutzten Parthenons und machte es zur Ruine... Wir genießen die Frühlingssonne. In einem Straßencafe beim Lysiktrates-Denkmal schließlich ein Espresso und einen Ouzo. Den Sonnenuntergang erleben wir auf unserem Hotelbalkon, brechen dann zum Abendbrot in die Plaka auf. Fast wären wir in einem Nepp-Lokal gelandet, können uns nach einem Blick auf die Preise der Karte gerade noch retten. Und so finden wir ein Lokal von guter griechischer Tradition: Der Kellner kommt mit einem Tablett voller Speisen, man zeigt, was man haben möchte und stellt sich so sein Essen selbst zusammen. Dazu gibt’s guten roten Hauswein. Na denn, jámas! Und in den Gassen der Plaka tobt diese Nacht der Karneval wie noch nie. Was für ein Gedränge und Gelärm und Keulengeschlage!

2010: Was für ein schier endloser Winter: den ersten Schneefall erlebten wir Mitte Oktober, als wir mit schreibenden Schülern auf dem Brocken waren, dann von Mitte Dezember bis Mitte Februar ewig Schnee und Frost. Und heute schneit’s schon wieder. Das bringt nicht nur die Großwetterlage, sprich: die Szenarien der Globalen Erwärmung, sondern auch die eigene kleine, doch notwendige Klimalage Körper durcheinander. Ach, könnte es doch endlich Frühling sein!

2021: Ein sogenannter Countdown-Tag: 4-3-2-1… Und dann? Gestern tagte mal wieder das „Corona-Kabinett“ und beschloss, den Lockdown bis Ende März aufrecht zu erhalten, entsprechend der Fallzahlen kann aber regional gelockert werden. Am letzten Countdown-Tag, dem 3.2.10 begannen wir die Koffer zu packen, um nach Dubai zu düsen… Hoffentlich kann ich am 5.4.32 noch was Sinnvolles notieren.

2023: Wieder erreichte mich eine Todesnachricht: mein Schriftstellerfreund Heinrich Peuckmann starb letzte Nacht. Zum Jahreswechsel hatte er mir noch seinen Band geschickt… Ach, Heinrich. Der Ruhrpottkumpel und der Leuna-Pelzer verstanden sich sehr gut. Als ich PEN-Schatzmeister war, hatte er mich als Beisitzer oft unterstützt. Und wenn mich die Bödecker-Leute nicht verleumdet hätten, wäre ich auf dem PEN-Kongreß in Chemnitz wohl als Generalsekretär angetreten. Da wurde dann Heinrich zum Generalsekrätär gewählt. Und in dieser Funktion trat er auch den Anmaßungen des späteren Präsidenten Yücel entgegen, der den PEN faktisch „entliteralisieren“ wollte. Die üblen Angriffe aus jener Zeit, dürften Heinrich wohl letztlich ins Granb gebracht haben.

 

Zeichensetzung

für

Antonio Amati / Antonin Artaud / Krishna Prasad Bhattarai / Matilde Bajer / Elsa Brändström / Etta Cameron / John Franklin Candy / Alan Cartwright / Jean-François Champollion / Ding Ling / Henri Georges Girard / Nikolai Wassiljewitsch Gogol / Tiny Grimes / Hella Hirsch / Fritz Hüser / Robert B. „Bobby“ Jaspar / Hildegrad Löwy / Todd Tozama Madshikiza / Richard Manuel / Franz Marc / Bernard Matemera / Ippolito Nievo / Claude Nougaro / Ludwig Quidde / Richard Paulick / Javier Pérez de Cuéllar / Ellen Price / Ludwig Quidde / James Richardson / Saladin / Rudolf Lasarewitsch Samoilowitsch / Heinrich Alexander Stoll / Ilja Grigorjewitsch Tschaschnik / Jón úr Vör / Heinrich Leopold Wagner / William Carlos Williams / Engelbert Wittich / Anastasiia Yalanskaya

 

Dies vermochten wir nachhaltig nicht zu übersehen:

Sudetenland, 1919: bei einer Demonstration für ihr Selbstbestimmungrecht werden mehr als 50 Sudetendeutsche erschossen / 1943 versenkt ein deutsche U-Boot den Passagierdampfer „City of Pretoria“ im Nordatlantik, 145 Menschen sterben / Havanna, 1960: im Hafen der Stadt explodiert das Frachtschiff „La Coubre“, 101 Tote / Bukarest, 1977: ein Erdbeben fordert 1.500 Todesopfer/ Brazzaville, 2012: Brand in einem Waffenlager, 206 Tote. / Jakarta, 2023: Brand in einem Tanklager, mindestens 15 Tote.

 


5. MÄRZ

 

Illustration

mit

Letizia Battaglia / Fritz Richard Behrens / Jack Cassidy / Ambrose Mandvulo Dlamini / Anton Fliegerbauer / Rudolf Fuchs / Andy Gibb / Isabella Augusta Gregory / Josef Hehl / Lilli Jahn / Daniel Kahnemann / J. B. Lenoir / Rosa Luxemburg / Jacinta Marto / Teena Marie / Gerhard Mercator / Frank Norris / Pier Paolo Pasolini / Howard Pyle / Franz August Ferdinand Rehbein / Wasken Sarkissjan / Hippolyt August Schaufert / Edgar Sein / Ben Selvin / William Steinway / Giovanni Battista Tiepolo / Juan José Torres Gonzales / Fritz Usinger / Heitor Villa-Lobos / Wladimir Juljewitsch Wiese

 

Das gab uns ein hoffnungsvolles Bild:

Baku, 1926: der Erste Turkologen-Kongress beschließt die Einführung eines einheitlichen Schriftsystems für Turksprachen / 1970 tritt der Atomwaffensperrvertrag in Kraft / 1979 passiert die amerikanische Raumsonde Voyager 1 den Jupiter /

 

Ich notierte:

1974: Endlich war der Tag herangekommen, an dem sich so viel entscheiden sollte: Wird unser Spielverbot endlich aufgehoben, dürfen wir nun spielen, wenn ja, wann und mir welchen Auflagen? Oder verzögert sich diese ganze Geschichte weiter und verlängert die Ungewissheit und dieses ewige Warten? Eigentlich hätte ich den ganzen Arbeitstag über aufgeregt sein müssen, doch wie meist bei wichtigen Entscheidungen, hatte ich eine gewisse Vorahnung. Und so war ich denn auch nicht sonderlich bewegt, als Seni mir offenbarte, was ihm Herr Bach, der Leiter des Kreiskabinetts für Kulturarbeit,  offenbart hatte: dass es nämlich in absehbarer Zeit wieder losgehen könne. Es sei nur noch etlicher Papierkram zu erledigen, Bürokratismus zu überstehen, eine neuerliche Einstufung zu absolvieren. Geschätzt heißt das, frühestens in einem Monat sehe ich eine Bühne wieder. Gut, die Ungewissheit scheint weg, das Warten bleibt aber. Dieses Warten ist jedoch nicht mehr jenes Warten mit den Händen am Bierglas, nein, jetzt muss unsere Organisationsmaschinerie anlaufen. Das ist so viel zu tun: Instrumentenpflege, Anlagenreparaturen, Gewinnung eines Patenbetriebes, Absicherung der Transporte. Schon stelle ich eine Liste auf und verteile die Aufgaben.

1980: In der Post heute eine Antwort des Bürgermeisters auf meine Eingabe hin. Doch ist diese so, dass ich gleich eine neue Eingabe schreibe – sonst ersticken wir hier demnächst in der eigenen Scheiße, wortwörtlich.

2000: Ausflug nach. Auf der Autobahn gen Norden vorbei an der Ebene von Marathon und den schneebeckten Gipfeln Euböas, dann bei Theben (Thïvai), wo Herakles geboren wurde und Ödipus wirkte, auf Landstraßen und quer durch Böotien vorbei am Helikon Richtung Parnass. Eindrucksvolle Gebirgskette, mich irgendwie an den Hermon erinnernd. Halb zwölf etwa erreichen wir schließlich Delphi. Zauberhafte Kulisse, so recht zum Grundorakel einladend: Gnothi seauton! – Erkenne dich selbst! Pinienbestandenen Hain in halber Höhe einer Schlucht, hie Blick in schon sattgrünes Tal, da steilaufragende, gelbliche Felswand. Und Sonne und blauer Himmel und Ruhe. Allerdings muss man sich immer die Zwänge einer Reisegruppe wegdenken, der wir uns zwangsläufig für diesen Ausflug anschließen mussten. Nun gut. Besichtigung der Heiligtums: all die Überreste der Schatzhäuser, wo die überreichen, der Pythia gebrachten Gaben eingelagert wurden, Apollo-Tempel, Theater, Stadion. Dann scheren wir kurz aus der Gruppe aus, die sich um die etwas abseits gelegenen Kastalischen Quellen nicht schert. Fritz Jürß schreibt: „Im übrigen wusste man zu erzählen, dass die Musen in den Höhen des Olymps hausen, auf der Erde aber vorzüglich an der von Pegasos geschlagenen Rossquelle (Hippokrene) auf dem böotischen Berge Helikon... oder an der kastalischen Quelle auf dem Parnassos bei Delphi anzutreffen sind. So ist bis in die Neuzeit der ’Aufstieg zum Parnass’ oder der ’Trunk aus der kastalischen Quelle“ symbolischer Ausdruck für die Beschäftigung mit Dichtung und Wissenschaft geblieben.“ (S. 79) Da wir der neugriechischen Wasserqualität nicht so recht trauen, benetzen wir uns symbolisch Stirn und Puls (was auch eine willkommene Erfrischung bedeutet). Dann ins Museum, wo der Omphalus, der „Nabel der Welt“, zu bestaunen ist. Bekanntlich ließ Zeus ja von beiden Enden der Welt Adler aufsteigen, die sich genau über dem Omphalus trafen, womit bewiesen war, dass hier der Mittelpunkt der Welt ist. Ebenso beeindruckend: die gewaltige geflügelte Sphinx, die einst auf einer hohen Stele über dem Heiligen Bezirk thronte.

2019: Welche Ehre – ich bin eingeladen an einer der ältesten Universitäten der Welt Vorlesungen zu halten und Seminare zu geben! Grund der Einladung ist mein weltweites „Anna-Hood-Projekt“, wegen dem ich letztlich meinen Job in Sachsen-Anhalt und diverse Ehrenämter verlor, da ich bei Übersetzungen angeblich betrogen haben sollte. Eine Intrige, nicht mehr und nicht weniger, wie mittlerweile sogar die Staatsanwaltschaft bestätigte. Insofern also nicht nur Ehre, sondern sogar Genugtuung. Vorlesung im Germanistischen Institut der Uni, immerhin etwa 100 Stundenten. Selbstredend spreche ich einführend über die Merseburger Zaubersprüche, kann so auch mich und meine Hintergründen und Schreibantriebe gut erläutern: Insprinc haptbandun, inuar uigandun… Bei der Vorstellung des Anna-Hood-Projektes kommen wir sogar ins Gespräch. Wird die Zukunft durch ein Mit- oder ein Nebeneinander der Kulturen und Völker geprägt sein? Ich versuche meiner Hoffnung zu verdeutlichen, das dies ein Miteinander sein muss – falls das Experiment Menschheit nicht schlichtweg scheitert. Dafür gebe ich meine Stimme, versuche zu ermutigen, die jungen Menschen vor allem für eine gerechtere Welt zu mobilisieren. Keiner widerspricht, im Gegenteil: Applaus. Mille grazie! Am Abend Lesung im Goethe-Institut. Interessante Diskussion, so die Anregung, sich mit Greta Thunberg in Verbindung zu setzen, der sechzehnjährigen Schwedin, die seit einigen Wochen Schüler zu Protestaktionen für einen bessere Welt aufruft: Friday for future! Und weltweit wächst diese Bewegung, gibt es Resonanz. Sei Greta nicht eine Verkörperung der Anna Hood? Und es kommen Leute auf mich zu, die anbieten, mein Anna-Hood-Projekt weiteren Leuten nahezubringen – der eine hat einen Freund in Island, der ins Isländische, eine andere eine Freundin in Lappland, die ins Sami übersetzen könnten. Ob sie die mal anfragen sollten? Na klar, unbedingt! Nicht von ungefähr wird in der Anna-Story expressis verbis vom Schneeballeffekt gesprochen…

2024: Am Nachmittag ins Rathaus Leuna. Es tagen die Jurys zur Vergabe des diesjährigen Walter-Bauer-Preises und -Stipendiums. Meine Vorschläge gehen glatt durch. 

 

Infarkt

für

Anna Andrejewna Achmatowa / John Adams / John Adam Belushi / Gérard Blitz / Hasso von Boehmer / David Dunbar Buick / Alfredo Casella / Hugo Chávez / Antonio da Corregio / Brenda de Banzie / Eugène-Anatole Demarçay / Henri Auguste Doucet / Johann Georg Eccarius / Giuliano Frullani / Alberto Granado / Rudolf Waldemar „Rudi“ Harbig / Ernst von Harnack / Nikolaus Harnoncourt / Paul Hörbiger / Václav Hrabě / Max Jacob / Erich Itor Kahn / Oleksandr Kysljuk / Pierre-Simon Laplace / Nikolai Semjonowitsch Leskow / Milton Manaki / Herman Jacon Mankiewicz / Gina Paine / Dieter Pfaff / William Powell / Sergei Sergeweitsch Prokofjew / Henry Creswicke Rawlinsin / Gary Rossington / Ray Tomlinson / Thilo von Trotha / Caspar Ursinus Velius / Michel Verne / Alessandro Volta / Joseph Weizenbaum

 

Das empfanden wir wie einen Infarkt:

1689 wird Mannheim von französischen Truppen niedergebrannt / 1916 läuft der spanische Luxusliner „Pricipe de Asturia“ vor der brasilianischen Küste auf Grund und sinkt, 445 Tote / 1940 unterzeichnet Stalin den Befehl zu Exekutionen in den von der Sowjetunion besetzten Gebieten Polens, bald werden beim Massaker von Katyn etwa 20.000 polnische Intellektuelle und Offiziere ermordet / 1966 prallt eine Boeing 707 gegen den Fuji, 124 Menschen sterben.

 


6. MÄRZ

 

Aphorismus

mit

Evald Aav / José Antonio Aguirre / Olegario Víctor Andrade / Auguste Magdalene von Hessen-Darmstadt / Daniël Belinfante / Victoria Benedictsson / Pauline Veronica Boty / Peter Brötzmann / Elizabeth Barrett Browning / Max Burchardt / Red Callander / Ignaz Franz Castelli / Donald Davidson / Jean-Pierre Claris de Florian / Savien Cyrano de Bergerac / Rudolf Fischer / Dick Fosbury / Joseph von Fraunhofer / Jakob Fugger / Earle Haas / Alfred Walter Heymel / Hella Hirsch / Fasil Abdulowitsch Iskander / Sheik Umar Khan / Bernhard Joseph Klein / Johann Philipp Krieger / Günter Kunert / Ring Lardner / Stanisław Jerzy Lec / Furry Lewis / Lorin Maazel / Rudolf Mandrella / Jürgen von Manger / Gabriel García Márquez / Howard McGhee / Pietro Micca / Michelangelo / John Leslie „Wes“ Montgomery / Cyprien Ntaryamira / Ōoka Shōhei / Adam Osborne / Taranath Rao / Dora Stock / Oscar Straus / Maria Uhden / Juan Luis Vives / Andrzej Wajda / Mary Wilson

 

Das machte uns sprichwörtlich Mut:

1521 landet Ferdinand Magellan bei seiner Weltumseglung auf Guam / 1714: der Rastätter Frieden beendet den Erbfolgekrieg zwischen Österreich und Spanien / 1834 Umbenennung der Hauptstadt der britischen Kolonie Oberkanada von York in Toronto / 1869 stellt Mendelejew sein Periodensystem der Elemente vor / 1899 lässt die Bayer AG Aspirin als Marke eintragen / Springfield, Massachusetts, 1930: die Firma Birdseye verkauft weltweit erstmals Tiefkühlkost / 1957: Unabhängigkeit eines ersten afrikanischen Landes von Großbritannien: Ghana, bislang Goldküste / Paris. 1980: Marguerite Yourcenar wird als erste Frau in die Académie française aufgenommen / 2015 erreicht die NASA-Raumsonde Dawn den Zwergplaneten Ceres.

 

Ich notierte:

1983: Seit Jahresbeginn ächze ich mir jeden Morgen so viele Liegestütze ab, die ich schaffe – um mir Willen und Motivation zu beweisen. Heute waren das immerhin 51…

1999: Schreiben und dann Lesen, die letzten Seiten von Saramagos „Stadt der Blinden“, beeindruckend die Szene in der Kirche, in der allen Heiligen die Augen verbunden sind, überzeugend der Schluss: „Ich glaube nicht, dass wir erblindet sind, ich glaube, wir sind blind, Blinde, die sehen, Blinde, die sehend nicht sehen...“

 

Allegorie

für

Tengis Abuladse / Jean Baudrillard / Francis Beaumont / Carl Bechstein / Katja Behrens / Pearl S. Buck / Gottlieb Daimler / Delphine Delamare / Arif Demolli / Eddie Durham / Nelson Eddy / Vito von Eichborn /Lowell Fulson / Gustaf af Geijerstam / Uri Nissan Gnessin / Heinrich Kämpchen / Zoltán Kodály / Werner Lamberz / Alvin Lee / Melina Mercouri / Christlob Mylius / Georgia O’Keeffe / Dana Reeve / Carolee Schneemann / John Philip Sousa /Hans-Joachim Spremberg / McCoy Tyner / Artemus Ward

 

Das hörten wir schlechthin als Allegorie des Bösen:

1504 bricht in Merseburg der Gotthardteich aus: „Es geschah an einem sehr finstern Abende, daß nach hartem Froste plötzlich Tauwetter eintrat. Das Wasser der Geisel ergoß sich nun auf den gefrorenen Teich, so daß sich das Eis erhob, wobei aber das wilde Gerinne und das Schutzbret versetzt und der Ablauf des Wassers verhindert wurde. Hierauf kam das Wasser über den Teichdamm geschossen, und weil dem Eise bei Nachtzeit kein Loch gemacht werden konnte, so schwoll das Wasser so an, daß man es bei der Dammühle oben von der Stadtmauer aus mit der Hand erreichen konnte. Zuletzt strömte das Wasser gar über diese Mauer hinweg und riß einen Theil derselben entzwei, worauf Wasser und Eis in ungeheuren Massen in die Stadt drang. Alle Häuser, Scheunen, Ställe und sonstigen Gebäude, welche an der Geisel lagen, wurden niedergerissen, und auf dem Markte stand das Wasser mannshoch und lief in den Rathskeller hinein. Neun Menschen und 360 Stück Vieh kamen bei dieser Gelegenheit ums Leben. Endlich brach auch der Theil der Stadtmauer, welcher nach der Saale zu lag, und zwar an fünf verschiedenen Stellen, worauf sich das Wasser wieder verlief.“ / Zeebrügge, 1987: das Fährschiff „Herald of Free Enterprise“ kentert vor der Hafeneinfahrt, 193 Menschen kommen ums Leben / Tamanrasset, 2003: eine Boeing 737 kommt von der Startbahn ab, 102 Tote.

 

7. MÄRZ

 

Aktion

mit

Abe Kōbō / Wilhelm Arent / Jean Arnolds / Baha ad-Din ibn Schaddad / Bo Yang / Alejandro García Caturla / Carl Friedrich Cramer / Manuel del Cabral / Milo Dor / Alfred Willi Rudi Dutschke / Edgar Evans / Giovanni Giacometti / Alfred Grünewald / Whitcomb Judson / Ewald Christian von Kleist / Arthur Lee / Friedrich Wilhelm Lutz / Gildardo Magaña / Anna Magnani / Alessandro Manzoni / Tomáš Garrigue Masaryk / Robert Roy MacGregor / Piet Mondrian / Kurd Friedrich Rudolf von Mosengeil / Mukai Genshō / Joseph Nicéphore Niépce / Abdul Rahman Pazhwak / Georges Perec / Baldassare Peruzzi / Albrecht „Tonio“ Pflaum / Franz von Pocci / Maurice Ravel / Heinz Rühmann / Ulrich „Ed“ Swillms / Trude Unruh / Townes Van Zandt / Eduard Ludwig Vogel / Heinrich Theodor Wehle / Ernst Zimmermann

 

Das erschien uns an diesem Tage als sinnvolles Handeln:

321 erklärt Konstantin der Große den Sonntag zum Ruhetag / 1876 erhält Alexander Graham Bell ein Patent für die Erfindung des Telefons / Battle  Creek, Michigan, 1897 lässt der Arzt John Harvey Kellogh seinen Patienten erstmals die von ihm erfundenen Cornflakes auftischen / 1980: Gründung der Organisation „Médicins du Monde - Ärzte der Welt“.

 

Ich notierte:

1974: Gegen acht sitze ich in der Poliklinik, warte gut eine Stunde, werde endlich aufgerufen, entblöße mich. Die Ärztin betastet meine Hoden. Übergroß, stellt sie schließlich fest und überweist mich in die Chirurgie. Dort warte ich wieder eine Stunde bis die Chirurgin feststellt, dass meine Hoden mäßig groß sind. Seltsam, mir war der Größenschwund noch gar nicht aufgefallen. Doch sie schreibt mich krank und schickt mich zur Fachabteilung für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Was ich da nun soll, ist mir reichlich schleierhaft. Doch die Chirurgin meint: nur Routine. Wieder sitze ich geduldig die übliche Wartestunde ab und habe die Blicke der der Wartezimmer-Mitinsassen zu ertragen, besonders schlimm, die der älteren Damen und Herren: der hat doch bestimmt, Schwein… Na ja, ist mir auch egal. Ich werde aufgerufen, entblöße mich zum dritten Mal, werde zum dritten Mal abgetastet. Gut, ich soll hier in Behandlung bleiben, das sei nichts für die Chirurgie, da sei nicht zu operieren. Mir soll’s recht sein. Mit einem Rezept entlässt man mich bis nächsten Dienstag. Die Chirurgin meinte zwar vorhin, um Himmelswillen keine Tabletten, sondern Kühlen, aber nun wird eben nicht gekühlt, sondern werden Tabletten eingeworfen. Ein Glück, dass die sich nicht über Abschneiden oder Nichtabschneiden in die Wolle kamen…

1982: Am Freitag traf ich mich mit Erik Neutsch im „Klub der Wissenschaftler“ – da man hier auch etwas essen und trinken kann, wie er sagte. Es ist wohl das erste Mal seit langem, dass er seine Isolation durchbricht, wieder mit einem Jüngeren spricht. Und wir reden gut miteinander. Er ermutigt mich sehr, mein Leuna-Projekt voranzutreiben, meint, das sei ein großes Thema, sei eine starke Geschichte, die ich da vorhätte und der ich vertrauen solle. Das Buch sei doch eigentlich schon fertig in meinem Kopf, nun müsse ich nur noch zwei, drei Jahre schreiben. Ich solle ihm alles, was fertig würde zeigen. Ja, vielleicht würde er mein Buch sogar für den Mitteldeutschen Verlag selbst lektorieren! So habe ich nun also zwei Bücher, die beide als wichtig erachtet werden, die aber beide noch nicht fertig geschrieben sind. Ich hoffe, ich bin diesem Druck gewachsen und werde alles endlich zu Papier zu bringen, was mir durch den Kopf geht. Neutsch erzählte mir dann, dass er neulich bei Lesungen in der Schweiz einen Strauß am Grabe Büchners niederlegen wollte, und als er das hoch über der Aare gelegene Grab nicht gleich fand, einer Einheimischen erklärte, er komme aus der DDR und wolle nun… Woraufhin die Frau fragte: Ja, war denn Büchner ein Ostdeutscher?

2018: Mumbai gilt als lauteste Stadt der Welt, hörten wir. Und Suketu Mehta schreibt: „Wenn Mumbai die Zukunft der urbanen Zivilisation auf diesem Planeten sein soll, so helfe uns Gott.“ Andererseits sollten hier die Bürgersteige mit Gold gepflastert sein und zweifellos ist dies der Standort von Bollywood. Schaun wir also mal… Ob auf die 22-Millionen-Einwohner-Metropole in puncto Lautstärke der Superlativ abzuwenden ist, sei dahingestellt. Auf dem Weg zur Victoria-Station, wird im chaotischen Verkehr mit Ochsenkarren über rußende Busse bis zu SUVs und Maseratis gehupt, gehupt, gehupt. Allein 55.000 Taxis sind hier offiziell zugelassen. Und diese gel-schwarzen Tatas hupen besonders oft und schrill… Tuk-Tuks sind im südlichen Teil der Stadt, den alten Kolonialvierteln, verboten. Die lassen aber wohl für die nördlichen Stadtviertel, wo auch diese Vehikel fahren dürfen, für die Slums, eine Steigerung dieses Chaos durchaus erwarten… Victoria-Station, Weltkulturerbe, heißt heute: Chhatrapati Shivaji Terminus. 2008 begann hier (und an vier weiteren Punkten) einer der schlimmsten Terror-Angriffe auf die Stadt. Ich sehe noch die Fernsehbilder, wie einer dieser pakistanischen Rotzlöffel, dessen Knarre größer als er selbst zu sein schien, durch die riesige, von Menschen wimmelnde Bahnhofshalle stürmte und schoss, schoss, schoss. Seitdem hat Indien seine Sicherheitsvorkehrungen bis zum Gehtnichtmehr getrieben. Schon diese endlosen Mühen mit dem Visum-Antrag (von den haarigen Kosten ganz zu schweigen), dann diese nervenden Pässe-Abgaben-und-Einreisezettel-Erhalten-Spielchen, das ständige Vorzeigenmüssen von Papieren, Sicherheitsschleusen, -kontrollen allenthalben. Nun gut, wenn’s denn wirklich nützte… Bedrohlicher als der Verkehrslärm wirkt auf mich aber die Bausubstanz der Stadt. Auf der einen Seite wachsen Hochhäuser in den Himmel und wird eine Metro gegraben, andererseits sind ganze Straßenzüge mit (Kolonial)Häusern, die dereinst mal sehr schön gewesen sein müssen, derart verwohnt, verkeimt, erodiert, dass es bis zu Einstürzen nicht mehr lange dauern wird. Nächste Station: das Haus, in dem Mahatma Gandhi von 1917 bis 1934 lebte. Sein schlichtes Arbeits- und Wohnzimmer ist zu sehen, sein Spinnrad, seine Sandalen, dann auch seine Bibliothek, zudem eine Ausstellung, Schaubilder zu den wichtigsten Stationen seines Lebens (die offenbar selbst Analphabeten Informationen vermitteln dürften), auch Fotos und Autographe. Ermordet wurde der große Hindu Gandhi von einem fanatische Hindu, der verhindern wollte, dass sich aus den Angehörigen aller Religionsgemeinschaften, aus Hindus und Moslems vor allem, nach der Unabhängigkeit von England ein Volk entwickelte, das die Sitten, Rituale, Ansichten des jeweils toleriert und gemeinsam eine Zukunft baut. Gemäß hinduistischer Vorschrift wurde Gandhi 1948 am Tag nach seinem Tode auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Das entsprechende Foto der Ausstellung ist so beschriftet: „From unreal to real / From dark to light / From death to immortality…“ Immerhin wird in Indien diskutiert, ein Grundeinkommen für jeden Bürger einzuführen. Andererseits provoziert derzeit eine hindu-nationalistische Regierung wieder Konflikte mit den Moslems. So wird ein generelles Verbot des Schlachtens von Kühen und sogar Wasserbüffeln lanciert. Rindfleisch jedoch ist eine Ernährungsgrundlage für zahllose Arme und vor allem für Moslems. Aktuelle Parole der Hindu-Hetzer: Wer das Tier tötet, das unseren Kindern Milch gibt, muss unser Feind sein…

Nächste Besichtigung: ein von der Hare-Krishna-Bewegung betriebener Hindu-Tempel. Ein orange gekleideter, europäischer, verzückt blickender Jüngling überreicht uns am Eingang einen Flyer – auf Deutsch! Dann die wohl größte Wäscherei der Welt, Freiluftwäscherei! Dhobi Ghat: 8.000 Männer, die Dhobis, arbeiten hier wie seit eh und je (ja, ausschließlich Männer, da es Frauen untersagt ist, von Haus zu Haus zu gehen, um die Dreckwäsche einzusammeln und nach dem Waschen gebügelt wieder ins Haus zu liefern). Angesichts dieses mittelalterlichen Gewusels vor Wolkenkraterkulisse fühle ich mich irgendwie an den Hausgeist bei „Harry Potter“ erinnert, an Dobby… Letzte Stationen: Das Gateway auf India, das Taj Mahal Hotel und das Prince of Wales Museum. Das heißt nun: Chhatrapati Shivaji Maharaj Vastu Sangrahalaya. Punktum. Doch zum Abschluss noch einen Bombay Sapphire, einen doppelten bitte!

 

2024: Gegen Mittag mit dem Fahrrad nach Spergau. Eichi wird 71. Ein anderer seiner alten Freunde ist schon da. Prost! Und alsbald erzählen sich drei alte Männer Geschichten über ihre Zipperlein. Grinsend schlage ich irgendwann vor, dass dies ein Ansatz für einen Text sein könnte, nicht die Krankheitsgeschichten als solche, sondern das, was man dadurch über andere und nicht zuletzt sich selbst erfuhr.

 

 

Absolution

für

Peter Banks / Jean-Pierre Françoise Blanchard / Aristide Briand / Martin Crusius / Carl Diercke / Tove Ditlevsen / Akseli Gallen-Kallela / Otto Griebel / Gundulf / Jang Ja-yeon / Harris Ann Jacobs / Emily Pauline Johnson / Martin Kippenberger / Stanley Kubrick / Wyndham Lewis / Igor Markevitch / Gordon Parks / Perpetua / Tamara Ramsay / Emanuel Ringelblum / Amadeo Roldán y Gardes / Norman Rosten / Thomas von Aquin / Alice B. Toklas / Ali Farka Touré / Theo van Doesburg / Rahel Varnhagen von Ense / Jan Weiss / Konrad Wolf / Yogananda

 

Dem konnten wir beim besten Willen keine Absolution erteilen:

1927: Erdbeben in der japanischen Provinz Tango, mehr als 3.000 Todesopfer / 2004 sterben beim Untergang der Fähre „Samson“ zwischen den Komoren und Madagaskar etwa 120 Menschen.

 

 

8. MÄRZ

 

Führung

mit

Wäinö Aaltonen / Howard Hathaway Aiken / Carl Philipp Emanuel Bach / Ralph Baer / Helmut Becker / Wilhelm Heinrich Immanuel Bleek / Clive Burr / Josephine Cochrane / Juana de Ibarbourou / Viktor de Kowa / Eva Amalia Maria Dickson / Johann Dubez / Richard Fariña / Mouloud Feraoun / Kenneth Grahame / Louis Gurlitt / Juvénal Habyarimana / Otto Hahn / Reinhold Paul Huhn / Walter Jens / Paul Juon / Friedrich August Kanne / Paola Yannielli Kaufmann / Edward Clavin Kendall / Heinar Kipphardt / Mechtilde Lichnowsky / Valeriu Marcu / Randy Meisner / Mississippi John Hurt / Charlotte Niemann / Neil Postman / Jan Potocki / László Rajk / Lynn Redgrave / Johann Rist / Rosso Fiorentino / Gábor Szabó / Heinz Tetzner / Harry Thürk / Ernst Tugendhat / Robert Uhrig / James Williams / Karola Weimar / Jasmine You

 

An diesem Tage schienen wir zielsicher voranzukommen:

1658: Friede von Roskilde zwischen Dänemark und Schweden / Paris, 1910: Émile Léontine Deroche erhält als erste Frau der Welt einen Pilotenschein / Petrograd, 1917: Beginn der Februarrevolution / New York City, 1968: Eröffnung des Musiktheaters Fillmore East / Laxemburg, Niederösterreich, 2011: Gründung der Internationalen Anti-Korruptionsakademie.

 

Ich notierte:

1981: Nun ist der Faschingsrummel endlich vorbei, dafür geht’s nun auf Frauentagstournee. Hotelleben. Isolation, Melancholie.

2023: Über Nacht hat es nach Wochen eines 0815-Winters mal wieder geschneit. Am Vormittag interviewt mich Undine Freyberg von der Mitteldeutschen Zeitung, aber nicht ob des Frauentags, sondern über meine Initiative, Merseburg den Beinamen „Stadt der Zaubersprüche“ angedeihen zu lassen.

 

2024: Am Nachmittag Premiere meines Buches „Der 8. März“ bei der AWO Leuna, zur Frauentagsfeier, logisch. Volles Haus, mehr als 50 Leute. Gute Atmoshäre, und ich verkaufe sogar 4-5 Bücher, wow!

 

Fasson

für

’Abdallāh al-Ansāri / Sherwood Anderson / Thomas Beecham / Henry Ward Beecher / Hector Berlioz / Red Callender / José Raúl Capablanca y Graupera / Benjamin Carrión / Adolfo Bioy Casares / Hermann Conradi / Alexander Cumming / Simin Danschwar / Joe DiMaggio / Jim Durkin / Billy Eckstine / Tadley Ewing „Tadd“ Dameron / Hubert Fichte / Ingo Flach / Joseph Furttenbach der Jüngere / Gustaw Gwosdicki / Mathilde Kralik / Stepan Petrowitsch Krascheninnikow / Herbert Kroemer / Ruan Langyiu / Harold Lloyd / Ron McKernan / George Martin / Brigitte Mira / Elias Ravian / Othmar Schock / Ingo Schwichtenberg / George Stevens / Max von Sydow / Christoph August Tiedge / William Walton / Christopher Wren / Juliette Wytsman / Ferdinand von Zeppelin

 

An diesem Tage schien uns alles aus der Form zu geraten:

1669: bislang schwerster Ausbruch des Ätna / Ohio, 1782: beim „Gnadenhütten-Massaker“ erschlagen amerikanische Soldaten 96 christliche Indianer / 1950 gibt die Sowjetunion bekannt, nun auch über eine Atombombe zu verfügen / 1963 putscht sich in Syrien die Baath-Partei an die Macht / 1965: landen erste US-Marines in Da Nang, die USA treten in den Vietnamkrieg ein / 1968: das sowjetische U-Boot K-129 geht mit 96 Mann Besatzung im Pazifik unter / Beirut, 1985: bei einem Autobombenanschlag sterben mehr als 80 Menschen / 2014 verschwindet eine malayische Boeing 777 auf dem Flug von Kuala Lumpur nach Peking mit 239 Menschen an Bord spurlos.

 

 

9. MÄRZ

 

Höhenflug

mit

Emil Abderhalden / Peter Altenberg / Maria Àngels Anglada / Frank Arnau / Samuel Barber / Günther Birkenfeld / Peter von Bohlen / Elsa Cayat / William Cobbett / Ornette Coleman / Francisco del Rosario Sánchez / Herschel Evans / Ota Filip / Juri Alexejewitsch Gagarin / Franz Joseph Gall / Bruno Krauskopf / Sonia Lewiska / Lill-Babs / Mirabeau / Friederik Caroline Neuber / Jef Raskin / Emil Rosenow / Peter Rüchel / Vita Sackville-West / Bobby Sands / Franz Wilhelm Seiwert / Taras Hryhirowytsch Schewtschenko / Peter Scholl-Latour / Wage Rudolf Soepratman / Mickey Spillane / Johann Friedrich August Tischbein / Jean-Marc Vallée / Amerigo Vespucci

 

Da fühlten wir Höhe:

1276 wird Augsburg Freie Reichsstadt / 1839 wird Kinderarbeit in Preußen verboten / 1822 wird in den USA das erste Patent für Zahnersatz erteilt/ 1839 endet der Kuchenkrieg zwischen Mexiko und Frankreich / Frankfurt am Main, 1848 erhebt der Bundestag des Deutschen Bundes Schwarz-Rot-Gold zu Bundesfarben / Berlin, 1931: Ernst Ruska testet erfolgreich das vom ihm entwickelte Elektronenmikroskop.

 

Ich notierte:

1982: Heute auf den Straßen allenthalben überfahrene, zu Tode gequetschte Katzen. Und ich frage mich, weshalb nicht einer anhält und solche kleiner Leichnam von der Fahrbahn schiebt. Auch ich nicht.

1999: Im „Spiegel“ ein bemerkenswertes Statement von Carl Amery: „Das zentrale Ereignis des Jahrhunderts war und ist das Heraufdämmern der Frage nach den Überlebenschancen der Menschheit in einer Welt, die sich selbst ziemlich rasch unbewohnbar macht. Diese Frage trifft und betrifft alle Ebenen unserer Existenz - vom Alltag bis in die Weltinnensicht und Weltinnenpolitik.“

2022: Nach tagelangen Pinkelproblemen, klaustrophobisch, erstmals leise Erleichterung. Nach frostklirren Nächten Sonnenschein. Doch Putin lässt seine Truppen weiter die Ukraine verheeren. Die Welt wird eine andere.

 

Kapitulation

für

Dschamal ad-Din al-Afghani / Rosy Afasari / Anna Laetitia Barbauld / Robert Blake / Charles Bukowski / Robert Newton Calvert / Ali Akbar Dehchoda / Max Delbrück / Bradley Edward „Brad“ Delp / Inge Deutschkron / Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff / Otto Freundlich / Arthur Maurice Hocart / Friedrich Maximilian Klinger / Alexandra Michailowna Kollontai / Robert Mapplethorpe / Notorious B.I.G. / Hans Christian Ørsted / Anna Maria Ortese / Brun von Querfurt / Fernando Rey / Ivo Robić / Leopold Ritter von Sacher-Masoch / Ulrich Schamoni / Arnold Patrtick Spencer-Smith / Olga Tschechowa / Naná Vasconcelos / Frank Wedekind / Clara Westhoff / Usui Mikao / Yukteswar Giri / Jan Želivský

 

Das machte uns mutlos an diesem Tage:

1945 kommen in Tokio durch amerikanische Flugzeuge beim bis dahin schwersten konventionellen Bombenangriff etwa 100.000 Menschen ums Leben / Tiflis, 1956: bei einer Pro-Stalin-Aktion werden mindestens 80 Demonstranten erschossen / Euskirchen, 1994: bei einem Amoklauf im Amtsgericht sterben sieben Menschen / Hamburg, 2023: Amoklauf in einem Gemeindezentrum der Zeugen Jehovas, acht Tote.

 

 

10. MÄRZ

 

Entdeckung

mit

Pauls Bankovskis / Leon „Bix“ Beiderbecke / Karl Bröger / Laurel Blair Salton Clark / Mike Davis / Pablo de Sarasate / Joseph von Eichendorff / William Etty / Toni Frissell / Johann Rudolph Glauber / Hector Guimard / Arthur Honegger / Emily Pauline Johnson / María Kodama / Juan José Landeata / Péter Mansfeld / Marcello Malpighi / Mikimoto Kokichi / Luise von Mecklenburg-Strelitz / Romeo Morri / Arnošt Muka / Marie Nathusius / Frankie Ruiz / Joachim Sailer / Karl Wilhelm Friedrich Schlegel / Georg Wilhelm Steller / Tan Sitong / Frances Trollope / Boris Vian / Anna Barbara Walch-Künkelin / Jakob Wassermann / Leopold Zborowski / Alfredo Zittarrosa

 

An diesem Tage meinten wir Neues gesehen zu haben:

241 v. Chr: Ende des Ersten Punischen Krieges / 1535 erreichen erste Europäer die Galapagos-Inseln / 1801 wird in Großbritannien erstmals eine Volkszählung durchgeführt / 1908: Erstbesteigung des Mount Erebus in der Antarktis / 1977 wird das Ringsystems des Uranus entdeckt / 2001 nimmt die Free Software Foundation Europe ihre Arbeit auf.

 

Ich notierte:

1998: Rom. Endlich angekommen in der ewigen, in der Stadt der Städte! Und wie weiter nun? Schlendern durch die Porta Formaggio, über den Campo Cabrese, die Via Vino di Casa (rosso) und Ponte Minestrone zur Piazza Pizza Calzone oder zur Villa Fettuccine, zum Giordano Campari Orange und zur Viale Espresso al Tirami su? Oder streben über Quirinal und Esquilin, Gianicolo, Celio, Pincio, Kapitol und Palatin, jene wahrhaft sagenhaften Hügel also, zu dem, was bleibt dereinst, vielleicht? Und erkennen angesichts imperialer Ruinen eigene Nichtig- wie Notwendigkeit? Am besten wohl, wenn beides ginge, klar. Was aber, wenn dafür die Zeit nicht reicht, mir, hier und überhaupt?

2018: Maskat. In Sindbads Hafenstadt waren wir schon mal vor Jahrens, nutzen nun aber die Chance, ins Hinterland zu gelangen. Schon auf den ersten Blick haben wir den Eindruck, dass hier seit unserem letzten Besuch vor acht Jahren immens gebaut wurde. Keine Hochhäuser jedoch, kein Größenwahn also nach wie vor, alles moderat in die fahlbraune Halbwüsten-Landschaft gesetzt. Nach der nun schier endlosen City fahren wir noch gut eine halbe Stunde über Autobahnen vom Feinsten (erbaut von deutschen Firmen, hören wir – na bitte, geht doch) durch endlose Siedlungen mit neuen Flachbauten bis zum Küstenort Barka. Doch für wen wurde und wird hier denn eigentlich gebaut? Etwa 3 Millionen Omanis gibt es, dazu kommen 2 Millionen Gastarbeiter aus den üblichen Armutsländern, hier nicht zuletzt Pakistani. Und allein in der Hauptstadt dieses Staates, der knapp so groß wie Deutschland ist, in Maskat also leben schon mehr als eine Million Menschen. Soll auch der Rest der Bevölkerung noch hierher gelockt werden, der Rest verwüsten? Der Gastarbeiteranteil weiter erhöht werden? Und wie viel Energie wird allein für die unermüdlichen Klimaanlagen in jedem Haus verballert! Wie viel für die Bewässerung der großzügigen und schön anzusehenden, doch ausschließlich künstlichen städtischen Grünanlagen! Was wird aus Ländern wie diesem, wenn Öl und Gas mal alle sind? Die Macht- und Verteilungskämpfe dürften brutal werden, existenziell. Man blicke nur in den benachbarten Jemen, wo ein Bürgerkrieg angefacht wurde und unterstützt wird vom Iran auf der einen und den Golfstaaten unter Führung Saudi-Arabiens (also auch vom so friedlichen, wunderbaren Oman) andererseits, offenbar keinen Stein auf dem anderen lassen wird, auch nicht von einzigartigen Traditionsorten. Wir erreichen Nahkl, ein Gebirgsstädtchen mit einer altehrwürdigen Festung, die sehenswert über einer Oase thront. Und wir fahren noch ein Stück weiter ins Hajar-Gebirge hinein, zur Quelle all dieses natürlichen Grüns, nach Al-Thowarah. Hier könnte man verweilen, baden sogar… Doch schon geht’s zurück nach Maskat, andere Route, doch wieder 1A-Autobahn und neue Siedlungen über Siedlungen. Unverändert zu guter Letzt die Corniche, die stimmungsvolle Hafen-Promenade und der Mukrah-Soukh, Weihrauch geschwängert.

2021: Raymond Radiguet schrieb 1920 siebzehnjährig in „Den Teufel im Leib“: „Und wer mich verurteilt, möge sich vergegenwärtigen, was der Krieg für so viele Halbwüchsige wie mich bedeutete – vier Jahre große Ferien.“ Wie wird sich junge Literatur nach Corona artikulieren?

2022: Was für ein Satz im neuen Gedichtband meines Freundes Thomas Rackwitz: „Der Urknall machte die Götter taub…“

2023: Eine Fotografin kommt vorbei, die mich für das vorgestrige Interview am Arbeitsplatz ablichten will. Gut. Und besser noch: sie erzählt, dass sie mich seit fast dreißig Jahren kennt, da sie, als sie in der dritten Klasse war, in Spergau an meinem Zirkusprojekt „Salto Spergalli“ teilgenommen hatte – und schien noch immer begeistert.

2024: Im Zuge der US-Vorwahlkämpfe hat Trump erklärt, dass er von Gott gesandt sei. Führt er also nicht mehr eine Partei, sondern eine Sekte an? Worauf läuft das hinaus? Auf gnadenlose Kreuzzüge gegen Andersdenkende? Oder auf Massenselbstmord? 

 

Embolie

für

Percy Adlon / Blind Joe Reynolds / Michail Afanassjewitsch Bulgakow / Pietro Catanii / Muzio Clementi / Emilio Deldago / Kateryna Djatschenko / Keith Emerson / Zelda Fitzgerald /Johann Geiler von Kayersberg / Andy Gibb / Jean Giraud / Oswaldo Guayasemín /Corey Ian Haim / Balthasar Hubmaier / Friedrich Heinrich Jacobi / Leo Jogiches / Wilhelm August Kurt Erich Krems / Agnes von Krusenstjerna / Carl Marx / Jan Masaryk / Giuseppe Mazzini / Otto Modersohn / Frank O’Connor / Kurt Querner / Rose Renée Roth / Jewgeni Iwanowitsch Samjatin / Taras Hryhirowytsch Schewtschenko / Robert Siodmak / Su-á-pu-luck / Tōge Sankichi / Harriet Tubman / Charles Frederick Worth

 

An diesem Tage schien uns alles böse zu verstopfen:

1861 mit der Erobern der Hauptstadt Ségou durch muslimische Kämpfer endet das Königreich Bambara / 1893 erklärt Frankreich die Elfenbeinküste zur Kolonie / Courrières, 1906: beim schwersten Grubenunglück Europas sterben 1.099 Bergleute / 1987: Erdbeben in Ecuador, über 1.000 Tote / 2019 stürzt eine Boeing 737 Max auf dem Flug von Addis Abeba nach Nairobi an, alle 157 Insassen kommen ums Leben.

 

 

11. MÄRZ

 

Hitchhiking

mit

Ralph Abernathy / Douglas Adams / Julius Blüthner / Beppo Brem / Geoffrey Charles „Geoff“ Brown / Timothy Ray Brown / Nafissatou Niang Diallo / José Anastácio da Cunha / Benjamin Ferencz / Joachim Fuchsberger / Alexander Xaver Gwerder / Ales Harun / Robert Havemann / Wilhelmine von Hillern / Caesar von Hofacker / William Huskisson / Karl Krolow / Urbain Le Verrier / Paul Levi / Lucien Lévy / Georg Maurer / Sandra Milo / Helmuth James Graf von Moltke / Sagara Palansuriya / Vinnie Paul / Astor Piazzolla / Marie Christiane Eleonore Prochaska / Erich Schmitt / Soraya / Sunny Boy Williamson II. / Torquato Tasso / Raoul Walsh / Rodolphe Wytsman / Anton Viktorowitsch Yelchin / Harald zur Hausen

 

An diesem Tage fühlten wir uns mitgenommen:

London, 1702: „The Daily Courant“, die erste englischsprachige Tageszeitung erscheint / Leipzig, 1743: die Musikgesellschaft „Großes Concert“, das spätere Gewandhausorchester“ gibt ein erstes Konzert / 1985 wählt der Zentralkomitee der KPdSU Michail Gorbatschow zum Generalsekretär / 1990 erklärt Litauen seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion / Den Haag, 2003: die ersten Richterinnen und Richter des neugeschaffenen Internationalen Strafgerichtshofes werden vereidigt.

 

Ich notierte:

1980: Wir spielen im Sperrgebiet, in Schierke - wann kommt man da sonst schon mal hin - ja in einem NVA-Heim für Offiziersurlauber. Und schau an: hier bekommen wir sogar Ananas-Konserven zu kaufen! Nun ja, der Blick zum Brocken hatte auch was.

1982: Plötzlich klärt sich unser Wohnungsproblem. Ich erhalte Schlüssel für eine Besichtigung. Eine große Wohnung, zwei Zimmer, Küche, Bad, drei Mansarden, direkt hinterm Klubhaus. Habe ich das meinem neuen „Stand“ in Leuna zu verdanken? Eine fast schon beunruhigende Freude. Eine neue Wohnung, endlich, nach all den Jahren des Wartens, des Ärgers – hoffentlich klappt es nun auch. Am Abend kommt mein Vater und sagt, der Oma ginge es schlecht. Gehirnschlag, eine Seite gelähmt, versteht wohl noch alles, spricht aber nur noch unverständlich, hält die Augen fast immer geschlossen… Es sei ein Jammer. Ja, es bleibt einem wohl nie Zeit, sich zu freuen in dieser Welt. Freude und Leid liegen wohl stets zusammen.

2011: Zweite Trauung der Tochter. Verrammelt aber die Tür. Regen. Keine Klingel & Klopfen sinnlos. Erst kurz vorm Termin bequemt sich ’n missmutiger Typ zu öffnen (als wäre der mittlerweile klatschnass). Sein griesgrämiges Pendant in Jeans und schmuddligem Pullover entpuppt sich als Standesbeamtin. Und nicht mal ’ne Garderobe hat deren Amt (um wenigstens die klammen Klamotten loszuwerden). Doch dann höre ich erstmals von Fukushima. Und mir entfällt die schon vorformulierte Beschwerde (über Niveau- und Kulturlosigkeit und so fort…). Ist ja eh wieder keiner dran Schuld, nee, nirgends.

2023: Gen Abend nach Bad Dürrenberg zu Feier Eichis 70. Geburtstags. Da sind etliche Leutchen dabei, die ich seit langem nicht sah, da gibt’s reichlich zu erzählen.

 

Halt

für

Johann Friedrich Ernst Albrecht / Roy Chapman Andrews / Joseph „Joe” Ascione / Berthold von Reichenau / Richard Brooks / Brunwart von Augheim / Richard Evelyn Byrd / Dora de Houghton Carrington / Ken Dodd / Marion Gräfin Dönhoff / Berlin Elvan / Philo Farnsworth / Alexander Fleming / Claude François / Achim Frenz / Klaus Graßhoff / Rudolf Hell / Biljana Jovanović / Ole Kirk Christiansen / Hanns Lothar / Heinrich Mann / Helene von Mülinen / Friedrich Wilhelm Murnau / Peter Patzak / Pierre Renoir / Franz Sacher / Zdeněk K. Slaby / Sonny Terry / Costa Titch

 

Da stoppte uns auf einmal alles:

1822 fordert ein Orkan im Nordseeraum hunderte Todesopfer / 1841 verschwindet der Raddampfer „President“ verschwimdet auf der Fahrt von New York nach Liverpool mit 109 Menschen an Bord spurlos / 1864 bricht der Dale-Dyke-Staudamm bei Sheffield, etwa 270 Todesopfer / 1888 beginnt ein Blizzard an der amerikanischen Ostküste zu toben und fordert in drei Tagen mehr als 400 Opfer / Long Beach, Kalifornien, 1933: Erdbeben, 115 Tote / 1978 überfallen libanesische Fatah-Mitglieder zwei israelische Busse zwischen Haifa und Tel Aviv, bei der Befreiungsaktion kommen 37 Geiseln ums Leben / Madrid, 2004: bei einer Serie von Bombenanschlägen auf Züge sterben 191 Menschen, mehr als 1.500 werden verletzt / Winnenden, 2009: ein 17-jähriger Amokläufer erschießt 15 Menschen / 2011: das Tōhuku-Erdbeben löst einen Tsunami und die Nuklearkatastrophe von Fukushima aus und fordert 22.199 Opfer / 2020 erklärt die WHO die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus zur Pandemie.

 

 

12. MÄRZ

 

Schöpfung

mit

Alfred Peter Abel / Edward Albee / Richard Altmann / Gabriele D’Annunzio / Arnim Dahl / John Frederic Daniell / Don Drummond / Ingo Flach / Adolf Frohner / Ala Gertner / Christina Victoria Grimmie / Karl Hagemeister / Hanne Hiob / Al Jarreau / Jack Kerouac / Gustav Robert Kirchhoff / Arthur Koetz / Joachim August Enno Knipping / Paul Kuhn / André Le Nôtre / Alexander MacKenzie / Gordon MacRae / Anton Raphael Mengs / Nezami / Caspar Othmayr / Kosta Panica / Hester Stanhope / Hermann Stenner / Tian Han / Maria Tuci / Bodo Uhse

 

Da glaubten wir an Neues:

515 v. Chr.: Einweihung des zweiten Jerusalemer Tempels / 1356: Gründung der Universität Wien / 1918 wird Moskau anstatt Petrograd Hauptstadt Russlands / 1968 wird Mauritius unabhängig von Großbritannien / 1989 stellt Tim Berners-Lee im CERN bei Genf die Idee des World Wide Web vor / 1994 weiht die Anglikanische Kirche Englands erstmals Frauen zu Priesterinnen.

 

Ich notierte:

1980: Ich klingele bei einer Familie, die (wie uns Bekannte sagten) ihre Garage vermieten wollen. Und tatsächlich, das scheint ab 15. August zu klappen. Was für ein Glück! Nun fehlt allerdings noch ein Auto…

1999: Wohin man heute auch kommt (Zahnarzt, Künstlerhaus, Begegnungsstätte in Bad Dürrenberg) scheint’s nur ein Thema zu geben: der Rücktritt Lafontaines. Und meine Meinung scheint so ziemlich die allgemeine Stimmung zu spiegeln. Schwarzer Tag, Niederlage der Linken. Verblüffende Wirkungen an der Börse: in New York stieg der Kurs des Euro gegenüber dem Dollar nur wenige Minuten nach der Rücktrittsnachricht beträchtlich an! In dieser Welt scheinen die Weichen in kapitalbestimmte, ungerechte, visionslose Zukunft gestellt...

2018: Mit dem Bus von Dubai ins Nachbar-Emirat Sharjah, dessen Hauptstadt Sharjah-City seit 20 Jahren den Titel „UNESCO-Kulturhauptstadt der arabischen Welt“ trägt. Wir hoffen auf einen Gegensatz zu Dubais Prunk & Protz, der uns schon beim ersten Besuch vor Jahren anödete. Dem Tourismus nicht so recht förderlich scheint jedoch, dass hier die Scharia herrscht und absolutes Alkoholverbot (auch in Hotels) gilt. Auf den ersten Blick erscheint Sharjah-City wie eine Miniaturausgabe von Dubai-City. Hochhäuser nicht ganz so hoch, Highways nicht ganz so high… Doch dann sieht zahlreiche 20-Geschosser dicht bei dicht beieinander stehen und erfährt, dass hier vor allem all die Gastarbeiter wohnen, die in Dubai zwar schuften, sich dort jedoch keine Wohnung leisten können. Auch hiesige Gastarbeiter wohl. Immerhin zählt man in den Vereinigten Arabischen Emiraten mittlerweile bei ca. 1 Million Einheimische rund 9 Millionen Gastarbeiter. Tja, wer die Knete hat, kann sich eben bedienen lassen, rundum… Auffällig auch die vielen kleinen, doch meist interessant gestalteten Moscheen, und umso weiter man sich den Hochhausvierteln entfernt, sich der Altstadt nähert, gibt es Flachbauten-Viertel, die denen im Oman sehr ähneln. Sharjah scheint sich also zumindest teilweise ein menschliches Antlitz, hat sich menschliche Dimensionen bewahrt. Kultur. Sehenswert auch die Museen, die wir besuchten, das Heritage-, das Schul- und das Islamische Museum. Und freundlich, überschaubar die Malls. Sharjah – neben den schmuddligen Basaren Nordafrikas und den Glitzerwelten Dubais oder Abu Dhabis irgendwie eine dritte Spielart der heutigen arabischen Welt.

2020: Warum noch immer die Ferne, die Fremde also? Warum andere? Suche ich, was mir fehlt, was mir abgeht? Doch wenn es nur Langeweile, Ignoranz oder gar Abwehr zu finden gibt, zunehmend? Genüge ich mir dann alsbald selbst? Konsequent?

 

Schwanengesang

für

Anders Christensen Arrebo / Arnfried Astel / Otakar Batlička / Friedrich Wilhelm Bithorn / Robert Bosch / William Henry Bragg / Jurij Brězan / Clive Burr / Věra Chytilová / Miguel Delibes / Hilaire de Chardonnet / Joseph Delmont / Zoran Đinđić / Marie von Ebner-Eschenbach / Abbas el-Akkad / Elizabeth Wolstenholme Elmy / Howard Fast / Karl Wilhelm Feuerbach / Otokar Fischer / Lisa Fittko / Dick Fosbury / Friedrich Wilhelm Waldemar Fromm / Erwin Geschonnek / William Heinesen / Rutilio Grande García / Carl Lossow / Robert Ludlum / Craig Jamieson Mack / Alexander MacKenzie / Fatima Meer / Yehudi Menuhin / Joseph Monier / Nizami / Maximilianus von Numidien / Johann Möstel / Dieter Mucke / Charlie „Bird“ Parker / Theodor Plievier / Terry Pratchett / Muhammad Shamsuddeen III. / Philippe Soupault / Ré Saupault / Ludwig Stollwerck / Sun Yat-sen / Miwang Pholhane Sönam Tobgye / Heinz Oskar Wuttig

 

An diesem Tage hörten wir’s verröcheln:

1854 verbünden sich Frankreich und Großbritannien mit dem Osmanischen Reich, woraus der Krimkrieg erwächst / 1920: Beginn des Kapp-Putsches in Deutschland / 1928 bricht die Staumauer der St.-Francis-Talsperre bei Los Angeles, bis zu 500 Tote / 1934 kentert das japanische Torpedoboot „Tomozuru“ vor Sasebo, 100 Tote / 1938 annektiert Deutschland Österreich / Swinemünde, 1945: bei einem amerikanischen Luftangriff der Alliierten kommen etwa 4.500 Menschen ums Leben / Bombay, 1993: bei Bombenattentaten kommen 257 Menschen ums Leben, 713 werden verletzt / 1993: bei einem dreitägige Blizzard sterben an der amerikanischern Ostküste 300 Menschen /  Bamiyan, 2001: Taliban-Milizen sprengen jahrhundertalte Buddha-Statuen / 2023: in einem Zyklon kommen in Malawi, Mozambik und Madagaskar mindestens 309 Menschen ums Leben.

 

 

13. MÄRZ

 

Pastell

mit

Fritz Busch / Louis Chauvin / Mahmud Darwisch /Léon Noël Delagrange / Andrés Escobar Saldarriaga / Jacque Fresco / Peaches Honeyblossom Geldof / Johann Gottfried Gregorius / Herbert Paul Grice / Hermann Gruson / Hans Fredrik Gude / Gerd Haucke / Wassili Iwanowitsch Ignatenko / Joseph II. / Erich Kästner / Dick Katz / Otto Knöpfer / Wolfgang Kohlhaase / James Fintan Lalor / Li Qingzhao / Oskar Loerke / Percival Lowell / Filipe José Machado / Wladimir Semjonowitsch Makanin / Anton Semjonowitsch Makarenko / Donella Hager „Dana“ Meadows / Sergei Wladimirowitsch Michalkow / Richard Allen „Blue“ Mitchell / Inge Müller / Yonatan Netanyahu / George Pastell / Otto Rademacher / Lawrence Rooke / Scatman John / Karl Friedrich Schinkel / Giorgos Seferis / Heinz Steffens / Moritz Graf von Strachwitz / Frank Teschemacher / Jeghische Tscharenz / Mohamed Abdel Wahab / Hugh Seymour Walpole / Marcel Werner / Hugo Wolf

 

An diesem Tage erschien uns manches licht::

1781 entdeckt Wilhelm Herschel den Uranus / 1829: Gründung der Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft / 1848: Beginn der Märzrevolution in Wien / 1940 endet der Winterkrieg zwischen der Sowjetunion und Finnland / 1988: Inbetriebnahme des Seikan-Tunnels zwischen Honshū und Hokkaido, des mit 54 km damals längsten Eisenbahntunnels der Welt

 

Ich notierte:

1981: Freitag der 13. – und im Sperrgebiet! Harbke. Als wir ein Stück des Weges am Stacheldraht entlang fahren und dahinter, weit im Westen eine goldrote Frühlingssonne untergeht, meint Rodi, unser Keyboarder: „Brüder zur Sonne zur Freiheit“ dürfe hier wohl nur am Vormittag gesungen werden…

1999: Wie eine Art Frühjahrsputz überkommt es mich, meine CD-Sammlung umzuräumen und neu zu ordnen. Und am Nachmittag ist das Wetter bei Temperaturen um 12°C dann so stabil, dass Jeanny und ich erstmals in diesem Jahr im Garten Kaffeetrinken, auch einen Weinbrand dazu. Prosit Frühjahr!

 

Sgrafitto

für

Breno Accioly / Daevid Allen / Ivo Andrić / John Barbour / Nicolas Boileau / Johann Friedrich Böttger / John Frederic Daniell / Judge Dread / Walter Eichenberg / Emanuel von Friedrichsthal / Hans-Georg Gadamer / Jim Gordon / Bernhard Grzimek / Annette Hanshaw / Hara Tamiki / William Hurt / Krzysztof Kieślowski / Karl Konrad Friedrich Wilhelm Lachmann / Poul Martin Møller / Parviz Nikkhah / Louise Otto-Peters / Hans Joachim Pabst von Ohain / Jan Patočka / Hilary Putnam / Brent Renaud / Nora Schimming-Chase / Paul Adolf Seehaus / Fela Sowande / Adolf Stieler / Max Tau / Ernst Tugendhat / Berthold Heinrich Otto Vallentin / Friedrich August „Fritz“ Weineck / Fayzulla Ubaydullayevich Xo’jayev

 

Das prägte sich uns tief ein:

Merseburg, „1401 hat es „angefangen zu regnen u. gewehret bis auff Lampertii ein halbjahr lang. Deßen man nicht viel tage gehabt daran es nicht gereget hette, worauff eine überaus große theuerung erfolgt“ / Tennessee, 1925 wird verboten an Schulen Darwins Evolutions-Theorie zu lehren / Babi Jar, 1961: Flutkatastrophe, 145 Tote / 1992 kommen bei einem Erdbeben in der türkischen Region Erzincan etwa 650 Menschen ums Leben / Dunblane, Schottland, 1996: Amoklauf in einer Grundschule, 17 Todesopfer / 2012 wird bekannt, dass die Encyclopedia Britannica nach 244 Jahren nur noch digital erscheint /Ankara, 2016: bei einem Bombenschlag sterben 34 Menschen, mindestens 125 werden verletzt.

 

 

14. MÄRZ

 

Veredlung

mit

Miroslav „Mika“ Antić / Diane Arbus / Joseph „Joe“ Ascione / Mustafa Barzani / Benjamin Bathurst / Isabella Mary Beeton / Roldolfo Biagi / Paul Ehrlich / Albert Einstein / Frederik Ericsson / Helga Feddersen / Anna von Gierke / Carlo Giuliani / Ernst Goll / Milton Green / Ferdinand Hodler / Chris Hondros / Paul Ilg / Jegor Wladimirowitsch Jakowlew / Nadka Karadschowa / Kosugi Takehisa / Angus William MacLise / Maurice Merleau-Ponty / Emily Murphy / Mark Murphy / Nakazawa Keiji / Wolfgang Petersen / Kristian Jaak Peterson / Johann Joseph von Scherer / Shirley Scott / Angela Spook / Friedrich Stapß / Volker von Törne / Thomas Leopold Willson

 

Das erschien uns edel:

Osaka: 1970: Eröffnung der ersten Weltausstellung in Asien / Bonn, 1974. beide deutschen Staaten vereinbaren, Ständige Vertretungen einzurichten / 1986 passiert die ESA-Raumsonde „Giotto“ den Halleyschen Kometen.

 

Ich notierte:

1974: Das Warten auf unser Kind macht mich zunehmend nervos. Doch Jeanny agiert nach wie vor so, als stünde sie nicht kurz vor der Entbindung.

1982: Mitternacht. Ich bin in Meuschau. Vater ist soeben ins Bett. Mutter ging schon vor einer Stunde. Ich sitze und fühle mich außerhalb jeden Raumes, jeder Zeit, fühle mich in der Alltäglichkeit schwer verletzt. Oma ist tot. Kurz vor sechs heute Abend starb sie in meinem Beisein, verröchelte ihr zuletzt nur noch mit großer Anstrengung hervorbrechender Atem, braungelbe Galle rann aus ihrem Mundwinkel. Aus, ihr Mund zuckte, nein entspannte sich im Tod und ihre Augen, die seit gestern im Koma stets geschlossen waren, öffneten sich wie um mich noch einmal zu sehen. Und all die Angst, die ich seit ihrem Schlaganfall um sie hatte, war einem stillen Frieden gewichen. Ich hatte das Bedürfnis, sie im Tode zu streicheln, deckte sie schließlich ganz zu bis unter dem angezogenen Zudeck ihr Körper nur noch als Kontur zu erkennen war. Spätestens da war ihr Leben in meine Erinnerung übergegangen. Der Friede, den ich in ihrem Tode fühlte, gab mir Mut zu leben. Mir schossen seltsam lustige Lieder durch den Kopf, kaum zu verdrängen, zum Schämen, und zugleich weinte ich – doch registrierte dies als Gefühl: schau an, der gewiefte Aufsteiger hat ja noch Menschlichkeit in sich! Ich tastete nach einer Kerze, einer schlichten weißen, entzündete sie, auf dass sie neben Oma diese Nacht ruhig brennen möge.

1983: Heute Nachmittag Wahlversammlung des Verbandes. Von den Jungen, den Noch-nicht-Kandidaten sind einige dazugeladen und gekommen: Kowalski, Prautsch, Sagner, ich. Willi fehlt. Konrad wird zum neuen Stellvertretenden Vorsitzenden gewählt, ist aber irgendwie völlig von der Rolle, befürchtet, im Mai zur Fahne zu müssen. Wir quatschen und quatschen, aber so recht ist er nicht zu zerstreuen.

1988: Um mir ab April Schreibruhe zu sichern, habe ich sogar eine angebotene Reise in die SU abgesagt. Mir scheint, alle meine Mitarbeiter üben sich in Verantwortungslosigkeit. Ich will nicht noch provozieren, die so hart erkämpfte Schreibzeit nicht im leisesten ankratzen lassen.

2000: Mieses Wetter, wolkenbruchartiger Regen. Und das am Eröffnungstag des Bücherfrühlings, eine Art Nagelprobe für mich als Bödecker-Geschäftsführer in spe. Zuerst zwei Lesungen in halleschen Bibliotheken. Beide gut besucht, beide erfolgreich. Zwischendurch zu den Franckeschen Stiftungen, wo Herr Prof. Raabe für seine abendlichen Begrüßungsworte plötzlich noch einige Hintergrundinformationen haben möchte. Auch kein Problem, ja, damit hatte ich irgendwie schon gerechnet und entsprechende Infomaterial eingesteckt. Mittag treffe ich mich mit Henning und wir gehen zusammen essen, schnacken dabei über Gott und die Welt. Dann zurück in die Franckeschen Stiftungen, alle möglichen direkten Vorbereitungen auf den Abend. Als der riesige Saal dann fünf Minuten vor Beginn noch immer kaum gefüllt ist und die Musiker nicht da sind, wird mir doch etwas mulmig, zumal der für den Bödecker-Kreis zuständige Abteilungsleiter des Kultusministeriums angereist ist. Aber siehe da, wie mit einem Schwall füllt sich der Saal, gut 200 Gäste, und während ich als Moderator ein bisschen improvisiere, bauen die mittlerweile erschienenen Musiker ganz fix ihre Technik auf. Und so kann denn tatsächlich der Bücherfrühling wie von mir geplant eröffnet werden, und allein den Publikumsreaktionen nach, scheint alles auch wie geplant anzukommen. Uff!

2020: Angesichts weltweiter Hysterie, Schließungen, Absagen ob der Corona-Virus-Pandemie, all der hilflosen Reaktionen der Regierungen, frage ich mich, ob es wohl so weit hätte kommen können, wären die Staaten nicht von den Finanzheuschrecken kahlgefressen, die Gesundheitssysteme vor allem heillos zu­sammengekürzt, also überfordert? Doch selt­sam, obwohl sich die Journaille in Sensati­onshascherei überschlägt, scheint außer mir dies niemand zu fragen, geschweige denn darauf eine Antwort zu suchen.

 

Verdunkelung

für

Howard Hathaway Aiken / Jurek Becker / Walter Crane / Peter Maxwell Davies / Roque Joaquín de Alcubierre / Doc Pomus / George Eastman / Einhard / Giangiacomo Feltrinelli / Johann Anton Fils / Marielle Franco / Stephen William Hawking / Susan Hayward / Ernst Robert Henning / Robert Hooke / Linda Jones / Christian Gottlieb Haubold / Friedrich Gottlieb Klopstock / Johann Heinrich von Mädler / Konrad von Megenberg / Maria Leitner / Jean-Baptiste Louis Claude Théodore Leschenault de La Tour / Karl Marx / Samuel Maharero / Margarete Misch / Petrus Johannes Olivi / Walentin Grigorjewitsch Rasputin / Franz August Ferdinand Rehbein / Jacob Isaackszoon van Ruisdael / Fred Zinneman

 

Da verdunkelte es sich uns:

1888 endet der dreitägige „Große Schneesturm“ an der amerikanischen Ostküste, dem mehr als 400 Menschen zum Opfer fallen / Al Fujayrah: 1972: eine Caravelle stürzt über den Vereinigten Arabische Emiraten ab, 112 Tote/ 1978 marschiert die israelische Armee in den Libanon ein.

 

 

15. MÄRZ

 

Einordnung

mit

Doris Abeßer / Schores Iwanowitsch Alfjorow / Brunolf Baade / Ruth Bader Ginsburg / George Bähr / Emil von Behring / Jury Wassiljewitsch Bondarew / Louis Paul Boon / Anni Burkard / Philippe de Broca / Nicolas-Louis de Lacaille / Jüri Ehlvest / Alice Fletcher / Nikolaus Christoph von Halem / Hara Takashi / Paul Heyse / Lightnin’ Hopkins / Stefano Ittar / Marie Juchacz / Ernst Klee / Georg Lauer / Zarah Leander / Carl Ferdinand August Linger / George Perkins Marsh / Wolfgang Müller von Königswinter / Nikolaus von Myra / Ernst Neufert / Irmtraud Ohme / Atukwei Okai / Andreas Okopenko / Herbert Otto / Karel Purkyně / Joseph Jenkins Roberts / Willy Semmelrogge / Berthold Schenk Graf von Stauffenberg / Thure von Uexküll / Sérgio Vieira de Mello / Johannes Virdung / Yanji I

 

Da ordnete sich uns einiges ein:

153 v. Chr. wurde der Jahresbeginn von diesem Tage auf den 1. Januar verlegt / 933 besiegt König Heinrich I. die Ungarn bei Riade / 1776 erklärt South Carolina als erste nordamerikanische Kolonie seine Unabhängigkeit von Großbritannien / 1920: an einem Generalstreik in Folge des Kapp-Putsches nehmen deutschlandweit 12 Millionen Menschen teil / 2019 bleiben weltweit mindestens 1,7 Millionen Schüler dem Unterricht fern und demonstrieren unter dem Motto „Fridays for Future“.

 

Ich notierte:

1986: Meine Frauen sehen am Abend fern: Kapitän Nemo. Ich ziehe mich gelangweilt zurück. Was sollen mir technische Utopien? Zukunftsmodelle, aufbauend auf präziser Analyse derzeitiger Verhältnisse, sozial-ökonomische Verbesserungen weltweit würden mich interessieren, nicht diese von Massenmedien massenweise erzeugten Illusionen. Visionen sind gefragt, Gorbatschows Ideen z.B., ja, da ist Hoffnung, gründend auf Analyse.

2000: Heute Morgen schneit’s. Verrücktes Wetter. Ich arbeite den gestrigen Tag auf, habe auch einiges zu organisieren. Dann am Nachmittag nach Halle, Lesung für die Heimkinder der Klosterstraße. Dankbares Publikum, gute Veranstaltung. Anschließend ins Marktschlösschen zur Wahl des Verbandsvorsitzenden, die ich zu leiten habe. Alles läuft gut, Martin Meißner wird nach einigem Hin und Her zum neuen Vorsitzenden gewählt.

2001: Langsam scheint der Winter zu weichen, erste Gartenbegehung heute. Gott sei dank, selten kam mir diese graue, kalte Tristesse so ewig vor wie in diesem Jahr. Dauert diese Jahreszeit länger, wenn man älter wird? Auf jeden Fall höre ich mal wieder auf zu warten, und fange stattdessen an zu planen.

2021: Corona-Mutanten breiten sich weltweit rasant aus (und mutieren immer weiter). Auch in Deutschland scheint die dritte Infektionswelle nun angekommen. Weltweit sind fast 120 Millione Fälle registriert, in Deutschland 2,6 Millionen, in Sachsen-Anhalt 65.500.

2023: Am Nachmittag wieder zum Geschichtsstammtisch. Ich organisiere mir Unterstützung für meine „Zauberspruch-Kampagne“.

 

Ausgrenzung

für

Arthur Adamov / Nikolai Iwanowitsch Bucharin / Ernst Behm / Henri Bessemer / Lili Boulanger / Gaius Iulius Caesar /  Cao Cao / Luigi Cherubini / Richard Christ / René Clair / Okwui Enwezor / Mouloud Feraoun / Rachel Field / Luise Fleck / Bud Freeman / Johann Christian Guenther / Wolfgang Harich / Alexej von Jawlensky / Dembo Jobarteh / Sai Kaleshwar / Wolfgang Koeppen / Howard Phillips Lovecraft / Jürgen von Manger / Marg Moll / Odoaker / Johannes Oettinger / Mike Porcaro / Scipione Riva-Rocci / Johan Otto von Spreckelsen / Johann Wilhelm von Stubenberg / Victor Vasarely / Tarjei Vesaas / Grete Weiskopf / Caroline Weldon / Rebecca West / Lester Willis „Prez” Young / Alexander von Zemlinsky

 

Da fühlten wir uns nachhaltig ausgegrenzt:

Rom, 44. v. Chr.: Ermordung Caesars / Ravenna, 493: Theoderich tötet Odoaker bei einem Versöhnungsmahl / 1952 fällt auf Réunion die bislang größte an einem Tage gemessene Niederschlagsmenge: 1870 mm / 1979, Herat: Beginn eines fünftägigen Aufstandes, bei dem bis zu 25.000 Menschen ums Leben kommen / 2001 sinkt nach einer Detonation die brasilianische Ölplattform Petrobras 36, mindestens 10 Tote / Gërdec, 2008 explodiert ein Munitionslager der albanischen Armee, 26 Tote / Christchurch, 2019: ein islamfeindlicher Attentäter tötet 51 Moschee-Besucher/ 2023: seit Jahresbeginn kamen in Haiti durch Bandengewalt 531 Menschen ums Leben.

 

 

16. MÄRZ

 

Dynamisierung

mit

Doğan Akhanlı / Johann Georg Albinius d.Ä. / Aspazija / Anna Atkins / Paul Barsch / Alexander Romanowitsch Beljajew / Bernardo Bertolucci / Jacques Bingen / Karlheinz Böhm / Gerbrand Adriaenszoon Bredero / James Bulger / Jurij Jurijowytsch Darahan / Werner Eggerath / Tommy Flanagan / Elisabeth Flickenschildt / Wilhelm Florin / Johann Geiler von Kaysersberg / Conrad Gessner / Huschang Golschiri / Gustav Graul / Jakob Haringer / Caroline Herschel / Polo Hofer / Wolfgang Kieling / Margareta „Meta“ Klopstock / Lenka von Koerber / Jerry Lewis / Bengt Lidner / Luis E. Miramontes / Vaqif Mustafazadə / Napoléon Eugène Louis Bonaparte / Julius Oengo / Georg Simon Ohm / Sully Prudhomme / Yank Rachell / Jacob Schweppe / Haldun Taner / Nadja Tiller / César Vallejo / Elisabeth Volkmann / Sidonie Werner / Alexander Solomon Wiener / Yamaguchi Tsutomu

 

Da schien sich uns einiges gut zu beschleunigen:

1521 entdeckt Magellan die Philippinen / 1737 endet der Spanisch-Portugiesische Krieg in Südamerika / 1813 tritt Preußen gemäß der Konvention von Tauroggen in den Befreiungskrieg gegen Napoleon ein / 1872 findet das erste englische Fußballpokal-Endspiel statt / 1995 ratifiziert Mississippi als letzter US-Bundesstaat den 13. Zusatzartikel der US-Verfassung zur Abschaffung der Sklaverei.

 

Ich notierte:

1974: Sonnabend, heute ist der vorausberechnete Termin der Geburt unseres Kindes. Aber nichts weist darauf hin, dass es losgehen könnte. Also fahren Emil und ich nach dem Essen  zur Probe. Als wir zurückkommen sitzt. Jeanny  mit riesigem Bauch ruhig vorm Fernseher. Ich sitze dann zunehmend zappelig neben ihr. Und schon ist der amtliche Tag der Geburt unseres Kindes vorüber.

1983: So, nun bin ich mal wieder fertig mit dem „Sprachlos“-Manuskript. Jeanny hat soeben die drei Hefter, die umgehend nach Berlin, zum Verlag, müssen, ordentlich eingewickelt, ich habe sie säuberlich beschriftet… Möge es nützen! Gewiss, ich glaubte schon mehrfach, mit „Sprachlos“ fertig zu sein, und selbstredend ist die Hoffnung noch immer größer als das Selbstbewusstsein. Doch spüre ich zunehmend Freude, ein gutes Zeichen, punktum. Und auf jeden Fall ist mir nun die Mauer gefallen, die vor allen anderen meiner Projekten stand.

1987: Unglaublich: auf verharschten Schnee fällt enorm neuer Schnee, dichtes Schneetreiben – der kälteste März seit 1893, seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, wurde gesagt.

1999: Am Vormittag ins Merseburger Domgymnasium zum Tag der Literatur. Immerhin war das zu Zeiten, als diese Schule noch EOS „Ernst Haeckel“ hieß, die Penne, an der ich mein Abitur baute. Da kann man wohl von besonderen Veranstaltungen sprechen, zumal man sogar auf Lehrer trifft, die noch den Schüler Jürgen Jankofsky kannten... Am Nachmittag mit Achim nach Brüssel zur Vorstellung unseres Israel-Schreibprojektes im dortigen Haus der Neuen Bundesländer. Da dies ein Schüler-Schreibprojekt war und ist, fahren mit uns natürlich auch zwei Schüler(innen), Anna, Achims Tochter, und Veronika aus Spergau. Und neben der Fotoausstellung, die als „Nebenprodukt“ des Schreibprojektes entstand, transportieren wir im Auto selbstredend auch einige der druckfrischen Schülerschreibbücher. Übernachtungstop in Düren.

2022: Am Nachmittag Buchpremiere von „Hutzelmann“ in der Merseburger Walter-Bauer-Bibliothek, wegen Corona verschoben und auf den Beginn der Leipziger Buchmesse gelegt, wo der Mitteldeutscher Verlag die Veranstaltung im Messeprogramm auswies. Dann wurde die Messe jedoch abgesagt, und ich organisierte (nicht wissend, ob die geltenden Corona-Regeln Publikum zulassen würden), dass die Buchpremiere vom Offenen Kanal Merseburg mitgeschnitten und dann gesendet würde, damit das Buch dennoch eine Öffentlichkeit erfährt. Tatsächlich war dann heute so gut wie kein Publikum vorhanden, doch las ich ich unverzagt in die Kamera…

 

Largo

für

George Bähr / Aubrey Vincent Beardsley / Edith Bergner / Bríet Bjarnhéðinsdóttir / Aloys Blumauer / Paul Boldt / Constantin Brâncuşi Daniel Conkadze / Rachel Aliene Corrie / James Cotton / Dick Dale / Jean Jacques David / Nicolas de Staël / Gunnar Ekelöf / Elizabeth Adela Forbes / Andy Fraser / Egon Friedell / Karl Friedrich Friesen / Albert Gobat / Trude Herr / Umar Kayam / Christa Krug / Selma Lagerlöf / S. Mahinda / Jean Monnet / Giovanni Battista Pergolesi / Ward Pinkett / Pawel Iwanawitsch Prudnikau / Charles Daniel „Dannie“ Richmond / Jean-Baptiste Rousseau / Roger Sessions / Andreas Silbermann / Anita Steckel / T-Bone Walker / Tammi Terrell / Tiberius / Martin Waldseemüller / Yoshimoto Takaaki

 

An diesem Tage schwante uns langsam unwiderruflich Übles:

597 v. Chr. wird Jerusalem von babylonischen Truppen besetzt / York, 1190: Pogrom gegen Juden / 1244: katholische Truppen erobern die Burg Montségur, 225 Katharer werden verbrannt / 1906 Erdbeben auf Taiwan, 1.300 Tote / 1924 annektiert Italien den Freistaat Fiume / 1925: Erdbeben in der chineischen Provinz Yunnan, 5.000 Tote / 1935: Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland / 1939 erklärt Hitler die von der Wehrmacht besetzte Tschechoslowakai zum großdeutschen Protektorat Böhmen und Mähren, zugleich annletiert Ungarn die Karpatenukraine / 1945 wird Würzburg bei einem britischen Bombenangriff zu 80% zerstört, etwa 5.000 Todesopfer / 1962 verschwindet eine Lockheed Super Constellation auf dem Flug von Guam nach den Philippinen mit 107 Insassen spurlos / 1968 töten US-Soldiers in My Lai mehr als 500 vietnamesische Dorfbewohner / Maracaibo, 1969: eine DC-9 stürzt in einen Vorort, 155 Menschen sterben / 1978 wird der frühere italienische Ministerpräsident Also Moro von Linksterroristen entführt und 55 Tage später ermordet / Beirut: 1984 entführen Hisbollah-Anhänger den örtliche CIA-Chef William F. Buckley, der nach 444 Gefangenschaft stirbt / Halabscha, 1988: führt die irakische Luftwaffe einen Giftgasangriff durch, 5.000 Kurden kommen ums Leben / Stuttgart, 1994: bei einem Brandanschlag auf ein von Ausländern bewohntes Haus sterben sieben Menschen.

 

17. MÄRZ

 

Choreographie

mit

Francesco Albani / Jim Bridger / Pol Cassel / Kalpana Chawla / Austen Chamberlain / Nat „King“ Cole / Andreas Dahl / Gottlieb Daimler / Stephen Gately / Otto Hans Adolf Gross / Karl Gutzkow / Paul Kantner / Siegfried Lenz / Innocenzo Manzetti / Gabriel Narutowicz / Rudolf Chametowitsch Nurejew / Lawrence Edward Grace Oates / Boris Nikolajewitsch Polewoi / Mujibur Rahman / Elis Regina / Josef Gabriel Rheinberger / Jeanne-Marie „Manon“ Roland de La Platière / Bayard Rustin / Gerard Seghers / Arnold Patrick Spencer-Smith / Emil Stumpp / Karel Švenk / Urmuz / Karel Vanĕk / Stephen Wise / Marianne Wolf

 

An diesem Tage fühlten wir uns tänzerisch leicht:

1328 endet der erste Schottische Unabhängigkeitskrieg / 1816 überquert ein erstes Dampfschiff den Ärmelkanal / Berlin, 1920: der Kapp-Putsch bricht zusammen / Washington, D.C., 1941: Eröffnung der National Gallery of Art / Berkeley, 1950: erste erfolgreiche Darstellung eines Transurans / Südafrika, 1992: erfolgreiches Referendum zur Abschaffung der Apartheid.

 

Ich notierte:

1999: Nach dem Frühstück weiter gen Brüssel, vorbei an Aachen, dann durch einen Zipfel Niederlande und schließlich hinein nach Belgien, Provinz Limburg. Provinz Brabant (zu meinem Erstaunen blühen hier schon die ersten Bäume), vorbei an Leuwen und schließlich Brüssel. Ohne Probleme finden wir zum Haus der Neuen Länder und dort ins Verbindungsbüro des Landes Sachsen-Anhalts bei der Europäischen Union. Gutes timing: Zum einen sind wir so pünktlich, dass wir in Ruhe die Ausstellung aufbauen können, Abstimmen, Rahmen und Hängen, zum anderen kommen wir just einen Tag nach dem skandalumwitterten Rücktritt der EU-Kommission, der Regierung sozusagen, in die europäische Hauptstadt, und Hauptgesprächspunkt (zumindest der Leute, die mehr oder weniger direkt in den EU-Strukturen arbeiten) ist selbstredend diese Krise. In diesen Aufgescheuchtheiten bekommt man doch einiges vom Funktionieren (bzw. Nichtfunktionieren) der EU mit. Wie sagte einer der Mitarbeiter: Wo Subventionen verteilt werden, herrscht neben Lobbyismus und Bürokratie auch Korruption. Und zu verteilen gibt’s hier ohne Zweifel ‘ne ganze Menge... (Allerdings nicht für uns. Unsere Ausstellungseröffnung ist zwar das offizielle Programmangebot Sachsen-Anhalts im Rahmen der deutschen EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 - erfahren wir immerhin aus den Hochglanzprogrammheften - bis auf einen Benzinkostenzuschuss und die Übernachtungskosten in Brüssel bezahlen wir diese Reise aber aus eigener Tasche...)

2001: Mal wieder einen Winter überstanden, hoffte ich, nicht zuletzt, da Kälte und Tristesse mich Jahr um Jahr unbehauster machten. Da aber bemerkte ich zwischen frisch glänzenden die löchrig stumpfen Dächer, Häuser, die verfielen, während ringsum restauriert wurde. Ja, ich erinnerte mich der ewiggleich grauen Fassaden und hätte mir zeitlebens erstmals einen Schirm entspannt, wenn ich denn einen gehabt hätte.

2020: Noch immer – immer mal wieder – beim Sichten und Aufräumen meiner Schubladen. Und heute entdecke ich eine Notiz – keine Ahnung, wann ich die schrieb, noch weniger warum – vor, während oder nach unserer Kambodscha-Reise? Aber da hätte ich die wohl ins Reisetagebuch eingearbeitet? Als ich „Anna und Sovanni“ schrieb? Hm. – Unter Pol Pot wurde das Khmer von unnützen Wörten gesäubert: „Guten Tag“ bespielsweise, oder „Verzeihung“ oder „bitte“. Und auch das Wort „Ich“ gab’s nicht mehr, das brauchte man nicht länger, da es ja auch keinerlei Besitz mehr gab. Logisch, daß ein Ich somit kon­terrevolutionär war. Doch warum fällt mir dieses Zettelchen gerade heute in die Hand, da die Corona-Hysterie weltweit überbordet, Grenzen geschlossen werden, Geschäfte, öffentliche Einrichtungen, da schon erste Ausgangssperren gelten? Quo vadis? – Oder besser: Qui bono?

2021: Seit einiger Zeit arbeite ich an Porträts über Leute, die zu früh starben. Nun beschäftigt mich dieser Stoff sogar schon im Schlaf. Diese Nacht träumte ich von einer Frau der prophezeit wurde, sie werde sterben, wenn sie noch ein Gedicht zu Papier brächte. Sie schrieb es trotzdem. Als ich erwache schneit’s mal wieder.

 

Trott

für

Yann Arnaud / Mark Aurel / John W. Backus / Franz Brentano / Alex Chilton / René Clément / Jurij Jurijowytsch Darahan / Jack Davis / François de La Rochefoucauld / Christian Andreas Doppler / Julio Gonzáles / Grandville / Ric Grech / Helen Hayes / Ibn Chaldūn / Walter Janka / Irène Joliot-Curie / Eduard Klischnigg / Ingeborg Krabbe / Matthias Kraus / Ferdinand Laub / Käthe Leichter / Eduard Weniamonowitsch Limonow / Bongi Makeba / Monika Mann / Innocenzo Manzetti / Wilhelm Meyer-Förster / Heinz Nixdorf / Lawrence Edward Grace Oates / Ferdinand Oechsle / Patrick von Irland / Bona Peiser / Mateo Pumacahua / Luise Rinser / Nikolai Jegorowitsch Schukowski / Galaktion Tabidse/ Luchino Visconti / Derek Walcott / Betty Williams / Leopold Zunz

 

So schien uns alles schwer in Trott zu verfallen:

Merseburg, 1606: „Bei Einbruch der Nacht wehte ein unglaublicher und seit vielen Jahr unerhörter Sturm, und wütete erschrecklich die ganze Nacht hindurch, warf viele Gebäude um oder beschädigte sie, entwurzelte Bäume und fügte den Menschen sehr großen Schaden zu“ / 1800 sterben vor Livorno beim Untergang des britischen Linienschiffes „Queen Charlotte“ 673 Seeleute / Gibraltar, 1891: im Hafen kollidiert das Passagierschiff „Utopia“ mit dem Linienschiff „Anson“, 535 Menschen kommen ums Leben / 1959 flieht der Dalai Lama nach einem gescheiterten Aufstand gegen die chinesische Besetzung Tibets nach Indien / 1963 bricht auf Indonesien der Vulkan Agung aus, über 1.110 Tote / Cúcuta, Kolumbien, 1988: Absturz einer Boeing 727Verkehrsflugeuges, 143 Tote / Buenos Aires, 1992: vor der israelischen Botschaft explodiert eine Autobombe, 29 Tote / Kanungu, Uganda, 2000: ein Sektenführer verbrennt in einer Kirche mehr als 500 seiner Anhänger.

 

 

18. MÄRZ

 

Aufstockung

mit

Egon Bahr / Wolfgang Bauer / George Delmetia Beauchamp / Arnoldus Buchelius / Irene Cara / René Clément / Daniel Conkadze / William Randal Cremer / Marie-Madeline de La Fayette / Rudolf Christian Karl Diesel / Freidrich Robert Donat / Adam Elsheimer / Grant Hart / Christian Friedrich Hebbel / Rudolf Herrnstadt / Shashi Kapoor / Jeff LaBar / Johann Andreas Christian Loehr / Mikael Lybeck / Gian Francesco Malipiero / Stéphane Mallermé / Friedrich Nicolai / Erich Ohser / Wilfried Edward Salter Owen / Roland Paris / Wilson Pickett / Walter Rheiner / Nikolai Andrejewitsch Rimski-Korsakow / Thaddäus Troll /John Updike /  Karl von Utenhove / Barry James Wilson / Christa Wolf / Eric Woolfson / Marko Mykolajowytsch Woronyj

 

So schien es uns höher hinauf zu gehen:

Paris, 1662: Blaise Pascal gründet ein Pferdedroschken-Unternehmen, das erste Personennahverkehrs-Unternehmen der Welt / 1793: Ausrufung der ersten deutschen Republik, der Mainzer Republik / 1850: Gründung des ersten Eilzustelldienstes, von American Express / 1871: Beginn der Pariser Kommune / 1931: der erste Elektrorasierer kommt auf den Markt / 1938: Verstaatlichung der mexikanischen Öl-Industrie / Bonn, 1953: Unterzeichnung des deutsch-israelischen Wiedergutmachungs-Abkommens / 1962: Unterzeichnung der Verträge von Évian, Ende des Algerien-Krieges / 1965 unternimmt Alexei Archipowitsch Leonow einen ersten Außenbordeinsatz im Weltall / 1991: Ende des Bürgerkrieges in Angola / 2011 erreicht die amerikanische Raumsonde „Messenger“ den Merkur.

 

Ich notierte:

1980: Nach dem Frühstück nach Halle, Verabredung mit Heinz Sachs, dem ehemaligen Chef des Mitteldeutschen Verlages, in der Bezirksakademie, den interessiert, was ich alles so mache, was ich schreibe, und der wohl von Edith Bergner gehört hat, dass ich die Nase vom Muggerleben voll habe, aber nicht so recht weiß, was ich sonst machen könnte…

1985: Montag, zwei Tage vor Frühlingsanfang – und der dritte Wintereinbruch in diesem Jahr, zum dritten Mal liegt Schnee. Als ich zur Garage komme, ist die aufgebrochen, zum Glück: der Trabi steht noch da. Doch es fehlen – alle Sonnenbrillen!

1999: Während Achim mit den Mädchen nochmals in die Altstadt will, Pommes Frites essen, fahre ich mit der U-Bahn zum Quartier des Marolles, wo Breughel einst zu Hause war. Porte de Hal mit dem stattlichen Stadttor, der klotzige Justizpalast, der Vossenplein mit Trödelmarkt. Auf dem Rückweg kaufe ich kaufe ich als Mitbringsel ein Kilo Pralinen, das obligate Mitbringsel aus Brüssel wohl. Hier fragt man angeblich auch nicht: wie lange warst du in Brüssel? sondern: Wie viele Kilo hast du in Brüssel gemacht... Dann nochmals ins Verbindungsbüro, vorbei an den Glitzerpalästen der EU, für die ein ganzes altes Stadtviertel plattgemacht wurde, symptomatisch für diese Stadt wie für das, was hier politisch geschieht. Extreme Kontraste zwischen Ansprüchen, Wirklich- und Möglichkeiten. In unserem Auswertungsgespräch erfahren wir immerhin, dass die Ausstellung demnächst wahrscheinlich von zwei Brüsseler Schulen und am Ende möglicherweise sogar vom Parlament übernommen wird. Dann Hinweise auf Fördermöglichkeiten und Absprachen zur koordinierten Pressearbeit. Am Ende das Gefühl, dass man ohne „Vor-Ort-Hilfen“ schlichtweg keine Chance hat, durch den Dschungel von EU-Programmen zu kommen. Nicht von ungefähr unterhalten nicht nur die neuen Bundesländer und alle möglichen europäischen Regionen und alle möglichen Firmen hier Dépendencen, sondern sogar schon 9 U.S.-Bundesstaaten (wie wir auch hören)... Mittag sitzen wir wieder im Auto und verlassen Brüssel, verlassen Belgien, fahren und fahren und kommen gegen 19.00 Uhr in Leuna an.

 

Zusammenbruch

für

Ludvík Aškenazy / Chuck Berry / Olaf Böhme / Peter Borgelt / Tamara de Lempicka / Jacques de Molay / Rose Dugdale / Odysseas Elytis / Peter Ensikat / Hanuš Fantl / Ferdinand Freiligrath / Erich Fromm / Friedrich Wilhelm Gotter / Jet Harris / Juraj Jánošik / Franz Theodor Kugler / Bernard Malamud / Marien Ngouabi / Hamza Hakimzoda Niyoziy / Grace Ogot / Adam Osborne / Jochen Petersdorf / John Phillips / Joachim Sailer / Herbert Sandberg / Gerard Seghers / Jochen Senf / Hamid Skif / Wolfgang Spier / Laurence Sterne / Friedrich August Stüler / Anne Robert Jacques Turgot / Norbert Wiener / Jalal Zolfonoun

 

An diesem Tage schien uns alles einzubrechen:

Berlin, 1848: Barrikadenkämpfe im Zuge der Märzrevolution, 300 Tote / 1921: Ende des Kronstädter Matrosenaufstandes, hunderte Tote / 1925 kommen bei einem durch Illinois, Indiana und Missouri ziehenden Tornado 695 Menschen ums Leben, mehr als 2.000 werden verletzt / New London, Texas, 1937: Gasexplosion in einer Grundschule, 295 Tote / 1953: Erdbeben in der Westtürkei, 250 Todesopfer / Chungar, Peru, 1971: eine durch einen Bergrutsch ausgelöste Flutwelle tötet mehrere hundert Personen / 1980, Plessezk: Explosion beim Betanken einer Wostok-Rakete, 48 Tote / Manila, 1996: Brand in einer Diskothek, 150 Tote / Jemen, 2011: bei Protesten im Rahmen des Arabischen Frühlings werden 52 Demonstranten erschossen / 2014 annektiert Russland die Krim / 2023: Erdbeben im Grenzgebiet Peru/Ecuador, mindestens 15 Tote.

 

 

19. MÄRZ

 

Furore

mit

Peter Abrahams / Josef Albers / August Rudolf Brenner / Minna Cahnt / Sigrid Damm-Rüger / Pino Daniele / Emmy Gotzmann / Terry Hall / Frédéric Joliot-Curie / Dinu Lipatti / David Livingstone / Hans Mayer / Allen Newell / Dana Reeve / Max Reger / Philip Roth / Paul von Schönthan / Gabriela Silang / Tobias George Smollet / Leonard Joseph „Lennie“ Tristano / Tupac Amaru II. / Dan Turèll / Josef Wirmer

 

Das machte uns sichtlich Furore:

1563: endet der erste Hugenotten-Krieg durch das Edikt von Amboise / Barcelona, 1882: Grundsteinlegung für die Sagrada Família / 1911 wird erstmals der Internationale Frauentag begangen / 1932: Eröffnung der Sydney Harbour Bridge / 1946: die bisherigen Kolonien Guadeloupe, Martinique und Réunion werden französische Übersee-Départments / 1950 der Weltfriedenskongress verabschiedet den Stockholmer Appell zur Ächtung der Atombombe / 1964 wird der Große-St.Bernhard-Tunnel für den Verkehr freigegeben.

 

Ich notierte:

1980: Scheußliches Wetter, zwei Grad Minus, Schneetreiben. Am Nachmittag kommt ein Mann vorbei, dem ein Bekannter sage, dass ich nach einem Auto suche. Er will seinen Škoda verkaufen. Wir fahren zum meinem alten Kumpel Schorsch nach Merseburg, Kfz-Meister seines Zeichen. Der kriecht mit einer Lampe gleich unter das Auto, stochert hier und da, sagt schließlich: bis auf die Reifen alles halbwegs ok. Der Mann geht noch um 500 Mark runter. Gut, ich sage zu, 9.000 für den Himmelblauen! Wegen des Schneetreibens einigen wir uns darauf, dass er den Wagen am Sonntag bringt. Ich hoffe, das alles ist keine Fehlentscheidung. Jeanny freut sich, ein Gläschen Sekt! Ja, nun sind wir also Autobesitzer, Wohlstandbürger?

1981: Abschlussarbeiten für Literaturstudium beendet, unendlich viel, seit langem angesammeltes Material verarbeitet, und da auch die Tournee zu Ende und das ewig kaputte Auto verkauft ist, weicht etwas der äußere Druck und ich hoffe wieder Ordnung in meinen Alltag bringen zu können.

1990: Tag nach der Volkskammer-Wahl. Katzenjammer? Wohl eher Gleichgültigkeit. Wie sagte schon Erich Köhler auf dem Schriftstellerkongress: Wir sind ein Volk von Schwachköpfen! Selbst mit der Sehnsucht nach prallvollen Geschäften nur schwer zu verstehen, wie Leute eine Partei wählen, die ihre Interessen nicht vertritt – Leute, die doch weder christlich noch großbürgerlich sind. Immerhin wird diese Wahl die DDR (noch) nicht länderweise auseinanderbrechen. Und die Kohl-Truppen müssen nun beweisen, wie rasch sie hier alles zum Blühen bringen…

1999: Büroalltag im Künstlerhaus, und was für einer! Auf meinem Schreibtisch türmen sich Unterschriftenmappen, Briefe, Angebote, ständig klingelt das Telefon und laufend kommen Leute und tragen höchstwichtig irgendwelche Problemchen vor. Meingott, mal wieder einer dieser verrückten Stress-Tage an denen nichts zu gelingen und alles fragwürdig scheint...

2020: In Einstimmung auf ein neues Buchvorhaben – Arbeitstitel: „Session“ liste ich seit einigen Tagen Titel auf, die ich selbst einst spielte, bzw. die mir wichtig sind, die mich charakterisieren. Einem Ohrwurm gleich ging mir dabei ein Song, den wir Anfang der 1970er Jahre auf Bühnen brachten, den Wim unser Schlagzeiger sang. Mir fiel jedoch nicht mehr ein, wie der Titel hieß, geschweige denn, von wem er stammte. Da war nur eindringlich die Textzeile: Every day it’s the same we have to play Ich suchte im Internet mit allen denkbaren Routinen – nichts. Ich durchwühlte meine Schubladen mit altem Notenmaterial – nichts. Ich ging mein CD-Archiv auf und ab – nichts… Und plötzlich wusste ich: der Song stammte von Kin Ping Meh, und siehe da, ich fand die CD (obwohl falsch eingeordnet) und: schon hörte ich: Every day it’s the same we have to play… Was für ein Wunderding ist doch unser Gehirn! Unübertrefflich.

 

Fade out

für

Edgar Rice Burroughs / Marcel Callo / René-Robert Cavalier, Sieur de La Salle / Heo Chohui / Hugo Claus / Louis de Broglie / Georg Dehio / José Agustín Goytísolo / Klaus Havenstein / Paul Francis Kossoff / Mike Longo / Irmtraud Ohme / Emilie Mediz-Pelikan / Randall William „Randy“ Rhoads / Albrecht Roscher / Wilhelm von Schadow / Stephan Schütze / Paul Scofield / Ludwig Friedrich Wilhelm August Seebeck / Stephen John Seymour Storace / Tampa Red / Andreas Walser / Emil Wiechert / Andrew Patrick „Andy“ Wood

 

So blendete sich uns etliches aus:

1279: Untergang der Song-Dynastie nach der Niederlage der Chinesen gegen die Mongolen in der Seeschlacht von Yamen / 1739 ging nach dem Aussterben der Merseburger Herzogslinie ein großer Transport wertvoller Merseburger Kulturgüter nach Dresden ab / 1945 wird Hanau durch einen alliierten Luftangriff fast vollständig zerstört / 1945 ein japanisches Flugzeug bombardiert den amerikanischen Flugzeugträger „USS Franklin“, 743 Tote / Toulouse, 2012: ein Attentäter erschießt drei Kinder und einen Rabbiner vor einer jüdischen Schule / Konginkangas, Finnland, 2004: bei einem Busunfalls sterben 23 Menschen.

 

 

20. MÄRZ

 

Metamorphose

mit

Inés Arredondo / Wilhelm Ferdinand Bendz / Chester Charles Bennington / Robert Bodanzky / Nicolaas Bondt / Cəfər Cabbarlɪ / Toussaint Charbonneau / Heinrich Clauren / Anne Dufourmantelle / Ralph Giordano / Theodor von Heuglin / Friedrich Hölderlin / Johann Baptist Homann / Daniel Dunglas Home / Henrik Ibsen / Jigael Jadin / Moische Kulbak / Lothar Lang / Vera Lynn / Maja Maranow / Iwan Masepa / Duncan Ban MacIntyre / Marian McPartland / Arna Mer-Chamis / Karl August Nicander / Ovid / Michael Redgrave / Josef Reding / Carl Reiner / Swatoslaw Teofilowitsch Richter / Alfonso García Robles / Fred Rogers / Elizabeth Rona / Süleyman Taşköprü / Magda Trott / David Warren / Bernd Alois Zimmermann / Leonid Borissowitsch Zypkin

 

Da schien sich uns alles gut weiter zu entwickeln:

1212 beurkundet Kaiser Otto IV. die Gründung des Leipziger Thomanerchores / Memmingen, 1525 verabschieden drei oberschwäbische Bauerngruppen im Zuge des Deutschen Bauernkrieges die „Zwölf Artikel“ als ihr Manifest, die erste schriftlich fixierten Menschenrechtscharta der Welt / Venedig, 1591: Inbetriebnahme der Rialto-Brücke / 1800 stellt Alessandro Volta erstmals seine Voltasche Säule vor, die Vorläuferin der Batterie / 1956 erlangt Tunesien seine Unabhängigkeit von Frankreich.

 

Ich notierte:

1974: Ein verführerisch schöner Sonnentag lässt die stinkende, qualmende Nähe des Riesenwerks etwas in den Hintergrund treten. Ich bringe Jeanny zum Arzt, sitze stundenlang zwischen Müttern und werdenden Müttern in diversen Warteräumen herum und beäuge schreiende Kinder. Dann erlöst mich Jeanny, morgen muss sie ins Krankenhaus zur Spiegelung und vielleicht wird man sie dann gleich da behalten. Aber irgendwie glaube ich daran nicht so recht. Wir schlendern an Geschäften vorbei, kaufen dies und das, fahren wieder nach Hause.

1979: Selbstzersplitterung bis an den Rand der Schizophrenie. Gut, dass ich erkenne, dass dieses Pensum Irrsinn ist: mindestens 15 Muggen im Monat, dazu wöchentlich mindestens eine Probe und all die Probenvorbereitungen, das Schreiben von Arrangements, üben, massig Musikhören, gelegentlich das Komponieren von Songs nach eigenen oder fremden Texten, dann das Fernstudium am Literaturinstitut, lesen, lesen, lesen, das Schreiben von Belegarbeiten, dann die Zirkelleitungen in Deuben und Hohenmölsen, die Vor- und Nachbereitungen dazu, die Recherchen für das Deubener Auftragswerk, die Arbeit an diesem Werk selbst, die Mitarbeit in der AJA als Vorstufe für den Verband und schreiben, schreiben, schreiben… Ich muss entscheiden, was mir wirklich wichtig, was lebensnotwendig ist, sonst sind eines Tage Lügen meine ganze Wahrheit…

1980: Zur Mugge, Frauentagsfeier. Hört denn das nie auf? Gegen Mitternacht wieder zu Hause. In der Post ein Brief von Lisa Jobst, sie möchte, dass ich einen neuen Text von ihr vertone, Gisela May möchte den angeblich gern ins Programm nehmen. Na, dann schaun wir mal, ob mir was Passendes einfällt.

1985: Im Literaturzentrum bilden sich unter meinen Mitarbeiterinnen offenbar Fraktionen, manche Dame würde mich wohl gern loshaben, da werden plötzlich Anweisungen hinterfragt, da ist man wegen nichts und wieder nichts beleidigt, da wird provoziert… Und ich erfahre heute dazu, dass wir umziehen müssen mit dem Zentrum, raus aus den alten Räumen in der Stadtmitte, raus auf die Silbehöhe. Gefühl, bespitzelt zu werden.

1999: Weiter mit dem „Dienstag im November“. Wie immer wenn man die Arbeit an einem Text für einige Tage unterbrach, fällt es schwer wieder in die Figuren hineinzufinden.

2000: Frühlingsanfang. Ich muss nochmals nach Usti, die Bücher unseres Verlages holen, die Konrad wegen des geklauten Autos neulich nicht mitbringen konnte. Der Wetterbericht ist jedoch so, dass ich befürchten muss, im Erzgebirge in Schneetreiben zu kommen. Dem ist zumindest nicht so. Unterwegs, zwischen Wilsdruff und Freital, eine höchst seltsame Begegnung: Im Rückspiegel entdecke ich im nachfolgenden Auto einen Mann, der der Zwillingsbruder meines Vaters sein könnte, was für eine verblüffende Ähnlichkeit bis hin zur Mimik! Immerhin hatte das Auto ein Meißner Kennzeichen. Ansonsten läuft alles glatt und bei der Rückfahrt am Nachmittag lässt sich sogar die Sonne sehen.

2005: Fast hätte ich Kirchgänge oder Lottospielen als Alternativen zu den schier ewig grau-kalten Alltagen erwogen, da wurde es doch noch mal Frühling: dem Himmel sei dank.

2015: Die letzte Sonnefinsternis bestaunte ich mit meiner Enkelin. Die heutige bemerke ich kaum. Bei der nächsten werde ich längst nicht mehr sein.

2022: Mir träumte, Klitschko habe mir eins in die Fresse gegeben, der jüngere, glaube ich.

 

Mumifizierung

für

Firmin Abauzit / Ai / Avedis Aharonian / Brendan Fracis Aidan Behan / Conor Clapton / Cuthbert von Lindisfarne / Zayd Mutee’ Dammaj / Carl Theodor Dreyer / Johann Ladislaus Dussek / Gil Evans / Robert Gilbert / Tengku Amir Hamsah / Anna Margareta von Haugwitz / Hida Shintaro / Lew Iwanowitsch Jaschin / Adrienne Lecouvreur / Marvel Marilyn Maxwell / Charles Wright Mills / Johannes Nepomuk / Karl Otten / Kenny Rogers / Dulcie Evonne September / Karl August Tavaststjerna / Gordian Troeller / Michel Warlop / Jakob Wich / Fritz Winkler / Virginia Zeani / Heinrich Rudolf Zimmer / Hermynia Zur Mühlen / Leonid Borissowitsch Zypkin

 

Da meinten wir Bestattungsvorkehrungen zu sehen:

Foggia, 1731: bei einem Erdbeben kommen 2.000 Menschen ums Leben / Dehli, 1739: Tumulte und Massaker mit etwa 20.000 Toten / Mendoza, Argentinien, 1861: ein Erdbeben fordert etwa 6.000 Todesopfer / 1912 sinkt vor Western Australia der Passagierdampfer „Koombana“ in einem Zyklon, 138 Tote / Zgierz, 1942: als Vergeltung für zwei getötete Polizisten werden 100 Zivilisten von Nazis erschossen / Tokio, 1995: Giftgasanschlag in der U-Bahn, 13 Tote, mehr als 6.000 Verletzte / 2003: Beginn des Dritten Golfkrieges.

 

21. MÄRZ

 

Betrachtung

mit

Johann Agricola / Herbert Amry / Peter Brook / Ludmila Šebastová-Bučanová / Solomon Burke / Andrzej Bursa / Adriaan „Ad“ Dekkers / Françoise Dorléac / Hubert Fichte / Hermann Finck / Karl Fischer / Joseph Fourier / Gustav Fröhlich / Hans-Dietrich Genscher / Felix Alexander Gutbier / Cox Habbema / Peter Hacks / Friedrich Norbert Theodor von Hellingrath / Žiga Hirschler / Son House / Holger Jackisch / Karl Wilhelm Jerusalem / Herbert Joos / Benito Juárez / Josiah Mwangi Kariuki / Ivan Goran Kovačić / Shawn Lane / Robert Lebeck / Claude-Nicolas Ledoux / David Lindley / Alexander Georgijewitsch Malyschin / Fritzi Massary / Erich Mendelsohn / Russ Meyer / Poul Martin Møller / Eddie Money / Modest Petrowitsch Mussorgski / Rudolf Nebel / Alykul Osmonow / Jean Paul / Justin Charles Pierce / Jules Émile Planchon / Éric Rohmer / Ole Johan Samsøe / Johann Friedrich Carl Constantin Schroeter / Willi Schwabe / Ayrton Senna / Nikos Skalkottas / Hamid Skif / Song Taizu / Otis Spann / Rahel Staus / Max Steenbeck / Alfred Tokayer / Woodbridge Strong Van Dyke II. / Aina Wifalk

 

Das betrachteten wir gern an diesem Tage:

1590: ein Friedensvertrag beendet den Osmanisch-Safawidischen Krieg im Kaukasus / 1684 entdeckt Giovanni Demenico Cassini die Saturnmonde Dione und Thetys/ 1804 wird der Code Napoléon verkündet / 1846 erhält Adolphe Sax das Patent für das von ihm erfundene Saxophon / 1919: Ausrufung der Ungarischen Räterepublik / Weimar, 1919: Aufrichtung des Bauhauses / 1990 wird Namibia unabhängig.

 

Ich notierte:

1974: Wir stehen gegen Sieben auf, fahren zur Voruntersuchung in die Poliklinik und sitzen dann vorm Kreißsaal. Wir sind bei weitem nicht die Einzigen. Ich staune, wie viele werdende Mütter offenbar „über die Zeit gehen“. Alle Gespräche kreisen natürlich um Wehen, Schmerzen, Babys. Dann ist Jeanny dran. Doch es ist noch nichts. Vorsichtshalber hatten wir die Tasche mit den Babysachen und alles, was sie braucht mitgenommen. Aber man schickt Jeanny wieder nach Hause. Am Montag sollen wir wiederkommen. Es sei denn… Ein anderer werdender Vater erzählte mir, dass er das alles nun schon seit vier Wochen mitmache. Na denn.

1980: Nach dem Frühstück stelle ich das Programm für unsere bevorstehende ČSSR-Tournee zusammen. Und dann setze ich mich ans Klavier und mir gelingt es auf Anhieb den Jobst-Text zu vertonen. Dann zur Mugge ins Interhotel, Modeball.

1981: Ich lese in der AJA, Döppe meint, das Wichtigste für mich sei der ständige, fortwährende Austausch. Danach mit Willi und der Ionescu auf ein Bierchen. Wir reden offen über „die Firma“, die uns unter Druck zu setzen versucht, die wir loswerden müssen, irgendwie.

1999: Frühlingsanfang. Aber kühles, unfreundliches Wetter. Die halbe Nacht geisterten mir Ängste durch den Schlaf, liege ich, obwohl man sonntags ja schön ausschlafen könnte, in aller Herrgottsfrühe wach: Ängste um die Kinder, den Partner, um die deutlich älter werdenden Eltern, um den Job, Ängste vor Versagen, vor Scheitern schlechthin...

2020: Mir träumte, dass ich ein Corona-Tagebuch als Babelei beginne, wohl, damit es ab und an noch was zu Lachen gäbe. Tatsächlich in der Nachrichten: in Bayern prügeln Zechkumpane einen Mann krankenhausreif, als der plötzlich zu husten anfängt, doch die Saufrunde nicht freiwillig verlassen will… im Westfälischen gibt es in einem Supermarkt eine Prügelei um gehamstertes Mehl… im Hannoveranischen um Toilettenpapier… Allein im schwerstbetroffenen Italien sterben allein am Frühlingsanfang jedoch mehr als 600 Menschen an der Seuche, in Deutschland registriert man mehr als 6.000 Neuinfizierte an einem Tag…

2022: Am Vormittag nach Spergau. Mit meinem alten Freund Eichi zum Grab unseres alten Freundes Peter. Die Madam, die Peter offenkundig beerbt, hatte den Beisetzungstermin vor uns geheim gehalten, warum auch immer. Vorgestern war er stillschweigend, „im kleinsten Kreis“ beigesetzt wurden. Was für ein Trauerspiel.

 

Betrübnis

für

’Asma’ bint Marwān / Evald Aav / Chinua Achebe / Benedikt von Nursia / Nicolas-Louis de Lacaille / Georg Dehio / Klaus Dinger / Nawal El Saadawi / Leo Fender / Fujiwara no Kanesuke / Alexander Konstantinowitsch Glasunow / Jean Guitton / Marlen Haushofer / Friedrich Hoffmann d.Ä. / Luke Howard / Robert Georg Adolf Alfred Jentzsch / Christoph Kaufmann / Olha Julianiwna Kobyljanska / John Law / Dieter Liesegang / Péter Mansfeld / Nadar / Pinetop Perkins / Pocahontas / Michael Redgrave / Richeza / Franz Schreker / Karl Stamm / Patrick Steptoe / Jindřich Štrský / Galina Sergejewna Ulanowa / Johannes van der Aeck / Charles Alfred Guy Vetter / Margarete von Wrangell / Johann Rudolf Wyss / Adam Zagajewski / Bernhard von Zech / Johann Heinrich Zedler / Wilhelm Zobl

 

Das betrübte uns an diesem Tage nachhaltig:

1551 sah man in Merseburg „früh um 7 uhr sieben Regenbogen und drey sonnen und am Abend drey monde“ / 1788 zerstört ein Großbrand New Orleans fast vollständig / Ponce, Puerto Rico, 1937. Polizisten erschießen 21 Demonstranten / 1959: chinesisches Militär schlägt den tibetischen Volksaufstand nieder / Sharpeville, Südafrika, 1960, Polizisten erschießen 69 Demonstranten / Red Lake, Minnesota, 2005: beim Amoklauf eines Schülers sterben 10 Menschen.

 

 

22. MÄRZ

 

Edition

mit

Øystein Aarseth / Breno Accioly / Berry Louis Cannon / Johannes Carion / Bruno Ganz / Paul Gehrhardt / Albrecht Goes / Michael Hamburger / John Frederick Kensett / Jochen Klepper / Ludvík Kundera / Samuel Gottlob Lange / Nino Manfredi / Marcel Marceau / Chico Marx / Tony McPhee / Edward Moor / Manfred Simon Noa / Farrochru Parsa / Josip Račić / Puteh Ramlee / Keith Relf / Gabriel Rollenhagen / Abbas Mirsa Scharifzadeh / Gustav von Schlabrendorf / Ernst Karl Friedrich Schulze / Adam Sedgwick / Richard Teschner / Togashi Masahiko / Ulugh Beg / Anton van Dyck / Roger Whittaker / Dmitri Antonowitsch Wolkogonow / Heinrich Zollinger / Heinrich Zschokke

 

Das wollten wir gern weiter verbreiten:

Berlin, 1876: Eröffnung der Nationalgalerie / 1895 führen die Brüder Lumière erstmals ihren Cinématographe vor / Berlin, 1935: Ausstrahlung des ersten regulären Fernsehprogramms der Welt / 1946 wird Jordanien unabhängig.

 

Ich notierte:

1982: Gestern erlebten wir Olaf in seiner ersten Bühnerolle, dem Nardo in Mozarts „Gärtnerin aus Liebe“ in Dresden Seit Omas Tod zum ersten Mal wich mir eine ständige Anwesenheit des Todes etwas. Doch bleibt alles irgendwie zerrissen mir. Am Freitag zeichnete mich völlig überraschend der Bezirksschulrat für mein Engagement für die „Tage der Kinder und Jugendliteratur“ aus. Und irgendwie sehe ich die eigenen Grenzen wieder vor mir, ahne, dass ich nie über „alles“ werde schreiben können. Widersprüchlich das alles von hinten bis vorn. Selbst dieser Eintrag kreist irgendwie um einen Punkt, den ich nicht so recht benennen kann…

1986: Sonnabendabend und einmal mehr in allen erreichbaren Fernsehprogrammen kein Programm. Komme ich also endlich dazu, das zu lesen, was ich längst gelesen haben wollte: „Herr der Fliegen“. Wie brandaktuell ist doch die Möglichkeit eines Rückfalls in Barbarei!

1999: Montagshektik, aber vielleicht ein bisschen schlimmer als sonst: Konrad ist krank, da ist mal schnell noch einem Jahresbericht zuzuarbeiten und ein Seminar vorzubereiten. Telefon, Fax, Besucher, Frager, Unterschriften. Dann Verhandlungen über einen Kinderkalender, den unser kleiner Verlag herausbringen soll, dann ein Interview mit dem Mitteldeutschen Rundfunk über den Brüssel-Besuch, dann eine Diskussionsrunde mit Gymnasiasten über Lebensansichten, Werte, Eltern etc. anhand von Schülertexten. Erstaunlich opportunistische Ansichten werden da geäußert, sich einrichten in dieser Gesellschaft, in der man doch angeblich nichts verändern kann, nahtlos anpassen, um Himmels willen nicht anecken, nichts riskieren... Puh. Gut, dass ich von Gleichaltrigen auch schon anderes hörte und spürte (von einzelne zumindest). Schnell zurück nach Leuna, Jeanny abholen und zur Eröffnung des diesjährigen Bücherfrühlings nach Roßlau. Ich moderiere. Peter Abraham und Günter Görlich lesen. Läuft ganz gut. Das hätte ich mir vor 10, 12 Jahren wohl auch kaum vorstellen können, mal wie selbstverständlich neben so namhaften Altvorderen wie Abraham und Görlich im Präsidium zu sitzen... Danach mit Jeanny essen, wir sind die einzigen Gäste in diesem China-Restaurant, sind zuerst etwas skeptisch, werden aber köstlich bekocht. Schließlich des Nachts durch absolutes Sauwetter über die Autobahn zurück nach Hause. Uff. Das war mal wieder einer dieser 14-Stunden-Tage.

 

Eloge

für

José Antonio Aguierre / Michael Beer / Richard Brenner / Pierre Brossolette / Edward Theodore Compton / Louis Delluc / Ernst Deutsch / Gerhard Fritsch / Lodovico Guicciardini / Johann Wolfgang von Goethe / Hans Kohlhase / Israel López / Jean-Baptiste Lully / Julian Balthasar Marchlewski / Johannes Richard zur Megede / Grete Minde / Ernst Ortner / Gret Palucca / Johann Leonhard Tost / Kurt Sauerland / Paul Verhoeven / Scott Walker / Kurt Wallenda / Henri Mathieu Ghislain Xhonneux

 

An diesem Tage verging uns das Loben:

1939 besetzten deutsche Truppen das Memelland / Chatyn, 1943: SS-Truppen verbrennen 150 Dorfbewohner in der Kirche des Ortes / Frankfurt am Main, 1944: bei einem Bombenangriff wird die gotische Altstadt fast vollständig zerstört, 1.001 Tote / 1945: etwa 1.500 Einwohner kommen bei der Bombardierung Hildesheims ums Leben, die historische Altstadt wird zerstört / Brüssel, 2016 bei Terroranschlägen kommen 32 Menschen ums Leben, 230 werden verletzt / Krasnogorsk, 2024: bei einem Anschlag in einem Konzertgebäude gibt es 144 Todesopfer. 

 

 

23. MÄRZ

 

Profilierung

mit

Ibrahim Abouleish / Louis Adamic / Ama Ata Aidoo / Lale Andersen / Gottlieb Bertrand / Theodor Maximilian Bilharz / Alan Tudor Blaikley / Daniel Bovet / Zuzana Brabcová / Wernher von Braun / Donald Malcolm Campbell / Josef Čapek / Henri Carré / Joan Crawford / Cahles Deas / Roger Martin du Gard / Dora Gerson / Juan Gris / Lea Grundig / K’inich Janaab Pakal I. / Kurosawa Akira / Pierre-Simon Laplace / Frank Möbus / Amalie Emmy Noether / Ric Ocasek / Hans-Martin Pleßke / Anneliese Probst / Ludwig Quidde / Julius Reubke / Walter Rodney / Wilhelm Sauer / Franz Schreker / Thomas Selle / Ugo Tognazzi / Wilhelm Trippe / Karl-Heinz Tuschel

 

An diesem Tage nahm für uns manches Gestalt an:

Madrid, 1766: der Hutaufstand gegen königliche Willkür bricht aus / 1799 entdeckt Edward Pigott die Blackeye-Galaxie / Kalamata, 1821: Propagierung der Griechischen Revolution gegen die Osmanischer Herrschaft / Boston, 1839: erstmals wir der Begriff „O.K.“ dokumentiert / 1881 endet der Erste Burenkrieg / 1950: Gründung der Weltorganisation für Meteorologie / 1895 isoliert William Ramsey erstmals Helium / 1900: Beginn der Ausgrabung von Knossos / 1956 wird Pakistan die erste Islamische Republik / 1964: Beginn der ersten Welthandelskonferenz / Hobart, Tasmanien, 1972: Gründung der ersten Grünen Partei der Welt .

 

Ich notierte:

1980: Herrlicher Sonnenschein. Ich male mir aus, wohin wir mit unserem Auto, das ja gleich geliefert werden soll, fahren könnten. Nach dem Mittagessen schreibe ich ein wenig. Es wird zwei, drei, vier – kein Auto. Wir trinken Kaffee – nichts. Der schöne Sonnenschein ist weg, und um fünf gebe ich die Hoffnung schließlich auf. Da bin ich wohl mal wieder verarscht worden. Am Abend mit dem Moped zu Alma. Er sagt, für ’nen Skoda gäbe es eh keine Ersatzteile und Reifen schon gleich gar nicht. Ok. Ich entkrampfe etwas. Ja, vielleicht war’s besser so. Aber ich ärgere mich trotzdem sehr.

1981: Seitdem ich Döppes Roman gelesen habe, schleppe ich den ständig mit mir rum, will ihn signieren lassen. Aber weder zur AJA-Zusammenkunft noch zur Verbandstagung, zu der ich erstmals eingeladen war, hatte ich dann Skrupel darum zu bitten.

Irgendwie ging mir durch den Sinn: kann einem Kinderbuchautor vorgehalten werden, er habe einen infantilen Geist?

1999: Am Morgen in der Merseburger Curie-Schule zu einer Veranstaltung mit den 6. Klassen. Die Schüler hatten die Begegnung mit mir in einem Schreibwettbewerb gewonnen. Entsprechend das Interesse. Eine gute Veranstaltung. Dann für die notwendigsten Arbeiten ins Künstlerhaus, und weiter nach Güntersberge, Absprache zum diesjährigen Eurocamp, in dem Kinder aus 13 Ländern an einem Tag im Sommer auch künstlerisch arbeiten sollen und am Ende sogar auf der Bundesgartenschau in Magdeburg mit einem Kunstprodukt präsent sein sollen. Schön und gut und alles Mögliche hat man schon gedacht, nur an eines nicht - dass für solche Aktionen auch Geld gebraucht wird... Das Übliche halt. Mehr und mehr scheinen Bürokraten künstlerische und literarische Beschäftigung als Hobby, als Spaß an der Freude anzusehen... Am Abend verdichten sich die Meldungen, dass ein NATO-Luftangriff auf das halsstarrig den Kosovo-Konflikt zuspitzende Jugoslawien kurz bevorzustehen scheint. Krieg also. Schlimm.

 

Protokoll

für

Luis Felipe Arias / Thomas Carew / Bennie Green / Mike Hailwood / Nicolas Isouard / Ernst Keil / August Friedrich Ferdinand von Kotzebue / Reinhard Lakomy / Erna Lauenburger / Richard Leacock / Peter Lorre / Zororo Makamba / Giulietta Masina / David McTaggart / Jacob Mathias Miller / Emmanuel Mounier / Maurizio Pollini / Julie Pomagalski / Jean Prouvé / Ingeborg Rapoport / Keith Reid / Hans Werner Richter / Nikolai Grigorjewitsch Rubinstein / Florenz Robert Schabbon / George Segal / John Haley „Zoot“ Sims / Albert Thoralf Skolem / Stendhal / Elizabeth Taylor / Beatrice Muriel Hill Tinsley / Howhannes Tumanjan / Caroline Unger / Miroslava Breach Velducca / Hans Wachenhusen / Assia Ester Wevill

 

Das hätten wir lieber nie zu Protokoll gegeben:

1911: sinkt vor Townsville der australische Passagierdampfer „Yongala“ in einem Zyklon, alle 122 Menschen an Bord kommen ums Leben / 1919 gründet Mussolini die faschistische Bewegung Italiens / 1994: Absturz einer russischen Airbus A310 auf dem Flug von Moskau nach Hongkong, 75 Tote / 2001 verglüht die Rumstation Mir nach 15 Jahren in der Erdumlaufbahn gezielt über dem Pazifik / Petrópolis, Brasilien, 2024: in einem Sturm kommen mindestens 20 Menschen ums Leben.

 

 

24. MÄRZ

 

Entfesselung

mit

Georgius Agricola / Arai Hakuseki / László Arany / Roscoe Conkling „Fatty“ Arbuckle / Joel Barlow / Alexandre Edmond Becquerel / Nikolaus Cisnerus / Holger Czukay / Mariano José de Larra y Sánchez de Castro / Michiel de Ruyter / Klaus Dinger / Hans Ertel / Klaus Feldmann / Lawrence Ferlinghetti / Dario Fo / Charles Théodore Fournel / Robert Hamerling / Ub Iwerks / Heinrich von Mecheln / Harry Houdini / Rosita Ionescu / Horst Jäger / Heiko Koschitzky / Józef Jerzy Kukuczka / Richard Leising / Fanny Lewald / Eilhard Lubin / Steve McQueen / Carlo Mierendorff / Édouard Nanny / Peret / Joseph Priestley / Wilhelm Reich / Alice Rühle-Gerstel / Joseph Sauveur / Olive Schreiner / Christian Friedrich Daniel Schubart / Georg Philipp Telemann / Max Waldau / Martin Walser / Edward Weston

 

Da meinten wir, würde Gutes freigesetzt:

1756 erlässt Friedrich II. eine Ordre, dass in Preußen Kartoffeln anzupflanzen sein / 1794: Beginn des polnischen Aufstandes unter Tadeusz Kośiuszko / 1882 berichtet Robert Koch über seine Entdeckung des Tuberkulose-Erregers / Bischkek, 2005: Beginn der Tulpen-Revolution.

 

Ich notierte:

1980: Nach Halle, ich bin zu einer Versammlung des Komponistenverbandes eingeladen. Das Wetter ist leidlich, also fahre ich mit dem Moped. Am Nachmittag Probe im Volkspark für die ČSSR-Tournee.

1986: Ein Scheißtag, ’ne Menge Sachen gehen in die Hose. Und am Abend in den Nachrichten, dass die Lybier sich mit den Amis verhakt hätten, die in der Großen Syrte ein Seemanöver abhalten (was wollen die da?), man sich gegenseitige mit Raketen befeuere… Was wird das? Geht’s jetzt da los, verdammt?

1989: Karfreitag. Nach Ostern soll es nun endlich das Gespräch über meine weitere Arbeit im Literaturzentrum geben. Muß ich hoffentlich bald nicht mehr Chef sein?

1999: Heute nun die Premiere des Schülerbuches „Träume Taufrisch“, natürlich im Künstlerhaus. Neben üblichen Büroarbeiten am Vormittag die Vorbereitungen. Dann ab 14.00 Uhr die eigentliche Premiere. Etwa 100 schreibende Schüler sind erschienen, dazu Eltern, Freunde, Lehrer, proppevoll der Saal. Erfreulicherweise erschienen auch Pressevertreter. Fast 50 Schüler wollen lesen, straffes Programm also. Doch alles läuft gut und zügig und in einem Klima verständnisvollem, freundlichem Interesses. Alle die zu Wort kommen wollten, kommen zu Wort. Ich kann problemlos leiten und moderieren. In den Nachrichten dann aber die Meldungen, dass Jugoslawien bombardiert wird. Und plötzlich sogar eine Fernseh-Live-Ansprache des Bundeskanzlers: ...zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges sind deutsche Truppen wieder in Kampfhandlungen involviert...

2000: Mainz. Bundesversammlung der Bödecker-Kreise. Thea stellt mich den Kollegen als künftigen Landesgeschäftsführer Sachsen-Anhalts vor. Ansonsten Berichte, Wahlen, Planungen, Diskussionen. Und natürlich mal schnell in den nahen Mainzer Dom gehuscht. Am späten Nachmittag weiter nach Bonn. Mieses Wetter. Nieselregen, in der Eifel sogar stellenweise Nebel, und ständig sehr dichter Verkehr. Gegen 19.00 Uhr erreiche ich endlich das Hotel, das „Bristol“ Vier-Sterne-Klotz in Bahnhofsnähe. Rüdiger, mit dem ich die Bosch-Ausstellung im Haus der Deutschen Geschichte vorbereitete, wartet schon, freut sich sichtlich. Also nur schnell mal die Hände gewaschen und die Haare gekämmt und auf zum Abendessen mit Kölsch. Und wie es der Zufall so will taucht im „Stiefel“, der Gaststätte, für die wir uns entschieden, schließlich sogar Prof. Schäfer, der Direktor des Hauses der Geschichte mit einem Freund, einem Politikprofessor aus Jena, auf. Da wird’s selbstredend spät.

2021: Die Bundesregierung hat mit den Länderpräsidenten eine Verlängerung des Lockdowns bis 18. April mit diversen Verschärfungen beschlossen. So sollen beispielsweise über Ostern die Gotteshäuser geschlossen bleiben, nur virtuell besucht werden können – das war aber mit den Kirchen nicht abgestimmt, die nun auf die Barrikaden gehen. Das Chaos nimmt zu.

 

2024: Lange nicht mehr „Pain of Salvation“ gehört. Aber wahrscheinlich kann ich mir Daniel Güldenlövs Musik nicht überhören. Sie erscheint mir wie eine Substanz meiner Traum- und Seelenlandschaften.

 

Einschnitt

für

José Antonio Abreu / Neil Aspinall / Lys Assia / Roger Cicero / Anarchasis Cloots / Arnett Cobb / Johannes Conrad / Richard Dauber / Pieter de Hooch / Manu Dibango / Johann Wolfgang Döbereiner / Frans Cornelis Donders / Conrad Felixmüller / Marie Goegg-Pouchoulin / Enrique Granados y Campiña / Al Grey / Alice Guy-Blnaché / John Harrison / Friedrich Hecker / Dietrich Herfurth / John Hersey / Amalie Hohenester / Arne Jacobsen / Jørgen-Frantz Jacobsen / Henry Wadsworth Longfellow / Terrence McNally / Alfred Messel / Heinrich Neuy / Juliane Noack / Charlotte E. Pauly / Auguste Piccard / Óscar Romero / Karl Schönböck / Ernest Shepard / Joseph-Marie Déodat de Séberac / Vera Skoronel / John Millington Synge / Bertel Thorvaldsen / Albert Uderzo / Jules Verne / Richard Widmark

 

An diesem Tage spürten wir schmerzhafte Einschnitte:

1878 sinkt das britische Schulschiff „Euridyce“ vor der Isle of Wight, über 350 Tote / Ohio, 1990: die letzte wildlebende Wandertaube wird abgeschossen / China, 1923, Erdbeben; 5.000 Tote / 1944 werden beim Massaker in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom 335 Zivilisten als Vergeltungsmassnahme für am Vortage ums Leben gekommene 33 deutsche Soldaten liquidiert / 1976 übernehmen in Argentinien für sechs Jahre Militärs die Macht / 1989: läuft der Öltanker „Exxon Valdez“ im Prinz-Williams-Sund auf Grund und 40.000 Tonnen auslaufendes Rohöl versucht die Küste Alaskas / Jonesboro, Arkansas, 1998: ein 11- und ein 13-Jähriger erschießen vier Schülern und eine Lehrerin / 1999: Beginn des Kosovo-Krieges / Bangladesh, 1998: 250 Menschen kommen in einem Zyklon ums Leben/ 1999 sterben bei einem Brand im Mont-Blanc-Tunnel 39 Personen / 2015 kommen bei einem vom Co-Piloten absichtlich herbeigeführten Flugzeugabsturz in den französischen Alpen alle 150 Insassen ums Leben.

 

 

25. MÄRZ

 

Romatisierung

mit

Béla Bartók / Sophier Blanchard / Norman Borlaug / Johnny Burnette / Juan Carreño de Miranda / Evliya Çelebi / Christophorus Clavius / Rose Dugdale / Aretha Franklin / Sidey M. Goldin / Franz Josef Hadatsch / Norman Jeffrey „Jeff“ Healey / Lonnie Hillyer / Alexej von Jawlensky / Agnes Karll / Helmut Käutner / Konradin / Maurice Paul Krafft / Sven Lager / David Lean / Julio Antonio Mella / Louis Moréri / Paul Motian / Friedrich Naumann / Mary Flannery O’Connor / Tatjana Patitz / Albrecht Mertz von Quirnheim / Xanti Schawinsky / Simone Signoret / Arturo Toscanini / Max Uhle / Ben Wagin / Johann Gotthilf Ziegler

 

An diesem Tage erschein uns so manches romantisch:

421: Grundsteinlegung für Venedig / Nowgorod, 1557: Friedensschluss im Russisch-Schwedischen Krieg / 1634 erreichen erste Auswanderer die Kolonie Maryland / 1665 entdeckt Christiaan Huygens den Saturn-Mond Titan / 1807 beschließt das britische Parlament die Abschaffung des Sklavenhandels / 1811 ordnet Napoleon den Anbau von Zuckerrüben an, die europäische Zuckerindustrie entsteht / London, 1843: Eröffnung des weltweit ersten, einen Fluss unterquerenden Tunnels, des Thames Tunnels / Athen, 1924: Ausrufung der Republik Griechenland / Rom, 1957: Vertragsschluss zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.

 

Ich notierte:

1974: In der Frühe grinste uns heute die Silhouette des Werkes an, aber erträglich, da schon Frühling ist. Jeanny und ich fahren nach Merseburg. Ich mache Besorgungen und hole sie dann aus dem Krankenhaus ab - natürlich hole ich sie wieder ab, denn einmal mehr wurde sie wieder nach Hause geschickt. Unser Kind hat einen schönen Kopf, ja, schön fest, aber auch schon einen sturen. Wir schlendern langsam auf Umwege zur Straßenbahn. Jeanny besucht ihre Köchinnenkolleginnen, dann Einkaufen, Mittagessen, ich fahre ins Werk, Geld holen. Heinz sieht irgendwie auch frühlingshaft aus, ich verspreche ihm, nächsten Montag wiederzukommen. Man hat meinen Wohnungsantrag zurückgeschickt, da Ergänzungen notwendig seien. Ich fülle alles neu aus, gebe wieder ab, kaufe Jeanny auf dem Weg nach Meuschau die Schuhe, die sie heute Vormittag hin und her drehte, sich wünschte und hole den Fernseher aus der Reparatur.

1981: Ich lese Heinrich Heine „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ in einer Ausgabe des Aufbau –Verlages von 1951, Gesammelte Werke, Band 5. Und nicht zum ersten Mal bin ich bei Büchern, die ich fürs Studium ausleihe, der erste Leser des jeweiligen Exemplars. Aber, oh weh, auf dem Schmutzblatt prangt ein Stempel: „Geprüft nach der Liste der auszusondernden Literatur vom 1. April 1946 – Volksbildungsausschuß Leuna“! Ist das ein Scherz, ein makabrer? Hanebüchener Blödsinn? Heine nach Aussortierbarkeit überprüft von einem Volksbildungsauschuß in der DDR? Ja, auf solchem Boden scheint hier so manches gewachsen. Da möchte man rufen: April, April! – wenn nicht gerade 7. Oktober ist…

1999: Nach einem Stresstag endlich nach Hause, in den Garten, an die Luft... Wie lange habe ich diesen ewig langen Winter lang darauf gewartet: Im Gartensessel mit einem Bierglas in der Hand den Sonnenuntergang genießen... Doch was ist das? - Seltsame Kondensstreifen in nie gesehener Flugrichtung? Und die Ahnung bestätigt sich durchs schnell geholte Fernglas: Da oben fliegen zuerst zwei Tarnkappenbomber dicht nebeneinander und dann zwei B-52 hoch oben strikt über uns gen Jugoslawien. Keine Frage, das ernüchtert schlagartig. Und dann im Fernsehen die Bestätigung eines neuen Angriffs, und dann die Bilder der Zerstörungen durch die Raketen und Bomben wohl auch der eben noch über uns hinweggeflogenen Jets...

2021: In diesen Zeiten freut man sich ja schon, wenn ein alter Freund wie Peter Gosse anruft, sich für ein Walter-Bauer-Buch, das ich ihm schickte bedankt und sagt, dass er (mittlerweile über 80), geimpft ist.

 

Entromantisierung

für

Josef Albers / Ludmilla Assing / Gertrud Bäumer / Sidney Catlett / Achille-Claude Debussy / Erik Jan Hanussen / Oliver Taylor Hawkins / Ishi / Johannes Itten / Edward Lasker / Wilhelm Lehmbruck /Viola Fauver Gregg Liuzzo / Iñigo López des Mendoza / Conrad Lycosthenes / Franco Manzecchi / Frédéric Mistral / Bruno Möhring / Elisabeth Noelle-Neumann / Rikard Nordraak / Novalis / Ogino Kyūsaku / Franz Oppenhoff / Klaus Piper / Prokop / Leze Qena / Uta Ranke-Heinemann / Edward Steichen / Bertrand Tavernier / Lucrezia Tornabuoni / Ladislao Vajda / Rodolfo Jorge Walsh / Ida B. Wells / Fritz Wepper / Wong Fei Hung/ Leopold Zborowski

 

An diesem Tage spürten wir pure Ernüchterung:

New York, 1911: Brand in einem Fabrikgebäude, 146 Arbeiterinnen sterben / 1913 überschwemmt der Ohio River Dayton, 350 Tote / Mechterstedt, Thüringen, 1920: Marburger Korps-Studenten ermorden 15 Arbeiter / 1941 versenkt ein deutscher Hilfskreuzer das Passagierschiff „Britannia“ vor der westafrikanischen Küste, 249 Tote / Prag, 1945: Alliierter Luftangriff, 235 Tote / Foreleza, Brasilien: Staudammbruch, 1.000 Tote / 1971: Beginn des Bangladesh-Krieges / 2002 bei einem Erdbeben in der afghanischen Provinz Bagian kommen 2.000 Menschen ums Leben / 2023: Tornado in Mississippi, 26 Tote.

 

 

26. MÄRZ

 

Quadratur

mit

Alan Arkin / Théodore Aubanel / Angela Maria Autsch / Wilhelm Backhaus / Edward Bellamy / Pierre Boulez / Elsa Brändström / James Caan / Gregory Corso / Hans Walter David / Vine Deloria jun. / Viktor Frankl / Robert Frost / Dhirendranath Ganguly / John Hampson / Sterling Hayden / Sara Hutzler / Bernard Katz / Maria Grazia „Lella“ Lombardi / Bruce Low / James Moody / Leonard Nimoy / Louise Otto-Peters / Charles-Gilbert Romme / Julius Schnorr von Carolsfeld / George Smith / Rufus Thomas / Benjamin Thompson / Johann Samuel Trothe / Friedrich August „Fritz“ Weineck / Tennessee Williams / Phyo Zeya Thaw

 

Da meinten wir, eine Quadratur des Kreises sei möglich:

1348: Grundsteinlegung für die Prager Neustadt / Merseburg, 1665 „ließ sich abermahls frühe morgens ein neuer Comet sehen, er stund gegen morgen, u. hatte einen sehr langen schwantz. Es folgete auff solchen Cometen durch den gantzen April eine ziemlich große Kälte, u. hernachmahls auch überaus große Dürrung“ / Paris 1791: Beschluss zur Einführung eines einheitlichen Längenmaßes, des Urmeters / Transvaal, 1898: Einrichtung des ersten Tierschutzgebietes Afrikas, des späteren Kruger- Nationalparks / 1899: Beginn der Ausgrabungen in Babylon / 1945 endet die Schlacht um Iwojima / München, 1949: Gründung der Fraunhofer Gesellschaft / 1971 erklärt sich Bangladesh für unabhängig von Pakistan / 1975 tritt laut UN-Beschluss die Konvention zur Ächtung von Biowaffen in Kraft / Washington D.C, 1979: Unterzeichnung des israelisch-ägytischen Friedensvertrages / Asunción, 1991: Konstituierung des südamerikanischen Wirtschaftsbündnisses Mercosur / 1995. das Schengener Abkommen wird wirksam.

 

Ich notierte:

1974: Die Ärzte rufen! Beizeiten stehe ich auf und mache mich auf den Weg nach Leuna. Ein Bekannter gabelt mich unterwegs auf und nimmt mich im Auto mit. So bin ich zu früh bei der Ärztekontrollkommission. Warten. Nach einer reichlichen Stunde werde ich aufgerufen und erfahre, dass ich eigentlich gar nicht hätte erscheinen müssen. Meine Erkrankung sei Sache der Fachärzte, denen man alle Kompetenzen übertragen hätte. Ich bedanke mich, so wie man sich immer bedankt, wenn man gerade verarscht wurde. Jeanny schläft noch, schläft ruhig, sorglos scheinbar. Ich mache Frühstück. Dann Mittag und Kaffee und mit Emil zur Probe. Im Keller sitzen alle schon trinkbereit herum, doch kann ich, der noch immer nicht Vater ist, ihre Becher nicht füllen. Aber sie sind hartnäckig und so folgt nach erstaunlich kurzer Probezeit der Gang zur Kneipe.

1987: In der Anspannung, all die neuen Arbeitsaufgaben zu bewältigen, platzt heute (wie üblich äußerst fadenscheinige)die  Absage eines Verlages einen Text von mir in eine Anthologie aufzunehmen. Das trifft und verunsichert wieder. Ich habe anderen Schreibern Wege zu öffnen, und mir wird er immer resoluter verbaut. Mann, ob das gut geht?

2000, Bonn: In der Nacht Umstellung auf Sommerzeit. Im Hotel scheint meine innere Uhr so was aber eh kaum zu registrieren – Aufstehen wie normal. Frühstück und Sonntagsspaziergang zum Poppelsdorfer Schloss. Die Sonne kommt hervor, angenehmer Frühlingstag. Kurzer Halt im Haus der Geschichte um zu sehen, wie der Aufbau unserer Ausstellung weiter vorangeht, hie und da kleine Korrekturen. Dann mit der Stadtbahn nach Bad Honnef. Spaziergang zum Rhein, malerische Blick auf die Flusslandschaft. Schließlich nach Königswinter. Eine wesentlich angenehmere, nicht so glatte, sterile Stadt wie Bad Godesberg. Gutes Mittagessen in einem gutbürgerlichen Familienlokal, Schlendern über den Flohmarkt, und zurück nach Bonn. Zum Abendbrot wagen Rüdiger und ich uns an eine Rheinische Spezialität: Himmel und Äad, gebratene Blut- und Leberwurst mit Kartoffelpüree und Apfelmus!

2020: Gestern Nacht in einem Fernseh-Talk der Zukunftsforscher Matthias Horx, der in der jetzigen Krise, deren Spitze längst nicht erreicht ist – in Italien gibt es schon mehr Tote als in China, das spanische Gesundheitssystem kollabiert… - eine Chance für die Menschheit erkennt: die derzeit unabdingbare Entschleunigung, so gut wie keine Flugzeuge mehr in der Luft, keine Autos auf den Straßen, Werke geschlossen… könnte doch in eine dauerhafte Abkehr von diesem Killer-Wachstum führen, das die Welt in die Klima- und in wer weiß noch für Katastrophen führen wird. Satellitenbilder zeigen beispielsweise, dass über dem „Corona-China“ erstmals kein Smog mehr zu sehen ist…

2023: Mal wieder Umstellung auf Sommerzeit. Europaweit zeigen sich die Menschen genervt, die Damen und Herren Politiker in Brüssel, bringen jedoch keinen Abschaffungsbeschluss zustande. Am Nachmittag zu einer Veranstaltung des Richard-Wagner-Zentrums über Cosima in die Merseburger Domküsterei.

 

2024: Am Vormittag Treff mit einigen Professoren im Domstiftsarchiv, um zu beraten, wie etwas gegen die beabsichtigte Schließung und Verlegung des Merseburger Landesarchivs nach Magdeburg unternommen werden könne.

 

Qual

für

al-Hallādsch / Fritz Ascher / Paul Baran / Roland Barthes / Sarah Bernhardt / Maximilian Hugo Bettauer / Helene Böhlau / Randy Castillo / Raymond Chandler / Louis Chauvin / Noël Coward / David Lloyd George / Alessandra Giliani / Theodor Grotthuß / Halston / Ferdinand Hardekopf / Edgar Andreas Woldemar Haßmann / Paul Newell Hester / James Hutton / Heinrich Isaac / Wolfgang von Kempelen / María Kodama / Eddie Lang / Spyridon Louis / Hans Morgentahler / Georg Muche / Max Ophüls / John Renbourn / Luís Miguel Rocha / Richard Serra / Nikki Sudden / Sugawara no Michizane / John Kenndy Toole / Ahmed Sékou Touré / Tomas Tranströmer / B. Traven / Jane Colman Turell / Ludwig van Beethoven / Günther Weisenborn / Walt Whitman

 

Da fühlten wir uns gequält:

1511: Erdbeben auf dem Balkan, etwa 6.000 Tote / Caracas, 1812: Erdbeben, etwa 12.000 Tote / 1873 erklären die Niederlande dem Sultan von Aceh den Krieg / 1991. Militärputsch in Mali / San Diego. 1997: Massenselbsttötung von Sektenmitgliedern in Folge des Erscheinens des Kometen Hale Bopp, 39 Opfer.

 

 

27. MÄRZ

 

Navigation

mit

Ai Quing / Victor Bailey / Pàl Bèkés / Christo Beltschew / Leroy Carr / Johnny Copeland / Sándor Kőrösi Csoma / Enrique Santos Discépolo / Johann Andreas Eisenbarth / Kurt Felix / Adolf Glaßbrenner / Georges-Eugène Haussmann / Pál Hermann / Sergei Mironowitsch Kirow / Heinrich Mann / Sophie Mereau / Ludwig Mies van der Rohe / Frank O’Hara / Iwan Iwanowisch Panajew / Francis Ponge / Wilhelm Conrad Röntgen / Mstislaw Leopoldowitsch Rostropowitsch / Harry Rowohlt / Henry Royce / Germán Rozenmacher / Peter Schamoni / Maria Schneider / Edward Steichen / Gloria Swanson / Khady Sylla / Caspar von Teutleben / Sarah Vaughan / Xavier Villaurrutia / Cécile Vogt / Otto Wallach / Ben Webster / Dorrit Weixler / Adnan Yücel

 

Da glaubten wir an eine zielsichere Navigation:

1802: Frieden von Amiens, Ende des Zweiten Koalitionskrieges zwischen Großbritannien und Frankreich / 1849 beschließt die Frankfurter Nationalversammlung die erste demokratische Verfassung Deutschland, die Paulskirchenverfassung / Edinburgh, 1871: weltweit erstes Rugby-Länderspiel, Schottland gewinnt gegen England / 1899: erste drahtlose telegraphische Verbindung über den Ärmelkanal / 1899: Eröffnung der Brocken-Bahn / Berlin, 1907: Eröffnung des KaDeWe / London, 1933 gelingt erstmals die industrielle Herstellung von Polyethylen / 1998 kommt Viagra auf den Markt.

 

Ich notierte:

1974: Früh bringe ich Jeanny zum Spiegeln ins Krankenhaus nach Merseburg. Obwohl die Notwendigkeit dieser Untersuchung uns beiden völlig klar ist, hängt die ganze Prozedur uns doch langsam zum Halse raus. Umso freudiger bin ich überrascht als Jeanny mir danach sagt, dass sie morgen stationär aufgenommen wird. Unser Kind kommt! Wir fahren zurück nach Leuna, überprüfen den Inhalt der Babytasche noch einmal, zum wievielten Male schon… Dann wird Jeanny immer blasser und sagt, dass sie sich nicht wohlfühlt. Nach Baden und Fernsehen gehen wir zu Bett. Aber mit Schlafen wird nichts – die Wehen gehen los! Zuerst zaghaft, so dass selbst Jeanny daran zweifelt, ob das überhaupt Wehen sind. Die Regelmäßigkeit verweht dann aber jeden Zweifel. Ja, es geht los! Ich wecke Schorsch, lasse dabei nie die Uhr aus den Augen, um die Intervalle der Wehen registrieren zu können: 5 Minuten – 4 Minuten – 3 Minuten, dann wieder mal 5… Schorsch fährt uns ins Krankenhaus. Ein seltsames, beklemmendes Gefühlt überkommt mich, hält noch lange bevor, nachdem Jeanny hinter den Krankenhaustüren verschwand, wird sogar stärker. Aufregung, Sorge, Angst. Erst einmal eine Zigarette, obwohl Jeanny lächelte, wie um mir Mut zu machen, als eine Schwester sie fortführte.

1980: Beginn der ČSSR-Tournee. Ich fahre Felix’ Wolga, Autobahn bis Dresden, dann über die Grenze, lange Schlangen, aber zügige Abfertigung schließlich. Abendessen in Stara Boleslaw, weiter gen Tatry, in Olomouc finden nachts gegen eins endlich ein Hotel. Am Morgen ein gutes Frühstück, Mittag essen wir schon am Fuße der Mala Fatra und fahren schließlich durch bis in die Hohe Tatra. Unterwegs gabeln wir unsere aus Bratislava kommenden Tournee-Betreuer auf. Sie leiten uns in Hotel nach Tatranská Lomnicka, weisen uns ein. Großer Hunger, großer Durst  – was für ein wunderbares Bier!

1987: Das soll’s nun sein? – ewig in Versammlungen sitzen, die man sonst meiden würde, ständig Texte lesen (und verfassen), die einen nicht interessieren, tagtäglich Nerven verbrauchen für Entscheidungen, die nach einer Woche (bestenfalls) vergessen sind… Und dann immer wieder Prügel für das, was man veröffentlichte und dämliche Ablehnung dessen, was man veröffentlichen will. Das alles ist ziemlich kafkaesk, aber vielleicht steckt auch mehr dahinter. Auf jeden Fall weiß ich nicht, ob und wie lange ich diese Selbstverleugnung durchhalte. Wenn da wenigstens ein Hauch von wirklichem Gebrauchtwerden, von Nutzenkönnen wäre, aber der letzte Funke Persönlichkeit muss wohl in Funktionalität verlöschen. Wüsste ich doch nur einen gangbaren Ausweg…

1988: Seit heute wieder Sommerzeit. Und die Tage erscheinen noch lichtscheuer, grauer. Zum Glück habe ich nur noch wenige Bürotage in Halle vor mir, dann ist Schreibzeit!

1999: Entgegen meiner Gewohnheit, nach dem Aufstehen erst einmal Ruhe haben zu wollen, nichts zu hören zumindest, taufrischen Gedanken nachhängen zu können, schalte ich an diesem wie den beiden vorangegangenen Morgen nach Beginn der NATO-Luftangriffe zuerst den Fernseher ein, will erfahren, was da in der Nacht wieder in Jugoslawien geschah. Bilder der Zerstörung nach der dritten Angriffswelle, keinerlei Friedenswillen der Serben gegenüber den Kosovo-Albanern, im Gegenteil, sogar der Versuch den Konflikt nach Bosnien auszudehnen... Dennoch waren zumindest alle mit denen ich in den letzten Tagen sprach der Meinung, dass Schluss sein müsse mit diesem Krieg, der keines der eskalierten Probleme löse, den Balkan letztlich nur noch mehr anheize...

2003: Eine Woche nach Ausbruch des Irak-Krieges lese ich zur Beruhigung (und Einstimmung auf unsere geplante Mexiko-Reise) die hoffentlich möglich bleibt) Carlos Fuentes und finde einen auf meine Stimmung passenden Satz: „Man hörte mehrere Detonationen hintereinander, schwer zu sagen, wie viele, weil Explosionen die Zeitrechnung durcheinanderbringen und die Sekunden zerstieben lassen.“

2021: Heute sollte eigentlich Siegfried Berger geehrt werden, vor 75 Jahren starb er plötzlich an einer Blinddarmentzündung. Mit der Siegfried-Berger-Stiftung hatte ich im Merseburger Petri-Kloster eine Ehrung vorbereitet, dafür auch ein Lesestück geschrieben, doch leider fällt aufgrund der Corona-Pandemie alles aus… Immerhin hatte ich noch arrangieren können, dass die Mitteldeutsche Zeitung ein Gespräch mit dem führenden Landeshistoriker, Professor Tullner, zur Bedeutung Siegfried Bergers als Landespolitiker und Autor führte, das sogar pünktlich heute erschien. Bergers noch lebende Tochter Susanne hatte mir erst dieser Tage mal wieder geschrieben und sich bedankt, dass ich beim nächsten Band der Walter-Bauer-Reihe, bei „Hutzelmann und Himmel weit“, insbesondere auch auf ihren Vater, der als Chefredakteur des „Merseburger Korrespondent“ Bauer ja gefördert habe, eingehe. Sie schrieb, dass sie sich an einen Besuch des Ehepaars Bauer bei Bergers in Merseburg, erinnern könne: „Er, der blonde, stille Mann – sie, die dunkle, laute Frau…“, und dass sie mit ihrem Vater die Bauers mal in Halle besuchte. Schau an.

2023: Angesichts einer derzeit hochkochenden Diskussion um eine Verbot von Gas- und Ölheizungen, des EU-Beschlusses, dass ab 2030 alle Häuser gedämmt sein müssen und der nicht enden wollenden Inflation schwant mir, dass meine Überlegungen, aus dem, was nach unserem Tode übrigbleibt, eine Jankofsky-Bauer-Stiftung aufgerichtet werden soll, möglicherweise dämlich oder zumindest naiv sind, da vielleicht nichts bleiben wird. Im Gegenteil, da das, was unsereins geschaffen hat und noch schaffen kann, schleichend entwertet wird (und eben nicht nur geistig), könnte es durchaus sein, dass wir dereinst nichts Gutes hinterlassen können oder sogar Schulden vererben.

 

Niedergang

für

Friedrich Achleitner / Stéphane Audran / Matthias Beltz / Siegfried Berger / Arthur Bliss / Arthur Blythe / Stanislaus Bornbach / Johann Michael Bossard / Vereny Lovett Cameron / James Dewar / Stefan Diestelmann / Ian Dury / M. C. Escher / Juri Alexejewitsch Gagarin / Lisabetha „Betty“ Gleim / Shirley Graham Du Bois / Maurizio Gucci / Peter Herbolzheimer / Clifford Jordan / Alfred Kantarowicz / Stanisław Lem / Rolf Ludwig / Jorge Manrique / Maria von Burgund / Robert Merle / Ibrāhīm Nağī / Heinz Florian Oertel / Janus Pannonius / Werner Renfer / Anders Wilhelm Sandberg / Hubert Schiffer / Georg Tannstetterm / Jacob Walcher / James Edwin Webb / Peter Wells / Billy Wilder

 

An diesem Tage spürten wir unerbittlich den Niedergang:

1836: Massaker von Goliad: mexikanische Soldaten töten im Texanischen Unabhängigkeitskrieg 342 gefangene Texaner / 1933 tritt Japan aus dem Völkerbund aus / Alaska, 1964: Erdbeben, 125 Menschen sterben / Teneriffa, 1977: zwei Jumbo-Jets stoßen in dichtem Nebel beim Start aneinander, 583 Todesopfer, bislang das schwerste Flugzeugunglück der zivilen Luftfahrt / 1980 bricht die norwegische Öl-Plattform „Alexander L. Kjelland“ im Ekofiskbohrfeld zusammen, 123 Besatzungsmitglieder sterben / 2024: Madagaskar: beim Durchzug eines Zyklons kommen mindestens 18 Menschen ums Leben.

 

 

28. MÄRZ

 

Lichtshow

mit

Nelson Algren / Cuno Amiet / Fra Bartolommeo / Carl Adolph von Basedow / Dirk Bogarde / Aristide Briand / Johann Amos Comenius / Ben d’Armagnac / Léon-Gontran Damas / Franciso de Miranda / Veronika Fitz / Gerhard Fritsch / Maxim Gorki / Fritz Heckert / Sepp Herberger / Alexandro Herculano / Corneille Heymans / Bohumil Hrabal / Iwan Iwanowitsch / Ragnhild Jølsen / Thad Jones / Nafisa Joseph / Fritz Klatte / Solomon Abramowitsch Losowski / Arthur Martens / Carl Gustav Adolf Nagel / Melchior Ndadaye / Gunilla Palmstierna-Weiss / Martin Pellonpää / Flora Robson / Julius Bernhard von Rohr / Karl Friedrich Schäffer d. J. / Eduard Karl Oskar Theodor Schnitzer / Margot Stern Strom / Peter Suhrkamp / Georg Weissel / Annie Wersching / Rolf Zacher

 

An diesem Tage erfreuten uns zauberhafte Erhellungen:

Malta, 1566: Grundsteinlegung für Valletta / 1797 erhält Nathaniel Briggs sein Patent für eine Waschmaschine / Wien, 1842: Otto Nicolai begründet die Tradition der Philharmonischen Konzerte / 1882 wird in Frankreich die Schulpflicht eingeführt / Marseille, 1910: erster erfolgreicher Flug mit einem Wasserflugzeug / 1930 Umbenennung von Konstantinopel in Istanbul, Angora in Ankara und Smyrna in Izmir.

 

Ich notierte:

1974: Lange konnte ich nicht schlafen. Die Ungewissheit treibt mich aus dem Bett und an Nachbars Telefon. – Noch nichts. Die Unruhe verstärkt sich. Ohne etwas zu trinken oder zu essen laufe ich zur Straßenbahn, fahre mechanisch nach Meuschau, versuche zu lesen, zu üben, nichts gelingt. Dann läuft das Maß der Nervosität über, ich renne zu Mutters Arbeitsstelle, um zu telefonieren, nehme den Hörer ab, frage. „Wie - Frau Klepzig? Ja, hat schon entbunden!“ Eine Welle flutet von oben nach unten und von unten nach oben durch meinen Körper. Meine Hände suchen tattrig nach einer Zigarette ohne zu wissen, dass ich gar keine einstecken habe. Wie von fern höre ich eine Stimme und bemerke, dass ich den Telefonhörer noch am Ohr habe. „Hallo – sind sie noch da?“ „Ja“ – „Schönen Gruß von ihrer Frau – Mutter und Tochter sind wohlauf!“ Ich fahre wie angestochen hoch, meine Mutter guckt fragend, ich stammle: „Eine Tochter, eine Tochter!“ und stürze zur Tür hinaus. Jetzt ist es halb zwölf, halb sieben erst darf ich ins Krankenhaus kommen. Was bloß soll ich die ganze Zeit bis dahin machen? Noch nie schien sich mir solch ein gähnendes Loch aufgetan zu haben. Ich kann nicht mehr herumsitzen, ich laufe in die Stadt, kaufe Pralinen und Blumen für Jeanny, gebe Telegramme auf. Schon sitze ich wieder in der Straßenbahn, fahre nach Leuna, fliege mehr als dass ich laufe zu Mutter: „Eine Tochter, eine Tochter!“ Wir liegen uns glücklich in den Armen. Ich erzähle wohl fünf Mal dasselbe ohne zu merken, dass ich fünf Mal dasselbe erzähle. Und die Zeit vergeht nicht! Ich gehe in den Garten und grabe um, um die Zeit totzuschlagen. Noch nie habe ich umgegraben. Doch es hilft nichts, die Zeit bleibt zäh, die Unruhe wächst. Ich fahre in den Probenkeller, hole vorsorglich Bier und Schnaps und warte. Die Musikanten kommen, erfassen mehr oder weniger schnell die Situation, gratulieren mir, und schon wird’s mir wieder zu heiß, treibt es mich hinaus. Dieses Mal tragen mich meine Beine ins Krankenhaus. Doch muss ich warten. Furchtbar, wie lang 5 Minuten sind! Endlich sagt eine Schwester: „Sie können jetzt!“ Obwohl ich nicht der einzige bin, der auf diese Worte gewartet hat, scheine ich die als einziger gehört zu haben. Die anderen betreten gerade erst die erste Treppenstufe als ich schon zur Wochenstation hineinfliege, stotternd frage: „Frau Klepzig?“ „Zimmer 319.“ Um die Ecke, die Tür auf – Jeanny sieht mich blass und froh mit einem Auge unter der Bettdecke hervor an. Wir können uns kaum trennen, geschweige denn ein Wort sprechen. Unsere Lippen treffen sich, noch nie schienen wir einander so nah wie jetzt. Langsam kann ich etwas sagen, und obwohl eigentlich viel zu sagen wäre, hat diese Umarmung alles gesagt. Ich erfahre von Jeanny wie groß und schwer Cathrin ist: 51 cm, 6,5 Pfund, kurze schwarze Haare. Ich will unsere Tochter sehen, doch sagt mir eine vorbeikommende Schwester lakonisch, dass die Kinder nicht gezeigt werden. Schon ist es um sieben, Besuchszeit zu Ende, ich muss gehen. Schwer, ach, mehr als schwer ist es, Jeanny hier liegenlassen zu müssen, auch wenn ich natürlich weiß, dass sie hier am besten aufgehoben ist. Aber wie gern möchte ich bleiben! Es geht nicht, es bleibt nur der Trost auf den morgigen Besuch, halb sieben. Zum letzten Mal für heute treffen sich unsere Blicke und ich stehe im Freien, in der staubig stinkigen Luft meiner Heimatstadt, eine Luft, die mir heute jedoch klar und würzig erscheint, mich atmen lässt. Ich leiste mir ein Taxi und fahre zu den anderen in den Probenkeller. Der Abend wird lang.

1983: Zum ersten Mal nach Burgkemnitz, zur Schulung für Kulturfunktionäre, meingott.

2009: Brüssel. Ob lähmendem belgischen Regens, mehr noch aber mangels Zeit (da ich von der EACEA, der Education, Audiovisual & Culture Executive Agency der Europäische Union als Juror berufen wurde, arbeiten muss), will es mit partout wieder nicht gelingen, nach Waterloo zu gelangen. Trost vielleicht, dass dies schicksalhaft sein könnte.

2021: Nun gilt bis Ende Oktober wieder die Sommerzeit. Eigentlich war reichlich gemurrt worden, und das Europäische Parlament hatte sogar beschlossen, diese Umstellungen abzuschaffen. Die 27 EU-Mitgliedstaaten können sich aber nicht einigen, ob dann stets Sommer- oder Winterzeit herrschen soll…

 

Letztes Licht

für

Don Alias / Alexander Arutjunjan / Hans Berger / Hans Blumenberg / Brécourt / Marc Chagall / Waldo de los Ríos / Angad Dev / Robert Gallinowski / W. C. Handy / Peter Andreas Hansen / Helge Ingstad / Eugène Ionescu / Margarete Kahn/ Ahmed Kathrada / Christine Kaufmann / Berta Lask / Rolf Ludwig / Robert Merle / Modest Petrowitsch Mussorgski / Etta Lubina Johanna Palm d’Aelders / Anthony Powell / Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow / Sakamoto Ryūchi / Kurt Schmidtchen / Ruth Seydwiz / Josef Speckbacher / Nikolai Wladimirowitsch Timofeef-Ressowski / Juri Walentinowitsch Trifonow / Peter Ustinov / Juan van der Harmen y León / Virginia Woolf

 

So schien uns alles duster zu werden:

845 brandschatzen Wikinger Paris / 1854 erklären Frankreich und Großbritannien Russland den Krieg / 1915: versenkt ein deutsches U-Boot das Passagierschiff „Falaba“ vor Wales, 104 Tote / 1939 erobert Franco Madrid / El Cobre, Chile: Dammbruch nach einem Erdbeben, 200 Tote / Gediz, Türkei, 1970: bei einem Erdbeben kommen mindestens 200 Menschen ums Leben / Harrisburg, Pennsylvania, 1979: Reaktorunfall, Kernschmelze / Afghanistan, 1997: eine Steinlawine tötet 380 Menschen / 2005 sterben infolge eines Erdbebens vor Nord-Sumatra 1.300 Menschen.

 

 

29. MÄRZ

 

Märchenstunde

mit

Barthélemy Boganda / Mohamed Bouazizi / Michael Brecker / Dora de Houghton Carrington / Adrianus Michiel de Jong / Edwin L. Drake / Alexander Moritz Frey / Gilbert Genesta / Astrud Gilberto /Yvan Goll / Ernő Grünbaum / Renate Holland-Moritz / Brigitte Horney Anerood Jugnauth / Ernst Jünger / Mory Kanté / Johann Erasmus Kindermann / Desző Kosztolány / Wilhelm Liebknecht / Robert Lowry / Victor Müller / Johann Karl August Musäus / Jenö Rejtö / Johann Spangenberg / Karl Stamm / Teófilo Stevenson / Sulli / Ronald Stuart Thomas / Billy Thorpe / William Walton / Maurice Denton Welch / Jiří Wolker

 

Da hörten wir Märchenhaftes:

1549: Gründung von Salvador da Bahia als Hauptstadt des portugiesischen Südamerika / 1864: Anschluss der Republik der Ionischen Inseln an Griechenland entsprechend dem Willen der Bevölkerung / London, 1871: Eröffnung der Royal Albert Hall /  Berlin, 1894: Gründungsversammlung des Bundes Deutscher Frauenvereine / 1973 ziehen die letzten US-Truppen aus Vietnam ab / 1974 passiert die amerikanische Raumsonde „Mariner 10“ den Merkur / 1976 verlassen die letzten britischen Truppen die Malediven / Paris, 1989: Eröffnung der Glaspyramide des Louvre / Lissabon, 1998: die bis dahin längste Brücke Europas wird freigegeben, die Ponte Vasco da Gama / Irland, 2004 erstmals tritt weltweit ein Rauchverbot in Kraft.

 

Ich notierte:

1974: Nach dem Erwachen schleppe ich mich mit schwerem Kopf zum Arzt, lasse die üblichen Prozeduren über mich ergehen und werde gesund geschrieben. Meine Gedanken schweifen in alle möglichen und unmöglichen Ecken des künftigen Lebens mit Frau und Tochter, Bilder von Cathrin, Jeanny und mir. Ach, es ist so schon, eine riesige rosarote Brille zu tragen, sie drückt kein bisschen, obwohl ich um ihr Gewicht weiß. Was habe ich eigentlich heute den ganzen Tag über gemacht? Gewartet, geträumt? Keine Ahnung. Abends fährt mich mein Vater nach Leuna. Ich sprudele die Einzelheiten über Cathrin hervor. Schon drängt’s mich weiter, mein Vater fährt mich ins Krankenhaus. Die Treppen nehme ich wieder im Sturm und außer Atem stehe ich vor Jeanny. Die Umgebung versinkt wie unter einer Dunstglocke, Glück, wie erzählen uns die unwichtigsten Sachen höchstwichtig, flaxen. Die Zeit scheint für uns stehen geblieben, nein ist ausgefüllt mit Cathrin. Jeanny erzählt wie unsere Tochter trinkt, wie sie lächelt, wie sie brüllt, wie sie guckt, wie sie Grimassen schneidet. Wie gern möchte ich die kleine Hummel sehen! Doch man zeigt sie mir nicht, nichts zu machen. Und schon ist es wieder Zeit zu gehen. Jeanny bringt mich bis zur Tür und begleitet mich vom offenen Fenster aus mit ihren Augen auf meinem Nachhauseweg. „Bis morgen!“ rufe ich ihr zu und hüpfe davon.

1980: Gestern die erste Mugge unserer ČSSR-Tournee. Štrebské Pleso. Alles bestens. Danach in die Vinarva. Dort lerne ich einen Musiker kennen, der Jaško kennt, den Trompeter, mit dem ich vor der Fahne in Berlin bei Peter Baptist zusammenspielte. Unglaublich. Keine Frage, dass es spät wird… Heute nach dem Frühstück gehe ich mit Wim wandern. Was für Aussichten! Und wir fahren mit dem Lift sogar auf einen Gipfel, mitten hinein in ein Ski-Paradies, wo wir mit unseren Straßenklamotten angestarrt werden wie Außerirdische. Am Abend Mugge in unserem Hotel. Läuft wieder ganz gut.

1981: Heute Nachmittag unternehme ich mit Cathi bei schönem Frühlingswetter unsere erste Radtour, nach Meuschau über Gut Werder. Gestern als wir ihr zum 7. Geburtstag das Rad schenkten, freute ich mich schon auf diese erste gemeinsame Fahrt, einfach mal fahren, ohne Krampf, einfach mal so ins Blaue hinein.

1999: Kaum in den Schlaf gefunden in dieser Nacht, am Morgen wie zerschlagen, doch mit der Gewissheit, selbst handeln zu wollen, nicht länger abzuwarten, was denn da noch so kommen könnte... Als erstes gerate ich auf dem Weg nach Halle mal wieder in einen Stau, fahre über Röpzig um überhaupt anzukommen, verpasse einen Termin im Regierungspräsidium, kann das aber telefonisch klären, muss für Konrad, der erst gegen Mittag erscheinen will, da er noch einen höchst wichtigen Brief zu schreiben hat (wie er mir zutelefoniert), die Anleitung einer Seminargruppe übernehmen, kann nur in den Pausen mit Hochdruck erledigen, was ich eigentlich in Ruhe erledigen wollte, und komme endlich zum Gespräch mit Konrad.. Das nun läuft glatter als erwartet. Er scheint überrascht, dass ich nicht länger auf seine Hilfen hoffen, sondern selbst handeln will, scheint sofort Möglichkeiten zu sehen, um seinerseits unbelasteter gegenüber dem Vorstand auftreten zu können. Es wird also nur noch um Termine gehen. Und so beginne ich mit Telefonaten und Briefen und Ansprachen meinen Terminkalender neu zu ordnen, meinen glatten Ausstieg aus dem Künstlerhaus vorzubereiten, der keinesfalls ein absoluter sein will und kann, da kreativ büro e.V. und projekte verlag von mir weiterzuführen sein werden. Viel zu tun bis dahin, unendlich viel zu klären und zu entwirren, aber nun zumindest kein Nebel mehr, sondern halbwegs klare Sicht, wie’s weitergehen könnte.

Zu Hause lange Gespräche mit Jeanny, die meine Haltung voll akzeptiert, bei allen möglichen finanziellen Schwierigkeiten versteht, dass da eine Grenze erreicht war, ich auch mein Gesicht wahren muss.

2000: Bonn. Letzter Aufbautag für unsere große Bosch-Ausstellung im Haus der Deutschen Geschichte. Da alles relativ glatt lief und läuft, finde ich sogar Zeit mal für ein Stündchen ins benachbarte Museum zum huschen, um die gerühmte Ausstellung über Karl V. zu sehen. Beeindruckende Exponate. Am Abend, nachdem nun tatsächlich alles fertig ist, kreuzlahm ins Hotel. Dennoch natürlich Erleichterung. Rüdiger lädt mich auf Kosten der Bosch-Stiftung zum Vier-Sterne-Abendessen ein. Meingott, da löffele ich doch glatt eine Wildsuppe mit Trüffeln und Blattgold....

2021: Beim Durchhören meiner CD-Bestände entdeckte ich mir einen großartigen Gitarristen neu: David Fiuczynski, bestellte umgehend neue CDs hinzu. Sein Spiel kommt meinem derzeitigen Lebensgefühl recht nahe.

2023: Mittagessen mit dem Landtagsabgeordneten Dr. Schmidt in der Merseburger „Sonne“. Konstruktives Gespräch, um vor allem meine „Zauberspruch-Kampagne“ voranzubringen, aber auch um seinen SPD-Parteigenossen Wilhelm als einem „Gerechten unter den Völkern“ endlich auch in Merseburg die gebührende Anerkennung zu zollen.

 

Desillusionierung

für

Kayahan Açar / Juri Wassiljewitsch Bondarew / Alfonso de Borbón / Henry Robertson „Birdie“ Bowers / Marie Jean Antoine Nicolas Caritat / Bajram Curri / Fatty George / Gustav III. / Paul Henreid / Ahmed Redha Houhou / Maurice Jarre / Eckart Krumbholz / Sonja Lerch / Helen Levitt / John Lewis / Johann Gotthelf Lindner / Mantovani / Natalie von Milde / Carl Orff / Krzysztof Penderecki / Hilde Purwin / Meta von Salis / Dieter Schlesak / Helmut Schoepke / Robert Falcon Scott / Georges Seurat / Charles Villiers Stanford / Emanuel Swedenborg / Karol Maciej Szymanowski / Tachihara Michizō / Vangelis / Agnès Varda / Johann Heinrich Voß / Maurice Denton Welch / Edward Adria Wilson

 

Da fühlten wir uns desillusioniert:

1848 fallen die Niagarafälle wegen eines Eisstaus für 30 Stunden trocken / 1849 annektiert Großbritannien das Punjab / 1921: besetzen Polizeitruppen das Leuna-Werk, wo während der Märzkämpfe mehr als 50 Arbeiter zu Tode kamen / 1982: Anschlag auf den Trans-Europ-Express in Frankreich, 5 Tote / 2017 beantragt Großbritannien den Austritt aus der EU/ 2023, Baluk-Baluk Island, Philippinen: Feuer auf einer Fähre, mindestens 26 Tote.

 

 

30. MÄRZ

 

Gemälde

mit

David Askevold / Herbert Asmodi / Stefan Banach / Herman Bing / Jean-Claude Brialy / Robert Wilhelm Bunsen / Antonio de Cabezón / Robbie Coltrane / Reinhold Ewald / Francisco de Goya / Ralph Winston Fox / German Germanowitsch Galynin / Jean Giono / Pierre-Félix Guattari / Egon Günther / Bert Heller / Hans Hollein / Sergei Wladimirowitsch Iljuschin / K’uk’ Bahlam I. / Milko Kelemen / Georg Christian Kessler / Melanie Klein / Walter Klingenbeck / Marion von Klot / Manfred Köppe / Henry Lehrman / Erika Mitterer / Koloman Josef Moser / Nichiren / Seán O’Casey / Jean-François Pilâtre de Rozier / Friedrich Wilhelm Raiffeisen / Ernst-Georg Schwill / Anna Sewell / Sándor Szokolay / Tommaso Michele Francesco Saverio Traetta / Jethro Tull / Vincent Willem van Gogh / Paul Verlaine

 

An diesem Tage glaubten wir, alles sei bestens abgebildet:

1281: Ausbruch eines Aufstandes, der Sizilianischen Vesper / 1856 beendet der Pariser Frieden den Krim-Krieg / New York, 1909: Inbetriebnahme der Queensboro Bridge / 2010 gelingt im CERN erstmals ein Protonen-Crash zur Simulierung des Urknalls.

 

Ich notierte:

1981: Heute mal wieder den ganzen Tag Noten gepinselt, nicht unbedingt abstinent gewesen und gehofft…

1988: Was für ein Berg von Notizen, Skizzen, Ideen den ich angehäuft habe, den ich mangels Zeit anhäufen musste, und durch ich mich nun einmal arbeiten muss – bevor ich richtig zum Arbeiten, zum Schreiben kommen kann…

1999: Den ganzen Bürotag bin ich sehr mit Absprachen, Briefen, Protokollen etc. im Sinne des vereinbarten Ausstiegsszenarios beschäftigt. Gegen Mittag erscheint Konrad und scheint gelöster, scheint eine Entwirrung der Interessen offenbar für möglich zu halten. Wir vereinbaren, eine Leitungsberatung für Dienstag nach Ostern einzuberufen, freundlich aufzuzeigen, dass sich gegen schlichtweg nichts begreifen wollende, Verantwortung ablehnende und dreist egozentrische Forderungen stellende „Haus-Künstler“ ein Künstlerhaus nicht leiten lässt...

2000: Bonn. Sauwetter, kalt, grau in grau, Regen. Aber Teil 1 des großen Eröffnungstages läuft schon mal gut: Vorbesichtigung der Ausstellung im Haus der Deutschen Geschichte mit Professor Knopp, dem ehemaligen Direktor der Stiftungen Preußischer Kulturbesitz und Kurator der Bosch Stiftung, und Dr. Bopp, dem Geschäftsführer der Bosch Stiftung. Von da zur Pressekonferenz. Hohe Ehre, ich habe neben diesen beiden Herren im Präsidium zu sitzen! Dennoch versuche ich bei den an mich gerichteten Fragen locker zu bleiben, was offenbar auch gelingt. Mittagessen mit den hohen Herren, dann schnell ins Hotel, umziehen für Teil 2 und Teil 3: Vorbesichtigung mit dem eigens aus Stuttgart eingeflogenen Kuratoriumsvorsitzenden der Stiftung, Dr. Gutbrod, und weiteren Kuratoriumsmitgliedern. Deren anfängliche Steifheit weicht zusehends, umso länger wir durch die Ausstellung gehen. Wichtig, sehr wichtig, denn am kommenden Montag muss das Kuratorium über die Weiterführung des Förderprogramms „Orte deutscher Geschichte“ entscheiden... Und dann zu guter Letzt die eigentliche Eröffnung der Ausstellung: Festakt im Saal des Hauses der Geschichte. Und mit fortschreitender Veranstaltung beginnen mir doch die Beine zu zittern, denn nach Prof. Schäfer und Prof. Knopp und dem eigentlichen Festredner, Prof. Richard Schröder, hat Jürgen Jankofsky zu reden. Aber auch das gelingt. Ja, während des Büffets kommen nicht nur Projektgruppenleiter sondern sogar etliche Gäste auf mich zu und sprechen mir ihren Dank für die emotionale Darstellung aus. Das tut selbstredend gut. Denn so sicher, den richtigen Ton zu treffen, war ich mir bis zuletzt nicht. Im Hotel dann die eigentliche Feier mit allen Projektgruppen. Halb vier ins Bett.

 

2024: Ostersonnabend. Beim Frühjahrsputz hatte ich in einem Kellerschrank (Brett)Spiele entdeckt, die hier noch aus Zeiten lagen, als wir noch eine Familie waren. Und auch einige meiner Musikinstrumente hatte ich ewig nicht mehr in der Hand gehabt. Mein Versuch jedoch, was zu verschenken, für Kinder- und Jugendarbeit, insbesondere vielleicht mit Ausländern, scheitert, obwohl ich etliche Angeordnete, Kommunalpolitiker, Sozialarbeiter, Vereinsleute anmailte, mehrfach sogar. Offenbar ist es mittlerweile anrüchig, was verschenken zu wollen. Man muss wohl an der Not der anderen verdienen wollen.

 

 

Grabplastik

für

Peter Bamm / George Delmetia Beauchamp / Friedrich Bergius / Léon Blum / James Cagney / Diemut von Wessobrunn / Dith Pran / Helmut Dietl / Bobby Driscoll / Giovanni Gentile jun. / Abdel Halim Hafez / Rudolf Joho / Juri Walentinowitsch Knosorow / Maria Lazar / Pietro Locatelli / Kazimierz Łyszczyński / Karl May / Nogami Yaeko / Erwin Piscator / Qazi Mohammed / Adam Ries / Mutianus Rufus / Ray Shulman / Arthur Spanier / Johann Stamitz / Rudolf Steiner / Élisabeth Vigée-Lebrun / Kurt Weidemann / Bill Withers / Larry Young / Timi Yuro / Paul Zils

 

Da sahen wir Endgültiges plastisch nah:

1296 erobern Engländer das schottische Berwick-upon-Tweed und massakrieren fast die gesamte Bevölkerung / 1867 verkauft Russland Alaska für 7,2 Millionen Dollar an die USA / 1899: rammt vor Guernsey der Passagierdampfer „Stella“ die Felsen von Casquets und sinkt, 105 Menschen sterben / Saigon, 1965: Bombenanschlag auf die US-Botschaft, 22 Tote, 188 Verletzte.

 

 

31. MÄRZ

 

Disputation

mit

Johann Sebastian Bach / Raimund Berger / Felipe Colares / Shoshana Damani / Jean Jacques David / René Descartes / Angad Dev / Sergei Pawlowitsch Djagilew / Vinzenz Erath / John Fowles / Lowell Fulson / Swiad Gamsachurdia / Otto Griebel / Arthur Griffith / Dmitri Wassiljewitsch Grigorowitsch / Joseph Haydn / Bernhard Heisig / Anandi Gopal Joshi / Lyra Catherine McKee / Alexandra Michailowna Kollontai / Tadeusz Kotarbiński / Andrew Marvell / Natalie von Milde / Jules Pascin / Octavio Paz / David Poisson / Cabbar Qaryağdɪoğlu / Éduard Rod / Nichita Hristea Stănescu / Robert Stevenson / Kornei Iwanowitsch Tschukowski / Friedrich Zollinger

 

Darüber wollten wir gern weiterreden:

1814 ziehen Zar Alexander I. und der Preußenkönig Friedrich Wilhelm II. als Sieger der Befreiungskriege in Paris ein / 1880 wird Wabash, Indiana, der erste komplett mit einer elektrischen Straßenbeleuchtung ausgestattete Ort der Welt / Paris, 1889: Einweihung des Eiffelturmes / 1948 sichert der dänische König Fredrik IX. den Färöern die Autonomie zu / 1949 wird der unabhängige Staat Dominion Neufundland Teil Kanadas / 1991 werden die militärischen Strukturen des Warschauer Paktes aufgelöst.

 

Ich notierte:

1980: Gestern nach dem Frühstück wollte ich wieder in die Berge, aber es ist zu neblig, alles in den Wolken. Nachmittag fahren wir nach Tatranské Matliare zur nächsten Mugge. Programm in einem Kino. Am nächsten Morgen schon um fünf raus, Felix hatte sich gestern eine Beule in seinen Wolga eingehandelt, nun fahren wir nach Poprad in die Werkstatt. Wir können warten – was für ein Service! Schon zum Mittagessen sind wir wieder im Hotel. Am Abend sind wir vom Direktor der hiesigen Kulturdirektion eingeladen, kleiner Empfang: Slivovitz, Pivo, Salat, schon wird gesungen. Die Stimmung überträgt sich auf die heutige Abendmugge in Tatranská Polianka. Voller Erfolg! Drei Zugaben!

1999: Wieder die halbe Nacht wach gelegen. Wegen des Jugoslawien-Krieges? Oder meiner Arbeitsprobleme? Oder der Zeitumstellung? Des Vollmondes? Vormittags dann zu einer Schreibwerkstatt nach Hillersleben zwischen Magdeburg und Haldensleben. An die Substanz gehende Fahrt, unglaublich viele Autos in der Vorosterzeit unterwegs, Staus, Umleitungen, dazu Nebel, sehr dichter Nebel sogar stellenweise. Gut dreieinhalb Stunden unterwegs für etwa 120 Kilometer. Dazu übers Handy unablässig Verhandlungen, da mit Cathis neuem Job mal wieder alles schief geht... Stress pur. Die Veranstaltungen dann eben auch nicht gerade ein Zuckerschlecken: zuerst 40 Erst- und Zweitklässler in der Speisehalle der Schule, dann 80 Dritt- und Viertklässler. Das geht auf Nerven und Stimme... Und die Rückfahrt (nur etwa zweieinhalb Stunden und in strahlendem Sonnenschein) wieder fast ständig mit dem Handy am Ohr. Probleme über Probleme. Endlich zu Hause könnte ein sonniger Gartennachmittag anstehen, doch ist Cathis Problem noch immer nicht aus der Welt, weitere Telefonate, Gespräche, Rückfragen, Telefonate, und langsam entwirrt sich der Wirrwarr. Perspektive klar: ab Juni (wenn’s denn bestätigt wird) ABM für ihre Tanzgruppe in Spergau, nicht kellnern ab morgen. Meingott, wann werden diese Kinder mal wirklich selbständig und tun nicht bloß so als ob... Selbstverständlich wird so etwas wieder mal akut, wenn man mit sich selbst mehr als genug zu tun hätte...

2000: Bonn. Zu neun Uhr bin ich gebeten, an der Beiratssitzung der Bosch Stiftung teilzunehmen. Das fällt mir nach der Kürze der Nacht ein bisschen schwer und außerdem sitzt mir schon der nächste Termin im Nacken: heute Abend muss ich schon wieder in Merseburg sein, in der Ölgrube mit der Band mal wieder auf der Bühne stehen! Aber was für eine Überraschung: Während der Beiratssitzung werde ich in dieses Gremium berufen! Damit hatte ich weißgott nicht im Leisesten gerechnet. Heimfahrt im Hochgefühl also, was macht da das grauenhafte Wetter. Und ich komme auch rechtzeitig an, knapp aber immerhin. Und der Oldie-Abend entwickelt sich sogar zu einem der besten, die wir bisher hatten, proppevoll die Ölgrube, phantastische Stimmung.

2020: Angesichts der weltweit hochschnellenden Infektionszahlen (in den USA, dem neuen Krisenherd, mittlerweile 150.000 am Tage) storniere ich geplanten Reisen (meinen Geburtstag wollten wir wieder im Rosengarten feiern). Mecklenburg-Vorpommern hat mittlerweile ein Einreiseverbot verhängt, so fällt auch die für Anfang Mai gebuchte Kreuzfahrt nach Stockholm und Gotland – Abfahrtsort Warnemünde – ins Wasser.

2024: Schlecht geschlafen. Umstellung auf Sommerzeit  in der Nacht. Seit langem soll diese (als Unsinn er- und anerkannte) Regelung in Europa abgeschafft werden. Aber nicht mal solch ein Problemchen vermag Politik offenbar noch zu lösen.

 

Demission

für

Johann Christoph Bach / Heinrich Bebel / Emil von Behring / Charlotte Brontë / Vladislav Čejchan / John Constable / Antoine-Augustine Cournot / Juliane Déry / John Donne / Adolf Dresen / Jacques-Joseph Ebelmen / Olaudah Equiano / Hans Fischer / Ellen Fries / Hans-Dietrich Genscher / Zaha Hadid / Erwin Hahs / Vladimír Holan / Friedrich Hund / Nipsey Hussle / Pascual Jordan / Imre Kertész / Egon Erwin Kisch / Emil Krebs / Brandon Bruce Lee / Christian Otto Josef Wolfgang Morgenstern / Isaac Newton / Jesse Owens / Ota Pavel / Selena Quintanilla-Pérez / Abraham Reisen / Knute Kenneth Rockne / Christo Schiwkow / Paul Strand / Peter Suhrkamp / Kornei Iwanowitsch Tschukowski

 

So fühlten wir uns zurückversetzt:

Essen, 1923: französische Besatzer töten 13 demonstrierende Arbeiter / Managua, 1931: Erdbeben, 2.000 Tote / 1936 wird Äthiopien nach der Schlacht von Mai Ceu Teil der Kolonie Italienisch-Ostafrika / 1964 putscht in Brasilien das Militär und bleibt 21 Jahre an der Macht / 1986 prallt eine Boeing 727 gegen einen Berg bei Mexiko-Stadt, alle 166 Insassen kommen ums Leben.